Kapitel 20
Ellen parkte eine Straßenecke vom Haus der Janovs entfernt. Nachts wirkte das heruntergekommene Viertel noch bedrohlicher, selbst wenn sie nichts von den Schlagzeilen gewusst hätte, die hin und wieder durch die Lokalpresse geisterten. Möglich, dass es auch nur an der defekten Straßenbeleuchtung lag, die einen Teil der Straße in fast völligem Dunkel zurückließ – ausgerechnet den Teil, in dem sich Janovs Haus befand.
Von weiter weg hörte Ellen das Krakeelen eines Betrunkenen, und aus einem der Häuserblocks drang basslastige Rapmusik. Hinter einem Fenster in ihrer unmittelbaren Nähe stritten ein Mann und eine Frau in einer ihr fremden Sprache, begleitet vom Klirren von Porzellan.
Als Ellen den Vorgarten der Janovs erreichte, ertappte sie sich bei dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Ein Gefühl, das sie hemmte. Immerhin war sie nur wegen eines Traums hier, was jeglicher vernünftigen Argumentation für ihr Eindringen widersprach. Andererseits war dies ihr einziger Anhaltspunkt.
Natürlich ist es nicht legal, in anderer Leute Briefkasten zu wühlen, sagte die Kämpferin in ihr, aber wenn du weiterkommen willst, bleibt dir gar nichts anderes übrig, als nachzusehen, ob es wirklich nur ein Traum oder nicht vielleicht doch eine Erinnerung gewesen ist. Also geh hin. Die sind um diese Nachtzeit ohnehin nicht mehr wach, geschweige denn nüchtern.
Ihr Argument klang überzeugend, fand Ellen, auch wenn es ihr ein wenig schizophren vorkam, von ihren eigenen Gedanken wie von den Worten einer fremden Person zu denken.
Sie erinnerte sich, dass die Angeln des Gartentürchens gequietscht hatten. Und wenn ihr das trotz des Lärms, der tagsüber hier herrschte, aufgefallen war, würde es nachts umso schlimmer sein. Ebenso gut hätte sie laut hupend vorfahren können. Also kletterte sie über den Zaun, landete im Gras neben einer Ansammlung rostiger Konservendosen und Plastikmüll und huschte im Schutz der Büsche auf den Briefkasten zu.
Selbst im Halbdunkel des Hauseingangs war das satte Rot gut zu erkennen. Angestrengt lauschte sie, ob etwas im Inneren des Hauses zu hören war. Hinter einem der Fenster tobte das blaue Lichtgewitter des Fernsehers. Ellen hoffte inständig, dass Edgar Janov vor der Glotze eingeschlafen war, als sie zum Briefkasten schlich. Etwas sauste knapp vor ihren Schuhspitzen vorbei, und Ellen musste einen angeekelten Aufschrei unterdrücken, als sie eine Ratte erkannte.
Ruhig bleiben, ganz ruhig.
Mit zitternden Händen kramte sie den Schlüssel aus ihrer Jeans. In diesem Augenblick donnerte ein dunkler BMW durch die Straße und hielt mit quietschenden Reifen an. Ellen sprang hinter einen der Büsche – bitte, lieber Gott, lass die Ratte nicht dort sein! – und wartete ab, bis zwei junge Männer ausgestiegen waren.
Ihrer Sprache nach waren sie vermutlich osteuropäischer Herkunft. Einer von ihnen rülpste lautstark, was seinen Kumpel zum Lachen brachte, dann zerschmetterte er eine Flasche auf dem Asphalt. Ellen hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Warum stellte sich der Idiot nicht gleich unter Janovs Fenster und sang ihm ein Wecklied?
Keine zwei Minuten später waren die beiden in einem der umliegenden Häuser verschwunden. Erneut lauschte Ellen auf verdächtige Geräusche im Haus der Janovs. Noch immer lief der Fernseher, aber sie hörte keine realen Stimmen, weder die von Edgar Janov noch von seiner Frau. Scheinbar war man in dieser Straße an nächtliche Ruhestörungen gewöhnt.
Umso besser, dachte Ellen und schlich wieder zum Briefkasten. Sie setzte den kleinen schmalen Schlüssel ans Schloss und …
Er passte nicht!
