Kapitel 7
»Der Schwarze Mann.«
Nachdenklich schaute Mark auf den kleinen Teller vor sich. Er hatte seine Sushihäppchen noch nicht angerührt.
Ellen hingegen hatte während ihres Berichts unentwegt gefuttert und sich immer wieder am gemächlich vorbeilaufenden Band bedient. Nun war sie neugierig, wie Mark über den Fall der unbekannten Frau dachte.
Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit und betrachtete die in Algenblätter gerollten Reishäufchen, als wolle er sie hypnotisieren, während um ihn herum der allabendliche Trubel des A Dong – Running Sushi toste.
Ellen bedauerte fast, ihn in ihr Lieblingsrestaurant geführt zu haben. Mark schien weder von der japanischen Küche noch vom Ambiente des Lokals angetan zu sein.
»Mark? Alles okay bei dir?«
Er schreckte hoch. »Wie? Äh, ja, natürlich. Ich habe nur über diese Frau nachgedacht.«
Sie zeigte auf seinen Teller. »Schmeckt es dir nicht?«
»O doch. Das …«, er warf einen hastigen Blick auf die Karte, »das Hosomaki ist echt nicht schlecht.«
Sie belohnte die Notlüge mit einem Lächeln.
»Ich könnte sterben für dieses Zeug«, sagte sie und schob sich einen letzten Rest Sasazushi in den Mund. »Aber als tolerante Frau lasse ich auch all diejenigen am Leben, die Currywurst und Pommes den Vorzug geben.«
Mark hüstelte. »Du hast vergessen, deinem Befund eine ausführliche Anamnese vorauszuschicken.«
»Ach ja?«
»Und ob! Dort würde dann stehen, dass Herr Dr. Behrendt nicht nur die gesamte italienische Chefkochelite im Bücherregal seiner Küche zu Gast hat, sondern auch für sein Ragù alla Bolognese berühmt ist. Ganz zu schweigen von den selbst gemachten Fettuccine, die der Maestro dazu reicht. Ich empfehle dir, gelegentlich mal eine ausführliche Vor-Ort-Recherche anzustellen.«
Er prostete ihr mit seinem Bier zu.
»Ist das eine Einladung zum Essen?«
Marks Gesichtsfarbe wechselte in ein tiefes Rot. Er machte den Eindruck, als habe er sich bei einem peinlichen Versprecher ertappt. »Nun ja, eigentlich schon«, sagte er dann. »Wenn du möchtest. Ich … ich koche gern für … nette Leute.«
Er sah irgendwie süß aus, wenn er verlegen war, fand Ellen.
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach sie, und als sie merkte, dass sie ihn damit nur noch verlegener machte, beschloss sie, auf den eigentlichen Grund ihres Treffens zurückzukommen. Sie schob ihren Teller von sich und beugte sich vor. »Also, was meinst du? Wie könnte man an diese Frau herankommen?«
Der Themenwechsel erzielte die gewünschte Wirkung. Mark nahm wieder eine entspanntere Haltung an. Er legte die Stirn in Falten und rieb sich nachdenklich die Nase.
»Wird nicht einfach sein. Du hast vorhin diesen Kinderreim erwähnt, und ich musste kurz darüber nachdenken, ob vielleicht ein Kind mit der Misshandlung zu tun haben könnte. Also eine zweite Person, um die wir uns ebenfalls Sorgen machen müssten.«
Ellen fuhr zusammen. »Himmel, daran hatte ich noch gar nicht gedacht! Aber es wäre durchaus möglich. Der Mistkerl könnte nicht nur sie, sondern vielleicht auch ihr Kind misshandelt haben.«
Mark nickte und winkte gleichzeitig ab. »Das wäre nicht selten, aber ich glaube, es ist in ihrem Fall nicht zutreffend. Da sie vom Schwarzen Mann gesprochen und sich selbst wie ein Kind benommen hat, denke ich, es handelt sich nur um sie selbst.«
Diese Erklärung stellte Ellen nicht wirklich zufrieden. »Und warum?«
»Weil es sich um einen Kinderreim aus unserer Jugend handelt und du gesagt hast, die Frau müsse etwa in unserem Alter sein, vielleicht auch ein bisschen älter.«
»Ja, schon, aber ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst?«
»Ganz einfach. Die political correctness. Heutzutage versuchen wir den Kindern beizubringen, dass der Schwarze Mann eine Diskriminierung darstellt. Genau so, wie man nicht mehr Mohrenköpfe, sondern Schokoküsse isst. Der Nachbar aus Afrika ist allerhöchstens ein Dunkelhäutiger, und der Schwarze Mann ist zum Wilden Mann oder vielleicht auch zum Bösen Mann geworden, ganz gleich, ob mit schwarz ursprünglich wirklich die Hautfarbe gemeint war. Das mag sich zwar noch nicht überall durchgesetzt haben, aber ich denke trotzdem nicht, dass deine Patientin ihr Kind zitiert hat. Nein, sie greift auf etwas zurück, an das sie sich selbst erinnert.«
