Kapitel 47
Die letzten Schatten der untergehenden Sonne
klammerten sich an das Haus der Lorchs wie die Finger eines
Ertrinkenden, glitten schließlich ab und verschmolzen mit der
Dunkelheit.
Axel Pohl parkte auf der gegenüberliegenden
Straßenseite und atmete tief durch. Im Schein der
Straßenbeleuchtung wirkte es, als sei alle Sonnenbräune aus seinem
Gesicht gewichen.
»Ist ja irre«, war das Erste, was er nach Marks
Bericht hervorbrachte. »Vollkommen irre. Ich dachte immer, so was
gibt es nur im Film. Und Ellen kann sich jetzt an nichts mehr
erinnern?«
»Im Augenblick ist sie vollkommen apathisch«,
erwiderte Mark. »Ich weiß, das alles hört sich unglaublich
an.«
»Und Sie glauben, Chris könnte dieser Auslöser
sein?«, fragte Axel Pohl und sah Mark eindringlich an. »Denken Sie,
er hat irgendein Psychospielchen mit Ellen getrieben, weil er
festgestellt hat, dass etwas mit ihr nicht stimmt?«
»Ich weiß es nicht. Aber es muss einen Grund dafür
geben, warum er sie angelogen hat.«
»Das ist reichlich seltsam«, meinte Pohl und
kratzte sich am Kopf. »Es hört sich so gar nicht nach dem Christoph
Lorch an, den ich kenne. Er ist nicht der Typ, der sich
geheimnisvoll gibt, und Lügen hat er noch nie ausstehen können.
Stell dich dem Problem, steh dazu und versteck dich nicht
davor, sagt er immer. Hat mir noch jedes Mal geholfen.
Besonders, als es bei Sabine und mir auseinanderging. Dass Chris
jetzt einen auf Psychopath macht, um Ellen mit
einem Schock zu therapieren … das kann ich mir beim besten Willen
nicht vorstellen.«
»Solange wir nicht wissen, was geschehen ist,
sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen«, konterte Mark. »Er
könnte versucht haben, sie mit ihrem schlimmsten Alptraum zu
konfrontieren – und dann lief es aus dem Ruder. Vielleicht war es
aber auch ganz anders. Irgendeinen Grund muss er auf jeden Fall
gehabt haben, sie glauben zu machen, er sei mit Ihnen in
Australien.«
Axel Pohl wog nachdenklich den Kopf, dann löste er
den Sicherheitsgurt. »Sehen wir nach, ob er jetzt da ist.«
Sie stiegen aus und gingen auf das Haus zu, das den
westlichen Abschluss des kleinen Dörfchens Ulfingen bildete. Diese
schlichte Schönheit altschwäbischer Fachwerkkunst musste gut ein
Jahrhundert im Angesicht des nahe gelegenen Mägdebergs erlebt
haben. Nachdem Chris das Haus von seinem Vater geerbt hatte, war
viel im Inneren, aber auch an der Außenfassade verändert worden.
Mark erinnerte sich an Unterhaltungen über neuartige
Wärmeisolierungen, Wasseraustauschsysteme, Solartechnik und
umweltfreundliche Heizmethoden, die Chris mit Kollegen mittags in
der Kantine geführt hatte. Doch trotz all dieser Neuerungen hatte
das Haus nichts von seinem traditionellen Charme eingebüßt. Nur die
Photovoltaikzellen auf dem Dach wirkten wie Fremdkörper.
Als sie durch die Gartentür schritten, spürte Mark
auf einmal, wie sich seine Muskeln versteiften. Aus irgendeinem
Grund kreischte beim Anblick der dunklen Fenster ein Alarmsignal in
seinem Kopf. Ihm war, als würden sie beobachtet.
Auch nach dem dritten Läuten öffnete niemand. Im
Haus blieb es dunkel.
»Zu wem wollen Sie?«
Die beiden Männer drehten sich ruckartig zu einem
älteren Herrn um, der mit seinem Dackel an der Gartentür stand. Mit
seiner Glatze, dem Kugelbauch und dem weißen Vollbart erinnerte er
Mark an den Weihnachtsmann, der seine rote Mütze zu Hause vergessen
hatte.
