Kapitel 42
Sommer 1989
Manchmal redete er mit den Bäumen, erzählte ihnen
von den Dingen, die ihn beschäftigten und über die er nicht mit
seiner Mutter oder seinem älteren Bruder reden konnte. Natürlich
gaben die Bäume keine Antwort, aber sie waren geduldige
Zuhörer.
Sie lauschten ihm, wenn er von seinem Alltag in der
Werkstatt erzählte. Von dem, was er dort zu tun hatte, aber vor
allem von den anderen, die dort mit ihm arbeiteten und von denen
keiner sein Freund sein wollte.
Viele von ihnen saßen im Rollstuhl und wollten
nicht mit ihm Basketball spielen, da es für einen aufrecht gehenden
Hünen wie Harald ein Leichtes war, jeden Ball in den Korb zu legen.
Die Übrigen schienen zu dumm, ihn und seine Sorgen wirklich zu
verstehen. Sie lachten oft grundlos,
obwohl er das, was er ihnen erzählte, vollkommen ernst
meinte.
Natürlich gab es in dieser Werkstatt die
sogenannten Anleiter, zu denen man gehen konnte. Aber die hatten
meist kein wirkliches Interesse an ihm. Entweder weil sie ihn für
einen Schwachkopf wie die Übrigen hielten oder weil sie keine Zeit
für ihn hatten.
Und dann war da noch eine Psychologin, die hübsche
Frau Petrowski, die mit ihren dreißig Jahren nur zehn Jahre älter
war als Harald und mit der er gern sprach.
Aber sie war viel, viel schlauer als er und sagte
manchmal Dinge, die er nicht verstand. Dann schämte er sich und
sagte lieber nichts. Meistens nickte er nur und wollte dabei auch
so schlau wie sie wirken.
Frau Petrowski hätte er gern von diesem neuen
Gefühl erzählt, das in letzter Zeit so häufig über ihn kam, aber er
traute sich nicht. Seine Mutter hatte das Schweinkram
genannt und ihn angeschrien, sie werde ihm sein Ding da
unten abschneiden, wenn er ihr es noch einmal in diesem Zustand
zeigte. Dabei hatte er nur wissen wollen, weshalb es manchmal so
groß und warum er davon so kribbelig wurde und dann immer daran
reiben musste.
Mutter hatte gesagt, er sei der Fluch der späten
Geburt und dass sie nicht verstehen könne, warum der Herr sie
gleich zweimal so schwer gestraft habe. Noch dazu so kurz
hintereinander.
Mit dem zweiten Mal meinte sie den Tod seines
Vaters. Josef Baumann war eines Morgens vom Frühstückstisch
aufgestanden, hatte noch »Ich gehe jetzt mal zum …« gesagt und war
dann tot zusammengebrochen. Daran konnte sich Harald nicht mehr
erinnern. Nicht etwa, weil er einen
Hirnschaden hatte oder, wie sein schlauer Bruder Karl immer sagte,
weil er intelligenzgemindert war, sondern weil er erst ein
Jahr alt gewesen war, als sein Vater aufstand und für immer zu
jenem unbekannten zum ging.
Für Harald war es schlimm gewesen, ohne Vater
aufzuwachsen, obwohl sein dreiundzwanzig Jahre älterer Bruder – der
Herr Professor Doktor med. Karl Baumann, eine Gabe der
frühen Geburt – schon fast so etwas wie ein Vater für ihn
gewesen war.
Aber Harald hatte sehr früh gemerkt, dass sich Karl
für ihn schämte. Aus seiner Sicht war Harald das schwarze
Schaf in der Familie – und das nicht nur, weil Harald gern
schwarze Sachen trug.
Ja, Vaters Tod war schlimm für ihn gewesen, aber
noch schlimmer war er für seine Mutter gewesen. Nach Harald war
dieses plötzliche Alleinsein für sie die zweite Strafe, die ihr der
Herr hatte zukommen lassen. Vielleicht, weil sie nicht fromm genug
gewesen war.
Harald hingegen wollte immer ganz fromm sein, damit
der Herr nicht auch ihn strafte. Deswegen sprach er mit Frau
Petrowski nicht über sein Ding da unten, sondern erzählte
lieber den geduldigen Bäumen davon und zeigte ihnen, wie man es
wieder klein bekam.
Nur einmal hatte er sich jemand anderem anvertraut,
wobei er zu seiner Verteidigung dem Herrn gegenüber einbringen
konnte, dass nicht er selbst mit dem Thema angefangen hatte. Es war
sein Kollege Manfred gewesen. Der nannte sein Ding da unten
immer Latte. Harald gefiel dieser Begriff nicht.
»Du musst deine Latte zwischen die Beine eines
Mädchens stecken«, hatte ihm Manfred erklärt und ihm ein
Foto in seinem Spind gezeigt, auf dem genau zu sehen war, wie es
zwischen den Beinen eines Mädchens aussah. »Manche haben auch Haare
da unten, aber ich finde es ohne schöner. Da siehst du besser, wo
du ihn reinsteckst. Das gefällt den Mädchen. Es macht ihnen Spaß,
und es ist gut für alle beide.«
Harald hatte sich danach eingehender mit diesem
Thema beschäftigt. Heimlich, versteht sich. Manche sagten
ficken dazu, andere bumsen oder vögeln. Ihm
persönlich gefiel der Begriff Liebe machen am besten. Wenn
es beiden Spaß machte, dann lachte man – und wenn man lachte, hatte
man sich auch lieb.
Er für seinen Teil entschied, dass er das
Liebemachen nur mit einem Mädchen tun wollte, das er auch
liebhatte. Vor ein paar Tagen hatte er dies den Bäumen
erzählt, und als ihre Blätter und Nadeln zustimmend im Wind
geraschelt hatten, war er zufrieden gewesen.
Als Harald an diesem heißen Augusttag durch die
wohltuende Kühle des Waldes spazierte, war er sehr traurig.
Eigentlich hätte er froh sein müssen, immerhin
hatte er drei Wochen Ferien und musste nicht in die Werkstatt, um
dort im öligen Gestank der Fräsmaschinen und Schweißgeräte – die
Manfred manchmal Scheißgeräte nannte – zu stehen und Löcher
in Stahlplatten zu bohren. Aber an diesem Nachmittag konnte er sich
nicht einmal über seine Ferien freuen.
Der Grund für seine Traurigkeit war die
Unterhaltung zwischen seiner Mutter und seinem Bruder Karl gewesen,
der für ein paar Tage mit seiner Frau Annemarie und seiner Tochter
Lara zu Besuch gekommen war.
Harald hatte im Wohnzimmer auf der Couch gelegen
und in einem Comicheft geblättert – Batman, der immer
schwarze Sachen trug, so wie er auch, und der ganz schön cool war,
obwohl Harald nicht immer alles kapierte, was da in den
Sprechblasen stand -, während Karl und seine Mutter in der Küche
miteinander geredet hatten.
Eigentlich hatte Harald sie nicht belauschen,
sondern sich lieber in seiner Fantasie durch Gotham City
schwingen wollen, um dort Ra’s al Ghul oder dem
hundsgemeinen Joker das finstere Handwerk zu legen, aber
irgendwann war in diesem Gespräch sein Name gefallen, und Harald
hatte die Ohren gespitzt. Nicht, weil er wirklich neugierig gewesen
wäre – Neugier war immerhin eine Sünde -, sondern eher instinktiv,
so wie ein Hund die Ohren spitzt, wenn man seinen Namen leise
ausspricht.
»Ich kann Harald nicht zu mir nehmen«, hatte er
Karl sagen hören. »In zwei Monaten kandidiere ich für das Amt des
Dekans, und wie mir der Fakultätsrat signalisiert hat, stehen meine
Chancen mehr als gut. Wenn sich dort allerdings herumsprechen
sollte, dass ich einen … nun ja, du weißt schon, zum Bruder habe,
könnte sich das negativ auswirken. Man könnte denken, ich hätte
durch meine Fürsorgepflicht nicht genügend Kapazitäten, das Amt zu
bekleiden. Na ja, und ich hätte auch kein gutes Gefühl dabei,
Annemarie die ganze Arbeit mit ihm zuzumuten.«
Harald hatte sofort gewusst, dass Karl mit nun
ja, du weißt schon in Wahrheit Matschbirne, Schwachkopf
oder Dorftrottel meinte. So nannten ihn manchmal auch die
Kinder im Ort.