»Glaubst du?«
»Ja, glaube ich. Abgesehen davon sind solche Kinderreime im Zeitalter der Videospiele und der Jugendsprache nicht mehr sonderlich populär. Würde sie unterschwellig auf ihr Kind aufmerksam machen wollen, würde sie etwas Zeitgemäßes wählen. Eine Acht- oder Zehnjährige in der heutigen Zeit wäre eher auf der Flucht vor dem Kettensägen-Psycho, vor Freddy Krueger oder sonst einer Horrorfilmfigur. Falls du mir nicht glaubst, dann hospitiere mal ein paar Tage in der Jugendpsychiatrie. Nein, wenn du mich fragst, dann hat sich diese Frau aus Angst in ihre eigene Kindheit geflüchtet, in eine Zeit, in der man sich verletzlich und ängstlich zeigen durfte. Ganz so, wie du es selbst schon vermutet hast.«
»So wie diese Frauen aus dem Kosovo, von denen du mir erzählt hast? Hattest du da einen ähnlichen Fall?«
Mark nahm einen Schluck Bier und nickte. »Nicht nur einen. An eine Frau erinnere ich mich jedoch besonders gut. Sie muss ungefähr zwanzig gewesen sein. Ihr Heimatdorf war von Freischärlern überfallen und zerstört worden. Sie selbst war angeschossen worden, während der Rest ihrer Familie im Kugelhagel ums Leben kam. Wie ich später erfuhr, hatte sie sich für etliche Stunden unter der Leiche ihrer Mutter versteckt und tot gestellt. Währenddessen saßen die Mörder am Esstisch und aßen das Mittagessen, das die Mutter kurz vor dem Überfall aufgetischt hatte. Als ich diese junge Frau das erste Mal sah, hatte sie an diese Ereignisse keinerlei Erinnerung. Sie behauptete, mit ihrem kleinen Bruder auf einer Wiese gespielt zu haben, und als ich sie nach dem aktuellen Datum fragte, gab sie an, es sei zehn Jahre früher.«
»Konntest du ihr helfen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, so gut man ihr eben helfen konnte. Irgendwann fand sie in die Gegenwart zurück, aber bis dahin war es ein steiniger Weg, wie man so schön sagt. Leider habe ich nicht mehr erfahren, was später aus ihr wurde.«
Ein Kellner kam an den Tisch, räumte mit ausdrucksloser Miene die Teller ab und fragte, ob er ihnen noch etwas bringen könne. Mark bestellte ein weiteres Bier, Ellen lehnte jedoch dankend ab. Ihr Heißhunger von vorhin war ihr bei diesem Thema vergangen. Sie spürte ein leichtes Stechen in den Schläfen und hoffte, dass es sich nicht zu einem ihrer gelegentlichen Migräneanfälle entwickeln würde.
»Wenn du möchtest, sehe ich mir deine Patientin gern einmal an«, schlug Mark vor. »Wäre effektiver, als dir mit Ferndiagnosen zu helfen. Was hältst du davon, wenn ich morgen vor Dienstbeginn bei dir auf der Station vorbeischaue?«
»Dafür wäre ich dir sehr dankbar.«
Er erwiderte ihr Lächeln, doch nur für einen kurzen Moment. »Etwas anderes macht mir allerdings noch ein wenig Sorgen, Frau Kollegin. Und das bist du.«
»Ich?«
»Ja, du. Ich erzähle dir sicher nichts Neues, wenn ich sage, dass es Fälle gibt, an denen man sich die Zähne ausbeißen kann. Fälle, die so schwerwiegend sind, dass selbst der beste Psychiater nicht helfen, sondern allenfalls lindern kann.«
»Mark, ich …«
»Warum werde ich dieses ungute Gefühl nicht los, du könntest dich bei diesem Fall in etwas verrennen?« Er beugte sich noch ein Stückchen weiter über den Tisch, und seine Worte klangen ernsthaft besorgt. »Ich will dir ja nicht zu nahetreten, aber heute ist erst Montag, und du siehst schon ganz schön mitgenommen aus. Letzte Woche muss auch ziemlich stressig für dich gewesen sein, so gereizt wie du neulich in der Kantine auf mich gewirkt hast.«
Sie wollte etwas entgegnen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Ellen, du solltest diesen Fall nicht zu sehr an dich heranlassen. Was du jetzt brauchst, wäre etwas zum Ausgleich. Wann warst du das letzte Mal in deinem Lieblingscafé auf dem Marktplatz oder beim Joggen an der Donau, hm?«
Sie wich seinem Blick aus und starrte auf ihre Tasse. Der letzte Rest Jasmintee darin musste inzwischen bitter geworden sein.
