Kapitel 43
Nachdem Nicole ihre Erzählung beendet hatte,
sackte sie schluchzend in sich zusammen. Mark legte einen Arm um
ihre Schultern und ließ ihr Zeit, all die angestauten Gefühle aus
sich herauszuweinen, die sie über so viele Jahre zurückgehalten
hatte.
»Wollen Sie jetzt lieber ein wenig für sich sein?«,
fragte
er, als sie sich wieder beruhigt hatte und sich die Nase
putzte.
Nicole schüttelte den Kopf. »Nein, es geht schon
wieder.« Sie sah ihn aus geröteten Augen an und lächelte schwach.
»Danke.«
»Wofür?«
»Dass ich es endlich loswerden konnte.«
Mark nickte, griff nach seinen Zigaretten,
überlegte es sich dann aber doch anders. »Sie mag es nicht, wenn
ich rauche, wussten Sie das?«
»Vielleicht, weil ihr Vater ein ziemlich starker
Raucher war.«
»Kann sein. Für jede Aversion gibt es eine Ursache.
Und genau darüber denke ich gerade nach.«
»Über das, was Lara nicht mochte?«
»Nein, über die Ursache, den Auslöser für diesen
Zusammenbruch«, sagte Mark und rieb sich nachdenklich das Kinn.
Ȇber das, was man im Fachjargon den Trigger nennt. Bis vor wenigen
Tagen hat die Ellen-Identität bei ihr funktioniert, doch dann auf
einmal nicht mehr. Ich frage mich, was der Grund dafür ist. Für
gewöhnlich bildet die autoplastische Abwehr eines Traumas bei
solchen Störungen eine aus therapeutischer Sicht schier
uneinnehmbare Bastion. Die Schutzpersönlichkeit stellt sich
gewissermaßen wie ein Zerberus vor jegliche Erinnerung, um den
zerbrechlicheren Persönlichkeitsanteil vor dem Kollaps zu bewahren.
Ohne therapeutische Intervention ist eine schrittweise
Wiedererlangung verdrängter Erinnerungen so gut wie unmöglich. Aber
in ihrem Fall begann die innere Mauer plötzlich zu bröckeln. Das
verstehe ich nicht. Warum hat sie auf einmal diese Halluzinationen
gehabt?«
»Vielleicht wird sie es uns verraten, sobald sie
wieder spricht.«
Mark schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht.
Menschen, die aus einer Fugue in die Realität zurückkehren, können
sich danach an nichts mehr von dem erinnern, was sie in dieser
Phase getan haben. Ganz gleich, wie lange der Zustand auch
angedauert hat. Eine Art mentaler Selbstschutz.«
Erschrocken sah Nicole ihn an. »Aber das würde ja
bedeuten, dass Lara auf dem Stand einer Neunjährigen wäre, wenn sie
wieder zu sich kommt, oder?«
Mark wiegte den Kopf hin und her. »Einerseits ja,
aber mit Gewissheit kann ich das nicht sagen. Bislang habe ich wie
gesagt noch nie von einem Fall gelesen, bei dem die Fugue über
einen derart langen Zeitraum angehalten hat. Es kann durchaus sein,
dass im Lauf der Therapie ein Teil der Erinnerungen und des Wissens
aus ihrer Zeit als Ellen zurückkehrt. Aber ganz am Anfang … nun ja,
ich denke, ganz am Anfang wird sie erst einmal das Mädchen sein,
das sie zum Zeitpunkt ihrer Verdrängung war.«
»O Gott«, stöhnte Nicole und hielt sich die Hand
vor den Mund. Ihre Augen verschwammen hinter Tränenschleiern.
»Deshalb ist es wichtig, dass sie in gute Hände
kommt«, fügte Mark hinzu. »Wir haben an der Waldklinik einen
hochqualifizierten Experten, der sich um sie kümmern sollte. Ich
habe das bereits vorhin mit dem behandelnden Arzt besprochen.
Sobald Lara transportfähig ist, wird man sie nach Fahlenberg
bringen.«
»Zurück in die Klinik, in der sie als Ärztin
gearbeitet hat?«
Mark verstand, worauf sie hinauswollte, aber er
hielt seine
Entscheidung dennoch für die einzig richtige. »Nun, zum einen wird
sie natürlich nicht auf derselben Station behandelt werden, auf der
sie tätig war. Und zum anderen mag es sich nur deshalb befremdlich
anhören, weil es sich um eine psychiatrische Klinik handelt.
Wäre sie eine Chirurgin und müsste sich einem chirurgischen
Eingriff unterziehen, würde sie sich höchstwahrscheinlich auch von
dem Arzt behandeln lassen, der auf diesem Gebiet einen exzellenten
Ruf genießt, denken Sie nicht?«
Wirklich überzeugt schien er sie mit seiner
Argumentation nicht zu haben, das war Nicole deutlich anzusehen.
Dennoch meinte sie nach einem kurzen Moment des Überlegens: »Das
müssen Sie entscheiden. Sie sind der Fachmann und werden wissen,
was das Richtige ist.«
»Glauben Sie mir, es ist das Beste für sie«,
versicherte Mark, und um seine Aussage zu bekräftigen, fügte er
hinzu: »Ich werde alles mir Mögliche tun, damit ihr geholfen wird
und wir die Hintergründe ihres Zusammenbruchs aufdecken
können.«
Nicole schwieg und sah nachdenklich zu einer
Anpflanzung hinüber, in der sich zwei Amseln zankten. Dann wandte
sie sich wieder Mark zu. »Was glauben Sie – was könnte geschehen
sein?«
Mark machte eine ratlose Geste. »Ich habe keine
Ahnung, aber ich fürchte, wir kennen noch nicht die ganze
Wahrheit.«
»Sie meinen, etwas ist passiert, was das alles erst
freigesetzt hat?«
Mark spürte, dass er zitterte, als er Nicole ansah
und langsam nickte. »Etwas, das schlimm genug war, ihre geistige
Blockade nach all den Jahren zu durchbrechen.«