Kapitel 14
An Tagen, wenn sie nach der Arbeit einen Ausgleich
von schreienden oder ganz einfach nervigen Patienten, nörgelnden
Pflegern oder besserwisserischen Kollegen suchte, oder auch an
Tagen, an denen sie sich ohne einen wirklich ersichtlichen Grund
niedergeschlagen und abgespannt fühlte, war der Jogging-Pfad am
nahe gelegenen Wald genau der richtige Ort, um sich zu
entspannen.
Hier war es still, Ellen war eins mit der Natur und
konnte entweder gemächlich vor sich hin laufen oder sich richtig
auspowern. Letzteres tat sie meist nur dann, wenn Chris sie
begleitete. Ihm gefielen Zeitläufe, auch wenn sie dabei nicht
selten besser abschnitt als er. Wenn sie jedoch allein joggte, war
es ihr wichtig, etwas für ihre Kondition zu tun und in
gemächlicherem Trab am Waldrand entlang der Donau zu laufen – die
Laute des Waldes zu ihrer Linken, während rechts der Strom
beruhigend neben ihr her floss.
Es gab noch einen zweiten Pfad, der unmittelbar
durch den Wald führte und der von den meisten Joggern bevorzugt
wurde, doch Ellen war ihn noch nie gelaufen. Sie mochte den Wald
nicht sonderlich, mit seinem Laubdach, das ihr das Licht des
endlosen Himmels raubte. Ebenso, wie sie Autos mit geschlossenen
Dächern nicht mochte.
Außer Ellens rotem MX-5 parkte kein weiteres Auto
auf dem gekiesten Parkplatz. Weit und breit war keine Menschenseele
zu sehen. Andererseits sah sie auch nirgends einen rostigen
Kleinbus, der auf sie lauerte.
War sie dem Kerl mit der verstellten Stimme
zuvorgekommen?
Es war aber auch gut möglich, dass er sie von irgendwo aus
beobachtete, nur um sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein
gekommen war.
Schon diese Vorstellung machte ihr eine
Heidenangst. Sie redete sich ein, dass sie sich auf vertrautem
Territorium befand – an einem Ort, den sie beinahe täglich
aufsuchte und von dem sie jederzeit flüchten konnte, wenn es nötig
wurde. Außerdem, so versuchte sie sich weiter zu beruhigen, blieb
man hier nur selten lange allein. Irgendwann traf man immer auf
andere Sportler oder Erholungssuchende.
Trotzdem … wirklich besser fühlte sie sich deswegen
nicht. Ihr Puls raste noch immer, und ihre körperliche Anspannung
bereitete ihr beinahe Schmerzen. Sie war im Begriff, sich mit einem
Gewalttäter zu treffen – mit einem offenbar verrückten Sadisten -,
und vielleicht beging sie gerade den verhängnisvollsten Fehler
ihres Lebens. Aber was hätte sie sonst tun sollen?
Versprich, dass du mich beschützen wirst, wenn
er mich holen kommt, hallten die Worte der namenlosen Frau in
ihrem Kopf, gefolgt von ihren eigenen Worten: Ich verspreche
es.
Noch kannst du gehen …
Ellen öffnete die Mittelkonsole zwischen den beiden
Sitzen. Unter ihrer Sonnenbrille, einem Päckchen Kaugummi und
einigen Münzen fand sie eine Dose Pfefferspray, ihr ständiger
Begleiter beim Laufen – für den Fall, dass sich einer der zahllosen
Hundebesitzer irrte, wenn er rief: Der tut nichts, der will nur
spielen!
Sie zog die Kappe ab, schob die Spraydose in die
Jackentasche und überprüfte dann den Empfang ihres Handys. Das
Display zeigte einen Strich von vier möglichen. Sobald
sie ein Stück auf den Wald zugehen würde, wäre sie in einem
Funkloch, das hatte sie schon oft genug getestet.
Es kostete sie einige Überwindung, aus dem Wagen zu
klettern. Das Idyll aus Stille und Natur, das sie sonst so sehr an
diesem Ort schätzte, wirkte nun unheimlich und bedrohlich.
Sie kam sich vor wie eine dieser Idiotinnen aus
einem Horrorfilm, die mit der Kerze in der Hand auf den Dachboden
steigen, um nachzusehen, woher das unheimliche Geräusch stammt.
Aber blieb ihr denn eine andere Wahl?
