Kapitel 41
Mark trat hinaus ins Freie und fühlte die angenehme Wärme der Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Vögel zwitscherten, und die Luft schmeckte würzig nach den nahe gelegenen Wäldern.
Auf seinen Rat hin hatte Nicole auf einer Parkbank vor dem Freudenstadter Kreiskrankenhaus auf ihn gewartet. Sie war noch immer kreidebleich, sah aber schon etwas besser aus, fand Mark. Auf dem Weg zur Klinik hatte sie neben dem ohnmächtigen Pilzsammler auf der Rückbank des alten VWs gesessen und Ellen im Arm gehalten. Nicole war leichenblass gewesen, und Mark hatte sich auch um sie Sorgen gemacht. Doch inzwischen hatten Sonne und frische Luft ihre Wirkung gezeigt, und Nicole schien den ersten Schock überwunden zu haben.
Als sie ihn sah, sprang sie auf und lief ihm entgegen.
»Wie geht es ihr? Was sagt der Arzt?«
Mark durchwühlte seine Jacke nach Zigaretten und wurde fündig. Er ließ sein Zippofeuerzeug aufschnappen und nahm einen tiefen Zug, ehe er antwortete.
»Die Schnittwunden im Arm sind tief. Sie hat sich eine Sehne und einen Muskel durchtrennt, weshalb ihre Hand höchstwahrscheinlich steif bleiben wird. Aber der Blutverlust ist nicht so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hat. Ich mache mir mehr Gedanken über ihren geistigen Zustand. Sie ist vollkommen weggetreten und reagiert auf nichts.«
»Und Masurke?«
»Er hat ziemlich viel Blut verloren, man musste ihm eine Transfusion legen. Aber er ist robust und wird es schaffen.«
Mark setzte sich auf eine der Parkbänke und nahm einen weiteren tiefen Zug aus seiner Zigarette. Jetzt, da sich die Aufregung bei ihm zu legen begann, schossen ihm Tränen in die Augen.
»Es ist erst ein paar Tage her, da saßen wir in Ellens Büro und sie beschrieb mir, wie sie weiche Knie bekommen hatte. Kurz zuvor hätte sich einer ihrer Patienten fast das Leben genommen, und Ellen hatte es gerade noch verhindern können. Jetzt …« Er musste schlucken, ehe er weitersprechen konnte. »Jetzt bin es ich, dem es so geht, nachdem ich bei ihr das Schlimmste verhindern konnte.«
Nicole setzte sich neben ihn und berührte seine Schulter. Eine Weile schwiegen sie, und Mark bemühte sich, wieder Fassung zu erlangen. Er stand selbst noch unter Schock und musste dagegen ankämpfen.
Nach einer Weile sagte Nicole: »Schon verrückt. Ich kannte sie nur als Lara. Hat Annemarie denn wirklich gedacht, wenn sie Laras Namen ändert, wird sie die schlimmen Erinnerungen los?«
»Ganz gleich, was ihre Mutter auch geglaubt hat, sie hat es dadurch nur noch schlimmer gemacht«, sagte Mark und drückte die Zigarette aus. »Ich denke, dass sie damit Ellens … ich meine natürlich Laras Störung ausgelöst hat.« Er musste den Kopf schütteln. »Wird wohl noch eine Weile dauern, ehe ich mich an den Namen gewöhnt habe.«
»Was genau ist mit Lara los?«, wollte Nicole wissen.
»Bis jetzt ist es nur ein Verdacht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich damit richtig liege. Man nennt es eine dissoziative Fugue, eine Art Identitätsflucht. Menschen flüchten sich nach einem traumatischen Erlebnis in eine andere Identität. Sie verlassen ihr persönliches Umfeld vollständig. Dabei geben sie sich als eine andere Persönlichkeit aus und sind auch felsenfest davon überzeugt, diese Person zu sein. Das hat jedoch nichts mit einer klassischen Verdrängung gemeinsam, bei der man sich bewusst nicht mehr an etwas Traumatisches erinnern will. Vielmehr ist es eine Art unterbewusster Schutzfunktion, über die der Betroffene keine Kontrolle hat. In der Regel sind diese Leute psychopathologisch völlig unauffällig, und man glaubt ihnen, dass sie die Person sind, die sie vorgeben zu sein.«
»Aber man kann doch nicht alle um sich herum täuschen.«
Mark lachte müde. »O doch, man kann. Ich bin wohl das beste Beispiel dafür, ebenso ihr Lebensgefährte. Die beiden sind schon eine ganze Weile zusammen, und Chris ist selbst Psychiater. Nicht einmal ihm ist etwas aufgefallen. Allerdings, und deswegen spreche ich vorerst von einem Verdacht, habe ich noch nie von einem derart langen Anhalten einer Fugue gehört. Ellen … Lara muss diese andere Persönlichkeit schon viele Jahre lang gewesen sein. Sicherlich lange genug, um sich an ihre wahre Identität nicht mehr erinnern zu können. Sie hat ihr tatsächliches Ich aufs Beste vor sich und den anderen verdrängt.«
»Und an alldem bin ich schuld.« Nicole griff sich Marks Zigaretten, hantierte mit zitternden Händen an dem Feuerzeug und schaffte es schließlich, sie anzustecken. Hustend stieß sie den Rauch aus.
