Kapitel 32
»Und was jetzt?«
Ellen betrachtete das Foto eines etwa zehnjährigen
Mädchens mit langem dunklen Haar und lebenslustigen Augen. Augen,
die mit denen der namenlosen Patientin nichts gemeinsam
hatten.
Aus irgendeinem Grund kam ihr das Mädchen bekannt
vor, und doch auch wieder nicht.
Weil sie auf dem Foto so aussieht wie Tausende
anderer Mädchen auf ihren Kinderausweisen eben aussehen.
Ein typisches Passbild, aufgenommen vor einem
blauen Hintergrund von einem Fotografen ohne viel Gespür für sein
Gegenüber, der seine kleine Kundin dazu aufforderte,
zu lächeln und dabei Salami, Titicaca-See oder
Ameisenscheiße zu sagen.
»Ich habe wirklich keine Erklärung«, entschuldigte
sich Volker. »Bis jetzt hat diese Software immer einwandfrei
funktioniert, sowohl bei Filewalkers Ex als auch bei … aber das
gehört jetzt nicht hierher. Ich meine damit, das Programm
orientiert sich eindeutig an der Gesichtsgeometrie, ohne dabei das
Alter der Person zu berücksichtigen. Wenn es also dieses Foto
ausspuckt, dann hat das einen Grund. Entweder, es handelt sich um
die Tochter dieser Frau, die ihr, wie man so schön sagt, wie aus
dem Gesicht geschnitten sein muss, oder aber …«, er las die Daten,
die zu diesem Foto angegeben wurden, »oder aber es handelt sich um
ein Foto dieser Frau selbst. Um ein Kinderfoto! Schaut doch
mal auf das Datum. Ja, es muss ihr Kinderfoto sein. Ellen, wie alt,
sagtest du vorhin, sei die Frau gewesen?«
»Ungefähr dreißig.«
»Hier haben wir es doch.« Volker zeigte auf eine
Datenreihe. »Lara Baumann, geboren am 26. November 1979 in
Freudenstadt. Das liegt doch im Schwarzwald, nicht wahr?«
»Wenn das mal kein Zufall ist«, staunte
Ellen.
»Zufall? Du hast doch gesagt, dass sie mit
Schwarzwälder Dialekt geredet hat. Also hat sich das Programm doch
nicht getäuscht.«
»Das habe ich nicht gemeint. Es gibt eine erste
Gemeinsamkeit, die sie mit mir in Verbindung bringen könnte.«
Die beiden Männer sahen sie fragend an.
»Nur so ein Gedanke.« Ellen zuckte mit den
Schultern. »Aber ich wurde am selben Tag und im selben Ort
geboren.«
»Natürlich!« Mark schlug sich mit der flachen Hand
gegen die Stirn. »Deshalb kam mir das Datum so bekannt vor. Sorry,
Ellen, was Geburtstage betrifft, habe ich so meine kognitiven
Schwachstellen.«
Ellen zeigte auf das Foto von Lara Baumann. »Gibt
es noch weitere Angaben? Einen Personalausweis, einen Führerschein
oder so?«
»Jetzt, da ich einen Namen habe, wird es keine
Schwierigkeit sein, mehr über sie in Erfahrung zu bringen.« Volker
grinste sie breit an. »Und das geht sogar auf ganz legalem Weg, was
eigentlich ein wenig schade ist. Dauert halt ein bisschen.«
Ellen schüttelte amüsiert den Kopf. Dieser Volker
war ein Schlitzohr, und irgendwie begann sie ihn zu mögen, auch
wenn ihr seine narzisstischen Züge weniger zusagten. Aber
wahrscheinlich hätte sie in ihrer jetzigen Erleichterung jeden
gemocht, der ihr half.
Endlich war ein Lichtstreif am Horizont zu
erkennen.
Endlich hatten sie einen Namen.
Zeit, etwas für sich selbst zu tun.
»Ist es in Ordnung für dich, wenn ich dein Bad
benutze, während unser Computerfreak hier zu Werke ist?«, fragte
sie Mark. »Ich möchte mir endlich den Kellergestank
abwaschen.«
»Klar. Moment noch.«
Mark lief ins Schlafzimmer und kam mit frischen
Handtüchern zurück. Dabei wirkte er rührend fürsorglich. Wie
eine Glucke, dachte Ellen und musste sich ein Schmunzeln
verkneifen.
»Der Wäschetrockner müsste mittlerweile auch fertig
sein. Ich lege dir deine Klamotten vor die Badtür. Und bis
ihr beiden fertig seid, organisiere ich für uns alle etwas
Essbares.«
»Für mich mit Sardellen und Oliven«, murmelte
Volker, während er in die Tastatur klopfte. »Thunfisch tut’s
auch.«
»Also gut«, sagte Ellen. »Dann eben Pizza.«