»Zu Herrn Lorch.«
»Der ist nicht da. Unter der Woche ist der Herr
Doktor nie da. Und wer sind Sie?«
»Freunde«, sagte Axel Pohl, während Mark die Frage
gleichzeitig mit »Kollegen« beantwortete.
»Was denn nun? Freunde oder Kollegen?«
Mark seufzte. »Ich bin ein Kollege, und Herr Pohl
ein guter Freund von Herrn Lorch. Und wie es scheint, sind Sie ein
wachsamer Mitbürger. Dann können Sie uns bestimmt sagen, wann Sie
Herrn Lorch zuletzt gesehen haben?«
»Ist schon eine Weile her, mindestens drei Wochen«,
sagte der mützenlose Weihnachtsmann. »Die beiden werden wohl in
Urlaub gefahren sein, denk ich mal, aber mir sagt ja keiner was.
Dabei ist doch jeder hier froh, wenn einer aufs Haus aufpasst.
Nachbarschaftsschutzprogramm, verstehen Sie.«
Er deutete stolz auf seinen Dackel, als habe er
einen zähnefletschenden Dobermann an der Leine.
Mark und Axel wechselten einen kurzen Blick, dann
bedankten sie sich für die Auskunft und stiegen wieder in den
Wagen.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, meinte Mark. »Das
spüren Sie doch auch, oder?«
Axel Pohl nickte. »Warum sollte Chris mir gegenüber
andeuten, er müsse sich um Ellen kümmern, nur um dann wochenlang
von der Bildfläche zu verschwinden? Da ist etwas faul.«
»Und was jetzt?«, fragte Mark.
»Schätze, wir denken gerade dasselbe«, entgegnete
Axel Pohl und nickte kurz in Richtung der anderen Straßenseite.
Noch immer stand dort der Alte mit seinem Hund und blickte
argwöhnisch zu ihnen herüber. »Drehen wir eine kleine Runde und
versuchen dann, über die Rückseite ins Haus zu kommen. Sehen Sie
mal im Handschuhfach nach, da müsste eine Taschenlampe liegen.
Falls nicht, habe ich auf jeden Fall eine im Kofferraum.«
Sie hielten in einer Seitenstraße und gingen von
dort zur Rückseite des Hauses – immer darauf bedacht, keinem
weiteren Mitglied des Nachbarschaftsschutzprogramms in die Arme zu
laufen.
Mark sah den Wintergarten, von dem Ellen – als sie
noch Ellen gewesen war – so geschwärmt hatte. Er ging voran zur
Terrassentür, die auf eine Terrakottafläche hinausführte.
»Ob es hier eine Alarmanlage gibt?«, flüsterte
Mark.
Pohl schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Ich habe ein Elektrofachgeschäft. Wenn, dann hätte
Chris die Anlage bei mir gekauft.« Pohl grinste nervös. Trotz
seines bisher recht selbstsicheren Auftretens schien ihn auf einmal
der Mut zu verlassen. »Wenn ich ehrlich sein soll, ist mir nicht so
ganz wohl bei dieser Aktion.«
»Da geht es Ihnen wie mir«, versicherte Mark. »Aber
ich
wüsste nicht, wie wir sonst herausfinden sollten, wo Chris
tatsächlich steckt. Vielleicht finden wir im Haus ja irgendeinen
Hinweis.«
»Er wird nicht begeistert sein, wenn er uns dabei
erwischt.«
»In dem Fall bekommen wir dann wenigstens
Antworten.«
»Stimmt auch wieder.« Axel Pohl seufzte. »Also gut,
und wenn wir schon gemeinsam hier einbrechen, dann können wir doch
das formelle Sie lassen.«
»Geht in Ordnung, Axel.«
Mark untersuchte die Tür, fand jedoch keine
Möglichkeit, sie von außen aufzubekommen. Er nickte Axel kurz zu,
dann schlug er mit dem Ellenbogen eine der Kassettenscheiben der
Tür ein. Das Klirren war lauter, als er erwartet hatte. Erschrocken
warteten sie auf eine Reaktion. Doch um sie herum blieb es still.
