Kapitel 42
Sommer 1989
 
 
Der Wald war schon immer Harald Baumanns liebster Zufluchtsort gewesen. Hier konnte er tun und lassen, was immer er tun und lassen wollte. Hier war er frei.
Manchmal redete er mit den Bäumen, erzählte ihnen von den Dingen, die ihn beschäftigten und über die er nicht mit seiner Mutter oder seinem älteren Bruder reden konnte. Natürlich gaben die Bäume keine Antwort, aber sie waren geduldige Zuhörer.
Sie lauschten ihm, wenn er von seinem Alltag in der Werkstatt erzählte. Von dem, was er dort zu tun hatte, aber vor allem von den anderen, die dort mit ihm arbeiteten und von denen keiner sein Freund sein wollte.
Viele von ihnen saßen im Rollstuhl und wollten nicht mit ihm Basketball spielen, da es für einen aufrecht gehenden Hünen wie Harald ein Leichtes war, jeden Ball in den Korb zu legen. Die Übrigen schienen zu dumm, ihn und seine Sorgen wirklich zu verstehen. Sie lachten oft grundlos, obwohl er das, was er ihnen erzählte, vollkommen ernst meinte.
Natürlich gab es in dieser Werkstatt die sogenannten Anleiter, zu denen man gehen konnte. Aber die hatten meist kein wirkliches Interesse an ihm. Entweder weil sie ihn für einen Schwachkopf wie die Übrigen hielten oder weil sie keine Zeit für ihn hatten.
Und dann war da noch eine Psychologin, die hübsche Frau Petrowski, die mit ihren dreißig Jahren nur zehn Jahre älter war als Harald und mit der er gern sprach.
Aber sie war viel, viel schlauer als er und sagte manchmal Dinge, die er nicht verstand. Dann schämte er sich und sagte lieber nichts. Meistens nickte er nur und wollte dabei auch so schlau wie sie wirken.
Frau Petrowski hätte er gern von diesem neuen Gefühl erzählt, das in letzter Zeit so häufig über ihn kam, aber er traute sich nicht. Seine Mutter hatte das Schweinkram genannt und ihn angeschrien, sie werde ihm sein Ding da unten abschneiden, wenn er ihr es noch einmal in diesem Zustand zeigte. Dabei hatte er nur wissen wollen, weshalb es manchmal so groß und warum er davon so kribbelig wurde und dann immer daran reiben musste.
Mutter hatte gesagt, er sei der Fluch der späten Geburt und dass sie nicht verstehen könne, warum der Herr sie gleich zweimal so schwer gestraft habe. Noch dazu so kurz hintereinander.
Mit dem zweiten Mal meinte sie den Tod seines Vaters. Josef Baumann war eines Morgens vom Frühstückstisch aufgestanden, hatte noch »Ich gehe jetzt mal zum …« gesagt und war dann tot zusammengebrochen. Daran konnte sich Harald nicht mehr erinnern. Nicht etwa, weil er einen Hirnschaden hatte oder, wie sein schlauer Bruder Karl immer sagte, weil er intelligenzgemindert war, sondern weil er erst ein Jahr alt gewesen war, als sein Vater aufstand und für immer zu jenem unbekannten zum ging.
Für Harald war es schlimm gewesen, ohne Vater aufzuwachsen, obwohl sein dreiundzwanzig Jahre älterer Bruder – der Herr Professor Doktor med. Karl Baumann, eine Gabe der frühen Geburt – schon fast so etwas wie ein Vater für ihn gewesen war.
Aber Harald hatte sehr früh gemerkt, dass sich Karl für ihn schämte. Aus seiner Sicht war Harald das schwarze Schaf in der Familie – und das nicht nur, weil Harald gern schwarze Sachen trug.
Ja, Vaters Tod war schlimm für ihn gewesen, aber noch schlimmer war er für seine Mutter gewesen. Nach Harald war dieses plötzliche Alleinsein für sie die zweite Strafe, die ihr der Herr hatte zukommen lassen. Vielleicht, weil sie nicht fromm genug gewesen war.
Harald hingegen wollte immer ganz fromm sein, damit der Herr nicht auch ihn strafte. Deswegen sprach er mit Frau Petrowski nicht über sein Ding da unten, sondern erzählte lieber den geduldigen Bäumen davon und zeigte ihnen, wie man es wieder klein bekam.
Nur einmal hatte er sich jemand anderem anvertraut, wobei er zu seiner Verteidigung dem Herrn gegenüber einbringen konnte, dass nicht er selbst mit dem Thema angefangen hatte. Es war sein Kollege Manfred gewesen. Der nannte sein Ding da unten immer Latte. Harald gefiel dieser Begriff nicht.
»Du musst deine Latte zwischen die Beine eines Mädchens stecken«, hatte ihm Manfred erklärt und ihm ein Foto in seinem Spind gezeigt, auf dem genau zu sehen war, wie es zwischen den Beinen eines Mädchens aussah. »Manche haben auch Haare da unten, aber ich finde es ohne schöner. Da siehst du besser, wo du ihn reinsteckst. Das gefällt den Mädchen. Es macht ihnen Spaß, und es ist gut für alle beide.«
Harald hatte sich danach eingehender mit diesem Thema beschäftigt. Heimlich, versteht sich. Manche sagten ficken dazu, andere bumsen oder vögeln. Ihm persönlich gefiel der Begriff Liebe machen am besten. Wenn es beiden Spaß machte, dann lachte man – und wenn man lachte, hatte man sich auch lieb.
Er für seinen Teil entschied, dass er das Liebemachen nur mit einem Mädchen tun wollte, das er auch liebhatte. Vor ein paar Tagen hatte er dies den Bäumen erzählt, und als ihre Blätter und Nadeln zustimmend im Wind geraschelt hatten, war er zufrieden gewesen.
 
Als Harald an diesem heißen Augusttag durch die wohltuende Kühle des Waldes spazierte, war er sehr traurig.
Eigentlich hätte er froh sein müssen, immerhin hatte er drei Wochen Ferien und musste nicht in die Werkstatt, um dort im öligen Gestank der Fräsmaschinen und Schweißgeräte – die Manfred manchmal Scheißgeräte nannte – zu stehen und Löcher in Stahlplatten zu bohren. Aber an diesem Nachmittag konnte er sich nicht einmal über seine Ferien freuen.
Der Grund für seine Traurigkeit war die Unterhaltung zwischen seiner Mutter und seinem Bruder Karl gewesen, der für ein paar Tage mit seiner Frau Annemarie und seiner Tochter Lara zu Besuch gekommen war.
Harald hatte im Wohnzimmer auf der Couch gelegen und in einem Comicheft geblättert – Batman, der immer schwarze Sachen trug, so wie er auch, und der ganz schön cool war, obwohl Harald nicht immer alles kapierte, was da in den Sprechblasen stand -, während Karl und seine Mutter in der Küche miteinander geredet hatten.
Eigentlich hatte Harald sie nicht belauschen, sondern sich lieber in seiner Fantasie durch Gotham City schwingen wollen, um dort Ra’s al Ghul oder dem hundsgemeinen Joker das finstere Handwerk zu legen, aber irgendwann war in diesem Gespräch sein Name gefallen, und Harald hatte die Ohren gespitzt. Nicht, weil er wirklich neugierig gewesen wäre – Neugier war immerhin eine Sünde -, sondern eher instinktiv, so wie ein Hund die Ohren spitzt, wenn man seinen Namen leise ausspricht.