Wieder einmal hatte er deutlich aus Karls Worten
herausgehört, dass er sich seiner schämte – auch wenn ihm
nicht ganz klar gewesen war, was Karl mit zu sich nehmen
meinte.
Sollte er etwa zu Karl ziehen? Das wäre – abgesehen
von seinem Bruder selbst – eine ganz nette Vorstellung, immerhin
mochte er Annemarie und Lara sehr. Sie waren eine richtige Familie.
Wenn er bei ihnen wohnen würde, wäre er ein Teil dieser Familie.
Gut, das war er schon jetzt, aber dann wäre es noch ein wenig
anders.
Andererseits, so war ihm eingefallen, wäre er dann
ja weg von seiner Mutter.
Ich kann die Mama doch nicht im Stich
lassen, hatte er gedacht. Die braucht mich doch.
»Ich verstehe dich ja«, hatte die Mutter gesagt und
sich dabei irgendwie erschöpft angehört. In letzter Zeit wirkte sie
immer so müde und erschöpft, als habe sie den ganzen Tag lang
Löcher in schwere Metallplatten bohren müssen. »Aber ich werde ihm
einfach nicht mehr Herr. Ich bin zu alt dafür. Mir wächst das alles
über den Kopf. Hätten dein Vater und ich doch nur besser
aufgepasst. Aber wer konnte schon ahnen, dass ich noch mit
fünfundvierzig Jahren …« Sie hatte geseufzt und dann hinzugefügt:
»Wenn du ihn nicht zu dir nimmst, werde ich ihn ganz in das Heim
geben müssen.«
Ganz in das Heim? O nein, bitte nicht!,
hatte Harald gedacht, aber er hatte sich nicht getraut, das laut zu
sagen. Die großen Leute mochten es nicht, wenn man sie belauschte.
Dann sperrten sie einen ins Zimmer, und wenn man aufs Klo musste,
musste man gegen die Tür klopfen und hoffen, dass es nicht in die
Hose ging, bis Mama es die Treppe hoch geschafft hatte.
»Es muss ja nicht dieses Heim sein, wenn er sich
dort
nicht wohlfühlt«, hatte Karl gemeint. »Ich habe ganz gute Kontakte
zu einem Heimleiter in Hamburg. Das Wohnheim hat einen exzellenten
Ruf. Ich kann auch die Kosten übernehmen.«
Harald hatte nicht auf die Antwort seiner Mutter
gewartet. Er mochte vielleicht dümmer als andere Leute sein, aber
er hatte sich dennoch sehr gut vorstellen können, wie ihre Antwort
ausfallen würde. Nicht nur das – er hatte gewusst, was sie
antworten würde.
Also hatte er sein Comic fallen gelassen und war
fortgelaufen. Den ganzen Weg in den Wald hinein hatte er geweint
und voller Verzweiflung gedacht, wie schlimm die Welt doch
war.
Mama und Karl wollten ihn nach Hamburg schicken.
Ausgerechnet Hamburg! Das war doch ganz weit weg von hier. Da gab
es zwar ein Meer und viele Fische, aber keinen Wald, in dem man
spielen konnte; keine Bäume, die einem zuhörten, wenn man Sorgen
hatte; keine Mama, die leckere Sachen kochte, wenn man am
Wochenende zu ihr heimkam. In Hamburg gab es niemanden, der ihn
liebhatte und den auch er liebhatte.
Und jemand, den man liebhaben konnte, war genau
das, was er jetzt brauchte. So stand Harald für eine Weile an
seinem Lieblingsplatz nahe der Lichtung mit den moosbewachsenen
Baumstümpfen, die ein wenig wie die grünen Sessel im Wohnzimmer
seiner verstorbenen Großmutter aussahen.
Weinend hielt er seinen Lieblingsbaum umklammert,
eine bauchige Tanne, deren missgebildeter Stamm ihn irgendwie an
die rundliche Form seiner Mama erinnerte und die ebenso wie er
anders als die anderen war. Er roch ihr
Harz, spürte ihre Rinde und fühlte, wie die Gegenwart des Baums
ihn allmählich besänftigte.
Pschhhht, musst nicht traurig sein, schienen
ihre Nadeln zu flüstern. Nichts ist so schlimm, wie es sich
zunächst anhört. Pschhhht. Alles wird gut. Pschhhht.
Und Harald wurde immer ruhiger, entspannte sich,
lauschte der Stille. Bis er plötzlich ein weit entferntes Lachen
hörte.
»Also gut«, sagte Nicole, noch immer keuchend vom
Fangenspielen – das sie natürlich gewonnen hatte -, und ließ sich
auf einem Stein nieder. »Hier ist es.«
Ebenfalls schnaufend und ziemlich verschwitzt
setzte sich Lara ihrer Freundin gegenüber auf einen Baumstumpf und
sah sich staunend um.
Lara trug ihr Sommerkleid aus einem türkisen Stoff,
der sich wie Samt anfühlte, aber viel dünner war. Das Moos kitzelte
an ihren nackten Schenkeln. Sie mochte dieses Kleid nicht besonders
und hätte lieber so ein schönes wie Nicole gehabt, mit Blumen in
leuchtenden Farben.
Wenn sie ihre Mutter darum bat, würde sie bestimmt
auch so eines bekommen. Von ihrer Mutter bekam sie immer alles, was
sie wollte. Das war toll.
Das Spielen hatte die beiden hungrig gemacht.
Nicole reichte Lara einen Schokoriegel, riss von ihrem das
Stanniolpapier ab und warf es lässig neben sich auf den Boden. Lara
tat es ihr nach, obwohl sie ein schlechtes Gewissen dabei hatte.
Ihre Mutter hatte ihr wieder und wieder eingetrichtert, dass man
die Natur sauber halten müsse, doch Lara wollte mindestens ebenso
lässig wie ihre allerbeste Freundin sein.
So saßen sie für ein paar Minuten kauend da und
erholten sich von dem schweißtreibenden Lauf in den Wald.
Die letzten Stunden hatten die Mädchen zuerst auf
der Wiese und dann, als es immer heißer geworden war, unten am Bach
gespielt.
Doch dort war es kaum kühler gewesen, und selbst
das Wasser hatte keine wirkliche Erfrischung geboten. Zudem waren
eine Menge Stechmücken über sie hergefallen und hatten dafür
gesorgt, dass sie es dort nicht lange aushielten.
Also waren sie in den Wald gelaufen, wo Nicole die
verwunschene Stelle erwähnt hatte. Neugierig wie Lara nun
einmal war, hatte sie so lange keine Ruhe gegeben, bis ihr Nicole
diese Stelle zeigte.
Irgendwie war die Lichtung unheimlich. Das lag
jedoch nicht nur an den Überresten des alten Bauernhofs, von dem
Nicole erzählt hatte. Auch die Art, wie das Licht durch die mit
Flechten behangenen Baumwipfel auf den Moosboden fiel, wirkte ein
wenig gespenstisch, fand Lara.
Hier war es seltsam still. Selbst das
Vogelgezwitscher schien an diesem Ort entfernter als im übrigen
Wald, durch den sie gelaufen waren. So als trauten sich nicht
einmal die Vögel bis hierher.
Ein bisschen fürchte ich mich schon, dachte
Lara, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen.
Nicole schienen die Stille und die merkwürdige
Stimmung an diesem Ort nichts auszumachen. Kein Wunder, sie war ja
schon zwölf. Wenn man so alt war, hatte man bestimmt vor nichts
mehr Angst. Aber bis dahin waren es für Lara noch zwei Jahre und
drei Monate. Eine unendlich lange Zeit, wie es ihr vorkam.