»Ich werde mich nicht verrennen, Mark. Wenn du morgen ihr Gesicht siehst, all diese Blutergüsse und Schwellungen, und ihre Angst spürst, dann wirst du mich verstehen. Wenn sich jemand, ganz gleich, aus welchem Grund, an einer schwächeren Person vergeht, ist das für mich das schlimmste aller Verbrechen.«
Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich Mark zurück. Er nippte an seinem Bier und nickte. »Ich weiß schon, manchmal gibt es so einen – wie hast du es heute genannt – so einen BIF, der einen stärker belastet als all die anderen Fälle, mit denen man sonst zu tun hat. Aber gerade dann sollte man auf die nötige emotionale Distanz achten.«
Ellen rieb sich die Schläfen. Natürlich hatte er Recht. Aber manchmal war es eben nicht einfach, Professionalität und Mitgefühl voneinander zu trennen.
»Mark, was ich will, sind zwei Dinge. Ich will dieser Frau helfen, ihr Trauma zu überwinden. Und ich will, dass man denjenigen erwischt, der an ihrem Zustand Schuld trägt. Das habe ich Chris und vor allem ihr versprochen.«
Sie sah sich in dem vollen Lokal um, betrachtete die Gäste. Es waren Menschen wie du und ich, wie man so sagte. Höchstwahrscheinlich war auch dieser Täter ein Mensch wie du und ich – einer von der Sorte, von dem die Nachbarn später in den Medien berichten würden, sie hätten ihm so etwas nie zugetraut, er sei doch immer so nett und unauffällig gewesen.
Für einen kurzen Augenblick beschlich sie das unheimliche Gefühl, der Schwarze Mann könnte vielleicht sogar einer dieser Gäste sein.
Was, wenn er unmittelbar am Nebentisch saß, getarnt mit einer Was-ist-er-doch-für-ein-netter-Kerl-Maske?
Allein die Vorstellung verursachte ihr eine Gänsehaut. Ihr kamen die Worte der unbekannten Patientin in den Sinn: Versprich, mich zu beschützen, wenn er mich holen kommt!
Ein lautes Lachen hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Ellen sah sich um. Ihr Blick traf den eines Mannes im Anzug, der sich mit einem anderen Anzugträger unterhielt. Der Mann musterte sie von oben bis unten und bedachte sie dann mit einem anzüglichen Grinsen. Gleichzeitig hallte eine Kinderstimme in ihrem Kopf wider.
Dich holt er auch, sobald er von dir weiß.
 
Gegen halb zehn setzte sie Mark vor seiner Wohnung ab. Er fragte nicht, ob sie noch auf einen Kaffee mit hineinkommen wolle, und Ellen war froh darüber. Stattdessen versicherte er ihr nochmals, er werde ihr bei diesem BIF helfen, ehe er sich aus dem tief liegenden Schalensitz ihres Sportwagens ins Freie wuchtete und nach einem kurzen Blick zurück zur Haustür ging.
Als Ellen keine zwanzig Minuten später durch das Gelände der Waldklinik fuhr und das silberne Licht des Halbmondes vom sternenklaren Himmel auf die zahlreichen Linden, Ulmen und Eichen fiel, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie zutreffend der Name des Krankenhauses war. Ein junger Kollege aus Hamburg, der vor gut einem halben Jahr auf Ellens Station hospitiert hatte, hatte die Klinik als eine »idyllische kleine Stadt mitten im Wald« bezeichnet, und tatsächlich hätte er sie nicht besser beschreiben können.
Die meisten der Fassaden standen unter Denkmalschutz. Sie stammten noch aus Anfangstagen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Klinik die amtliche Bezeichnung Kreisirrenanstalt trug.
Im Lauf der folgenden Jahrzehnte war die Klinik weiter gewachsen, und die neu hinzugekommenen Gebäude waren, dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend, sehr unterschiedlich ausgefallen. So gab es schmucklos hochgezogene Bauten, die während des Wirtschaftswunders entstanden sein mussten, sowie Flachbauten im typischen Stil der Siebziger – einer Zeit, in der man, wie Zyniker behaupteten, am liebsten auch noch die zugehörigen Möbel aus Beton gegossen hätte.