»Ich kann Harald nicht zu mir nehmen«, hatte er Karl sagen hören. »In zwei Monaten kandidiere ich für das Amt des Dekans, und wie mir der Fakultätsrat signalisiert hat, stehen meine Chancen mehr als gut. Wenn sich dort allerdings herumsprechen sollte, dass ich einen … nun ja, du weißt schon, zum Bruder habe, könnte sich das negativ auswirken. Man könnte denken, ich hätte durch meine Fürsorgepflicht nicht genügend Kapazitäten, das Amt zu bekleiden. Na ja, und ich hätte auch kein gutes Gefühl dabei, Annemarie die ganze Arbeit mit ihm zuzumuten.«
Harald hatte sofort gewusst, dass Karl mit nun ja, du weißt schon in Wahrheit Matschbirne, Schwachkopf oder Dorftrottel meinte. So nannten ihn manchmal auch die Kinder im Ort.
Wieder einmal hatte er deutlich aus Karls Worten herausgehört, dass er sich seiner schämte – auch wenn ihm nicht ganz klar gewesen war, was Karl mit zu sich nehmen meinte.
Sollte er etwa zu Karl ziehen? Das wäre – abgesehen von seinem Bruder selbst – eine ganz nette Vorstellung, immerhin mochte er Annemarie und Lara sehr. Sie waren eine richtige Familie. Wenn er bei ihnen wohnen würde, wäre er ein Teil dieser Familie. Gut, das war er schon jetzt, aber dann wäre es noch ein wenig anders.
Andererseits, so war ihm eingefallen, wäre er dann ja weg von seiner Mutter.
Ich kann die Mama doch nicht im Stich lassen, hatte er gedacht. Die braucht mich doch.
»Ich verstehe dich ja«, hatte die Mutter gesagt und sich dabei irgendwie erschöpft angehört. In letzter Zeit wirkte sie immer so müde und erschöpft, als habe sie den ganzen Tag lang Löcher in schwere Metallplatten bohren müssen. »Aber ich werde ihm einfach nicht mehr Herr. Ich bin zu alt dafür. Mir wächst das alles über den Kopf. Hätten dein Vater und ich doch nur besser aufgepasst. Aber wer konnte schon ahnen, dass ich noch mit fünfundvierzig Jahren …« Sie hatte geseufzt und dann hinzugefügt: »Wenn du ihn nicht zu dir nimmst, werde ich ihn ganz in das Heim geben müssen.«
Ganz in das Heim? O nein, bitte nicht!, hatte Harald gedacht, aber er hatte sich nicht getraut, das laut zu sagen. Die großen Leute mochten es nicht, wenn man sie belauschte. Dann sperrten sie einen ins Zimmer, und wenn man aufs Klo musste, musste man gegen die Tür klopfen und hoffen, dass es nicht in die Hose ging, bis Mama es die Treppe hoch geschafft hatte.
»Es muss ja nicht dieses Heim sein, wenn er sich dort nicht wohlfühlt«, hatte Karl gemeint. »Ich habe ganz gute Kontakte zu einem Heimleiter in Hamburg. Das Wohnheim hat einen exzellenten Ruf. Ich kann auch die Kosten übernehmen.«
Harald hatte nicht auf die Antwort seiner Mutter gewartet. Er mochte vielleicht dümmer als andere Leute sein, aber er hatte sich dennoch sehr gut vorstellen können, wie ihre Antwort ausfallen würde. Nicht nur das – er hatte gewusst, was sie antworten würde.
Also hatte er sein Comic fallen gelassen und war fortgelaufen. Den ganzen Weg in den Wald hinein hatte er geweint und voller Verzweiflung gedacht, wie schlimm die Welt doch war.
Mama und Karl wollten ihn nach Hamburg schicken. Ausgerechnet Hamburg! Das war doch ganz weit weg von hier. Da gab es zwar ein Meer und viele Fische, aber keinen Wald, in dem man spielen konnte; keine Bäume, die einem zuhörten, wenn man Sorgen hatte; keine Mama, die leckere Sachen kochte, wenn man am Wochenende zu ihr heimkam. In Hamburg gab es niemanden, der ihn liebhatte und den auch er liebhatte.
Und jemand, den man liebhaben konnte, war genau das, was er jetzt brauchte. So stand Harald für eine Weile an seinem Lieblingsplatz nahe der Lichtung mit den moosbewachsenen Baumstümpfen, die ein wenig wie die grünen Sessel im Wohnzimmer seiner verstorbenen Großmutter aussahen.
Weinend hielt er seinen Lieblingsbaum umklammert, eine bauchige Tanne, deren missgebildeter Stamm ihn irgendwie an die rundliche Form seiner Mama erinnerte und die ebenso wie er anders als die anderen war. Er roch ihr Harz, spürte ihre Rinde und fühlte, wie die Gegenwart des Baums ihn allmählich besänftigte.
Pschhhht, musst nicht traurig sein, schienen ihre Nadeln zu flüstern. Nichts ist so schlimm, wie es sich zunächst anhört. Pschhhht. Alles wird gut. Pschhhht.
Und Harald wurde immer ruhiger, entspannte sich, lauschte der Stille. Bis er plötzlich ein weit entferntes Lachen hörte.
 
»Also gut«, sagte Nicole, noch immer keuchend vom Fangenspielen – das sie natürlich gewonnen hatte -, und ließ sich auf einem Stein nieder. »Hier ist es.«
Ebenfalls schnaufend und ziemlich verschwitzt setzte sich Lara ihrer Freundin gegenüber auf einen Baumstumpf und sah sich staunend um.
Lara trug ihr Sommerkleid aus einem türkisen Stoff, der sich wie Samt anfühlte, aber viel dünner war. Das Moos kitzelte an ihren nackten Schenkeln. Sie mochte dieses Kleid nicht besonders und hätte lieber so ein schönes wie Nicole gehabt, mit Blumen in leuchtenden Farben.
Wenn sie ihre Mutter darum bat, würde sie bestimmt auch so eines bekommen. Von ihrer Mutter bekam sie immer alles, was sie wollte. Das war toll.
Das Spielen hatte die beiden hungrig gemacht. Nicole reichte Lara einen Schokoriegel, riss von ihrem das Stanniolpapier ab und warf es lässig neben sich auf den Boden. Lara tat es ihr nach, obwohl sie ein schlechtes Gewissen dabei hatte. Ihre Mutter hatte ihr wieder und wieder eingetrichtert, dass man die Natur sauber halten müsse, doch Lara wollte mindestens ebenso lässig wie ihre allerbeste Freundin sein.
So saßen sie für ein paar Minuten kauend da und erholten sich von dem schweißtreibenden Lauf in den Wald.
Die letzten Stunden hatten die Mädchen zuerst auf der Wiese und dann, als es immer heißer geworden war, unten am Bach gespielt.
Doch dort war es kaum kühler gewesen, und selbst das Wasser hatte keine wirkliche Erfrischung geboten. Zudem waren eine Menge Stechmücken über sie hergefallen und hatten dafür gesorgt, dass sie es dort nicht lange aushielten.
Also waren sie in den Wald gelaufen, wo Nicole die verwunschene Stelle erwähnt hatte. Neugierig wie Lara nun einmal war, hatte sie so lange keine Ruhe gegeben, bis ihr Nicole diese Stelle zeigte.
Irgendwie war die Lichtung unheimlich. Das lag jedoch nicht nur an den Überresten des alten Bauernhofs, von dem Nicole erzählt hatte. Auch die Art, wie das Licht durch die mit Flechten behangenen Baumwipfel auf den Moosboden fiel, wirkte ein wenig gespenstisch, fand Lara.
Hier war es seltsam still. Selbst das Vogelgezwitscher schien an diesem Ort entfernter als im übrigen Wald, durch den sie gelaufen waren. So als trauten sich nicht einmal die Vögel bis hierher.
Ein bisschen fürchte ich mich schon, dachte Lara, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen.
Nicole schienen die Stille und die merkwürdige Stimmung an diesem Ort nichts auszumachen. Kein Wunder, sie war ja schon zwölf. Wenn man so alt war, hatte man bestimmt vor nichts mehr Angst. Aber bis dahin waren es für Lara noch zwei Jahre und drei Monate. Eine unendlich lange Zeit, wie es ihr vorkam.