»Soll ich es dir wirklich erzählen?«, fragte Nicole
und klang ernsthaft besorgt.
Das sagt sie bestimmt nur, um mich noch
neugieriger zu machen, dachte Lara. Nicole kann richtig gut
Gruselgeschichten erzählen. Sie weiß, wie man es spannend
macht.
»Klar.« Lara strengte sich an, locker zu klingen.
»Ich bin doch kein Baby mehr.«
»Na gut, aber ich hab dich gewarnt. Es ist eine
ziemlich unheimliche Geschichte.« Nicole beugte sich zu ihr vor,
stützte die Ellenbogen auf ihre dünnen Knie und sah dabei aus wie
jemand, der eine Verschwörung plant. »Siehst du die Zeichen auf den
Steinen da drüben?«
Lara sah in die Richtung, in die Nicole zeigte, und
nickte. »Klar sehe ich die. Was sind das für Sterne?«
»Keine Sterne, Dummchen, das sind
Drudenfüße. Die malt man an Orte, an denen es böse Geister
gibt, damit die da dann nicht weg können.«
Plötzlich war es gar nicht mehr so heiß wie vorhin,
fand Lara. Sie rieb sich die nackten Arme, auf denen sich eine
Gänsehaut bildete. »Gibt es hier denn welche? Geister, mein
ich.«
»Klar gibt es die hier. Jedes Jahr in den
Mainächten sieht man hier den verrückten Bauer Sallinger mit seiner
Fackel herumgehen. Dann ruft er nach seiner Frau und den Kindern,
ein Bub und ein kleines Mädchen.«
Nun schien es noch kühler geworden zu sein. Fast
schon kalt. Und das, obwohl die Sonnenstrahlen noch immer über die
Baumspitzen auf den Boden fielen.
»Warum ruft er nach ihnen?«, fragte Lara, war sich
allerdings nicht sicher, ob sie es tatsächlich wissen wollte.
Aber wer A sagt …
»Weil auch sie ruhelos umherirren. Weißt du, der
Sallinger hat sie umgebracht. Alle drei. Gleich hier drüben.«
Nicole zeigte auf eine Grasfläche, um die herum noch vereinzelt die
Reste des Fundaments zu erkennen waren. »Seine Frau hat er an der
Küchenlampe aufgehängt, und dann hat er … Was ist, soll ich’s
wirklich erzählen?«
Diesmal konnte Lara nur nicken. Wenn sie jetzt den
Mund aufmachte, würde Nicole merken, dass ihre Zähne
klapperten.
Nicole schien dieses Nicken vollkommen als Antwort
zu genügen. Sie war mal wieder voll in ihrem Element, und ihre
Augen funkelten wie letztes Jahr am Lagerfeuer im evangelischen
Jugendlager. Wie damals auch, senkte sie die Stimme ein bisschen,
sprach noch leiser und sah Lara direkt in die Augen, als überlege
sie während des Redens, ob sie sie vielleicht fressen sollte.
»Er hat den Bub und das Mädchen zu ihrer toten
Mutter in die Küche gesperrt. Dann hat er eine Fackel genommen und
ist hinüber zum Stall gegangen. Er hat zuerst den Stall und dann
das Haus angezündet. Man sagt, er hätte zugesehen, wie seine Kinder
gegen die Fenster geklopft und geweint haben und wie sie dann
verbrannt sind. Und dann hat er die Fackel an seine Kleider
gehalten und sich selbst verbrannt. Mein Opa und seine Freunde
haben ihn hier heroben gefunden. Sallinger muss schrecklich
ausgesehen haben. Wie ein verkohlter Sonntagsbraten, hat Opa
gesagt, nur dass er nicht so gut gerochen hätte. Und dann …«
Leise, ganz leise, pirschte sich Harald an die
Stelle heran, an der er den Ursprung des Lachens vermutete. Als er
die Mädchen entdeckte, kniete er sich auf der kleinen Erhebung
nieder und beobachtete Lara und Nicole, die sich über etwas sehr
Wichtiges unterhalten mussten, da Nicole kaum hörbar sprach und
Laras Gesicht beim Zuhören sehr ernst war.
Seine Nichte und ihre Freundin hatten ihn nicht
bemerkt, und er wollte sie auch nicht stören. Wenn man im Wald über
Wichtiges sprach, dann waren das meistens Dinge, von denen andere
nichts wissen sollten. Wer konnte das besser verstehen als
er?
Etwas in ihm sagte, es sei besser, wieder zu gehen.
Man beobachtete niemanden heimlich, nein, so etwas tat man einfach
nicht. Neugier war schließlich eine Sünde, die der Herr
strafte.
Andererseits gefiel es ihm, den beiden zuzusehen,
und verstehen konnte er ja auch nichts, weil Nicole viel zu leise
redete. Also belauschte er sie auch nicht, und deswegen war es auch
keine Sünde, hierzubleiben.
Er schmiegte sich an das kühle, weiche Moos auf dem
Boden und war in seinem schwarzen Sweatshirt mit dem
Batman-Symbol auf Brust und Rücken, den schwarzen Jeans und
Turnschuhen nicht viel mehr als einer der vielen Schatten des
Waldes. So, wie auch der Fledermausmann im Comic immer nur ein
Schatten war.
Es tat gut, nur ein Schatten zu sein. Schatten
wurden nicht verspottet, ganz gleich, wie dumm sie auch sein
mochten. Schatten schickte man auch nicht ins Heim. Man ignorierte
sie einfach, und manchmal war das besser.
Er sah den beiden Mädchen zu, wie sie miteinander
tuschelten. Sie saßen sich gegenüber, Lara auf einem Baumstumpf,
der einmal einer Tanne gehört haben musste, und Nicole auf einem
der Steine, die vom Sallinger Hof übrig
waren. Beide trugen sie Sommerkleider. Das von Nicole war ziemlich
bunt, fand Harald. Es gefiel ihm nicht so gut wie das türkise von
Lara. Dieses Türkis passte so herrlich zu ihren langen, fast
schwarzen Haaren und zur Farbe ihrer Haut, bei der Harald immer an
Karamellbonbons denken musste.
Ja, seine Lara war ein sehr, sehr hübsches Mädchen,
und er hatte sie ganz furchtbar lieb. Das spürte er jetzt ganz
deutlich.
»… hat Opa mal erzählt, wie der tote Bauer
ausgesehen hat. Er hat gesagt, seine Arme seien schrecklich
verbogen gew…«
»Hör auf«, rief Lara und sprang von ihrem Sitzplatz
auf. »Das ist doch alles gar nicht passiert. Ist doch nur eine
deiner Gruselgeschichten, oder?«
»Ist es nicht«, protestierte Nicole. »Es war
wirklich so. Mein Opa lügt doch nicht. Außerdem hab ich dich
gewarnt, dass es eine schlimme Geschichte ist.«
»Aber kein Vater bringt seine Kinder um. Und auch
nicht seine Frau.«
»Der Sallinger schon.« Nicole machte eine
erklärende Geste, indem sie den Zeigefinger neben der Schläfe
kreisen ließ. »Der war ein Irrer. So verrückt wie eine Kanalratte,
sagt Opa immer. Der hat das wirklich getan. Aber ich hätte dir
besser nichts davon erzählen sollen. Jetzt hast du kleiner Feigling
Angst gekriegt, stimmt’s?«
»Gar nicht wahr«, schmollte Lara, obwohl Nicole
natürlich Recht hatte. Selbstverständlich hatte sie Angst, und zwar
nicht wenig, aber wenn sie das jetzt zugab, würde Nicole sie
vielleicht auslachen oder – was noch schlimmer
wäre – nicht mehr mit ihr spielen. Nicole würde sich eine andere
allerbeste Freundin suchen, eine, die schon älter und kein solcher
Hasenfuß wie Lara war. »Ich bin überhaupt nicht feige. Ich mein
halt nur, dass man nicht schlecht über Tote reden soll. Das sagt
meine Mama immer. Und die ist auch nicht feige.«
»Bei deiner Mama glaub ich auch nicht, dass sie
feige ist«, sagte Nicole und grinste. »Aber bei dir schon.«
»Bin ich nicht!« Trotzig stampfte Lara mit ihrer
Sandale auf den Nadelboden.