Natürlich. Sie konnte immer noch wegfahren, die
Polizei rufen oder beides, aber was wäre dann mit der entführten
Frau?
Irgendwo hämmerte ein Specht, Vögel zwitscherten.
Eine Hummel summte dicht neben Ellens Kopf vorbei und steuerte
einen großen Hagebuttenstrauch an, der das Hinweisschild
fast verdeckte.
JO GGING-PFAD
7,5 km
NUTZUNG AUF EIGENE GEFAHR!
7,5 km
NUTZUNG AUF EIGENE GEFAHR!
Ellen sah sich um. Sie schien wirklich allein zu
sein. Mutterseelenallein. Und dennoch …
Falls der Kerl sie tatsächlich mit einem Fernglas
beobachtete, wollte sie ihm unmissverständlich zu verstehen geben,
dass sie keine leichte Beute war. Sie öffnete den Kofferraum und
zog den Schraubenschlüssel aus der Halterung über dem
Reserverad.
Ellen wiegte das kalte Stück Metall in der Hand,
von
dem ein trügerisches Gefühl der Sicherheit ausging. Ja, man konnte
sich damit wehren, aber dazu musste man den Gegner ziemlich nah an
sich herankommen lassen. Dasselbe galt für die Pfefferspraydose.
Sie betrachtete ihre Hand, die leicht zitterte, und zwang sich,
tief durchzuatmen. Vor Aufregung war ihr speiübel.
Während ihres Praktikums hatte sie vier Monate in
einer Klinik für geisteskranke Straftäter gearbeitet. Dort hatte
sie mit Gewalttätern und mehreren Mördern zu tun gehabt und sich
manchmal für eine halbe Stunde oder länger allein mit ihnen in
einem Raum aufgehalten. Während dieser Zeit hatte sie gelernt, dass
man zwar Angst haben, sie aber keinesfalls zeigen
durfte. Zeigte man seinem Gegenüber, dass er oder sie – es waren
auch einige ziemlich gefährliche Frauen unter diesen Patienten
gewesen – einem Angst einjagte, hatte man verloren. Dann war es
besser, das Feld für einen kompetenteren Kollegen zu räumen.
Also reiß dich zusammen! Zeig keine
Angst!
Nur war es hier im Wald doch noch ein Stückchen
anders. Bisher war sie solchen Leuten in geschlossenen Anstalten
gegenübergetreten. Dort gab es Wächter, die man im Notfall rufen
konnte. Hier durfte sie allenfalls darauf hoffen, dass ein Jogger
des Weges kam.
Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich auf
ihre Wachsamkeit, den Schraubenschlüssel und eine unbenutzte Dose
Pfefferspray zu verlassen, von der sie noch nicht einmal sicher
wusste, ob sie überhaupt funktionierte.
Zeig. Keine. Angst!
Ellen sog nochmals tief Luft ein, klappte den
Kofferraumdeckel zu, drehte sich um – und fuhr zusammen.
Vor Schreck hätte sie fast geschrien, hätte ihr
nicht der
ruhigere Teil ihres Verstandes signalisiert, dass es dafür keinen
Grund gab.
Es ist einfach nur ein Mädchen. Ein kleines,
nicht einmal zehn Jahre altes Mädchen in einem bunten Sommerkleid,
mit einem sehr ernsten Gesicht.
»Hast du mich aber erschreckt«, sagte Ellen und
lachte. Ein unsicheres Lachen. Fast automatisch verbarg sie den
Schraubenschlüssel hinter ihrem Rücken. »Bist du allein?«
Die Kleine schüttelte den Kopf.
»Komm, er wartet schon auf dich.«
Sie machte kehrt und rannte zurück in den Wald, aus
dem sie gekommen war.
Im ersten Augenblick war Ellen viel zu überrascht,
um reagieren zu können. Sie sah der Kleinen nach, wie sie, ohne
sich noch einmal nach Ellen umzusehen, in den Wald hineinlief.
Dabei sprang sie geschickt über Gehölz und Farnbüschel und ließ den
Schotterweg völlig außer Acht, so als gäbe es ihn gar nicht.
Für Ellen bestand keine Sekunde lang ein Zweifel
daran, dass das Kind mit er den Schwarzen Mann meinte.
Genauso wenig zweifelte sie daran, dass dieses Mädchen zu ihm
gehörte. Vielleicht war sie sogar seine Tochter?