»Soll ich es dir wirklich erzählen?«, fragte Nicole und klang ernsthaft besorgt.
Das sagt sie bestimmt nur, um mich noch neugieriger zu machen, dachte Lara. Nicole kann richtig gut Gruselgeschichten erzählen. Sie weiß, wie man es spannend macht.
»Klar.« Lara strengte sich an, locker zu klingen. »Ich bin doch kein Baby mehr.«
»Na gut, aber ich hab dich gewarnt. Es ist eine ziemlich unheimliche Geschichte.« Nicole beugte sich zu ihr vor, stützte die Ellenbogen auf ihre dünnen Knie und sah dabei aus wie jemand, der eine Verschwörung plant. »Siehst du die Zeichen auf den Steinen da drüben?«
Lara sah in die Richtung, in die Nicole zeigte, und nickte. »Klar sehe ich die. Was sind das für Sterne?«
»Keine Sterne, Dummchen, das sind Drudenfüße. Die malt man an Orte, an denen es böse Geister gibt, damit die da dann nicht weg können.«
Plötzlich war es gar nicht mehr so heiß wie vorhin, fand Lara. Sie rieb sich die nackten Arme, auf denen sich eine Gänsehaut bildete. »Gibt es hier denn welche? Geister, mein ich.«
»Klar gibt es die hier. Jedes Jahr in den Mainächten sieht man hier den verrückten Bauer Sallinger mit seiner Fackel herumgehen. Dann ruft er nach seiner Frau und den Kindern, ein Bub und ein kleines Mädchen.«
Nun schien es noch kühler geworden zu sein. Fast schon kalt. Und das, obwohl die Sonnenstrahlen noch immer über die Baumspitzen auf den Boden fielen.
»Warum ruft er nach ihnen?«, fragte Lara, war sich allerdings nicht sicher, ob sie es tatsächlich wissen wollte. Aber wer A sagt …
»Weil auch sie ruhelos umherirren. Weißt du, der Sallinger hat sie umgebracht. Alle drei. Gleich hier drüben.« Nicole zeigte auf eine Grasfläche, um die herum noch vereinzelt die Reste des Fundaments zu erkennen waren. »Seine Frau hat er an der Küchenlampe aufgehängt, und dann hat er … Was ist, soll ich’s wirklich erzählen?«
Diesmal konnte Lara nur nicken. Wenn sie jetzt den Mund aufmachte, würde Nicole merken, dass ihre Zähne klapperten.
Nicole schien dieses Nicken vollkommen als Antwort zu genügen. Sie war mal wieder voll in ihrem Element, und ihre Augen funkelten wie letztes Jahr am Lagerfeuer im evangelischen Jugendlager. Wie damals auch, senkte sie die Stimme ein bisschen, sprach noch leiser und sah Lara direkt in die Augen, als überlege sie während des Redens, ob sie sie vielleicht fressen sollte.
»Er hat den Bub und das Mädchen zu ihrer toten Mutter in die Küche gesperrt. Dann hat er eine Fackel genommen und ist hinüber zum Stall gegangen. Er hat zuerst den Stall und dann das Haus angezündet. Man sagt, er hätte zugesehen, wie seine Kinder gegen die Fenster geklopft und geweint haben und wie sie dann verbrannt sind. Und dann hat er die Fackel an seine Kleider gehalten und sich selbst verbrannt. Mein Opa und seine Freunde haben ihn hier heroben gefunden. Sallinger muss schrecklich ausgesehen haben. Wie ein verkohlter Sonntagsbraten, hat Opa gesagt, nur dass er nicht so gut gerochen hätte. Und dann …«
Leise, ganz leise, pirschte sich Harald an die Stelle heran, an der er den Ursprung des Lachens vermutete. Als er die Mädchen entdeckte, kniete er sich auf der kleinen Erhebung nieder und beobachtete Lara und Nicole, die sich über etwas sehr Wichtiges unterhalten mussten, da Nicole kaum hörbar sprach und Laras Gesicht beim Zuhören sehr ernst war.
Seine Nichte und ihre Freundin hatten ihn nicht bemerkt, und er wollte sie auch nicht stören. Wenn man im Wald über Wichtiges sprach, dann waren das meistens Dinge, von denen andere nichts wissen sollten. Wer konnte das besser verstehen als er?
Etwas in ihm sagte, es sei besser, wieder zu gehen. Man beobachtete niemanden heimlich, nein, so etwas tat man einfach nicht. Neugier war schließlich eine Sünde, die der Herr strafte.
Andererseits gefiel es ihm, den beiden zuzusehen, und verstehen konnte er ja auch nichts, weil Nicole viel zu leise redete. Also belauschte er sie auch nicht, und deswegen war es auch keine Sünde, hierzubleiben.
Er schmiegte sich an das kühle, weiche Moos auf dem Boden und war in seinem schwarzen Sweatshirt mit dem Batman-Symbol auf Brust und Rücken, den schwarzen Jeans und Turnschuhen nicht viel mehr als einer der vielen Schatten des Waldes. So, wie auch der Fledermausmann im Comic immer nur ein Schatten war.
Es tat gut, nur ein Schatten zu sein. Schatten wurden nicht verspottet, ganz gleich, wie dumm sie auch sein mochten. Schatten schickte man auch nicht ins Heim. Man ignorierte sie einfach, und manchmal war das besser.
Er sah den beiden Mädchen zu, wie sie miteinander tuschelten. Sie saßen sich gegenüber, Lara auf einem Baumstumpf, der einmal einer Tanne gehört haben musste, und Nicole auf einem der Steine, die vom Sallinger Hof übrig waren. Beide trugen sie Sommerkleider. Das von Nicole war ziemlich bunt, fand Harald. Es gefiel ihm nicht so gut wie das türkise von Lara. Dieses Türkis passte so herrlich zu ihren langen, fast schwarzen Haaren und zur Farbe ihrer Haut, bei der Harald immer an Karamellbonbons denken musste.
Ja, seine Lara war ein sehr, sehr hübsches Mädchen, und er hatte sie ganz furchtbar lieb. Das spürte er jetzt ganz deutlich.
»… hat Opa mal erzählt, wie der tote Bauer ausgesehen hat. Er hat gesagt, seine Arme seien schrecklich verbogen gew…«
»Hör auf«, rief Lara und sprang von ihrem Sitzplatz auf. »Das ist doch alles gar nicht passiert. Ist doch nur eine deiner Gruselgeschichten, oder?«
»Ist es nicht«, protestierte Nicole. »Es war wirklich so. Mein Opa lügt doch nicht. Außerdem hab ich dich gewarnt, dass es eine schlimme Geschichte ist.«
»Aber kein Vater bringt seine Kinder um. Und auch nicht seine Frau.«
»Der Sallinger schon.« Nicole machte eine erklärende Geste, indem sie den Zeigefinger neben der Schläfe kreisen ließ. »Der war ein Irrer. So verrückt wie eine Kanalratte, sagt Opa immer. Der hat das wirklich getan. Aber ich hätte dir besser nichts davon erzählen sollen. Jetzt hast du kleiner Feigling Angst gekriegt, stimmt’s?«
»Gar nicht wahr«, schmollte Lara, obwohl Nicole natürlich Recht hatte. Selbstverständlich hatte sie Angst, und zwar nicht wenig, aber wenn sie das jetzt zugab, würde Nicole sie vielleicht auslachen oder – was noch schlimmer wäre – nicht mehr mit ihr spielen. Nicole würde sich eine andere allerbeste Freundin suchen, eine, die schon älter und kein solcher Hasenfuß wie Lara war. »Ich bin überhaupt nicht feige. Ich mein halt nur, dass man nicht schlecht über Tote reden soll. Das sagt meine Mama immer. Und die ist auch nicht feige.«
»Bei deiner Mama glaub ich auch nicht, dass sie feige ist«, sagte Nicole und grinste. »Aber bei dir schon.«
»Bin ich nicht!« Trotzig stampfte Lara mit ihrer Sandale auf den Nadelboden.