»Bist du doch. Angsthase, Zuckernase, morgen kommt
der Osterhase! Du bist feige, feige, feige.« Nicole sang fröhlich
und genoss sichtlich, wie Lara immer wütender wurde.
»Bin ich nicht, nicht, nicht! Und du bist
doof!«
»Dann beweis es mir«, frotzelte Nicole und trat
Lara gegenüber. »Beweis mir, dass du kein Angsthase bist.«
»Klar mach ich das.«
»Gut.« Wieder sah sie Nicole mit ihrem
Ich-fress-dichgleich -Blick an. »Wenn du tust, was ich sage,
nenn ich dich nie wieder Feigling.«
Lara nickte heftig. Nicht, weil sie wirklich
mitmachen wollte, sondern weil ihre Zähne schon wieder zu klappern
begannen. Es war jetzt eiskalt wie im Winter, aber sie merkte ganz
deutlich, dass diese Kälte nicht aus dem Wald, sondern aus ihr
selbst kam.
Wie wenn man einen Gefrierschrank verschluckt
hat, bei dem die Tür aufgegangen ist.
Sie wusste zwar, dass sie viel zu zierlich war, um
einen Gefrierschrank zu verschlucken, das ging ja auch nur im
Zeichentrickfilm, aber es fühlte sich tatsächlich so an. Als müsste
sie sich gleich übergeben – kotzen würde Nicole bestimmt
sagen, kotzen wie ein Reiher – und dann einen kleinen Berg
Eiswürfel vor sich auf dem Waldboden sehen. Übel genug war ihr in
diesem Moment. Verflixte Schokolade!
Trotzdem ging sie mit Nicole mit. Sie würde ihr
jetzt zeigen, dass sie kein Angsthase oder Osterhase und erst recht
keine Zuckernase war. Sie nicht!
Nicole führte sie zu einer Ansammlung von Büschen,
zwischen denen man bei genauerem Hinsehen ein paar völlig
überwucherte Treppenstufen erkennen konnte. Weiter unten, am Ende
der kaum noch sichtbaren Treppe, befand sich eine Tür aus schwerem
Eichenholz mit dicken rostigen Beschlägen, die in eine Art Hügel
führte.
»Das war mal der Eiskeller«, sagte Nicole, und
diesmal klang sie gar nicht mal so geheimnisvoll, vielmehr war es
eine ganz schlichte Feststellung. Das war mal der Eiskeller
eben, genauso wie man sagte: Das da drüben waren mal die Ställe
und das hier das Haus. »Als es noch keine Kühlschränke gab, hat
man da drin das Eis vom Winter bis in den Sommer gelagert. Wenn du
dich da hineintraust, bist du echt mutig. Da war noch nicht mal ich
drin.«
Mit großen Augen sah Lara ihre allerbeste Freundin
in dem bunt geblümten Sommerkleid an. »Echt nicht?«
Nicole kreuzte die Finger und hielt sie gegen die
Brust, wo sich im Gegensatz zu Lara schon eine erste leichte
Wölbung abzeichnete. »Echt nicht. Ich schwör’s.«
Für einen Augenblick wusste Lara nicht, welches
Gefühl in ihr überwog. War es Stolz, den sie bei dem Gedanken
empfand, etwas zu tun, was selbst die große Nicole noch nicht getan
hatte, oder doch mehr die Angst vor dem, was da hinter dieser Tür
lauern konnte?
Sie entschied sich für den Stolz. Immerhin hatte
sie jetzt die Möglichkeit, in Nicoles Ansehen ein riesiges Stück zu
wachsen.
»Na schön«, sagte Lara. »Ich mach’s.«
»Echt?«
»Ja.«
Plötzlich schien Nicole ihren Plan zu bereuen.
Zumindest glaubte Lara das in ihrem Blick zu sehen. »Hey, ich hab
doch nur Spaß gemacht. Es ist saudunkel hinter der Tür. Ich war
zwar noch nicht drin, aber reingeschaut hab ich natürlich schon. Da
ist’s dunkel und kalt, und es stinkt.«
»Ich bin doch kein Feigling«, sagte Lara, obwohl
sie sich so fühlte. Sie ließ es sich aber nicht anmerken, sondern
stapfte mutig die Stufen nach unten, wobei ihr ein dorniger Ast die
linke Wade zerkratzte.
»Autsch!«
»Lara, lass das doch! Das musst du wirklich nicht.
Ich glaub dir auch so, dass du kein Feigling bist.«
Trotzdem ging Lara weiter auf die Tür zu. Möglich,
dass Nicole das jetzt nur so sagte und später mit einem Ich
hab’s ja gleich gewusst, dass du dich doch nicht traust
daherkam, wenn sie jetzt nicht da hineinging.
Außerdem hatte sich noch ein drittes Gefühl bei ihr
hinzugesellt: Neugier. Eine Tür, hinter der es vielleicht etwas zu
entdecken gab, war eine zu große Verlockung, ganz gleich, ob man
sich vor Furcht fast in die Hose machte oder nicht.
Lara zerrte an der schweren Tür, bekam sie aber
nicht weiter auf. Das Holz fühlte sich eklig an. Wie
Schmirgelpapier, über das man Schleim gegossen hatte. Sie atmete
zweimal tief durch, so wie neulich, als sie zum ersten Mal
im Schwimmbad vom Fünf-Meter-Brett gesprungen war, und schob sich
dann durch den Türspalt in die Dunkelheit dahinter.
Nicole hatte Recht gehabt. Hier stank es ziemlich
heftig. Schlimmer noch als in Omas Weinkeller, wenn eine Flasche
auf den Ziegelboden gefallen und geplatzt war. Und es war
tatsächlich kalt und rabenschwarz. Nur da, wo das Licht durch den
Spalt fiel, konnte man den Lehmboden und die Steinwand erkennen.
Sonst sah man hier nichts.
»Komm wieder raus«, hörte sie Nicole sagen. Sie
hatte sich dicht gegen das Holz gelehnt und lugte seitwärts durch
den Spalt, so dass fast kein Licht mehr in den Raum fiel.
»Ja. Ist echt ganz schön gruselig hi…«
Urplötzlich gaben die Türangeln unter Nicoles
Gewicht nach. Nicole war sicherlich kein Schwergewicht – im
Gegenteil, sie hatte mal erzählt, dass die Jungs in ihrer Klasse
sie Bohnenstange nannten, weshalb sie seither heimlich
Schokolade in sich hineinstopfte -, aber sie hatte wohl doch zu
fest gegen die Tür gedrückt, um Lara und vor allem den Raum
dahinter gut sehen zu können. Kreischend fiel die Tür zu, der
Riegel schnappte ein, und Lara blieb in völliger Dunkelheit
zurück.
»He, mach wieder auf!« Laras Stimme hatte in dem
ehemaligen Eiskeller einen seltsamen Widerhall.
Wie von einem Gespenst, das so tut, als sei es
mein Echo.
»Geht nicht!«, kam es von außen.
Lara hörte ein dumpfes Trommeln auf dem Holz und
Nicoles Stöhnen. »Ich krieg den beschissenen Griff nicht mehr
runter. Der klemmt!«
Nun überkam Lara Panik. Die erste Panik ihres
Lebens. Schlimmer als alle Fünfen in Mathe, die sie je nach Hause
gebracht hatte – eigentlich war es nur eine gewesen -, schlimmer
als die Hausaufgaben vergessen zu haben oder beim Knall eines
Überschallflugzeugs über dem Pausenhof so zu erschrecken, dass
etwas in die Hose ging. Schlimmer als alles, was sie kannte.
Sie schrie, hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür,
fürchtete sich vor der Dunkelheit und stellte sich vor, wie
etwas im Dunkeln aufstand und auf sie zukam. Wie sie hier
nie wieder herauskommen würde, wie sie hier allein in tiefster
Schwärze verhungern und verdursten müsste.