Auf einmal schien alles einen Sinn zu ergeben.
Dieser Kerl, der Schwarze Mann - wie auch immer er heißen
mochte – hatte das Mädchen nach ihr geschickt, um sich die nötige
Zeit zu verschaffen, die er von der Klinik bis zu dem Ort
benötigte, an dem er sich tatsächlich mit Ellen treffen
wollte.
Sie war sich zudem sicher, dass an diesem Ort auch
die Frau ohne Namen sein würde. Seine Frau. Die Frau, die er
grün und blau geschlagen hatte, aus welchem Grund auch
immer.
Ellen lief los. Ihr Herz raste wie wild, und sie
umklammerte den Schraubenschlüssel noch fester.
Die Kleine hatte inzwischen einen beachtlichen
Vorsprung. Hätte das Blumenmuster ihres Kleides nicht so grell
durch das Grün des Waldes geschimmert, hätte Ellen sie um ein Haar
aus den Augen verloren.
Ein seltsames Kleid, dachte Ellen. In
Schnitt und Farbe war es längst aus der Mode gekommen. Vielleicht
stammte es von einem Flohmarkt, aus der Altkleidersammlung oder aus
einem Second-Hand-Laden – ähnlich wie der Trainingsanzug, den die
Frau ohne Namen getragen hatte.
Immer weiter folgte Ellen dem Mädchen. Dabei sah
sie sich ständig nach allen Seiten um und hielt den
Schraubenschlüssel zum Schlag bereit. Solange sie in Bewegung
blieb, würde es ein Angreifer nicht leicht mit ihr haben. Sie
konnte ihren Schwung für ihre Abwehr einsetzen, und das würde ihm
nicht gut bekommen.
Trotzdem fühlte sie sich deswegen nicht besser. Der
Weg führte immer tiefer in den Wald hinein. Was war, wenn dieser
Kerl irgendwo saß und sie ins Fadenkreuz eines Zielfernrohrs nahm?
Er musste einfach nur abdrücken und …
Wohin läufst du nur? Der Wald wird immer
dichter, und da kommt ewig nichts anderes als Wald, keine Häuser
und erst recht kein Ort.
Obwohl Ellen schon nach wenigen Schritten in ihre
übliche Laufroutine verfallen war, schien der Abstand zwischen ihr
und dem Mädchen nicht geringer zu werden. Die Kleine war
unglaublich flink. Ellen hatte vor einiger Zeit an einem lokalen
Halbmarathon teilgenommen und war
die Strecke in knapp eindreiviertel Stunden gelaufen. Das war
nicht sonderlich gut, bedachte man, dass Spitzenläuferinnen für
diese Distanz nur etwas mehr als eine Stunde benötigten. Trotzdem
hätte es ihr gelingen müssen, dieses Kind einzuholen, dafür war sie
trainiert genug, Vorsprung hin oder her. Doch sie schaffte es
nicht.
Sie wich Wurzeln, Baumstümpfen und Büschen aus,
sprang über mehrere schmale Gräben, die das Regenwasser im Lauf der
Jahre wie ein Aderngewirr in den Waldboden gegraben hatte, aber das
Mädchen im bunten Kleid war immer seltener zwischen den Bäumen zu
sehen. Jedes Mal ein Stückchen weiter und noch weiter, und noch
weiter, und schließlich gar nicht mehr.
»Scheiße!«
Keuchend blieb Ellen stehen. »Das gibt es doch gar
…«
Whump!
Etwas schlug mit unglaublicher Wucht gegen ihren
Rücken und schleuderte sie zu Boden. Ellen konnte gerade noch
schützend die Hände hochreißen, um nicht mit dem Gesicht auf eine
knorrige Wurzel zu stürzen.
Keine Handbreit von der Wurzel entfernt prallte sie
auf den Boden, und das große, schwere Etwas landete auf ihrem
Rücken. Das Gewicht presste ihr die Luft aus den Lungen. Sie hörte
ein knackendes Geräusch, von dem sie sich nicht sicher war, ob es
von ihren Rippen, den trockenen Ästen am Boden oder gar beidem
herrührte.
Sie wollte nach Luft schnappen, doch es ging nicht.
Der Angreifer auf ihrem Rücken war zu schwer. Panisch versuchte sie
ihn abzuwerfen, doch er hielt ihre Arme mit eisernem Griff fest und
drückte sie auf das kalte Moos.