»Bist du doch. Angsthase, Zuckernase, morgen kommt der Osterhase! Du bist feige, feige, feige.« Nicole sang fröhlich und genoss sichtlich, wie Lara immer wütender wurde.
»Bin ich nicht, nicht, nicht! Und du bist doof!«
»Dann beweis es mir«, frotzelte Nicole und trat Lara gegenüber. »Beweis mir, dass du kein Angsthase bist.«
»Klar mach ich das.«
»Gut.« Wieder sah sie Nicole mit ihrem Ich-fress-dichgleich -Blick an. »Wenn du tust, was ich sage, nenn ich dich nie wieder Feigling.«
Lara nickte heftig. Nicht, weil sie wirklich mitmachen wollte, sondern weil ihre Zähne schon wieder zu klappern begannen. Es war jetzt eiskalt wie im Winter, aber sie merkte ganz deutlich, dass diese Kälte nicht aus dem Wald, sondern aus ihr selbst kam.
Wie wenn man einen Gefrierschrank verschluckt hat, bei dem die Tür aufgegangen ist.
Sie wusste zwar, dass sie viel zu zierlich war, um einen Gefrierschrank zu verschlucken, das ging ja auch nur im Zeichentrickfilm, aber es fühlte sich tatsächlich so an. Als müsste sie sich gleich übergeben – kotzen würde Nicole bestimmt sagen, kotzen wie ein Reiher – und dann einen kleinen Berg Eiswürfel vor sich auf dem Waldboden sehen. Übel genug war ihr in diesem Moment. Verflixte Schokolade!
Trotzdem ging sie mit Nicole mit. Sie würde ihr jetzt zeigen, dass sie kein Angsthase oder Osterhase und erst recht keine Zuckernase war. Sie nicht!
Nicole führte sie zu einer Ansammlung von Büschen, zwischen denen man bei genauerem Hinsehen ein paar völlig überwucherte Treppenstufen erkennen konnte. Weiter unten, am Ende der kaum noch sichtbaren Treppe, befand sich eine Tür aus schwerem Eichenholz mit dicken rostigen Beschlägen, die in eine Art Hügel führte.
»Das war mal der Eiskeller«, sagte Nicole, und diesmal klang sie gar nicht mal so geheimnisvoll, vielmehr war es eine ganz schlichte Feststellung. Das war mal der Eiskeller eben, genauso wie man sagte: Das da drüben waren mal die Ställe und das hier das Haus. »Als es noch keine Kühlschränke gab, hat man da drin das Eis vom Winter bis in den Sommer gelagert. Wenn du dich da hineintraust, bist du echt mutig. Da war noch nicht mal ich drin.«
Mit großen Augen sah Lara ihre allerbeste Freundin in dem bunt geblümten Sommerkleid an. »Echt nicht?«
Nicole kreuzte die Finger und hielt sie gegen die Brust, wo sich im Gegensatz zu Lara schon eine erste leichte Wölbung abzeichnete. »Echt nicht. Ich schwör’s.«
Für einen Augenblick wusste Lara nicht, welches Gefühl in ihr überwog. War es Stolz, den sie bei dem Gedanken empfand, etwas zu tun, was selbst die große Nicole noch nicht getan hatte, oder doch mehr die Angst vor dem, was da hinter dieser Tür lauern konnte?
Sie entschied sich für den Stolz. Immerhin hatte sie jetzt die Möglichkeit, in Nicoles Ansehen ein riesiges Stück zu wachsen.
»Na schön«, sagte Lara. »Ich mach’s.«
»Echt?«
»Ja.«
Plötzlich schien Nicole ihren Plan zu bereuen. Zumindest glaubte Lara das in ihrem Blick zu sehen. »Hey, ich hab doch nur Spaß gemacht. Es ist saudunkel hinter der Tür. Ich war zwar noch nicht drin, aber reingeschaut hab ich natürlich schon. Da ist’s dunkel und kalt, und es stinkt.«
»Ich bin doch kein Feigling«, sagte Lara, obwohl sie sich so fühlte. Sie ließ es sich aber nicht anmerken, sondern stapfte mutig die Stufen nach unten, wobei ihr ein dorniger Ast die linke Wade zerkratzte.
»Autsch!«
»Lara, lass das doch! Das musst du wirklich nicht. Ich glaub dir auch so, dass du kein Feigling bist.«
Trotzdem ging Lara weiter auf die Tür zu. Möglich, dass Nicole das jetzt nur so sagte und später mit einem Ich hab’s ja gleich gewusst, dass du dich doch nicht traust daherkam, wenn sie jetzt nicht da hineinging.
Außerdem hatte sich noch ein drittes Gefühl bei ihr hinzugesellt: Neugier. Eine Tür, hinter der es vielleicht etwas zu entdecken gab, war eine zu große Verlockung, ganz gleich, ob man sich vor Furcht fast in die Hose machte oder nicht.
Lara zerrte an der schweren Tür, bekam sie aber nicht weiter auf. Das Holz fühlte sich eklig an. Wie Schmirgelpapier, über das man Schleim gegossen hatte. Sie atmete zweimal tief durch, so wie neulich, als sie zum ersten Mal im Schwimmbad vom Fünf-Meter-Brett gesprungen war, und schob sich dann durch den Türspalt in die Dunkelheit dahinter.
Nicole hatte Recht gehabt. Hier stank es ziemlich heftig. Schlimmer noch als in Omas Weinkeller, wenn eine Flasche auf den Ziegelboden gefallen und geplatzt war. Und es war tatsächlich kalt und rabenschwarz. Nur da, wo das Licht durch den Spalt fiel, konnte man den Lehmboden und die Steinwand erkennen. Sonst sah man hier nichts.
»Komm wieder raus«, hörte sie Nicole sagen. Sie hatte sich dicht gegen das Holz gelehnt und lugte seitwärts durch den Spalt, so dass fast kein Licht mehr in den Raum fiel.
»Ja. Ist echt ganz schön gruselig hi…«
Urplötzlich gaben die Türangeln unter Nicoles Gewicht nach. Nicole war sicherlich kein Schwergewicht – im Gegenteil, sie hatte mal erzählt, dass die Jungs in ihrer Klasse sie Bohnenstange nannten, weshalb sie seither heimlich Schokolade in sich hineinstopfte -, aber sie hatte wohl doch zu fest gegen die Tür gedrückt, um Lara und vor allem den Raum dahinter gut sehen zu können. Kreischend fiel die Tür zu, der Riegel schnappte ein, und Lara blieb in völliger Dunkelheit zurück.
»He, mach wieder auf!« Laras Stimme hatte in dem ehemaligen Eiskeller einen seltsamen Widerhall.
Wie von einem Gespenst, das so tut, als sei es mein Echo.
»Geht nicht!«, kam es von außen.
Lara hörte ein dumpfes Trommeln auf dem Holz und Nicoles Stöhnen. »Ich krieg den beschissenen Griff nicht mehr runter. Der klemmt!«
Nun überkam Lara Panik. Die erste Panik ihres Lebens. Schlimmer als alle Fünfen in Mathe, die sie je nach Hause gebracht hatte – eigentlich war es nur eine gewesen -, schlimmer als die Hausaufgaben vergessen zu haben oder beim Knall eines Überschallflugzeugs über dem Pausenhof so zu erschrecken, dass etwas in die Hose ging. Schlimmer als alles, was sie kannte.