Am markantesten war sicherlich das Versorgungszentrum, ein gewaltiger Komplex aus dem Jahr 1980, der auf den ersten Blick einem Fabrikgebäude ähnelte. Darin befanden sich eine gigantische Heizungsanlage, die Großküche, die Wäscherei, eine Apotheke und viele weitere Funktionsbereiche, welche die Klinik autark von ihrem Umfeld machten. Dahinter erstreckte sich das Areal der klinikeigenen Gärtnerei, die – abgesehen von ihrem eigentlichen Zweck, die Küche mit frischem Gemüse zu beliefern – auch als Teil der Arbeitstherapie für Patienten genutzt wurde.
Geeint wurde dieser architektonische Mischmasch durch den waldähnlichen Klinikpark, in dem sich neben einigen Anpflanzungen auch ein Minigolfplatz und eine Sportanlage befanden.
In dieser Nacht erschien Ellen das Klinikgelände jedoch keineswegs wie eine idyllische kleine Stadt mitten im Wald. Während sie mit offenem Verdeck in Richtung Wohnheim fuhr, hatte sie vielmehr den Eindruck, sich in einer Art Geisterbahn zu befinden.
Über ihrem Kopf rauschte das düstere Geäst der Bäume wie das Flüstern zahlloser Stimmen. Die Lichter der Straßenlampen warfen langgezogene Schatten auf den Asphalt. Manche glichen deformierten Köpfen, von denen Ellen zwar wusste, dass es sich um die Schatten der Wegbepflanzungen handelte, die ihr aber dennoch ein mulmiges Gefühl verursachten.
Weiter entfernt hörte sie ein dumpfes Grollen, das sie an ein knurrendes Tier erinnerte und das aller Wahrscheinlichkeit nach von nichts anderem als einem hoch über ihr dahinziehenden Flugzeug stammte.
Doch all die rationalen Erklärungen halfen ihr nicht wirklich über die Beklemmung hinweg, die sich in ihr ausbreitete. Denn für ein Gefühl fand sie keine Erklärung: Irgendwie war ihr, als werde sie von jemandem aus der Dunkelheit beobachtet.
Das ist ausgemachter Unsinn, schalt sie sich. Trotzdem wünschte sie sich, sie hätte das Verdeck an diesem Abend nicht geöffnet.
Als sie die Abbiegung zum östlichen Rand des Geländes entlangfuhr, erschrak sie derart, dass sie eine Vollbremsung hinlegte. Ungefähr hundert Meter vor ihr schien eine hochgewachsene Gestalt neben einem Baum zu stehen. Ein großer, schlanker Mann.
Ein schwarzer Mann.
Ellen schaltete das Fernlicht ein, und sofort musste sie vor Erleichterung lachen.
»O Mann, ich bin wirklich reif fürs Bett«, sagte sie zu sich selbst und fuhr an dem neuen Wegweiser zur Abteilung für Neurochirurgie vorbei.
Die Erleichterung über die kleine optische Täuschung hielt jedoch nicht lange an. Ihr Eindruck, beobachtet und verfolgt zu werden, wollte sich nicht abschütteln lassen.
Endlich kam sie auf dem Parkplatz vor dem Personalwohnheim an. Hastig schloss sie das Verdeck ihres Wagens und lief zur Eingangstür, wo sie bereits sehnsüchtig erwartet wurde.
Als Sigmund sie kommen sah, erhob er sich würdevoll und begrüßte sie mit einem krächzenden Miauen.
Ellen sah sich noch einmal um und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Es war zu dunkel, um etwas Genaueres zu erkennen, daran änderten auch die Wegleuchten nichts.
»Da ist niemand«, beschwichtigte sie sich selbst. »Das bilde ich mir nur ein. Mark hat Recht, ich sollte mich ausruhen.«
Wie um ihr dies zu bestätigen, stupste sie Sigmund mit dem Kopf gegen das Schienbein. Der alte Streuner hatte vor einigen Monaten mit ihr Freundschaft geschlossen, als er eines frostigen Winterabends vor ihrer Terrassentür gestanden und Ellen ihm Unterkunft und eine Schüssel Milch angeboten hatte. Seither ließ er sich in unregelmäßigen Abständen bei ihr blicken, die in den letzten Wochen allerdings immer dichter beieinanderlagen.