Wahrscheinlich taten Santa und Waldi inzwischen dasselbe wie die
meisten anderen Ulfinger um diese Zeit und hatten es sich auf der
Couch vor dem Fernseher gemütlich gemacht.
Vorsichtig griff Mark durch das Loch im Glas und
öffnete die Tür. Sie stiegen über die Scherben hinweg,
durchschritten den Wintergarten, der momentan eher wie eine
Lagerstätte für Farbeimer, Tapetenrollen und den Tapeziertisch
aussah, und gelangten ins Wohnzimmer. Im Licht ihrer Taschenlampen
wirkte der Raum groß und irgendwie gespenstisch. Überall roch es
nach frischer Farbe.
»Chris?«
Beim Klang seiner eigenen Stimme fuhr Mark
zusammen.
»Chris, bist du da?«
Stille.
»War ja eigentlich nicht anders zu erwarten«,
meinte Axel schulterzuckend.
Mark ging am Couchtisch vorbei und hielt inne. Auf
einem Stapel alter Tageszeitungen und Werbekataloge lag ein
aufgeschlagener Reiseprospekt. Er zeigte mit dem Rücken nach oben,
und Mark las
INDIVIDUALREISEN ZU TIEFSTPREISEN AUSTRALIEN, NEUSEELAND, COOK ISLANDS
Mark nahm den Prospekt und betrachtete die
aufgeschlagene Seite. Sie zeigte die Abbildung eines makellosen
Traumstrandes. Wie auf solchen Bildern üblich, lag im Vordergrund
eine Riesenmuschel auf weißem Sand. Darunter stand
HINCHINBROOK ISLAND – URLAUB IM PARADIES
Marks Hände zitterten, als er den Prospekt zurück
auf den Stapel legte.
»Was ist?«, wollte Axel wissen und beleuchtete
ebenfalls das Titelbild. Er stieß einen leisen Pfiff durch die
Zähne aus. »Also doch!«
»Sie müssen hier auf der Couch gesessen haben«,
flüsterte Mark und hatte die Szene dabei deutlich vor Augen. Chris
und Ellen, eng umschlungen und von einem Urlaub im Paradies
träumend. Neben den Prospekten standen eine leere Flasche
Merlot und zwei Gläser mit eingetrockneten Weinresten.
Stumme Zeugen, die seine Vorstellung bestätigten.
»Sie haben Wein getrunken und über diese
australische Insel gesprochen«, murmelte Mark, mehr zu sich selbst
als zu Axel. »Aber Chris ist nie dorthin geflogen. Ich will jetzt
endlich wissen, warum er es dann behauptet hat.«
Zögerlich gingen sie weiter in die Küche. Das
Fenster neben dem Esstisch zeigte auf einen kleinen Garten hinaus,
wo drei verwilderte Kräuterbeete im blassen Mondlicht auf pflegende
Hände warteten.
»He«, zischte ihm Axel zu. »Riechst du das?«
»Ja, irgendwie süßlich und beißend.«
Mit angehaltenem Atem ließ Mark den Lichtkegel der
Taschenlampe über die Küchenzeile wandern, entdeckte mehrere
benutzte Teller und Tassen und hörte das Summen von Fliegen.
Mark folgte dem Geräusch. Der Lichtstrahl zitterte,
als er ihn über die Spülmaschine zum Herd wandern ließ. Dort traf
er auf einen Topf, dessen Inhalt von grünlichweißem Schimmel
überzogen war.
Mark entwich ein angeekeltes und gleichzeitig
erleichtertes »Puh!«. Er trat einen Schritt zurück. »Müssen mal
Ravioli gewesen sein.«
Axel blickte ihm über die Schulter. »Eher
Maultaschen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Chris liebt das Zeug. Ein richtiger Schwabe
eben.«
Mark sah noch einmal kurz in den Topf. »Wie es
scheint, hat er hier schon länger nicht mehr gekocht.« Er
schüttelte sich und ging zurück durch das Wohnzimmer auf den
Flur.
»Schauen wir oben nach«, schlug Axel vor.
Im Obergeschoss befanden sich das Schlafzimmer und
zwei Räume, deren Möbel verrieten, dass dies Ellens und Christophs
Arbeitszimmer werden sollten. Dr. Ellen Roth wird kein
Arbeitszimmer mehr benötigen, durchfuhr es Mark.
