Kapitel 26
Das Gehirn eines Menschen besteht aus ungefähr hundert Milliarden Nervenzellen, die durch mehr als hundert Billionen Synapsen miteinander kommunizieren. Dabei entstehen einzelne Gedanken in so unglaublich hoher Geschwindigkeit, dass man sie längst verarbeitet hat, ehe sie im Geiste zu Worten geformt sind.
Noch ehe Mark die Fahrertür seines Volvos zuschlug, hatte Ellen bereits zwei Möglichkeiten gegeneinander abgewogen. Entweder sie blieb in seinem Haus und stellte ihn zur Rede – sowohl, was das makabre Spiel betraf, das er mit ihr trieb, als auch, was den Verbleib der Frau ohne Namen anbelangte -, oder aber sie sah zu, dass sie unbemerkt aus dem Haus kam.
Für die zweite Alternative sprach, dass sie nur so die Möglichkeit haben würde, Marks Komplizen ausfindig zu machen. Dann konnte sie die Polizei einschalten, ohne dass Mark in der Lage wäre, den Namen des anderen zu verschweigen. Vorher wäre es zu riskant, wenn sie nicht das Leben der entführten Frau aufs Spiel setzen wollte.
Sie hörte schon seine Schritte auf dem Kiesweg, der zum Haus führte, und hastete durch das Wohnzimmer zur Terrassentür. Es folgte das Klacken seines Haustürschlüssels, der sich im Schloss drehte. Es kostete Ellen zwei wertvolle Sekunden, die schwergängige Terrassentür zu öffnen und hinter sich zuzuziehen. Der Garten des Dreiparteienhauses war ziemlich groß. Mark würde hier sein und sie sehen, noch ehe sie die Straße erreicht hatte.
So schnell sie konnte, suchte sie hinter einer Hecke Schutz. Dann wartete sie ab, was geschehen würde.
Zunächst geschah nichts. Ellen konnte nicht erkennen, ob sich Mark im Wohnzimmer befand, da sich die tief stehende Sonne auf den Fensterscheiben spiegelte. Dann öffnete sich die Terrassentür. Mark trat ins Freie. Er sah sich um. Sein Blick wanderte durch den Garten zur Straße und wieder zurück. Für ein oder zwei Sekunden, die Ellen wie eine Ewigkeit vorkamen, starrte er auf den Teil der Hecke, hinter den sie sich duckte.
Mist, er kann mich sehen! Wenn ich ihn sehen kann, kann er es auch!
Mark kam ein paar Schritte auf sie zu und blieb stehen. Er bückte sich, hob ein funkelndes Stück Zellophan auf, das der Wind von der Straße in den Garten getragen haben musste, betrachtete es kurz und warf es wieder ins Gras. Schließlich ging er zurück in seine Wohnung.
Wieder verging eine kleine Ewigkeit, dann hörte sie, wie Mark den Volvo startete. Ellen rannte durch den Garten zur Straße.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde er jetzt nach ihr suchen. Vielleicht würde er auch seinen Kumpel zu Hilfe holen. Sie musste ihm folgen. Nur wie? Ihr Mazda stand noch immer in der Tiefgarage.
In diesem Moment kam ein tiefer gelegter Kleinwagen – der zu einer Zeit, zu der er noch keinen Tuningmaßnahmen zum Opfer gefallen war, ein Opel Corsa gewesen sein musste – mit aufgedrehter Musikanlage die Straße entlanggeschossen. Ellen überlegte nicht lange, sondern trat mit fuchtelnden Armen auf die Fahrbahn. Mit quietschenden Reifen kam das Plastikgeschoss zum Stehen.
»Sag mal spinnst du, Alte!«, schrie sie der Fahrer durch die heruntergelassene Scheibe an. Er war höchstens zwanzig. Sein blondiertes Haar hatte er mit einer Unmenge Gel zu einer Art Hahnenkamm aufgestellt.
»Bitte, du musst mich mitnehmen.« Ellen trug den flehentlichsten Augenaufschlag zur Schau, dessen sie fähig war, und hielt beide Hände auf die Motorhaube, um ihn am Weiterfahren zu hindern.
»Scheißen und verrecken, mehr muss ich überhaupt nicht! Und jetzt nimm die Flossen von meiner Karre. Du verkratzt mir den Lack.«
»Ich zahle!«
Schlagartig drehte er die Musik leiser.
»Wie viel?«
»Fünfzig.«
»Hundert.«
Marks Volvo hatte das Ende der Straße erreicht und bog um die Kurve. Das war die Richtung, die zur Umgehungsstraße führte.
»Gut, hundert.«
»Im Voraus!«
Sie riss die Beifahrertür auf und sprang in den Wagen. In ihrem Geldbeutel befanden sich noch einhundertundzehn Euro. Sie warf ihm die Scheine auf den Schoß. »Und jetzt fahr dem schwarzen Volvo hinterher. Aber unauffällig!«
Er grinste.
»Klar doch.«
Dann drehte er den Lautstärkeregler wieder so weit auf, dass der Bass die Heckklappe beben ließ, und gab Gas.
Trigger - Dorn, W: Trigger
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