Die Wahl seines Namens verdankte er seinem weisen und mindestens ebenso arroganten Blick, der Ellen auf Anhieb an ein Foto von Freud erinnert hatte. Der Kater schien damit zufrieden. Zumindest reagierte er prompt, wenn sie ihn mit diesem Namen ansprach.
»Hallo, Süßer.« Sie kraulte ihn am Kopf, Sigmunds bevorzugtes Begrüßungsritual, und sah noch einmal in den Park.
Da war niemand.
Natürlich nicht.
»Na, mein Dicker, was hältst du von frischem Fisch und einer Runde Kuscheln?«
Sie hielt ihm die Plastikdose unter die Nase, die ihr die Besitzerin des A Dong wie immer mit Küchenresten gefüllt hatte.
Sigmund war offensichtlich einverstanden. Er drängte sich an ihr vorbei ins Parterre und folgte Ellen mit einer Selbstverständlichkeit in ihr Apartment, als sei es ihm absolut neu, dass Haustiere im Personalwohnheim nicht zugelassen waren.
Dort verzehrte er mit großem Appetit die Fischstückchen, während Ellen eine CD mit Schuberts Wanderer-Fantasie einlegte und dann mit einem Glas Ripasso in der Hand durch die Scheibe der Terrassentür sah. Im Dunkel des Vorgartens schimmerten die Lichter der nahen Stadt durch die Äste zweier Rotbuchen.
Ellen dachte an Chris. Sie vermisste ihn. Ob er wohl auch gerade an sie dachte? Bestimmt würde er sie noch anrufen oder ihr wenigstens eine SMS zukommen lassen, ehe er von Sydney aus zu dieser Insel aufbrach. Den längsten Teil des Fluges musste er bereits hinter sich haben, und bald schon würde ihn am anderen Ende der Welt ein sonniger Tag erwarten.
Hier in Fahlenberg hingegen herrschte die Nacht, und irgendwo da draußen, verborgen in der Dunkelheit, befand sich ein Mann, den ihre Patientin als den Schwarzen Mann bezeichnete.
Ein Mann, der keine Skrupel davor hatte, eine Frau zu misshandeln, bis sie sich in das Kind zurückflüchtete, das sie einst gewesen war.
Ellen schauderte und wünschte sich, Chris wäre jetzt hier bei ihr und würde sie in den Arm nehmen.
Du solltest diesen Fall nicht zu sehr an dich heranlassen, hallten Marks Worte in ihren Gedanken nach, und sie war überzeugt, dass auch Chris ihr jetzt diesen Rat gegeben hätte. Man muss jeden seiner Patienten ernst nehmen, hätte Chris hinzugefügt, aber keinesfalls sollte man sich zu tief davon berühren lassen.
Sie seufzte und fühlte sich wie jemand, der gefährlich nahe am Rand eines Strudels schwamm. Jetzt lag es an ihr, die richtigen Züge zu machen, um nicht hineingesogen zu werden. Doch im Moment war sie viel zu müde, um sich über ihre weiteren Züge Gedanken zu machen. Im Augenblick wollte sie nur noch auf Schuberts Klängen dahintreiben und zur Ruhe finden.
Als Sigmund mit einem dumpfen Rülpsgeräusch in Richtung Schlafzimmer trottete und sie mit einem beiläufigen Maunzen an den zweiten Teil ihres Versprechens erinnerte, folgte ihm Ellen wenig später ins Bett. Zwar war es noch relativ früh für sie, aber ihre Lider waren schwer, als sei schon späte Nacht.
Mit einem Schnurren, das an eine uralte Maschine erinnerte, die dringend geschmiert werden musste, rollte sich der Kater zu ihren Füßen zusammen.
»Schlaf gut, du pelzige Wärmflasche«, murmelte Ellen und knipste das Licht aus.
Sie sah noch, wie die Anzeige ihres Radioweckers von 22:04 auf 22:05 wechselte, dann war sie auch schon tief und fest eingeschlafen.
Aber es sollte keine gute Nacht für sie werden, denn …
 
… wenig später fand sie sich in einem Traum wieder, der sich plastischer anfühlte als jeder, den sie je zuvor geträumt hatte. Er war irgendwie … real.
Wie Alice, die das Wunderland betreten hat, und dennoch weiß, dass es dieses Land eigentlich gar nicht gibt.
Richtig, sagte eine vertraute Stimme neben ihr.
Zu ihrem Erstaunen stand dort ihr ehemaliger Doktorvater, Professor Bormann. Spätestens jetzt konnte Ellen zu hundert Prozent sicher sein, dass dies nur ein Traum war. Kein Zweifel möglich. Bormann war vor zwei Jahren an Darmkrebs gestorben.