»Lass mich raus! Lass mich wieder raus! Bitte,
bitte, bittebittebitte!«
Doch nichts tat sich. Die Tür blieb zu. Lara
trommelte von innen, Nicole von außen. Sie drückten gegen das Holz,
warfen sich dagegen, aber es war vergeblich. Es war, als wollten
zwei Ameisen die alte Heuscheune neben dem Weizenfeld am Waldrand
umwerfen.
»Ich hol Hilfe!«, schrie Nicole von draußen.
Jetzt drehte Lara erst recht durch. Wenn Nicole
ging – ganz gleich, ob sie Hilfe mitbrachte oder nicht -, dann war
sie hier ganz allein. Allein in einem schwarzen Kellerloch mitten
im Wald, noch dazu an einem verfluchten Ort, wo die Menschen
vor vielen Jahren Sterne auf die Steine gemalt hatten, um die bösen
Geister eines Verrückten und seiner ermordeten Familie zu
bannen.
Keine Sterne, es sind Drudenfüße,
Dummchen, flüsterte ihr eine unheimliche Stimme zu, von der sie
nicht wusste, ob sie in ihrem Kopf war oder nicht vielleicht doch
von jemandem stammte, der unmittelbar hinter ihr stand. Jemand
oder etwas, mit langen Zottelhaaren, glühenden Augen und
scharfen Krallen.
Jaaaaaa, seeeeehhhhr scharrrrrfe
Krallen!
»Nein! Bitte nicht! Lass mich nicht allein!«
Doch von der anderen Seite kam keine Antwort
mehr.
»Neeeeiiiiiiiiinnnn!«
Lara schrie und kreischte, hämmerte gegen die
unnachgiebige Holztür und rief Nicoles Namen.
Doch Nicole war nicht mehr da.
Zuerst dachte Harald, es sei alles nur ein Spiel.
Vielleicht Verstecken – die Kinder im Dorf sagten auch
Versteckus dazu -, nur ein wenig anders.
Er schaute Nicole hinterher, wie sie über die
Lichtung rannte und im Wald verschwand. Wenn sie so weiter lief,
würde sie irgendwann hinunter ins Dorf gelangen. Das Erste, was man
dann zu sehen bekam, war die Straße und kurz dahinter die
ARAL-Tankstelle mit der Autowerkstatt ihres Vaters.
Er hörte Laras Schreie, die seltsam gedämpft
klangen, so als kämen sie von irgendwo unter dem Boden. Sie machte
das gut, fand er. Es klang ziemlich überzeugend. Vielleicht
spielten sie gar nicht Verstecken, sondern etwas wie
Supergirl rettet das Mädchen aus dem Verlies, überlegte
er.
Ja, das konnte hinkommen. Nicole war schließlich
auch blond, so wie Supergirl im Comic. Zwar passte das bunte Kleid
nicht so richtig zu diesem Spiel, es hätte ein blau-rotes Kostüm
mit gelbem Gürtel und roten Stiefeln sein müssen, und Nicole hatte
auch keinen Umhang – ein Cape, wie es eigentlich hieß -,
aber man brauchte ja auch nicht immer das passende Kostüm, wenn man
nur genügend Fantasie
hatte. Und so wartete Harald ganz gespannt, wie diese Szene
weitergehen würde.
Lara rief noch immer »Hilfe, Hilfe«, und jetzt
klang es noch echter als gerade eben. Doch Supergirl kam nicht. War
sie etwa an schwarzes Kryptonit geraten, die schrecklichste
Waffe vom Planeten Krypton, die es gegen Superhelden gab?
Oder war das alles … gar kein Spiel?
Harald beschloss, lieber mal nachzusehen. Sollten
die zwei ihn doch schimpfen, wenn er ihnen das Spiel verdarb. Es
war auf jeden Fall besser, als sich danach Vorwürfe machen zu
müssen, wenn doch etwas passiert war und er nur wieder einmal zu
doof gewesen war, es rechtzeitig zu kapieren.
Also sprang der Fledermausmann auf, lief die kleine
Anhöhe zur Lichtung mit der Ruine hinab, vorbei an den Steinen, von
denen manche einen ausgeblichenen fünfzackigen Stern aufgemalt
trugen, und rannte zu der Stelle, von der aus Lara schrie.
In seinen langen Klamotten musste er schwitzen,
aber das war ihm egal. Selbst Batman schwitzte, obwohl ihm seine
Mutter bestimmt auch immer sagte, er werde noch mal einen
Hitzschlag in den stinkigen Sachen bekommen. Andererseits war
Batmans Mutter schon lange gestorben, bevor Bruce Wayne sich so
verkleidet hatte. Aber das war jetzt auch egal, denn nun sah er die
schwere Kellertür.
Dahinter hörte er Lara weinen. Sofort wusste er,
dass dies kein Spiel war. Weinen gehörte nicht zum Spielen.
Weinen war immer echt.
Diese dämliche Nicole, warum war die nur
weggelaufen?
Er stieg die Stufen zur Tür hinunter, schnappte
sich den Türgriff und zog daran.
Schritte. Da waren Schritte von draußen zu hören.
Sie kamen die verwucherten Stufen herab, auf die Tür zu. Trotz
ihrer Panik, trotz der Furcht vor dem Ding mit den Zotteln und den
langen Krallen hinter ihr in der Dunkelheit, erkannte Lara sehr
wohl, dass diese Schritte nicht von Nicole stammten. Wer immer da
die Treppe zu ihr herunterkam, er war viel größer und schwerer als
Nicole.
Augenblicklich hörte sie auf zu schluchzen, wurde
mucksmäuschenstill. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, was in
dieser absoluten Dunkelheit und dem Gestank gar nicht so einfach
war. Schon gar nicht, wenn einem ein anderer Teil dieses Verstandes
einreden wollte, hinter einem würde ein Ungeheuer lauern.
Jetzt waren die Schritte vor der Tür angekommen und
verstummten. Laras Herz hämmerte wie wild. Sie spürte ihren
klebrigen Schweiß am ganzen Körper und wurde wie von Krämpfen
geschüttelt. Auch bekam sie kaum noch Luft. Ihr Atem ging plötzlich
kurz und flach und schnell, und ihr wurde schwummrig im Kopf. Sie
sah kleine leuchtende Mücken durch die Finsternis schwirren, die
ihr bis dahin nicht aufgefallen waren.
Das sind aber keine Glühwürmchen, sagte
etwas in ihrem Kopf.
Sind es auch nicht, raunte ihr das Ungeheuer
hinter ihrem Rücken zu. Das ist die Angst, Süße. Das ist die
nackte Angst.
Irgendjemand in ihrer unmittelbaren Nähe keuchte
ganz laut und schnell.
Das bin ja ich!
Von außen rüttelte jemand am Türgriff des
Eiskellers. Sie hörte das tiefe Stöhnen einer Männerstimme.
Ein Mann, dort vor der Tür steht ein
Mann!
Nicole und die Hilfe, die sie holen wollte, konnten
das noch nicht sein. Ins Dorf hinunter war es ein ziemliches Stück,
und selbst wenn man mit dem Auto hier hochfuhr, dauerte es eine
Weile.
Oder steckte sie etwa schon so lange im Dunkeln
fest, dass sie nicht gemerkt hatte, wie schnell die Zeit vergangen
war?
Wieder ein Stöhnen, dann ein Rumpeln und Knacken,
und schon schwang mit rostigem Kreischen die Tür auf.
Geblendet starrte Lara in die Helligkeit, die von
draußen hereinbrach. Dann erkannte sie die Umrisse eines Riesen. Er
war ganz und gar schwarz, wie der Schwarze Mann im Kinderreim, vor
dem man schnell davonlaufen musste. Doch davonlaufen konnte sie
nicht. Hinter ihr war die Wand des kleinen Kellers. Der einzige
Weg, der ihr blieb, war nach vorn – direkt in die Arme des riesigen
Schwarzen Mannes.