Ellen röchelte. Versuchte erneut einzuatmen.
Röchelte
wieder. Bekam Luft. Nicht viel, aber genug, um in ihrer Panik zu
begreifen, was passiert war. Irgendjemand, zweifelsohne ein Mann,
hatte sie von hinten angesprungen und mit seinem Gewicht zu Boden
geschmettert. Nun kniete er auf ihrem Rücken, hielt ihre Arme zu
Boden gedrückt und schnaufte in ihren Nacken. Himmel, seine Knie
auf ihren Rippen schmerzten höllisch! Jeder Atemzug war eine
Qual.
Sie strampelte mit den Beinen, womit sie genauso
wenig erreichte wie ein Käfer, der rücklings auf seinen Panzer
gefallen war, nur dass sie selbst bäuchlings lag.
»Ruhig, gaaaanz ruhig«, flüsterte der Kerl auf
ihrem Rücken. »Je mehr du dich wehrst, desto mehr wird es wehtun.«
Wie um es ihr zu beweisen, verlagerte er das Gewicht stärker auf
seine Knie.
Ellen schrie vor Schmerz, worauf er mit einem
kurzen Hüpfen reagierte und ihr wieder die Luft aus den Lungen
presste. Augenblicklich ging ihr Schrei in ein erneutes Röcheln
über.
»Wirst du jetzt ruhig sein?«, fragte er sie in
unheimlichem Flüsterton.
Ellen versuchte zu antworten, was ihr nur unter
großer Kraftanstrengung gelang. Ihr »Ja« war kaum mehr als ein
Hauchen. Vor ihren Augen flackerten kleine weiße Punkte. Dennoch
konnte sie etwa einen halben Meter vor sich den Schraubenschlüssel
erkennen. Er lag in einem Bett aus Moos und war dort genauso
nutzlos wie das Pfefferspray in ihrer Jackentasche.
»Du warst ein böses Mädchen.«
Diese Stimme. Diese flüsternde Stimme. Sie
klingt so merkwürdig … vertraut?
Der Griff um ihre Handgelenke wurde noch fester.
Ellen
konnte den warmen Hauch seines Atems an ihrer Schläfe spüren. Er
roch nach Pfefferminze, Küchendunst und Zigarettenrauch.
Wahrscheinlich hast du noch in aller Seelenruhe
eine gequalmt, während du hier auf mich gewartet hast, dachte
sie, und so unpassend es auch schien, stieg eine Erinnerung in ihr
auf: eine Abbildung aus einem Buch über das viktorianische England.
Sie zeigte eine Figur, die als der sprunggewaltige Jack
bekannt wurde. Ein Kerl, der Frauen angefallen hatte, die nachts
allein auf der Straße unterwegs gewesen waren. Nun sagte der
irrationale Teil in ihr – der Teil ihres Verstandes, der sich stets
in den unpassendsten Augenblicken zu Wort meldete -, dass sie jetzt
einer ähnlichen Figur begegnet sei. Nicht dem sprunggewaltigen
Jack, sondern dem sprunggewaltigen Marlboromann, der
sich hervorragend darauf verstand, Frauen im Wald von hinten
anzuspringen und ihnen seinen mit Pfefferminz getarnten Raucheratem
ins Gesicht zu hauchen.
»Weißt du, was ich von dir will?«, hauchte
er.
»Nein.«
»Doch, das weißt du.«
»Nein! Bitte. Es. Tut. Weh.«
»Du bissst ein bösssesss, neugierigesss
Mädchen«, zischte er wie eine Schlange. »Und du hast etwasss
sssehr, sssehr Schlimmesss getan.«
Ellen glaubte ersticken zu müssen, während sich
seine Knie wie spitze Holzpflöcke in ihren Rücken bohrten. Es war
kaum auszuhalten. Sie drehte die Augen in den Höhlen, so weit es
nur ging, aber sie konnte den Kerl auf ihrem Rücken nicht erkennen.
Nach ihren Schmerzen und der Kraft in seinen Armen und Händen zu
urteilen, schien er
mindestens zwei Tonnen zu wiegen. Eines wusste sie jedoch mit
Sicherheit über ihn: Er war durch und durch verrückt.
»Was. Wollen. Sie?«, presste sie mühsam
hervor.