Allerdings ist das hier nicht das Wunderland, und Sie sind auch nicht Alice, meine Beste.
Bormann machte eine allumfassende Geste. Sie standen inmitten eines kalten und düsteren Betonraumes, aus dem zu beiden Seiten tunnelartige Gänge führten, deren Enden sich irgendwo im Dunkeln verloren. Im Licht der spärlichen Neonröhren wirkte Bormanns Teint ungesund und bleich.
Wo sind wir?
Das, meine liebe Ellen, gilt es für Sie herauszufinden, sagte Bormann mit einem Zwinkern, das ihn schon zu seinen Lebzeiten sympathisch gemacht hatte.
Ich befinde mich in einem Luzidtraum, nicht wahr?
Zufrieden nickte der Professor. Sie waren stets meine Beste, Ellen, und sind es immer noch. Ja, dies ist ein Luzidtraum, ein Traum, den Sie bewusst erleben und beeinflussen können. Sie können seinen Ablauf steuern. Sie können hier alles steuern, nur eines nicht: Ihr Erwachen. Also, machen Sie das Beste daraus.
Er wandte sich zum Gehen.
Nein, bitte bleiben Sie, bat Ellen. Lassen Sie mich nicht allein.
Das kann ich nicht, entgegnete Bormann. Ich bin nur der Prolog, wenn Sie so wollen. Es ist Ihr Traum, nicht meiner. Irgendwann erlebt jeder von uns den Moment, in dem er das Gelernte zum ersten Mal auf sich allein gestellt einsetzen muss. Dann ist es für den Lehrer an der Zeit zu gehen.
Kaum hatte er ausgesprochen – hatte er dabei überhaupt die Lippen bewegt? -, wurde Bormanns Gestalt undeutlich und immer transparenter, bis sie schließlich ganz verschwunden war.
Verunsichert sah Ellen sich um. Also gut, es war ihr Traum.
Dann wollen wir mal sehen.
Ihr boten sich zwei Möglichkeiten. Welchen Gang sollte sie nehmen, den rechten oder den linken?
Sie fror, und als sie an sich herabsah, stellte sie erschrocken fest, dass sie splitterfasernackt war.
Ein weiterer Indikator dafür, dass dies hier ein Traum sein muss, dachte die Analytikerin in ihr. Die symbolisierte Peinlichkeit, sich im Angesicht einer bestimmten Situation nackt und verlassen zu fühlen.
Aber in welcher Situation? War da nur die Wahl zwischen rechts und links, oder gab es da noch mehr?
Gut, dieser kalte, hässliche Raum war nur der Ausgangspunkt. Wenn es weitergehen – losgehen – sollte, musste sie sich jetzt entscheiden. Aber beide Gänge sahen genau gleich aus, was die Wahl nicht unbedingt leichter machte.
Also, was tun? Knobeln? Analysieren?
Nackt, zitternd und ratlos schlang sie die Arme um den Oberkörper. Was sollten dieser Raum und die beiden Gänge darstellen? Boden und Wände bestanden aus dunklem, teilweise schlüpfrigem Waschbeton, der nach feuchtem Moos und Schimmel roch.
Ellen musste an den Keller in Chris’ Elternhaus denken. Das Haus, das zu ihrer beider Heim geworden war, wenn auch zunächst nur an den Wochenenden. Das Haus, in dem sie sich noch nicht so recht zu Hause fühlte; ein Umstand, der sicherlich eine Weile andauern würde.
Sollte ihr der Traumraum aufzeigen, dass sie insgeheim noch nicht wusste, ob sie überhaupt mit Chris zusammen in dessen Elternhaus leben wollte?
Die Kälte in diesem Traum kam ihr seltsam echt vor. Ja, sie spürte deutlich, wie kalt ihre Füße waren. Wie Eisblöcke. So, als stünde sie tatsächlich auf dem kalten schlüpfrigen Betonboden, statt die Füße von ihrer Federdecke und Sigmunds Körper gewärmt zu bekommen.
Na schön, irgendwie zieht es mich mehr zum rechten Gang hin. Es mag zwar nicht stimmen, aber ich habe den Eindruck, als führe er vorwärts und der linke zurück. Keine Ahnung, ob das tatsächlich so ist, aber dies ist mein Traum, also führt er ganz einfach nach vorn. Punktum.