Daneben war das Bad.
Eternity.
Allein die Vorstellung von Ellens Parfum ließ Marks
Herz schneller schlagen. Für einen Moment glaubte er sich ihr sehr,
sehr nahe. Gleichzeitig schämte er sich, in das Haus eingedrungen
zu sein. Hier war er ein Fremdkörper, wie ihm jeder dieser Räume zu
verstehen gab. Sie hatten hier nichts verloren, und doch …
Ich fange selbst an zu verdrängen, mahnte er
sich. Ich rede mir lieber ein, wie ein Spanner durch ihr Haus zu
gehen, obwohl ich genau weiß, dass es einen anderen Grund gibt,
weshalb wir hier sind.
Irgendetwas stimmt hier nicht.
Irgendetwas ist hier passiert.
Ich fühle es.
Ich fange an zu verdrängen, weil ich Angst davor
habe, es herauszufinden.
Axel hatte sich im Schlafzimmer umgesehen. Nun kam
er zu ihm zurück. »Hast du etwas entdeckt?«
»Nein, kein Hinweis auf Chris. Nichts, was darauf
hindeutet, dass er vor Kurzem hier gewesen sein könnte.«
»Bei mir auch nicht«, entgegnete Axel. »Allerdings
habe ich einen Beweis gefunden, dass Chris nicht verreist
ist. Auf dem Schlafzimmerschrank liegt sein Rollkoffer.«
»Na und? Er könnte doch auch ein anderes
Gepäckstück mitgenommen haben.«
»Nicht der gute Chris. Mit dem Koffer ist er schon
um
die halbe Welt gereist. Bali, Hongkong, Irland, Italien, das Ding
wird ja fast nur noch von den Aufklebern zusammengehalten. Er hätte
den Koffer auf jeden Fall mitgenommen, sogar nach Australien. Den
hätte ich niemals zu einem Rucksack überreden können, das kannst du
mir glauben.«
Mark seufzte. »Okay, er ist also wahrscheinlich
nicht verreist. Aber was bedeutet das? Hat es Streit zwischen den
beiden gegeben? Ist er Hals über Kopf abgehauen?«
»Wäre für mich die wahrscheinlichste Erklärung«,
meinte Axel. »Zumindest leuchtet mir das eher ein als irgendwelche
Schwarzer-Mann-Spielchen.«
Axel ging zurück zur Treppe, und auch Mark stieg
nachdenklich die Stufen hinunter.
»Tja, und was jetzt? Wir haben in allen Räumen
nachgesehen.«
»Nicht ganz.« Axel öffnete eine Tapetentür
unterhalb der Treppe. »Ich glaube zwar nicht, dass wir dort einen
Anhaltspunkt finden, aber nachsehen sollten wir.«
Aus dem Keller drang säuerlicher Weingeruch empor.
Hinzu kam noch ein zweiter Geruch, den Mark jedoch nicht wirklich
einordnen konnte. Wie eine Mischung aus hochprozentigem Alkohol,
fauligem Holz und verdorbenem Obst.
»Der Lichtschalter funktioniert nicht«, meldete
Axel nach einigen erfolglosen Versuchen. »Ich schaue mal nach der
Sicherung. Der Kasten ist da hinten neben der Garderobe.«
Während Axel zum Sicherungskasten ging, stieg Mark
vorsichtig die Steintreppe hinunter. Wie es aussah, hatten Chris
und Ellen mit den Renovierungsarbeiten im Keller
noch nicht begonnen. Im Schein der Taschenlampe erkannte Mark
einige Farbeimer am Rand der Treppe. Einer davon war umgestürzt und
ausgelaufen.
Die getrocknete Flüssigkeit auf den Steinstufen
hatte erschreckende Ähnlichkeit mit getrocknetem Blut.
HOLZLASUR, las Mark auf dem Etikett. Kein Wunder,
dass es hier so streng roch.
Eine Stufe tiefer lehnte eine Aluleiter an der
Wand, und noch eine Stufe weiter stand ein Werkzeugkasten, auf dem
eine Bohrmaschine lag.