Unmöglich.
Er musste einfach passen!
Wieder und wieder stocherte sie im Dunkeln an dem Schloss herum, doch der Schlüssel war zu klein.
Was jetzt? Sie war sich doch so sicher gewesen, dass der Kerl diesen Briefkasten und keinen anderen gemeint hatte. Er musste ihn gemeint haben; wo, zum Teufel, sollte sie denn sonst suchen?
Oder war es ein weiteres Zeichen seines kranken Hirns, ihr einen Hinweis zu geben, mit dem sie nichts anfangen konnte? Ihr blieb nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Mit jeder Sekunde, die sie hier vertrödelte, wuchs die Gefahr, von irgendjemandem entdeckt zu werden.
Sie hatte zwei Möglichkeiten: Aufgeben oder …
Ellen erinnerte sich an den Sicherungskasten im Keller von Station 9. Sie schob den Schlüssel in den Spalt knapp über dem Schloss und benutzte ihn als Hebel. Die Tür des feuerroten Briefkastens bestand aus dünnem Blech und ließ sich erstaunlich leicht verbiegen. Doch der Schlüssel selbst war nicht sonderlich stabil und brach schließlich ab. Wie schon im Keller versuchte sie es mit ihrem Haustürschlüssel und hatte Erfolg. Bald hatte sie das Türchen so weit aufgebogen, dass sie mit den Händen nachhelfen konnte. Dann auf einmal, begleitet von einem blechernen Kreischen, flog der Briefkasten auf.
Ellen schrak zusammen, sah sich hastig um und untersuchte dann das dunkle Innere des Kastens.
Leer.
Oder halt, nein, da war doch etwas!
Ein kleines Stück Karton am Boden des Briefkastens. Es fühlte sich an wie eine Visitenkarte. Ja, das war es – eine Visitenkarte!
Es war zu dunkel, um lesen zu können, was darauf stand, aber der Stärke des Kärtchens und dem Prägedruck nach zu schließen, handelte es sich nicht um einen der Reklamezettel, wie man sie oft im Briefkasten fand. Schon gar nicht in einem Viertel wie diesem, wo es selbst für einen Gerichtsvollzieher nicht viel mehr als einen Fernseher zu holen gab.
Also doch kein Scherz, sondern ein weiterer Hinweis!
Urplötzlich wurde Ellen in Helligkeit getaucht. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und blinzelte geblendet zwischen ihren Fingern hindurch in das Licht der Lampe über dem Eingang. Entsetzt erkannte sie Edgar Janovs Schatten in der offenen Tür.
»Was machst’n du hier?«
Ihr blieb keine Zeit für Erklärungen, geschweige denn, um davonzulaufen. Noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, traf sie ein Schlag ins Gesicht. Seine Wucht warf sie rücklings zu Boden. Sie rollte zur Seite, wollte aufspringen und erhielt einen Tritt in die Magengrube. Der Schmerz war unbeschreiblich. Ellen krümmte sich zusammen, die Hände auf den Bauch gepresst.
Von ihrem Erlebnis am Nachmittag tat ihr noch immer alles weh, aber gegen diese Schmerzen war das allenfalls ein leichtes Ziehen im Rücken gewesen. Schneller als sie es jemandem wie Janov zugetraut hätte, war er über ihr. Er packte sie bei den Haaren und riss sie daran hoch. Ellen schrie und schlug mit den Fäusten nach ihm, doch Janov schien gegen ihre Schläge immun zu sein.
»Miese kleine Fotze!« Er warf sie gegen die raue Hauswand. »Was haste hier zu suchen?«
Mit aller Kraft trat Ellen nach hinten aus und traf dabei seinen Oberschenkel. Eigentlich hatte sie es auf eine andere Stelle abgesehen, aber vor Schmerz war sie nicht gelenkig genug dafür. Dennoch erzielte ihr Tritt die gewünschte Wirkung. Janov stöhnte und taumelte rückwärts. Ellen rannte auf die Gartentür zu, doch kaum hatte sie sie erreicht, als sie die beiden Halbstarken aus dem Auto erkannte. Sie versperrten ihr den Weg.
»Lasst mich durch!«
Sie erntete nur ein hämisches Grinsen.