Wie versteinert stand sie da und schrie vor Angst.
Und dann sprang sie der Riese an.
Wenn man den ganzen Tag lang, fünfmal die Woche,
Stahlplatten auf den Bohrträger wuchten und Löcher hineinbohren
muss – immer genau da, wo sie angezeichnet sind -, bekommt man im
Lauf der Jahre ordentlich Kraft. Die Tür des Kellers ging wirklich
schwer auf, aber Harald bekam das locker hin.
Klar, dass die Tür für Lara zu schwer gewesen war.
Wie
hatte sie es überhaupt hineingeschafft, und was wollte sie nur in
diesem muffigen Kellerloch?
Nun schrie sie noch lauter. Keine Worte wie »Hilfe«
oder »Lass mich raus«, sondern nur langgezogene Laute, so schrill,
dass sie in seinen Ohren wehtaten.
Also lief Harald schnell auf sie zu, packte sie und
hielt ihr den Mund zu.
»He, ich bin’s doch nur«, sagte er leise, aber Lara
wollte sich nicht beruhigen.
Sie hatte sich bestimmt erschreckt, so ganz allein
in diesem Keller. Da war es wichtig, nichts Falsches zu ihr zu
sagen, das wusste Harald von seinen Mitbewohnern im Heim. Wenn die
so laut schrien und strampelten, musste man sie in den Arm nehmen,
festhalten und ruhig auf sie einreden. Oder, noch besser, eine
leise Melodie summen.
Er presste Lara an sich, drückte ihren Kopf gegen
seine Brust, summte das Lied, das ihm seine Mutter immer
vorgesungen hatte – Schlaf, Kindlein, schlaf – und
streichelte sanft über ihren Rücken.
Lara strampelte immer noch, aber sie schrie nicht
mehr, sondern schnaufte fest durch sein Batman-Shirt.
»Gut so«, sagte er sanft und summte dann
weiter.
Doch all seine Bemühungen schienen nicht zu helfen,
denn nun begann Lara zu schluchzen. Er spürte, wie sich ein nasser
Fleck auf seinem Sweatshirt ausbreitete, und er spürte noch etwas:
Es gefiel ihm, wie sich Laras glatter Rücken und ihr runder Po
unter ihrem Kleid anfühlten.
Manfreds Worte kamen ihm wieder in den Sinn.
Es macht ihnen Spaß.
Vielleicht war es das, was Lara jetzt brauchte:
Spaß haben. Wenn man Spaß hatte, lachte man, und alles Schlimme
um einen herum war vergessen – auch das Heim, in das einen der
große Bruder und die Mama stecken wollten. Außerdem hatte er Lara
ja lieb.
»Komm«, flüsterte er und merkte, wie er zitterte.
»Ich zeig dir was.«
Der Schwarze Mann sagte etwas zu ihr, das sie
nicht verstehen konnte. Zum einen sprach er zu leise, und zum
anderen drückte sein Arm gegen ihr Ohr. Außerdem war sie viel zu
sehr damit beschäftigt, durch sein nach Schweiß und Küchengerüchen
stinkendes Sweatshirt Luft zu bekommen, gegen das er ihr Gesicht
mit stählernem Griff presste.
Die Angst tobte wie ein wildes Tier in ihrem Kopf,
ließ kaum noch einen klaren Gedanken zu. Sie versuchte sich zu
wehren, freizukommen, doch der Schwarze Mann hielt sie fest wie ein
Schraubstock, während seine andere Hand, die in Laras Fantasie zu
einer haarigen Pranke mit langen scharfen Krallen geworden war, ihr
Kleid zerfetzte. Mit einem einzigen Ruck zerriss er ihr Höschen mit
dem tanzenden Pandabären auf der Vorderseite. Dann drückte er sie
mit dem Gesicht nach unten auf den staubigen Lehmboden. Lara
schmeckte Dreck, als sie schrie, und dann … explodierten Sterne vor
ihrem Gesicht, während sie glaubte, sich in eine Badewanne mit
siedend heißem Wasser gesetzt zu haben.
Ihr Schmerzgebrüll wurde von den engen Wänden des
Eiskellers zu ihr zurückgeschmettert, und diesmal war sie sich
sicher, dass es kein Gespenst war, das ihre Stimme imitierte.
Diesmal wusste sie sofort, dass sie selbst so schrie.
Lara strampelte und zappelte und – kam frei. Sie
versuchte, auf allen vieren vor dem Monster davonzukrabbeln,
während ihr Atem sich wie eine Dampflok anhörte, die einen Berg
hinunterraste. Doch sofort wurde sie wieder von einer der Pranken
gepackt, diesmal am Nacken.
»Neiiiin!«, kreischte sie und schlug um sich. Sie
hörte ihre Hände in das Gesicht des Schwarzen Mannes klatschen,
hörte sein überraschtes »Uff« im Halbdunkel. Dann wurde sie durch
die Luft gewirbelt, nur kurz, und schlug mit dem Kopf gegen etwas
unglaublich Hartes. Begleitet von einem Geräusch, das dem einer
Kokosnuss ähnelte, auf die man mit einem Stein schlug, stob vor
ihren Augen ein ganzer Schwarm leuchtender Mücken auf. Sie tanzten
wie verrückt vor Laras Gesicht.
Ich muss sie wegscheuchen, dachte sie
träge.
Doch gleich darauf waren die leuchtenden Mücken
wieder verschwunden, und Lara fiel in eine endlos tiefe
Schwärze.
Harald trat einen Schritt zurück und ließ Laras
schlaffen Körper auf den Lehmboden sinken.
Was war denn nur passiert? Es war doch schön
gewesen. Für ihn auf jeden Fall. Das war so ganz anders gewesen,
als wenn er sein Ding da unten nur rieb, bis das weiße Zeug
herauslief und es dann Ruhe gab.
Mit Lara war das Gefühl so toll gewesen, er hatte
gar nicht mehr anders gekonnt. Sein Kopf war vollkommen leer
gewesen, keine Sorgen und keine dummen Gedanken mehr, einfach nur
nichts.
Aber ihr hatte es nicht gefallen. Sie hatte
keinen Spaß gehabt. Sie hatte es nicht gewollt, so wie die
Frau auf dem Poster in Manfreds Spind, die in einer Sprechblase
Ich will es! sagte.
Hatte Manfred ihn etwa angelogen, so wie er
manchmal auch die Anleiter foppte, wenn er Scheißgeräte
statt Schweißgeräte sagte und dann so tat, als sei es nur
ein Versprecher gewesen? So richtig glauben wollte Harald das
nicht, weil Manfred manchmal auch richtig schlaue Sachen sagte und
er sich auch nicht vor Frau Petrowski schämte. Im Gegensatz zu
Harald hatte Manfred der Psychologin schon von seinem Ding da unten
erzählt und ihr sogar schon mal gezeigt, was er damit
machte. Das hatte er zumindest behauptet.
Vielleicht habe ich es auch nur falsch gemacht,
und es hat Lara deswegen nicht gefallen, durchfuhr es
ihn.
Was, wenn Lara nun aufwachte, nach Hause lief und
allen davon erzählen würde? Sie würden ihn auslachen, wer auch
immer sie sein mochten. Karl vielleicht und Annemarie, und
seine Mutter, bestimmt auch Manfred und die Anleiter in der
Werkstatt. Sie alle würden ihn auslachen, weil er sogar zu dumm
war, sein Ding da unten so reinzustecken, dass es einem
Mädchen Spaß machte.
Seht euch den nur an, würden sie sagen und
auf ihn zeigen, will wie Batman sein, aber ist zu dumm zum
Liebemachen. Das arme Ding hat sich sogar den Kopf dabei
angeschlagen und so geblutet, dass es einen Fleck auf der Wand
hinterlassen hat. Da kann es ihr ja keinen Spaß machen.