Sie schrie, hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, fürchtete sich vor der Dunkelheit und stellte sich vor, wie etwas im Dunkeln aufstand und auf sie zukam. Wie sie hier nie wieder herauskommen würde, wie sie hier allein in tiefster Schwärze verhungern und verdursten müsste.
»Lass mich raus! Lass mich wieder raus! Bitte, bitte, bittebittebitte!«
Doch nichts tat sich. Die Tür blieb zu. Lara trommelte von innen, Nicole von außen. Sie drückten gegen das Holz, warfen sich dagegen, aber es war vergeblich. Es war, als wollten zwei Ameisen die alte Heuscheune neben dem Weizenfeld am Waldrand umwerfen.
»Ich hol Hilfe!«, schrie Nicole von draußen.
Jetzt drehte Lara erst recht durch. Wenn Nicole ging – ganz gleich, ob sie Hilfe mitbrachte oder nicht -, dann war sie hier ganz allein. Allein in einem schwarzen Kellerloch mitten im Wald, noch dazu an einem verfluchten Ort, wo die Menschen vor vielen Jahren Sterne auf die Steine gemalt hatten, um die bösen Geister eines Verrückten und seiner ermordeten Familie zu bannen.
Keine Sterne, es sind Drudenfüße, Dummchen, flüsterte ihr eine unheimliche Stimme zu, von der sie nicht wusste, ob sie in ihrem Kopf war oder nicht vielleicht doch von jemandem stammte, der unmittelbar hinter ihr stand. Jemand oder etwas, mit langen Zottelhaaren, glühenden Augen und scharfen Krallen.
Jaaaaaa, seeeeehhhhr scharrrrrfe Krallen!
»Nein! Bitte nicht! Lass mich nicht allein!«
Doch von der anderen Seite kam keine Antwort mehr.
»Neeeeiiiiiiiiinnnn!«
Lara schrie und kreischte, hämmerte gegen die unnachgiebige Holztür und rief Nicoles Namen.
Doch Nicole war nicht mehr da.
Zuerst dachte Harald, es sei alles nur ein Spiel. Vielleicht Verstecken – die Kinder im Dorf sagten auch Versteckus dazu -, nur ein wenig anders.
Er schaute Nicole hinterher, wie sie über die Lichtung rannte und im Wald verschwand. Wenn sie so weiter lief, würde sie irgendwann hinunter ins Dorf gelangen. Das Erste, was man dann zu sehen bekam, war die Straße und kurz dahinter die ARAL-Tankstelle mit der Autowerkstatt ihres Vaters.
Er hörte Laras Schreie, die seltsam gedämpft klangen, so als kämen sie von irgendwo unter dem Boden. Sie machte das gut, fand er. Es klang ziemlich überzeugend. Vielleicht spielten sie gar nicht Verstecken, sondern etwas wie Supergirl rettet das Mädchen aus dem Verlies, überlegte er.
Ja, das konnte hinkommen. Nicole war schließlich auch blond, so wie Supergirl im Comic. Zwar passte das bunte Kleid nicht so richtig zu diesem Spiel, es hätte ein blau-rotes Kostüm mit gelbem Gürtel und roten Stiefeln sein müssen, und Nicole hatte auch keinen Umhang – ein Cape, wie es eigentlich hieß -, aber man brauchte ja auch nicht immer das passende Kostüm, wenn man nur genügend Fantasie hatte. Und so wartete Harald ganz gespannt, wie diese Szene weitergehen würde.
Lara rief noch immer »Hilfe, Hilfe«, und jetzt klang es noch echter als gerade eben. Doch Supergirl kam nicht. War sie etwa an schwarzes Kryptonit geraten, die schrecklichste Waffe vom Planeten Krypton, die es gegen Superhelden gab?
Oder war das alles … gar kein Spiel?
Harald beschloss, lieber mal nachzusehen. Sollten die zwei ihn doch schimpfen, wenn er ihnen das Spiel verdarb. Es war auf jeden Fall besser, als sich danach Vorwürfe machen zu müssen, wenn doch etwas passiert war und er nur wieder einmal zu doof gewesen war, es rechtzeitig zu kapieren.
Also sprang der Fledermausmann auf, lief die kleine Anhöhe zur Lichtung mit der Ruine hinab, vorbei an den Steinen, von denen manche einen ausgeblichenen fünfzackigen Stern aufgemalt trugen, und rannte zu der Stelle, von der aus Lara schrie.
In seinen langen Klamotten musste er schwitzen, aber das war ihm egal. Selbst Batman schwitzte, obwohl ihm seine Mutter bestimmt auch immer sagte, er werde noch mal einen Hitzschlag in den stinkigen Sachen bekommen. Andererseits war Batmans Mutter schon lange gestorben, bevor Bruce Wayne sich so verkleidet hatte. Aber das war jetzt auch egal, denn nun sah er die schwere Kellertür.
Dahinter hörte er Lara weinen. Sofort wusste er, dass dies kein Spiel war. Weinen gehörte nicht zum Spielen. Weinen war immer echt.
Diese dämliche Nicole, warum war die nur weggelaufen?
Er stieg die Stufen zur Tür hinunter, schnappte sich den Türgriff und zog daran.
 
Schritte. Da waren Schritte von draußen zu hören. Sie kamen die verwucherten Stufen herab, auf die Tür zu. Trotz ihrer Panik, trotz der Furcht vor dem Ding mit den Zotteln und den langen Krallen hinter ihr in der Dunkelheit, erkannte Lara sehr wohl, dass diese Schritte nicht von Nicole stammten. Wer immer da die Treppe zu ihr herunterkam, er war viel größer und schwerer als Nicole.
Augenblicklich hörte sie auf zu schluchzen, wurde mucksmäuschenstill. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, was in dieser absoluten Dunkelheit und dem Gestank gar nicht so einfach war. Schon gar nicht, wenn einem ein anderer Teil dieses Verstandes einreden wollte, hinter einem würde ein Ungeheuer lauern.
Jetzt waren die Schritte vor der Tür angekommen und verstummten. Laras Herz hämmerte wie wild. Sie spürte ihren klebrigen Schweiß am ganzen Körper und wurde wie von Krämpfen geschüttelt. Auch bekam sie kaum noch Luft. Ihr Atem ging plötzlich kurz und flach und schnell, und ihr wurde schwummrig im Kopf. Sie sah kleine leuchtende Mücken durch die Finsternis schwirren, die ihr bis dahin nicht aufgefallen waren.
Das sind aber keine Glühwürmchen, sagte etwas in ihrem Kopf.
Sind es auch nicht, raunte ihr das Ungeheuer hinter ihrem Rücken zu. Das ist die Angst, Süße. Das ist die nackte Angst.
Irgendjemand in ihrer unmittelbaren Nähe keuchte ganz laut und schnell.
Das bin ja ich!
Von außen rüttelte jemand am Türgriff des Eiskellers. Sie hörte das tiefe Stöhnen einer Männerstimme.
Ein Mann, dort vor der Tür steht ein Mann!
Nicole und die Hilfe, die sie holen wollte, konnten das noch nicht sein. Ins Dorf hinunter war es ein ziemliches Stück, und selbst wenn man mit dem Auto hier hochfuhr, dauerte es eine Weile.
Oder steckte sie etwa schon so lange im Dunkeln fest, dass sie nicht gemerkt hatte, wie schnell die Zeit vergangen war?
Wieder ein Stöhnen, dann ein Rumpeln und Knacken, und schon schwang mit rostigem Kreischen die Tür auf.
Geblendet starrte Lara in die Helligkeit, die von draußen hereinbrach. Dann erkannte sie die Umrisse eines Riesen. Er war ganz und gar schwarz, wie der Schwarze Mann im Kinderreim, vor dem man schnell davonlaufen musste. Doch davonlaufen konnte sie nicht. Hinter ihr war die Wand des kleinen Kellers. Der einzige Weg, der ihr blieb, war nach vorn – direkt in die Arme des riesigen Schwarzen Mannes.