»Du hast wirklich keinen Schimmer, oder?«,
flüsterte er. »Also gut, ich erkläre es dir. Dies hier ist zwar nur
ein Wald, aber irgendwo gibt es auch den Märchenwald. Magst du
Märchen, kleine Ellen?«
Sie wollte etwas wie Lass mich los, verpiss
dich oder dergleichen antworten, aber die Schmerzen waren zu
heftig, und sie brauchte alle Kraft, die sie noch hatte, um
wenigstens ansatzweise atmen zu können und nicht das Bewusstsein zu
verlieren.
Wenn du jetzt ohnmächtig wirst, hat er freie
Hand, warnte sie die Stimme in ihrem Kopf, die nach der
Kämpferin, der stets Wachsamen klang. Dann kann er mit dir
machen, was immer ihm durch sein krankes Hirn zuckt. Und er wird
dich sicherlich nicht liebevoll mit seiner Jacke zudecken und dich
in deinem Moosbett schlafen lassen. Denk an die Frau ohne
Namen!
»Und wie im Märchen«, fuhr er mit kaum hörbarer
Stimme fort, »gibt es einen, der dir ein Rätsel aufgibt, das es zu
lösen gilt.« Er kicherte wie ein kleiner Junge, der sich über einen
gelungenen Streich freut. »Lös das Rätsel, das ich dir aufgebe.
Wenn nicht …«
Er verlagerte sein Gewicht erneut auf die
Knie.
Für den Bruchteil einer Sekunde drohte Ellen in ein
tiefes Schwarz zu kippen. Das Bild des Schraubenschlüssels vor ihr
auf dem Waldboden flackerte wie die atmosphärische Störung bei
einer Fernsehübertragung. Dann wurde es wieder klar, und auch ihr
Verstand klarte auf – rechtzeitig genug, um die leisen Worte des
sprunggewaltigen
Marlboromannes zu hören: »Wenn nicht, töte ich deine stinkende
Freundin. Und dann wirst du mich nicht mehr los. Kapiert?«
Erneut brachte Ellen nur ein Röcheln zustande.
Atmen und sprechen mit einem Gewicht auf dem Rücken, das einem wie
Tonnen vorkam, war verteufelt schwer. »Was. Soll. Das?«
»Ich werde dir doch nicht den Spaß verderben, indem
ich dir das jetzt schon verrate.« Diesmal sang er fast mit seiner
Flüsterstimme. »Also, wer bin ich? Heute back ich, morgen brau ich
… Bis übermorgen will ich dir Zeit lassen. Zur Mittagsstunde musst
du’s wissen. Wenn nicht, wird dich der böse Wolf holen.« Er stieß
ein keuchendes Geräusch aus. »Jaaa, dann töte ich euch beide, dich
und diese verrückte Stinkerin. Aber vorher …«
Er näherte sich ihrem Ohr, leckte daran. Ellen
versuchte, den Kopf zu bewegen, schaffte es aber nicht weit genug,
um ihm auszuweichen. Sie spürte seine Zunge, die gegen die
Windungen ihrer Ohrmuschel drückte, hörte sein Hecheln, das in
warmen, übelriechenden Stößen über ihre Wange wehte. Speichel lief
über ihr Ohrläppchen, als seine Zunge zu ihrer Schläfe
emporkroch.
Ellen wollte schreien, sich ihre Angst und ihre Wut
aus dem Leib brüllen, aber sie konnte nicht. Sie bekam kaum genug
Luft zum Atmen und musste sein ekelhaftes Spiel über sich ergehen
lassen.
Seine Zähne gruben sich in ihr schweißnasses Haar,
verbissen sich darin und zerrten daran, während er mit einem
Geräusch, das halb Zischen, halb Stöhnen war, seinen Oberkörper an
ihren gestreckten Schultern rieb. Dann wandte sich sein Kopf mit
einer Bewegung, die ihr wieder
ein paar Rippen zu brechen schien, von ihr ab. Zumindest fühlte es
sich so an.
»Damit es losgehen kann, gebe ich dir einen kleinen
Tipp«, sagte er keuchend. »Hörst du mir zu?«
»Ja«, wimmerte sie.
»Ich kann dich nicht hören.«
»JA!«
»So ist es brav. Also, pass genau auf. Hier kommt
mein Tipp. Er lautet, tataa, der erste Gedanke ist immer der beste.
Kapiert?«
»Ja.«
»Na also, dann kann’s ja losgehen!«
Er vollführte einen abrupten Satz auf ihrem Rücken.