Am Ende der Treppe herrschte absolute Finsternis,
die den schwachen Lichtstrahl nach wenigen Metern
verschluckte.
Mark leuchtete auf zwei Kartons vor sich. Auf einem
stand mit schwarzem Filzstift
BÜCHER CHRIS
und auf dem anderen, in einer Kinderschrift, die
entfernt an Ellens Handschrift erinnerte, die Worte
DIES&DAS
neben die ein Smiley gemalt war.
Auch der Smiley erinnerte an einen, den ein Kind
malen würde. Er streckte dem Betrachter die Zunge heraus, hatte
Segelohren und drei Haare, die ihm wie Antennen vom Kopf
abstanden.
Der DIES & DAS-Karton war deutlich älter als
die anderen Umzugsschachteln, die er in den oberen Stockwerken
gesehen hatte. Er stand offen.
Mark erkannte Puppen, Stofftiere und eine Vielzahl
staubiger Kinderbücher, die meisten von Enid Blyton. Er sah mehrere
Bände der Fünf Freunde und Hanni und Nanni. Außerdem
fielen ihm zwei Bildbände auf, einer über Pferde, der andere über
Katzen.
Mädchenbücher, dachte er. Typische
Mädchenbücher aus den Siebzigern und Achtzigern. Bücher, wie sie
ein Kind namens Lara gelesen haben könnte.
Mark musste an das Märchenbuch denken, an das Bild
von Rotkäppchen, das voller Angst vor dem bösen Wolf zurückweicht.
An das Pentagramm, das Lara mit roter Wachsmalkreide über das Bild
gemalt hatte, um das Böse darin zu bannen.
Vor einigen Tagen hatte er sich an das erinnert,
was Ellen ihm über das Buch erzählt hatte, nachdem er sie aus der
Toilette im Parkhaus geholt hatte. Mark hatte Alexander Eschenbergs
Antiquariat aufgesucht und ihm das Buch abgekauft – wobei
Eschenberg so entgegenkommend gewesen war, nicht mehr als die zehn
Euro zu verlangen, die er Chris dafür gezahlt hatte.
Der Kauf war eine Art Verzweiflungsakt gewesen, als
verberge sich in diesem Buch die Antwort auf Laras Zustand. Seither
hatte sich Mark immer wieder das Bild angesehen, es stundenlang
studiert und gehofft, einen Anhaltspunkt für das Geschehene darin
zu entdecken – irgendetwas, das über die Missbrauchssymbolik des
Märchens hinausreichte.
Ellen war der Meinung gewesen, das Buch sei eine
Botschaft des Schwarzen Mannes. In Wahrheit jedoch musste sie es
unter diesen Büchern in der DIES&DAS-Kiste gefunden haben.
Nachdenklich starrte Mark auf den Karton.
Was ist in dir vorgegangen, als du das Buch in
dem alten Umzugskarton entdeckt hast? Bist du erschrocken? Ja,
bestimmt. Aber du hast die Vergangenheit viel zu sehr in dir
verdrängt, als dass du hättest wissen können, wer das Rotkäppchen
auf dem Bild war.
Und so konnte auch der böse Wolf nicht mehr als
ein schwarzer Hund in deinen Träumen für dich werden.
Nicht wahr, so ist es doch gewesen?
Chris musste aufgefallen sein, dass dieses Buch
irgendetwas bei Ellen ausgelöst hatte. Mark versuchte sich
vorzustellen, wie Ellens Reaktion ausgesehen haben mochte, und
plötzlich erschrak er.
Natürlich! Warum habe ich daran nicht gleich
gedacht? Jetzt weiß ich sogar, wann das passiert sein
muss! Er erinnerte sich an Ellens blasses Gesicht und ihr
ungewöhnlich gereiztes Verhalten, als er sie in der Kantine der
Waldklinik getroffen und versucht hatte, einen Scherz zu machen.
Das war am Montag vor vier Wochen gewesen. Genau eine Woche, bevor
Chris zu seiner angeblichen Reise nach Australien aufgebrochen war.