So betrat sie den rechten Gang, wo es trotz der Neonröhren unter rostigen Drahtkäfigen kaum heller war. Auch hier fühlte sich der Boden unter ihren nackten Füßen unangenehm glitschig an. Bewegte sie den Fuß vor und zurück, so schob sie das schmierige Grün aus Moos und Schimmel – vielleicht auch Algen – zu kleinen, fettig glänzenden Häufchen zusammen, die die Umrisse von Ferse und Zehen annahmen.
Je weiter sie ging, desto feuchter wurde es um sie herum. Sie musste einigen Pfützen auf dem Boden ausweichen.
Die Decke scheint undicht zu sein, dachte sie. Überall fielen Tropfen von Wänden und Decke und patschten in die Pfützen vor und hinter ihr.
Ellen zitterte immer mehr. Ihr war nicht nur kalt, da war auch noch ein zweites Gefühl. Ihr war unheimlich zumute.
Sag es doch frei heraus, Ellen Roth, wir sind unter uns: Du hast Angst. Hundert Prozent reine Angst. Garantiert echt, garantiert ohne emotionale Zusatzstoffe.
Ja, verdammt, sie hatte Angst. Obwohl dies nur ein Traum war und sie genau wusste, dass es nur ein Traum war, hatte sie gewaltige Angst. Und als sie sich dies eingestand, wurde sie von einer plötzlichen Erkenntnis getroffen – von einem Wissen, das wie ein Blitz in ihrem Kopf aufammte:
Irgendjemand oder irgendetwas lauert hinter mir im Dunkeln. Hinter meinem Rücken. Es beobachtet mich!
Erschrocken sah sie sich um. Der Raum, von dem aus sie losgegangen war, konnte noch nicht allzu weit hinter ihr liegen. Doch nun war er nicht mehr zu sehen. Er befand sich irgendwo in der immer dunkler werdenden Röhre des Ganges, die das blasse Licht der Leuchtröhren regelrecht zu schlucken schien, je weiter der Gang zurückreichte.
Dann hörte sie es. Zuerst war es nur ein leises Titsch-Titsch, das kaum lauter, aber deutlich schneller als das Geräusch der Wassertropfen war. Gleich darauf klang es schon näher, wurde lauter. Etwas rannte auf sie zu.
Noch konnte sie es nicht sehen, noch verbarg es die Dunkelheit, aber Ellen war alles andere als erpicht darauf, den Verursacher des Geräuschs zu sehen – nicht in diesem Moment. Tief in ihr warnte sie etwas, dass dieser Jemand, der da auf sie zurannte – dieses Etwas -, kein Freund – kein angenehmer Mitmensch, wie Chris gesagt hätte -, sondern eine Bedrohung war.
Und das rasche Titsch-Titsch wurde lauter und lauter.
Ellen rannte los.
Ich muss es steuern, irgendwie. Aber wie? Was soll ich tun, damit mein Verfolger verschwindet? Ihn wegwünschen? Hokuspokus rufen? Bitte, bitte, liebes Unterbewusstsein, lass mich jetzt aufwachen. Du hast deinen Spaß gehabt, aber ich will jetzt nicht mehr. Mach bitte, dass ich aufwache!
Aber ihr Unterbewusstsein, ihre Synapsen oder was auch immer in ihrem Gehirn für den Traum zuständig sein mochte, war wohl gerade zu beschäftigt, als dass es Zeit gehabt hätte, auf sie zu hören; vielleicht hatte es auch einfach keine Lust, ihr zu helfen, oder es war der Meinung, sie würde schon rechtzeitig genug aufwachen, wenn sie in diesem Traum, der sich so erschreckend echt anfühlte, nur lange genug rannte.
Und so rannte sie – schlitterte war eigentlich der bessere Ausdruck – über den schlüpfrigen Betonboden in entgegengesetzter Richtung des Geräuschs, das inzwischen zu einem Tatsch-Tatsch-Tatsch angeschwollen war.
Es war, als flüchtete sie barfuß über einen zugefrorenen See. Der kalte Boden schmerzte an ihren Fußsohlen, und immer wieder musste sie achtgeben, nicht auszurutschen und zu fallen. Ihrem Verfolger hingegen schien der schlüpfrig-glatte Untergrund nichts anhaben zu können. Das Tatsch-Tatsch-Tatsch kam näher und näher und vermischte sich mit einem unheimlichen Keuchen.
So hilf mir doch jemand! Es ist mein Traum, und ich kann ihn steuern, also komm endlich jemand und hilf mir!
Doch außer dem schaurigen Echo ihrer Stimme und den Patschgeräuschen ihrer nackten Füße erhielt sie keine Antwort.