Wie versteinert stand sie da und schrie vor Angst. Und dann sprang sie der Riese an.
Wenn man den ganzen Tag lang, fünfmal die Woche, Stahlplatten auf den Bohrträger wuchten und Löcher hineinbohren muss – immer genau da, wo sie angezeichnet sind -, bekommt man im Lauf der Jahre ordentlich Kraft. Die Tür des Kellers ging wirklich schwer auf, aber Harald bekam das locker hin.
Klar, dass die Tür für Lara zu schwer gewesen war. Wie hatte sie es überhaupt hineingeschafft, und was wollte sie nur in diesem muffigen Kellerloch?
Nun schrie sie noch lauter. Keine Worte wie »Hilfe« oder »Lass mich raus«, sondern nur langgezogene Laute, so schrill, dass sie in seinen Ohren wehtaten.
Also lief Harald schnell auf sie zu, packte sie und hielt ihr den Mund zu.
»He, ich bin’s doch nur«, sagte er leise, aber Lara wollte sich nicht beruhigen.
Sie hatte sich bestimmt erschreckt, so ganz allein in diesem Keller. Da war es wichtig, nichts Falsches zu ihr zu sagen, das wusste Harald von seinen Mitbewohnern im Heim. Wenn die so laut schrien und strampelten, musste man sie in den Arm nehmen, festhalten und ruhig auf sie einreden. Oder, noch besser, eine leise Melodie summen.
Er presste Lara an sich, drückte ihren Kopf gegen seine Brust, summte das Lied, das ihm seine Mutter immer vorgesungen hatte – Schlaf, Kindlein, schlaf – und streichelte sanft über ihren Rücken.
Lara strampelte immer noch, aber sie schrie nicht mehr, sondern schnaufte fest durch sein Batman-Shirt.
»Gut so«, sagte er sanft und summte dann weiter.
Doch all seine Bemühungen schienen nicht zu helfen, denn nun begann Lara zu schluchzen. Er spürte, wie sich ein nasser Fleck auf seinem Sweatshirt ausbreitete, und er spürte noch etwas: Es gefiel ihm, wie sich Laras glatter Rücken und ihr runder Po unter ihrem Kleid anfühlten.
Manfreds Worte kamen ihm wieder in den Sinn.
Es macht ihnen Spaß.
Vielleicht war es das, was Lara jetzt brauchte: Spaß haben. Wenn man Spaß hatte, lachte man, und alles Schlimme um einen herum war vergessen – auch das Heim, in das einen der große Bruder und die Mama stecken wollten. Außerdem hatte er Lara ja lieb.
»Komm«, flüsterte er und merkte, wie er zitterte. »Ich zeig dir was.«
 
Der Schwarze Mann sagte etwas zu ihr, das sie nicht verstehen konnte. Zum einen sprach er zu leise, und zum anderen drückte sein Arm gegen ihr Ohr. Außerdem war sie viel zu sehr damit beschäftigt, durch sein nach Schweiß und Küchengerüchen stinkendes Sweatshirt Luft zu bekommen, gegen das er ihr Gesicht mit stählernem Griff presste.
Die Angst tobte wie ein wildes Tier in ihrem Kopf, ließ kaum noch einen klaren Gedanken zu. Sie versuchte sich zu wehren, freizukommen, doch der Schwarze Mann hielt sie fest wie ein Schraubstock, während seine andere Hand, die in Laras Fantasie zu einer haarigen Pranke mit langen scharfen Krallen geworden war, ihr Kleid zerfetzte. Mit einem einzigen Ruck zerriss er ihr Höschen mit dem tanzenden Pandabären auf der Vorderseite. Dann drückte er sie mit dem Gesicht nach unten auf den staubigen Lehmboden. Lara schmeckte Dreck, als sie schrie, und dann … explodierten Sterne vor ihrem Gesicht, während sie glaubte, sich in eine Badewanne mit siedend heißem Wasser gesetzt zu haben.
Ihr Schmerzgebrüll wurde von den engen Wänden des Eiskellers zu ihr zurückgeschmettert, und diesmal war sie sich sicher, dass es kein Gespenst war, das ihre Stimme imitierte. Diesmal wusste sie sofort, dass sie selbst so schrie.
Lara strampelte und zappelte und – kam frei. Sie versuchte, auf allen vieren vor dem Monster davonzukrabbeln, während ihr Atem sich wie eine Dampflok anhörte, die einen Berg hinunterraste. Doch sofort wurde sie wieder von einer der Pranken gepackt, diesmal am Nacken.
»Neiiiin!«, kreischte sie und schlug um sich. Sie hörte ihre Hände in das Gesicht des Schwarzen Mannes klatschen, hörte sein überraschtes »Uff« im Halbdunkel. Dann wurde sie durch die Luft gewirbelt, nur kurz, und schlug mit dem Kopf gegen etwas unglaublich Hartes. Begleitet von einem Geräusch, das dem einer Kokosnuss ähnelte, auf die man mit einem Stein schlug, stob vor ihren Augen ein ganzer Schwarm leuchtender Mücken auf. Sie tanzten wie verrückt vor Laras Gesicht.
Ich muss sie wegscheuchen, dachte sie träge.
Doch gleich darauf waren die leuchtenden Mücken wieder verschwunden, und Lara fiel in eine endlos tiefe Schwärze.
Harald trat einen Schritt zurück und ließ Laras schlaffen Körper auf den Lehmboden sinken.
Was war denn nur passiert? Es war doch schön gewesen. Für ihn auf jeden Fall. Das war so ganz anders gewesen, als wenn er sein Ding da unten nur rieb, bis das weiße Zeug herauslief und es dann Ruhe gab.
Mit Lara war das Gefühl so toll gewesen, er hatte gar nicht mehr anders gekonnt. Sein Kopf war vollkommen leer gewesen, keine Sorgen und keine dummen Gedanken mehr, einfach nur nichts.
Aber ihr hatte es nicht gefallen. Sie hatte keinen Spaß gehabt. Sie hatte es nicht gewollt, so wie die Frau auf dem Poster in Manfreds Spind, die in einer Sprechblase Ich will es! sagte.
Hatte Manfred ihn etwa angelogen, so wie er manchmal auch die Anleiter foppte, wenn er Scheißgeräte statt Schweißgeräte sagte und dann so tat, als sei es nur ein Versprecher gewesen? So richtig glauben wollte Harald das nicht, weil Manfred manchmal auch richtig schlaue Sachen sagte und er sich auch nicht vor Frau Petrowski schämte. Im Gegensatz zu Harald hatte Manfred der Psychologin schon von seinem Ding da unten erzählt und ihr sogar schon mal gezeigt, was er damit machte. Das hatte er zumindest behauptet.
Vielleicht habe ich es auch nur falsch gemacht, und es hat Lara deswegen nicht gefallen, durchfuhr es ihn.
Was, wenn Lara nun aufwachte, nach Hause lief und allen davon erzählen würde? Sie würden ihn auslachen, wer auch immer sie sein mochten. Karl vielleicht und Annemarie, und seine Mutter, bestimmt auch Manfred und die Anleiter in der Werkstatt. Sie alle würden ihn auslachen, weil er sogar zu dumm war, sein Ding da unten so reinzustecken, dass es einem Mädchen Spaß machte.
Seht euch den nur an, würden sie sagen und auf ihn zeigen, will wie Batman sein, aber ist zu dumm zum Liebemachen. Das arme Ding hat sich sogar den Kopf dabei angeschlagen und so geblutet, dass es einen Fleck auf der Wand hinterlassen hat. Da kann es ihr ja keinen Spaß machen.