Harald spürte Tränen in sich aufsteigen. Er hatte
versagt. Wieder einmal. Er bückte sich zu Lara, streichelte ihren
Kopf und löste zärtlich die verklebten Haare aus der Platzwunde. Da
musste ganz schnell ein Pflaster drauf, das wusste er von Matthias,
der mit ihm in der Werkstatt arbeitete und meistens eine komische
ringförmige Kappe tragen musste. Wenn er die nicht aufhatte, konnte
es passieren,
dass er schreiend mit dem Kopf an die Wand schlug, absichtlich
sogar, und dann bekam er ein großes weißes Pflaster auf die Stirn
und die Kappe wieder auf.
Harald wusste, wo es ein solches Pflaster gab.
Nicht zu Hause bei Mama – nein, da würden sie ihn auslachen -,
sondern an einem besseren Ort, gar nicht weit von hier. Dort konnte
er Lara das Pflaster draufkleben und mit ihr reden, wenn sie wieder
wach war. Er würde ihr erklären, dass er es eigentlich so hatte
machen wollen, dass auch sie Spaß hatte und nicht mehr traurig war,
weil sie sich allein in dem dunklen Keller befand.
Er würde ihr es noch einmal zeigen, es dann auch
richtig machen und erst aufhören, wenn sie so richtig von Herzen
lachte. Sie konnte so lieb lachen. Und dann würden sie heimgehen,
und Lara konnte erzählen, wie lieb er zu ihr gewesen war.
Dann würde ihn niemand mehr auslachen.
Dann wäre er ein Held.
So wie Batman.
Das Erste, was Lara einfiel, als sie wieder zu
sich kam, waren die leuchtend weißen Mücken, die sie hatte verjagen
wollen. Nun waren sie verschwunden, aber ihr Summen konnte sie noch
immer hören. Ihr Kopf tat schrecklich weh, und zwischen ihren
Beinen brannte es furchtbar.
Sie rappelte sich auf, stemmte sich auf die
Ellenbogen und stellte fest, dass sie nicht mehr in dem Keller
war.
Sie kannte diesen Ort gut. Es war die alte
Heuscheune neben dem Weizenfeld am Waldrand. Nicole und sie waren
hier schon oft beim Spielen gewesen, vor allem in den letzten
Sommerferien, in denen es so viel geregnet hatte.
Hier konnte man tolle Sachen entdecken. Einmal
hatten sie sogar vier frisch geborene Kätzchen gefunden, die von
ihrer Mutter oben auf der Tenne wie Küken in ein Nest aus Heu
gebettet worden waren. Sie hatte zu Nicole gesagt, sie wolle auch
mal so ein Kätzchen haben, wenn sie groß sei. Das dürfte dann auch
bei ihr im Bett schlafen.
Doch nun war dieser Raum unheimlich, daran änderte
selbst das Licht der Sonnenstrahlen nichts, das durch die Ritzen
zwischen den Lattenwänden hereindrang und den tanzenden Staub
beschien.
Aber wie war sie überhaupt hierhergekommen? Sie war
doch gerade noch …
Der Keller!
Der Schwarze Mann!
Im selben Augenblick, in dem ihr wieder einfiel,
was geschehen war, entdeckte sie auch den Schwarzen Mann. Er stand
an einem Holzkasten an der Wand und wühlte darin herum. Sein Kopf
war hinter der Kastentür verborgen, auf der ein ausgeblichenes
rotes Kreuz zu erkennen war. Dasselbe wie zu Hause auf dem
Erste-Hilfe-Schränkchen im Badezimmer. Sie erinnerte sich, wie
Nicole im letzten Sommer eine alte muffige Mullbinde aus dem Kasten
geholt und wie sie dann Mumie gespielt hatten. Dabei war ihnen ein
Fläschchen mit einer grellroten Flüssigkeit umgekippt, die
furchtbar streng gerochen hatte, und über eine Packung Heftpflaster
und eine zweite Rolle Mullbinde ausgelaufen.
»Scheiße!«, fluchte der Schwarze Mann und noch
einmal »Scheiße!«. Dann schloss er die Tür und drehte sich zu ihr
um.
Lara erkannte ihn sofort.
Onkel Harald! Onkel Harald ist der Schwarze
Mann!
Auf einmal begriff sie, warum ihr Vater seinen
Bruder nicht mochte. Bis zu diesem Moment hatte sie immer geglaubt,
ihr Vater könne Harald nicht ausstehen, weil er ein Dummkopf war,
aber jetzt kannte sie die Wahrheit: Onkel Harald ist der böse
Schwarze Mann, und Papa hat das gewusst.
»Die Pflaster sind alle kaputt«, sagte Onkel
Harald. »Da kann man keins mehr auf deinen Kopf pappen.«
Lara kroch ein Stück rückwärts über den staubigen
Dielenboden, wobei sie eine dünne Blutspur hinterließ. Sie behielt
ihren Onkel genau im Blick.
Als sie aufstand, zitterte sie am ganzen Leib. Ihre
Beine fühlten sich wackelig an, wie bei einem frisch geborenen
Fohlen.
»Tut’s noch arg weh?«
Lara schwieg. Sie biss sich auf die Lippen. Das
Brennen zwischen ihren Beinen wurde immer schlimmer, je mehr sie
schwitzte. Es war so heiß und stickig in der Scheune.
Nun kam Onkel Harald auf sie zu. »Bist du jetzt
böse auf mich?«
Sie trat noch einen Schritt zurück und stieß mit
dem Rücken gegen ein Regal, in dem etwas klapperte.
»Ich hab’s falsch gemacht. Aber wir können es ja
noch einmal versuchen, und dann mach ich es bestimmt richtig. Dann
macht’s auch dir Spaß, und du bist nicht mehr sauer auf mich.
Ja?«
Lara hatte keine Ahnung, wovon ihr Onkel redete.
Sie sah nur, wie er immer näher zu ihr kam, langsam, Schritt für
Schritt, und das machte ihr eine Heidenangst.
Er wird mir wieder wehtun. Er wird mir wieder
wehtun. Er wird mir wieder …
Einen oder zwei Meter vor ihr blieb er stehen. Lara
konnte ihn riechen. Er stank eklig. Wie ein böser Wolf.
»Ich hab dich doch lieb«, sagte er.
Ich muss hier weg, weg, weg!
Aber wohin? Genau wie vorhin im Keller versperrte
er ihr den Weg. Hinter ihr war nur das Regal und dahinter die Wand.
Eine Möglichkeit davonzulaufen gab es nicht.
»Schau mal.« Onkel Harald lächelte. »Er ist schon
wieder ganz groß.«
Er zeigte auf seine schwarze Jeans und begann am
Hosenlatz herumzunesteln.
Diese kurze Ablenkung nutzte Lara aus. Sie rannte
los, stürmte nach vorn. Sie musste nur kurz an ihm vorbei, weiter
zum Scheunentor, das einen Spaltbreit offen stand, dann auf dem
Feldweg zum Wald, durch den Wald über den holprigen Forstweg
hinunter zum Dorf, und dort wäre sie in Sicherheit. Sie …
… war kaum neben ihm, als sein Arm hochschnellte
und sie packte. In einer einzigen Bewegung wirbelte er sie zurück
gegen das Regal. Lara schlug mit der Brust hart gegen das Holz und
fühlte, wie ihr dabei die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Sie
konnte nicht schreien, und selbst wenn sie es gekonnt hätte, gab es
weit und breit niemanden, der sie hören konnte. Deshalb waren
Nicole und sie ja auch immer zum Spielen hierhergekommen: weil man
hier tun konnte, was man wollte, ohne Gefahr zu laufen, außerhalb
der Erntezeit einem Erwachsenen zu begegnen.
Wieder wurde ihr Kleid hochgeschoben, und das war
der Moment, in dem Lara den Inhalt des Regals erkannte.
Werkzeug!
Sie ließ das Regal los, gegen das sie sich gestützt
hatte,
knallte nochmals dagegen und schaffte es dabei, sich einen
schweren Hobel zu greifen. Sie spürte etwas Dickes gegen ihre
Hinterbacken drücken und wirbelte herum. Dabei schlug sie mit dem
Hobel einfach hinter sich.