Als der Tunnel eine Biegung nach links machte, geschah das Unvermeidliche: Ellen glitt aus und fiel. Der Schmerz in ihren Knien ließ sie aufschreien. Sie spürte, wie ihre Haut aufschürfte, als sie über den Boden rutschte und gegen die Wand prallte.
Panisch rappelte sie sich auf, glitt wieder aus, fiel nochmals hin, warf einen Blick zurück zu ihrem Verfolger. Als sie sah, was da hinter ihr her war, blieb ihr fast das Herz stehen.
Ein schwarzer Hund, so groß wie ein Kalb, hetzte durch den Tunnel auf sie zu. Sein zottiges Fell starrte vor Dreck. Er fixierte Ellen mit Augen, die im Halbdunkel des Ganges zu glühen schienen, und stieß dabei ein tiefes, bedrohliches Knurren aus, das einem Donnergrollen gleichkam. Schleimige Speichelfäden wehten neben seinen Lefzen, und der faulige Atem stob in Wolken durch die gefletschten Zähne, während er mit kraftvollen Sprüngen immer näher und näher kam.
In seinen glühenden Augen lag etwas derart Bösartiges, dass Ellen auf einmal wusste, warum es in Wirklichkeit so kalt in diesem Tunnel war. Es lag nicht an der Kälte der Betonwände, nicht an der Feuchtigkeit, die von Wänden und Decke troff, es lag allein an diesem monströsen Hund. Und er war nur noch wenige Sprünge von ihr entfernt.
Patsch. Patsch. Patsch.
Gleich wird er mich fressen. Er wird seine langen gelben Zähne in meine Kehle bohren, wird mir den Kopf von den Schultern reißen und mich zerfleischen. Wie ein Monster aus einem gottverdammten Horrorfilm. Genau so.
Sie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Ellen wirbelte herum und sah – die Frau ohne Namen. Im Gegensatz zum heutigen Nachmittag lag keine Spur von Furcht mehr in ihren braunen Augen. Nein, sie lächelte sogar.
Schnell, sagte die Frau ohne Namen und deutete auf Ellens Hände. Ellen schaute auf ein seltsames Gebilde, das sie plötzlich in Händen hielt. Es war nicht viel breiter als ein Schreibtischlineal und fühlte sich irgendwie steinern an. Sie hatte keine Ahnung, was dieses Etwas war, geschweige denn, was sie damit tun sollte, also tat sie das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam.
Mit einer einzigen schnellen Bewegung warf Ellen das steinerne Etwas nach dem nahenden Hund. Doch es schien zu schwer zu sein und fiel nur knapp vor ihr zu Boden. Dort begann es mit irrwitziger Geschwindigkeit zu wachsen und wurde zu einer Mauer. Sie versperrte die gesamte Breite des Ganges und reichte am Ende fast bis zu Ellens Kinn.
Im letzten Moment, knapp bevor er gegen die Mauer prallte, kam der Hund zum Stehen. Hechelnd fixierte er Ellen und die Frau ohne Namen hinter ihr mit seinen tiefschwarzen Augen. Dann hob er den Kopf noch weiter, so dass der graue Pelz an seinem gestreckten Hals zu sehen war, und schnüffelte.
Doch es war nicht das Schnüffeln, das man sonst von Hunden kannte. Vielmehr sog er ihrer beider Geruch ein, wie ein Mensch, der sich nicht sicher ist, ob es sich bei dem, was er riecht, um einen Wohlgeruch oder um Gestank handelt.
Dann senkte das riesige Tier den Kopf. Es sah die beiden Frauen an, so als wolle es sagen: Für euch beide ist die Zeit noch nicht gekommen. Aber wir sehen uns wieder.
Dann machte der Hund kehrt und trottete mit gesenktem Schwanz davon. Ellen sah ihm nach, bis ihn die Dunkelheit des Tunnels verschluckte. Sie wandte sich wieder der Frau ohne Namen zu.
War das wirklich nur ein Hund?
Nein, entgegnete die Frau ohne Namen. Du weißt vielleicht noch nicht, wer es war. Aber irgendwann weißt du es ganz bestimmt. Denk an dein Versprechen!
»Aber wer bist du, und warum verfolgst du mich bis in meinen Traum?«
Der Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie aus dem Schlaf schrecken, und statt der namenlosen Frau sah sie nun Sigmunds rundes Pelzgesicht vor sich – so dicht, dass sie seinen fischigen Atem riechen konnte.
Du siehst schrecklich aus, schien der Blick des Katers zu sagen.
»Und genau so fühle ich mich auch.«
Trigger - Dorn, W: Trigger
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