Damals hatte Mark gedacht, Ellen sei überarbeitet und müde, und
dass die beiden höchstwahrscheinlich wieder das ganze Wochenende am
Haus gewerkelt hatten, doch nun glaubte er, den wahren Grund für
diese Gereiztheit zu verstehen. Ellen musste an jenem Wochenende
das Buch entdeckt haben, und danach hatte es ihr keine Ruhe mehr
gelassen. Zwar hatte ihr Verdrängungsmechanismus aller
Wahrscheinlichkeit nach noch gut genug funktioniert, um die
Ellen-Persönlichkeit aufrechtzuerhalten, aber tief in ihr hatte es
bereits zu brodeln begonnen.
Und das hatte Chris wohl damit gemeint, als er zu
Axel
gesagt hatte, er müsse etwas klären. Chris musste Ellens
Verwirrung bemerkt haben, und sicherlich hatte er versucht, den
Grund dafür herauszufinden. Noch in derselben Woche hatte er das
Buch an Alexander Eschenberg verkauft. Daran hatte sich der
Antiquar erinnert, als Mark ihn befragt hatte.
Chris hätte es auch einfach in die Mülltonne werfen
können, aber Mark glaubte zu verstehen, warum er anders gehandelt
hatte. Die Erklärung dazu hatte ihm eine Bemerkung des Antiquars
geliefert. Eschenberg war nämlich wieder eingefallen, was Chris zu
ihm gesagt hatte: Er wolle mit dem Erlös eine böse Erinnerung in
eine schöne, neue Erinnerung verwandeln. Das sei Eschenberg ein
wenig kryptisch vorgekommen, aber er habe dem keine weitere
Bedeutung beigemessen. Eingefallen war es ihm erst wieder, als er
den erschrockenen Ausdruck auf dem Gesicht der jungen Frau gesehen
hatte, kurz bevor sie aus seinem Geschäft stürmte.
Mark musste an das denken, was man in der
Psychiatrie als »Vertrag« zwischen Behandler und Klient
bezeichnete. Immerhin war Chris Psychiater. Was, wenn er Ellen
versprochen hatte, das Buch, das ihr Angst machte, aus ihrem Leben
zu schaffen und es durch etwas Angenehmes zu ersetzen? Vielleicht
hatte er geglaubt, ihr durch diesen symbolischen Akt genügend
Erleichterung zu verschaffen, so dass sie in der Lage war, über den
Grund ihrer Angst zu sprechen.
Zumindest hätte ich an seiner Stelle genau
dasselbe versucht, dachte Mark. Ich hätte das Buch verkauft,
um mit dem Geld eine böse Erinnerung in eine neue, schöne zu
verwandeln. Mit einem Geschenk vielleicht, oder einem romantischen
Abendessen.
Etwas, das Ellen gefallen hätte. Und dann hätte ich versucht, mit
ihr den Grund für ihre Angst aufzudecken.
Bei diesem Gedanken erschrak Mark.
Waren Chris und er sich wirklich so ähnlich? Hätte
sich Ellen dann vielleicht doch in ihn verliebt, wenn es Chris
nicht gegeben hätte?
Mark spürte eine Gänsehaut und schüttelte die Frage
ab. Viel wichtiger war jetzt, was danach geschehen war. Etwas
musste schiefgegangen sein, und Chris war verschwunden. Aber warum
und wohin?
Mark setzte seinen Erkundungsgang fort, als er
hinter sich Axel die Treppe herunterkommen hörte.
»Die Sicherungen sind in Ordnung. Muss wohl an der
Leitung liegen. Dafür habe ich auf der Garderobenablage etwas
gefunden. Sieh mal.«
Axel beleuchtete das Objekt in seiner Hand, und
Mark erstarrte. Es war eine schwarze Skimaske, eine Balaklava, wie
sie der Schwarze Mann laut Ellens Erzählung im Therapiekeller
getragen hatte.
Aber hatte nicht Ellen selbst gesagt, sie sei sich
ziemlich sicher gewesen, dass der Mann hinter der Maske nicht Chris
gewesen sei?