Sie traf. Harald schrie. Augenblicklich ließ er sie
los.
Lara sah ihren Onkel, der mit heruntergelassenen
Hosen vor ihr stand, seine Schulter hielt und sie verwirrt
anstarrte.
»W-warum?«, stammelte er und starrte auf den Hobel,
der neben ihm am Boden lag.
Lara wagte es nicht, ein zweites Mal an ihm
vorbeizurennen. Er würde sie wieder packen und wieder etwas
Schlimmes mit ihr tun. Sie drehte sich hastig zu dem Regal um.
Dieses Mal griff sie sich einen Schraubenzieher. Das Metall war
bereits rostig, aber der transparentrote Plastikgriff funkelte wie
neu. Sie hielt den Schraubenzieher schützend vor sich.
»Laramaus, ich will dir doch nichts tun. Ich mach
doch nur Spaß mit dir. Schau doch.«
Er griff sich zwischen die Beine, zeigte ihr sein
steifes Glied und schlurfte dabei einen Schritt auf sie zu, wobei
seine heruntergelassene schwarze Jeans einen breiten Streifen durch
die Staubschicht auf dem Boden zog.
Das war ein Schritt zu viel.
Lara, schon längst nicht mehr Herrin über ihren
erst neun Jahre und neun Monate jungen Verstand, handelte, ohne
wirklich zu wissen, was sie tat. Sie stieß einfach mit der nach
vorn gerichteten Spitze des Schraubenziehers zu.
Hätte Harald Baumann ein wenig aufrechter vor ihr
gestanden und wäre er nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen,
ihr das Körperteil zu zeigen, mit dem Mädchen Spaß haben wollten –
zumindest nach Manfreds Ansicht -, hätte der Stich möglicherweise
nur seine Schulter durchbohrt. Schlimmstenfalls die Seite seines
Halses, wo die Schlagader verlief.
Doch nun traf sie ihn mitten ins Gesicht. Genauer
gesagt in sein rechtes Auge. Lara hatte das nicht beabsichtigt, es
passierte einfach. Und die Angst des Mädchens war derart groß, dass
sie ihr ungeahnte Kräfte verlieh.
Harald Baumann schrie, als die scharfkantige
Metallspitze das geleeartige Gewebe seines Augapfels durchdrang.
Sein Schrei endete abrupt, nachdem der Schraubenzieher den
hauchdünnen Knochen der Augenhöhle durchbrochen und in sein Gehirn
eingedrungen war. Stöhnend drehte er sich um die eigene Achse und
fiel dann wie ein Sack auf den Rücken, wo er einfach liegenblieb.
Sein erigierter Penis, der wie ein dicker Wurm auf seinem Bauch
lag, schrumpfte zusammen.
Obwohl sie den Schraubenzieher längst nicht mehr
hielt, hatte Lara noch immer ihre zitternden Arme ausgestreckt. Sie
begriff nicht, was sie gerade getan hatte, sondern befand sich
vollkommen jenseits dessen, was man annähernd als denkend
hätte bezeichnen können. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Atmung
ging schnell und stoßartig, und aus jeder Pore ihres Körpers troff
der Schweiß.
Zu ihren Füßen röchelte Harald Baumann, ihr Onkel,
der Schwarze Mann.
Es war ein merkwürdiges Gefühl. Nicht, dass Harald
wirklich Schmerzen hatte, nein, vielmehr merkte er, wie sein Körper
allmählich zu verschwinden schien.
Es kam ihm fast so vor, als würde er – oder
vielleicht das von ihm, was der Pfarrer im Religionsunterricht
die Seele genannt hatte – ganz langsam emporgehoben, während
sein Körper auf dem Dielenboden des Schuppens liegen blieb.
Mit seinem verbliebenen Auge sah er Staubflocken
wie Sterne über sich tanzen, hell und fröhlich. Gleich neben seiner
Nase funkelte das transparentrote Plastik des
Schraubenziehergriffs. Im Licht der Ritzen an der Wand sah er wie
ein schillernder Edelstein aus.
Wunderschön, dachte er. Auch wenn es
wehtut, das Auge danach zu drehen, ist dieser Edelstein doch
wunderschön.
Dann sah Harald wieder nach oben. Die hohe Decke
mit dem Lattendach schien nun ein wenig näher gerückt zu sein, der
Boden ein Stück ferner. Aber das Schönste von allem war Laras
Gesicht über seinem. Sie war so unsagbar hübsch, auch wenn ihr Bild
immer mehr zu verschwimmen schien.
Er hätte schwören können, dass Lara ihn anlächelte.
Er hörte sie sogar laut lachen.
Ja, dachte er glücklich. Sie hat doch
ihren Spaß gehabt. Jetzt hat sie mich wieder lieb.
Er wollte ihr sagen, dass auch er sie ganz, ganz
liebhatte, doch es ging nicht mehr. Und gleich darauf wurde alles
um ihn herum schwarz.
Schwärzer noch als Batmans Cape, war sein
letzter Gedanke.
Nichts, was Lara tat, ergab einen Sinn. Sie stand
vor ihrem Onkel, der ausgestreckt auf dem Rücken lag, als ruhe er
sich aus. Sein Gesicht war ganz und gar entspannt, die
Hände lagen flach neben seinem Körper auf dem staubigen
Dielenboden, und er schien irgendetwas an der Scheunendecke erspäht
zu haben.
Nur einmal zuckte sein Auge nach rechts, wobei der
Schraubenziehergriff in der rechten Augenhöhle wackelte und einen
eklig schmatzenden Laut von sich gab.
Vielleicht lag es an diesem Laut. Vielleicht war es
dieses Schmatzen, das ihre Schockstarre löste. Ihr wurde klar, dass
das Ungeheuer – der Schwarze Mann, der böse Wolf aus dem
Märchenbuch – nun endlich tot war.
Ein hässliches Lachen und Johlen platzte aus ihr
heraus. Sie stand über Harald Baumanns Leiche, schrie, brüllte und
grölte wie ein wahnsinnig gewordenes Tier, trat nach dem Toten,
tanzte im Kreis und hüpfte umher wie ein durchgedrehter
Frosch.
Auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Bis sie
schließlich erschöpft auf die Knie sank.
Zitternd starrte sie in das Gesicht ihres zu
Lebzeiten schwachsinnigen Onkels, starrte auf den Plastikgriff, der
wie ein rotes Stielauge in einem Comic den Platz seines rechten
Auges eingenommen hatte.
Für einen Sekundenbruchteil wurde ihr klar, dass
sie einen Menschen getötet hatte, ehe das Trauma wieder den
schützenden schwarzen Vorhang vor ihre Gedanken zog.
Über das, was nach diesem Moment geschah, kann nur
spekuliert werden. Selbst Lara konnte sich nicht daran erinnern,
und höchstwahrscheinlich ist das auch gut so. Ihr Verstand nahm
sich die Pause, die er benötigte, um das Geschehene zu verdrängen
und sich in ihr neues Ich zu flüchten.
Niemand war Zeuge, wie Lara die schrecklichen
Ereignisse aus ihrer Erinnerung verbannte und zu dem anderen
Mädchen wurde, das künftig von seiner Mutter bei seinem zweiten
Vornamen, Ellen, gerufen wurde.
Niemand, außer vielleicht das Weizenfeld neben der
Scheune, das sie neunzehn Jahre später in einem Traum von einem
roten Briefkasten wiedersehen sollte. Oder der Feldweg, auf dem
sich eine letzte Pfütze gegen die Sommersonne behauptete und Blasen
warf, die neugierigen Augäpfeln zu gleichen schienen.
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang,
entdeckten Hermann Talbach und zwei Männer aus dem Dorf das
Mädchen. Lara hatte sich in die Höhlung einer knorrigen Baumwurzel
verkrochen. Zusammengekauert wie ein Igel, sah sie die Männer aus
angstgeweiteten Augen an und hielt ein moosiges Holzstück an sich
gedrückt, als sei es eine Puppe.