Diesmal glaubte Ellen, er würde mit den Knien ihren Brustkorb
durchbrechen und ihre Lungenflügel plattdrücken. Der Schmerz tobte
durch sie wie ein Orkan. Gleich darauf ließ der Kerl von ihr ab,
machte kehrt und lief in die Richtung davon, aus der Ellen zuvor
gekommen war.
Ellen keuchte. Ihr Brustkorb schmerzte, und sie
hatte das Gefühl, von einer Stahlpresse gequetscht worden zu sein.
Doch die Kämpferin in ihr schrie sie an, sie solle sich gefälligst
nicht so anstellen.
Bring das Schwein zur Strecke!, brüllte sie
in Ellens Kopf. Mach es fertig!
Immer noch benommen drehte sich Ellen herum, setzte
sich auf und sah den Mann davonrennen. Er war kleiner, als Ellen
gedacht hatte, und auch nicht von wesentlich kräftigerer Statur als
ein durchschnittlicher Mann seiner Größe. Er trug schwarze Jeans
und eine schwarze Stoffjacke mit einem Batman-Emblem, deren
Kapuze seinen Kopf verdeckte.
Nun mach schon!, schrie die Kämpferin in ihr
erneut.
Unter Aufgebot all ihrer Kräfte kroch Ellen zu dem
Schraubenschlüssel, packte ihn und stemmte sich auf die
Beine.
Nun lauf schon! Lauf!
Sie stolperte vorwärts, schaffte es tatsächlich,
wieder zu laufen, und folgte ihrem Angreifer.
Gut so, lobte die Kämpferin. Weiter,
weiter!
Aber es war nicht gut. Ganz und gar nicht. Ellen
fand kaum genug Atem, um gehen zu können, von laufen ganz zu
schweigen.
Trotzdem verfolgte sie ihn beharrlich weiter. Sie
dachte an den Halbmarathon, bei dem sie ein paar Mal kurz vor dem
Aufgeben gewesen war, während die Kämpferin in ihr sie weiter
getrieben hatte. Und so war es auch jetzt. Gierig nach Luft
schnappend, stolperte Ellen über Wurzeln, wäre ein paar Mal fast
hingefallen – wenn ich hinfalle, bleibe ich einfach liegen und
schlafe, schlafe hundert Jahre oder mehr, wie im Märchen -,
hielt sich jedoch auf den Beinen und folgte weiter der schwarzen
Stoffjacke, ehe sie zwischen den Bäumen verschwand.
Erst knapp vor dem Parkplatz verließen sie ihre
Kräfte endgültig.
Los, weiter!, schrie die Kämpferin, doch
Muskeln und Lungen widersprachen mit einem entschiedenen
Nein!, und dabei blieb es.
Ellen lehnte sich gegen einen Baumstamm, der sich
angenehm kühl und irgendwie tröstend anfühlte, und versuchte, zu
einer ruhigen, gleichmäßigen Atmung zurückzufinden. Sie sah ihren
kleinen Sportwagen, dessen Rot lockend zwischen den Baumstämmen
hindurchschimmerte.
Obwohl sie das Nummernschild bereits ohne Probleme erkennen
konnte, hatte sie den Eindruck, als sei er noch viele, viele
Kilometer von ihr entfernt. Unerreichbar.
Dann erst nahm sie das zweite Fahrzeug wahr, das
unweit neben dem ihren parkte. Im gleichen Moment, als der Fahrer
Gas gab und durch den aufspritzenden Kies davonfuhr, erkannte sie
das Auto.
Hätte Ellen noch genug Energie für einen
erschrockenen Aufschrei gehabt, dann hätte sie geschrien. So aber
stand sie nur erstarrt da, den Stamm der Fichte umklammernd, und
wollte nicht glauben, was sie gesehen hatte. Sie hatte den Wagen
erkannt. Es war kein Zweifel möglich. In dem Auto, das vor wenigen
Sekunden davongerast war, hatte sie selbst schon gesessen – vor
etwa zwei Jahren, auf dem Weg zu einer Fortbildung.
Sie erinnerte sich an den sogenannten
Lufterfrischer Marke Wunderbaum, der vom Rückspiegel
gehangen und von dessen Vanillegeruch ihr schlecht geworden war.
Sie hatte dem Fahrer gesagt, sie fände sogar den kalten Rauch in
seinem Auto angenehmer als dieses stinkige Ding.
Damals hatte Mark gelacht.