»Ist meine zweite.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Die erste habe ich zusammen mit Lara im Wald geraucht. Da war ich zwölf oder so. Danach wollte ich eigentlich nie wieder.«
Mark sah sie eindringlich an und stellte ihr die Frage, die ihm seit den Vorfällen an der Tankstelle und im Wald keine Ruhe mehr ließ. »Nicole, was ist damals wirklich geschehen?«
Sie inhalierte wieder, hustete wieder und drückte die Zigarette aus. »Als … als es passiert war, wollte Laras Vater, dass es auf keinen Fall an die Öffentlichkeit kommt. Er hatte eine hohe Stelle an irgendeiner Uni inne und war um sein Ansehen besorgt. Er hatte genug Geld, um sich das Schweigen einiger Leute zu erkaufen, aber das hätte er eigentlich gar nicht tun müssen.«
»Warum nicht?«
»Sie sind wohl nicht auf dem Land aufgewachsen?«
»Nein, ich bin ein Stadtkind.«
»Dachte ich mir. Bei uns weiß jeder alles über jeden, aber man tut so, als sei die Welt in Ordnung. Man will nichts von den unangenehmen Dingen wissen. Man schweigt sie lieber so lange tot, bis man sie tatsächlich vergessen hat. Das war schon immer so. Nicht umsonst meidet man oben an der Ruine die Pentagramme.«
»Aber deswegen macht man es doch nicht ungeschehen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, aber erzählen Sie denen das mal. Nein, die wollen ihre heile Welt. Wenn es sein muss, um jeden Preis. Man will nichts von alldem wissen, was an der Ruine passiert ist. Weder von diesem Verrückten, der seine Familie und den Hof verbrannt hat, noch von dem, was Lara zugestoßen ist.«
»Was für einen Verrückten meinen Sie?«
»Er hieß Alfred Sallinger«, sagte Nicole. »Ihm gehörte der Hof. Soviel ich weiß, muss er einer der vielen gewesen sein, die 1910 an den Weltuntergang durch den Halleyschen Kometen geglaubt hatten. Mein Großvater hat mir erzählt, Sallinger sei nur noch betrunken gewesen und hätte Haus und Hof verspielt. Als der Komet dann doch nicht einschlug, standen Sallinger und seine Familie vor dem finanziellen und gesellschaftlichen Aus. In seiner Verzweiflung soll Sallinger den Verstand verloren haben. Er tötete seine Frau, sperrte die Kinder ins Haus und steckte den Hof in Brand. Auch er selbst kam dabei ums Leben.
Seither heißt es, die ruhelosen Geister der Familie würden bis zum heutigen Tag an diesem Ort umgehen. Außerdem wird behauptet, dass jeder, der der Ruine zu nahe kommt, an diesem verfluchten Flecken Erde wahnsinnig wird.« Sie lächelte. Es war ein bitteres Lächeln. »Wie es aussieht, ist das mehr als nur abergläubisches Gerede. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was aus Lara geworden ist. Ihre Mutter konnte ich nicht mehr fragen, sie hatte Lara in irgendein Internat gegeben und ist wenige Jahre danach gestorben.«
»Und ihr Vater?«
»War für mich nicht zu sprechen. Er hat bald danach eine Professorin geheiratet und ist später nach England gegangen. Oxford, glaube ich. Keine Ahnung, wo er jetzt ist. Aber wissen Sie, was wirklich verrückt ist?«
»Was denn?«
»Erst vor ein paar Tagen war ich in Fahlenberg. Ich sollte bei dieser neuen Motorenfirma Spezialteile für einen Kunden abholen. Keine Ahnung warum, aber irgendwie musste ich an Lara denken. Vielleicht ist sie ja hier, dachte ich und habe sogar im Telefonbuch nachgesehen. Dass sie jetzt Ellen Roth heißt, konnte ich ja nicht wissen.«
»Nicole«, Mark beugte sich zu ihr, »ich kann mir vorstellen, dass es hart für Sie ist, darüber zu sprechen, aber Sie müssen mir erzählen, was damals passiert ist. Nur so kann ich Lara vielleicht helfen. Was, in Gottes Namen, hat sie erlebt?«
Nicole schluckte. In ihren Augen standen Tränen. »Sie haben Recht, Mark, es ist wirklich verdammt schwer. Aber ich glaube, es muss jetzt einfach raus. Innerhalb dieser Mauer aus Schweigen war es unglaublich schwierig, alle Fragmente zusammenzutragen. Ich habe Jahre gebraucht, aber irgendwann ist es mir gelungen. Ich … o Gott, ja, ich erzähle es Ihnen. Damit wir endlich alle Frieden finden.«
Sie begann zu erzählen, und was Mark zu hören bekam, ließ ihm das Blut in den Adern stocken.
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