»Vielleicht trägt er sie ja beim Joggen«,
kommentierte Axel seinen Fund. »Die Luft ist hier im Winter
saukalt.«
Mark nickte nachdenklich. »Ja, schon
möglich.«
»Glaubst du immer noch an die Theorie mit den
Psychospielchen?«
»Ich weiß nicht so recht. Aber völlig abwegig
scheint es für dich auch nicht mehr zu sein. Oder würdest du mir
sonst die Skimütze zeigen?«
Axel zuckte mit den Schultern. »Inzwischen weiß ich
nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht. Hast du hier unten
sonst noch etwas entdeckt?«
»Nur die Schachtel, in der Ellen das Kinderbuch
gefunden hat.« Kaum hatte Mark ausgesprochen, als er auf etwas
Hartes trat. Ein Knirschen unter seinem Schuh. Er drehte sich um
und richtete die Taschenlampe auf den Boden.
»Was ist?«, fragte Axel und kam zu ihm.
»Glassplitter. Müssen von einer Weinflasche
stammen.« Axel schwenkte den Lichtkegel höher zu einem Weinregal.
Die rechte Hälfte der Flaschenreihen war von den staubigen
Spinnweben befreit worden. Als er den Lichtstrahl weiter wandern
ließ, stockte Mark das Blut in den Adern.
»Ach du Scheiße!«, keuchte Axel.
Da war Chris. Wie ein Betrunkener lehnte er an der
Wand neben dem Regal, keine drei Schritte von Mark entfernt. Im
Licht der Taschenlampe leuchtete sein blonder Kurzhaarschnitt fast
weiß, so als sei er seit ihrer letzten Begegnung um Jahre gealtert.
Wäre er von der Verwesung nicht so entstellt gewesen, hätte es fast
so ausgesehen, als sei Chris stehend im Rausch eingeschlafen.
Wie gelähmt starrte Mark in das aufgedunsene
Gesicht des Toten. Über die einstmals tiefblauen Augen hatte sich
ein milchiger Schleier gelegt, der Kiefer hing herab, als schreie
er lautlos, und unzählige Äderchen waren wie ein bläuliches Netz
unter der von Fäulnisblasen deformierten Haut hervorgetreten.
Zu seinen Lebzeiten war Chris stets auf sein
Äußeres bedacht gewesen, doch der Tod hatte ihn in eine grausige
Parodie seiner selbst verwandelt. Das taillierte Hemd, das seinen
durchtrainierten Körperbau zur Geltung gebracht
hatte, spannte über dem aufgequollenen Brustkorb, als wolle es
jeden Augenblick zerreißen, und auch die Designerjeans waren wie
überdimensionale Wurstpellen aufgebläht und von Faulwasser
durchtränkt, das durch die Stoffporen gequollen war. Chris stand
nur noch deshalb, weil er mit dem Nacken in einem der
hervorstehenden Pfennignägel steckte.
Mark würgte. Er hatte das Gefühl, als habe sich der
Raum um ihn herum in Bewegung gesetzt. Hinter sich hörte er Axel
die Treppe hinaufstürmen und gleich darauf ein nasses Geräusch, als
er sich auf die Stufen erbrach.
Auch Mark war nach davonlaufen zumute, aber er
konnte den Blick nicht von Chris abwenden. Er hatte ihm unrecht
getan, ihn für einen Lügner gehalten, dabei war Chris’ angebliche
Reise ebenfalls nichts anderes als ein Wahnkonstrukt gewesen.
Mark begriff, dass er Ellen geglaubt hatte, weil er
ihr einfach hatte glauben wollen. Dabei war es doch so
offensichtlich gewesen.
Was sonst wäre schlimm genug für Lara gewesen, um
ihr Alter Ego Ellen nicht mehr aufrechterhalten zu können? Sie
hatte Chris getötet.
Mark war kein Pathologe, aber er war überzeugt,
dass man zwei Hämatome auf Chris’ Brust finden würde. Sie würden so
weit wie Laras ausgestreckte Hände voneinander entfernt sein und
waren entstanden, als sie ihn mit plötzlicher Wucht rücklings in
den Nagel gerammt hatte.