»He, Eddi, können wir danach auch mal?«, fragte der eine.
Erschrocken fuhr sie herum und sah gerade noch, wie Janov, der sich erstaunlich schnell von ihrem Tritt erholt hatte, auf sie zukam, ehe sie einen Faustschlag in den Magen erhielt. Ihr blieb keine Gelegenheit mehr auszuweichen. Sie klappte wie ein Taschenmesser zusammen und sank keuchend auf die Knie.
»Verpisst euch«, hörte sie Janov hinter sich. »Wenn ich mit der fertig bin, will die sowieso keiner mehr.«
Ellen schmeckte Blut und versuchte verzweifelt aufzustehen – unmöglich. Weder ihre Arme noch ihre Beine wollten ihr gehorchen.
Wieder packte Janov sie an den Haaren und zog ihren Kopf zurück. »Also, du Schlampe. Was willste von mir, hä? Für wen schnüffelst du hier rum?«
Ellen sah in Richtung der beiden jungen Männer. »Hilfe«, stöhnte sie.
»Viel Spaß noch«, meinte der eine, gab seinem Kumpel einen Klaps auf die Schulter, und dann gingen sie zu ihrem Auto zurück.
»Red endlich!«, brüllte Janov gegen den aufheulenden Motor an.
»Lassen Sie mich los«, brachte Ellen hervor.
Janov dachte gar nicht daran. Stattdessen packte er ihren Schopf noch fester und griff mit der anderen Hand nach dem Kragen ihres T-Shirts. Stoff riss. Ellen sprang auf, holte dabei die Dose Pfefferspray aus der Jackentasche und drückte den Auslöser, noch bevor sie Janovs Gesicht erreicht hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde befürchtete sie, die Dose in die falsche Richtung zu halten und den Reizstoff vielleicht nur seitwärts oder gar auf sich selbst zu sprühen. Doch sie traf. Sofort ließ Janov von ihr ab.
Die Hände vors Gesicht geschlagen, taumelte er umher und schrie wie ein Irrsinniger. Er sah aus wie ein Tanzbär in einer Zirkusnummer und fuchtelte wild mit den Armen, während die Tränen nur so über sein schmerzverzerrtes Gesicht flossen. Gleich hinter ihm erkannte Ellen seine Frau.
Wie lange Silvia Janov der Szene tatenlos zugesehen hatte, war schwer zu sagen, doch nun kam Leben in ihr Gesicht. Sie hob eine leere Bierflasche auf, die im Gras lag, ging zu ihrem Mann und zerschlug sie ohne zu zögern auf seinem Kopf.
Janov ging zu Boden. Zwar war er weiterhin bei Bewusstsein, aber aus seinen Schreien war nun ein schwaches Wimmern geworden, das hinter seinen vorgehaltenen Händen irgendwie merkwürdig klang.
Ellen sah den dunklen Fleck, der sich in seinem wirren Haar bildete. Die Platzwunde muss schnellstens genäht werden, dachte die Ärztin in ihr, doch die Kämpferin meinte nur: Scheiß drauf.
Silvia Janov stand über ihrem Mann, der heulend am Boden hin und her rollte. Sie hielt den abgebrochenen Flaschenhals noch immer in der Hand und lächelte auf seltsam zufriedene Art.
»Schnell«, sagte Ellen. »Wir brauchen Öl und Wasser, um ihm das Zeug abzuwaschen.«
»Das mach ich dann schon«, meinte die Frau und warf den Flaschenhals ins Gras. »Hau jetzt endlich ab.«
»Soll ich den Notarzt …«
»Geh endlich!«
»Also gut.« Ellen zuckte mit den Schultern.
»Tut gut, wenn der Drecksack auch mal eins auf die Fresse kriegt.«
Ellen war sich nicht sicher, ob Silvia Janov tatsächlich mit ihr sprach oder eher ein Selbstgespräch führte.
»Warum trennen Sie sich nicht von ihm?«
Diesmal sah Silvia Janov sie direkt an, und alle Unsicherheit und Angst war aus ihren Augen gewichen.
»Spinnst du? Ich, den Eddi verlassen? Niemals! Ich lieb ihn doch.«
Trigger - Dorn, W: Trigger
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