Harald spürte Tränen in sich aufsteigen. Er hatte versagt. Wieder einmal. Er bückte sich zu Lara, streichelte ihren Kopf und löste zärtlich die verklebten Haare aus der Platzwunde. Da musste ganz schnell ein Pflaster drauf, das wusste er von Matthias, der mit ihm in der Werkstatt arbeitete und meistens eine komische ringförmige Kappe tragen musste. Wenn er die nicht aufhatte, konnte es passieren, dass er schreiend mit dem Kopf an die Wand schlug, absichtlich sogar, und dann bekam er ein großes weißes Pflaster auf die Stirn und die Kappe wieder auf.
Harald wusste, wo es ein solches Pflaster gab. Nicht zu Hause bei Mama – nein, da würden sie ihn auslachen -, sondern an einem besseren Ort, gar nicht weit von hier. Dort konnte er Lara das Pflaster draufkleben und mit ihr reden, wenn sie wieder wach war. Er würde ihr erklären, dass er es eigentlich so hatte machen wollen, dass auch sie Spaß hatte und nicht mehr traurig war, weil sie sich allein in dem dunklen Keller befand.
Er würde ihr es noch einmal zeigen, es dann auch richtig machen und erst aufhören, wenn sie so richtig von Herzen lachte. Sie konnte so lieb lachen. Und dann würden sie heimgehen, und Lara konnte erzählen, wie lieb er zu ihr gewesen war.
Dann würde ihn niemand mehr auslachen.
Dann wäre er ein Held.
So wie Batman.
Das Erste, was Lara einfiel, als sie wieder zu sich kam, waren die leuchtend weißen Mücken, die sie hatte verjagen wollen. Nun waren sie verschwunden, aber ihr Summen konnte sie noch immer hören. Ihr Kopf tat schrecklich weh, und zwischen ihren Beinen brannte es furchtbar.
Sie rappelte sich auf, stemmte sich auf die Ellenbogen und stellte fest, dass sie nicht mehr in dem Keller war.
Sie kannte diesen Ort gut. Es war die alte Heuscheune neben dem Weizenfeld am Waldrand. Nicole und sie waren hier schon oft beim Spielen gewesen, vor allem in den letzten Sommerferien, in denen es so viel geregnet hatte.
Hier konnte man tolle Sachen entdecken. Einmal hatten sie sogar vier frisch geborene Kätzchen gefunden, die von ihrer Mutter oben auf der Tenne wie Küken in ein Nest aus Heu gebettet worden waren. Sie hatte zu Nicole gesagt, sie wolle auch mal so ein Kätzchen haben, wenn sie groß sei. Das dürfte dann auch bei ihr im Bett schlafen.
Doch nun war dieser Raum unheimlich, daran änderte selbst das Licht der Sonnenstrahlen nichts, das durch die Ritzen zwischen den Lattenwänden hereindrang und den tanzenden Staub beschien.
Aber wie war sie überhaupt hierhergekommen? Sie war doch gerade noch …
Der Keller!
Der Schwarze Mann!
Im selben Augenblick, in dem ihr wieder einfiel, was geschehen war, entdeckte sie auch den Schwarzen Mann. Er stand an einem Holzkasten an der Wand und wühlte darin herum. Sein Kopf war hinter der Kastentür verborgen, auf der ein ausgeblichenes rotes Kreuz zu erkennen war. Dasselbe wie zu Hause auf dem Erste-Hilfe-Schränkchen im Badezimmer. Sie erinnerte sich, wie Nicole im letzten Sommer eine alte muffige Mullbinde aus dem Kasten geholt und wie sie dann Mumie gespielt hatten. Dabei war ihnen ein Fläschchen mit einer grellroten Flüssigkeit umgekippt, die furchtbar streng gerochen hatte, und über eine Packung Heftpflaster und eine zweite Rolle Mullbinde ausgelaufen.
»Scheiße!«, fluchte der Schwarze Mann und noch einmal »Scheiße!«. Dann schloss er die Tür und drehte sich zu ihr um.
Lara erkannte ihn sofort.
Onkel Harald! Onkel Harald ist der Schwarze Mann!
Auf einmal begriff sie, warum ihr Vater seinen Bruder nicht mochte. Bis zu diesem Moment hatte sie immer geglaubt, ihr Vater könne Harald nicht ausstehen, weil er ein Dummkopf war, aber jetzt kannte sie die Wahrheit: Onkel Harald ist der böse Schwarze Mann, und Papa hat das gewusst.
»Die Pflaster sind alle kaputt«, sagte Onkel Harald. »Da kann man keins mehr auf deinen Kopf pappen.«
Lara kroch ein Stück rückwärts über den staubigen Dielenboden, wobei sie eine dünne Blutspur hinterließ. Sie behielt ihren Onkel genau im Blick.
Als sie aufstand, zitterte sie am ganzen Leib. Ihre Beine fühlten sich wackelig an, wie bei einem frisch geborenen Fohlen.
»Tut’s noch arg weh?«
Lara schwieg. Sie biss sich auf die Lippen. Das Brennen zwischen ihren Beinen wurde immer schlimmer, je mehr sie schwitzte. Es war so heiß und stickig in der Scheune.
Nun kam Onkel Harald auf sie zu. »Bist du jetzt böse auf mich?«
Sie trat noch einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen ein Regal, in dem etwas klapperte.
»Ich hab’s falsch gemacht. Aber wir können es ja noch einmal versuchen, und dann mach ich es bestimmt richtig. Dann macht’s auch dir Spaß, und du bist nicht mehr sauer auf mich. Ja?«
Lara hatte keine Ahnung, wovon ihr Onkel redete. Sie sah nur, wie er immer näher zu ihr kam, langsam, Schritt für Schritt, und das machte ihr eine Heidenangst.
Er wird mir wieder wehtun. Er wird mir wieder wehtun. Er wird mir wieder …
Einen oder zwei Meter vor ihr blieb er stehen. Lara konnte ihn riechen. Er stank eklig. Wie ein böser Wolf.
»Ich hab dich doch lieb«, sagte er.
Ich muss hier weg, weg, weg!
Aber wohin? Genau wie vorhin im Keller versperrte er ihr den Weg. Hinter ihr war nur das Regal und dahinter die Wand. Eine Möglichkeit davonzulaufen gab es nicht.
»Schau mal.« Onkel Harald lächelte. »Er ist schon wieder ganz groß.«
Er zeigte auf seine schwarze Jeans und begann am Hosenlatz herumzunesteln.
Diese kurze Ablenkung nutzte Lara aus. Sie rannte los, stürmte nach vorn. Sie musste nur kurz an ihm vorbei, weiter zum Scheunentor, das einen Spaltbreit offen stand, dann auf dem Feldweg zum Wald, durch den Wald über den holprigen Forstweg hinunter zum Dorf, und dort wäre sie in Sicherheit. Sie …
… war kaum neben ihm, als sein Arm hochschnellte und sie packte. In einer einzigen Bewegung wirbelte er sie zurück gegen das Regal. Lara schlug mit der Brust hart gegen das Holz und fühlte, wie ihr dabei die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Sie konnte nicht schreien, und selbst wenn sie es gekonnt hätte, gab es weit und breit niemanden, der sie hören konnte. Deshalb waren Nicole und sie ja auch immer zum Spielen hierhergekommen: weil man hier tun konnte, was man wollte, ohne Gefahr zu laufen, außerhalb der Erntezeit einem Erwachsenen zu begegnen.
Wieder wurde ihr Kleid hochgeschoben, und das war der Moment, in dem Lara den Inhalt des Regals erkannte.
Werkzeug!
Sie ließ das Regal los, gegen das sie sich gestützt hatte, knallte nochmals dagegen und schaffte es dabei, sich einen schweren Hobel zu greifen. Sie spürte etwas Dickes gegen ihre Hinterbacken drücken und wirbelte herum. Dabei schlug sie mit dem Hobel einfach hinter sich.