Doch warum hatte sie das getan? War es im Affekt
geschehen? Hatten die beiden …
Mark stieß einen leisen Schrei aus, als ihm die
Antwort in den Sinn kam. Er wirbelte herum und richtete den
Lichtstrahl
zur Decke. Schließlich fand er, wonach er suchte. Eine kahle,
nackte Glühbirne, die an einem Stück Draht baumelte. Er schraubte
sie aus der Fassung und hielt sie ins Licht seiner
Taschenlampe.
Da sah er den durchgebrannten Glühdraht.
Bilder sausten durch seinen Kopf. Die Glühbirne.
Der Karton. Die Weinflasche und die beiden Gläser auf dem
Wohnzimmertisch. Die zerschmetterte Flasche am Boden. Das Regal.
Chris’ Leiche.
Er hat eine Flasche Wein vom Geld für das Buch
gekauft und in einem Reisebüro den Prospekt mitgenommen. Ihr habt
auf der Couch gesessen und davon geträumt, was ihr machen werdet,
wenn ihr mit den Renovierungen am Haus fertig seid. Ihr habt
gelacht und Wein getrunken und wolltet noch eine zweite Flasche.
Zusammen seid ihr in den Keller gegangen.
Du hast dich hier nicht wohlgefühlt, Ellen,
nicht wahr? Du musstest immer wieder an Rotkäppchens Bild denken,
das du ein paar Tage zuvor wiederentdeckt hattest, doch die
Erinnerung war noch zu weit verdrängt. Aber sie hat bereits auf
dich gelauert.
Ihr habt die Spinnweben vom Regal entfernt, die
Flasche herausgenommen, und dann ist es passiert. Etwas absolut
Unerwartetes ist geschehen. Die Glühbirne brannte durch. Ihr wart
im Dunkeln. Du warst im Dunkeln. In einem Keller, wie einst
im Wald. Und jemand hat dich berührt. Jemand, von dem du vor Angst
nicht mehr wusstest, dass es Chris war.
Vielleicht wollte er dich trösten, weil du in
Panik geraten bist. Sicherlich hast du geschrien, wie damals im
Eiskeller des Sallinger Hofs. Und dann hast du den Schwarzen Mann
von dir gestoßen. Diesmal warst du stark genug, weil du jetzt groß
bist.
Und als dir klar wurde, was du getan hast, bist
du wieder
zu Ellen geworden. Ellen, die Starke. Ellen, die Kämpferin, für
die es furchtbar ist, wenn man ihr die Kontrolle nimmt.
»Hat sie das getan?«, fragte Axel. Er kauerte
seitwärts an der Treppe, während sein Erbrochenes über die Stufen
herabtroff. »Hat Ellen ihn umgebracht?«
»Nein«, keuchte Mark. »Das war Lara. Danach wurde
sie wieder zu Ellen, aber getötet hat ihn Lara. Nur hat ihre Kraft
dieses Mal nicht mehr ausgereicht, um das Schlimme zu verdrängen.«
In der Dunkelheit des Kellers klang seine Stimme stumpf und düster.
»Der Keller ihres Verstandes, in dem Ellen Laras Geschichte vor
sich selbst versteckt hatte, war bereits zu voll.«
Mark sackte in sich zusammen und ließ sich auf den
staubigen Fliesenboden sinken. Schluchzend vergrub er das Gesicht
in den Händen, während vor seinem geistigen Auge Ellens Bild
schwebte.
Jetzt weißt du es, schien sie zu sagen.
Jetzt weißt du es, und das ist gut so.
Heulend schlang Mark die Arme um die Knie. Die
Taschenlampe lag vor seinen Schuhspitzen. Ihr Schein fiel auf die
kaputte Glühbirne. Diese gottverdammte, kaputte Glühbirne –
der Tropfen, der das Fass hatte überlaufen lassen.
Es war ein solch makaberer Zufall, dass Mark am
liebsten laut darüber gelacht hätte. Er hatte den Auslöser
gefunden. Dies war der Trigger. Ein winziges Stück Wolfram, das zur
falschen Zeit am falschen Ort seinen Dienst versagt hatte.
Im nächsten Moment hörte er Poltern und Schritte
aus dem Erdgeschoss.
»Auch das noch«, stöhnte Axel, und jemand rief:
»Hierher! Sie sind da unten! Keine Bewegung, Polizei!«