Sie traf. Harald schrie. Augenblicklich ließ er sie los.
Lara sah ihren Onkel, der mit heruntergelassenen Hosen vor ihr stand, seine Schulter hielt und sie verwirrt anstarrte.
»W-warum?«, stammelte er und starrte auf den Hobel, der neben ihm am Boden lag.
Lara wagte es nicht, ein zweites Mal an ihm vorbeizurennen. Er würde sie wieder packen und wieder etwas Schlimmes mit ihr tun. Sie drehte sich hastig zu dem Regal um. Dieses Mal griff sie sich einen Schraubenzieher. Das Metall war bereits rostig, aber der transparentrote Plastikgriff funkelte wie neu. Sie hielt den Schraubenzieher schützend vor sich.
»Laramaus, ich will dir doch nichts tun. Ich mach doch nur Spaß mit dir. Schau doch.«
Er griff sich zwischen die Beine, zeigte ihr sein steifes Glied und schlurfte dabei einen Schritt auf sie zu, wobei seine heruntergelassene schwarze Jeans einen breiten Streifen durch die Staubschicht auf dem Boden zog.
Das war ein Schritt zu viel.
Lara, schon längst nicht mehr Herrin über ihren erst neun Jahre und neun Monate jungen Verstand, handelte, ohne wirklich zu wissen, was sie tat. Sie stieß einfach mit der nach vorn gerichteten Spitze des Schraubenziehers zu.
Hätte Harald Baumann ein wenig aufrechter vor ihr gestanden und wäre er nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihr das Körperteil zu zeigen, mit dem Mädchen Spaß haben wollten – zumindest nach Manfreds Ansicht -, hätte der Stich möglicherweise nur seine Schulter durchbohrt. Schlimmstenfalls die Seite seines Halses, wo die Schlagader verlief.
Doch nun traf sie ihn mitten ins Gesicht. Genauer gesagt in sein rechtes Auge. Lara hatte das nicht beabsichtigt, es passierte einfach. Und die Angst des Mädchens war derart groß, dass sie ihr ungeahnte Kräfte verlieh.
Harald Baumann schrie, als die scharfkantige Metallspitze das geleeartige Gewebe seines Augapfels durchdrang. Sein Schrei endete abrupt, nachdem der Schraubenzieher den hauchdünnen Knochen der Augenhöhle durchbrochen und in sein Gehirn eingedrungen war. Stöhnend drehte er sich um die eigene Achse und fiel dann wie ein Sack auf den Rücken, wo er einfach liegenblieb. Sein erigierter Penis, der wie ein dicker Wurm auf seinem Bauch lag, schrumpfte zusammen.
Obwohl sie den Schraubenzieher längst nicht mehr hielt, hatte Lara noch immer ihre zitternden Arme ausgestreckt. Sie begriff nicht, was sie gerade getan hatte, sondern befand sich vollkommen jenseits dessen, was man annähernd als denkend hätte bezeichnen können. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Atmung ging schnell und stoßartig, und aus jeder Pore ihres Körpers troff der Schweiß.
Zu ihren Füßen röchelte Harald Baumann, ihr Onkel, der Schwarze Mann.
Es war ein merkwürdiges Gefühl. Nicht, dass Harald wirklich Schmerzen hatte, nein, vielmehr merkte er, wie sein Körper allmählich zu verschwinden schien.
Es kam ihm fast so vor, als würde er – oder vielleicht das von ihm, was der Pfarrer im Religionsunterricht die Seele genannt hatte – ganz langsam emporgehoben, während sein Körper auf dem Dielenboden des Schuppens liegen blieb.
Mit seinem verbliebenen Auge sah er Staubflocken wie Sterne über sich tanzen, hell und fröhlich. Gleich neben seiner Nase funkelte das transparentrote Plastik des Schraubenziehergriffs. Im Licht der Ritzen an der Wand sah er wie ein schillernder Edelstein aus.
Wunderschön, dachte er. Auch wenn es wehtut, das Auge danach zu drehen, ist dieser Edelstein doch wunderschön.
Dann sah Harald wieder nach oben. Die hohe Decke mit dem Lattendach schien nun ein wenig näher gerückt zu sein, der Boden ein Stück ferner. Aber das Schönste von allem war Laras Gesicht über seinem. Sie war so unsagbar hübsch, auch wenn ihr Bild immer mehr zu verschwimmen schien.
Er hätte schwören können, dass Lara ihn anlächelte. Er hörte sie sogar laut lachen.
Ja, dachte er glücklich. Sie hat doch ihren Spaß gehabt. Jetzt hat sie mich wieder lieb.
Er wollte ihr sagen, dass auch er sie ganz, ganz liebhatte, doch es ging nicht mehr. Und gleich darauf wurde alles um ihn herum schwarz.
Schwärzer noch als Batmans Cape, war sein letzter Gedanke.
Nichts, was Lara tat, ergab einen Sinn. Sie stand vor ihrem Onkel, der ausgestreckt auf dem Rücken lag, als ruhe er sich aus. Sein Gesicht war ganz und gar entspannt, die Hände lagen flach neben seinem Körper auf dem staubigen Dielenboden, und er schien irgendetwas an der Scheunendecke erspäht zu haben.
Nur einmal zuckte sein Auge nach rechts, wobei der Schraubenziehergriff in der rechten Augenhöhle wackelte und einen eklig schmatzenden Laut von sich gab.
Vielleicht lag es an diesem Laut. Vielleicht war es dieses Schmatzen, das ihre Schockstarre löste. Ihr wurde klar, dass das Ungeheuer – der Schwarze Mann, der böse Wolf aus dem Märchenbuch – nun endlich tot war.
Ein hässliches Lachen und Johlen platzte aus ihr heraus. Sie stand über Harald Baumanns Leiche, schrie, brüllte und grölte wie ein wahnsinnig gewordenes Tier, trat nach dem Toten, tanzte im Kreis und hüpfte umher wie ein durchgedrehter Frosch.
Auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Bis sie schließlich erschöpft auf die Knie sank.
Zitternd starrte sie in das Gesicht ihres zu Lebzeiten schwachsinnigen Onkels, starrte auf den Plastikgriff, der wie ein rotes Stielauge in einem Comic den Platz seines rechten Auges eingenommen hatte.
Für einen Sekundenbruchteil wurde ihr klar, dass sie einen Menschen getötet hatte, ehe das Trauma wieder den schützenden schwarzen Vorhang vor ihre Gedanken zog.
Über das, was nach diesem Moment geschah, kann nur spekuliert werden. Selbst Lara konnte sich nicht daran erinnern, und höchstwahrscheinlich ist das auch gut so. Ihr Verstand nahm sich die Pause, die er benötigte, um das Geschehene zu verdrängen und sich in ihr neues Ich zu flüchten.
Niemand war Zeuge, wie Lara die schrecklichen Ereignisse aus ihrer Erinnerung verbannte und zu dem anderen Mädchen wurde, das künftig von seiner Mutter bei seinem zweiten Vornamen, Ellen, gerufen wurde.
Niemand, außer vielleicht das Weizenfeld neben der Scheune, das sie neunzehn Jahre später in einem Traum von einem roten Briefkasten wiedersehen sollte. Oder der Feldweg, auf dem sich eine letzte Pfütze gegen die Sommersonne behauptete und Blasen warf, die neugierigen Augäpfeln zu gleichen schienen.
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, entdeckten Hermann Talbach und zwei Männer aus dem Dorf das Mädchen. Lara hatte sich in die Höhlung einer knorrigen Baumwurzel verkrochen. Zusammengekauert wie ein Igel, sah sie die Männer aus angstgeweiteten Augen an und hielt ein moosiges Holzstück an sich gedrückt, als sei es eine Puppe.
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