Kapitel 6
Dunkelheit, Stille und übler Geruch – und wieder dieses seltsame Gefühl, das sie schaudern ließ.
Hätte Ellen es nicht besser gewusst, sie hätte für einen Augenblick schwören mögen, allein in dem kleinen Patientenzimmer am Ende des Ganges zu sein.
»Hallo?«
Grabesstille.
Sie hätte die Frau gern beim Namen genannt, aber da ihr dies nicht möglich war, beschränkte sie sich auf ein zweites kurzes »Hallo« und trat ein.
Langsam ging sie zum Bett, sah die leere Stelle, an der vor Kurzem noch das schreckhafte Häuflein Elend gekauert hatte, und schaute sogar unter das Bett. Auch dort war niemand.
»Wo sind Sie?«
Viele Möglichkeiten, sich in dem nur spärlich möblierten Zimmer zu verstecken, gab es nicht. Andererseits wäre die Frau ohne Namen in ihrem verängstigten Zustand sicherlich nicht einfach auf den Flur hinausgegangen.
Vorsichtig näherte sich Ellen dem Wandschrank mit den zwei Türen und der Reihe Schubladen, in denen die Patienten für gewöhnlich frische Socken und Unterwäsche verstauten. Beides wäre auch für diese Patientin dringend notwendig gewesen. Überhaupt benötigte sie frische Kleidung – mehr als diesen schäbigen, teils zerrissenen Trainingsanzug schien sie nicht bei sich zu haben – und eine ausgiebige Dusche. Oder, noch besser, ein langes Bad mit jeder Menge Badesalz. Aber es würde noch viel Überzeugungsarbeit nötig sein, diese Frau dazu zu bringen, sich zu entkleiden und in eine Badewanne zu steigen. Dort fehlte ihr jegliche Fluchtmöglichkeit, und wer konnte zudem schon sagen, was ihr vielleicht alles im unbekleideten oder nur teilweise bekleideten Zustand widerfahren war.
Also gut, Überzeugungsarbeit, Vertrauensaufbau und eine Unmenge Geduld, und dann ein Bad und frische Kleider.
Doch zunächst einmal galt es, die Frau ohne Namen zu finden.
Ellen fasste den Griff einer Schranktür, achtete darauf, in einem sicheren Winkel zu stehen – gesetzt den Fall, die Patientin käme wieder auf den Gedanken, sie anzufallen -, und dann öffnete sie die Tür. Abgesehen vom muffigen Geruch nach altem Holz und antibakteriellem Putzmittel sprang sie nichts an. Bis auf drei Kleiderbügel, die durch den Ruck an der Querstange hin und her schwangen, war der Schrank leer.
Nun gab es nur noch eine Möglichkeit. Ellen ging zu der kleinen Tür neben dem Ausgang zum Flur, hinter der sich die Toilettenkabine befand. Durch den schmalen Türspalt drang ein kaum hörbares Geräusch. Das Reiben von Wollsocken auf Linoleumboden.
Behutsam öffnete Ellen die Tür. Die Kabine war nicht viel größer als eine Telefonzelle.
Dennoch war es der unbekannten Frau gelungen, sich unterhalb des Waschbeckens zusammenzukauern. Im Dunkeln, eingekeilt zwischen Toilettenschüssel und Siphonrohr, wirkte sie wie ein eingerollter Igel. Ellen erkannte ein zerknäultes Handtuch, das die Frau an sich gedrückt hielt, als sei es ein Kuscheltier.
»Hier sind Sie also«, sagte Ellen mit sanfter Stimme. »Ich will Sie nicht stören, aber ich dachte mir, wir könnten unsere Unterhaltung von vorhin weiterführen. Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist. Ist es Ihnen recht?«
Die unbekannte Frau schüttelte zaghaft den Kopf. »Ich komm hier nicht mehr raus, sonst holt er mich.«
Diesmal klang ihre kindliche Tonlage noch überzeugender. Hätte Ellen nur ihre Stimme gehört, ohne zu wissen, zu wem sie gehörte, wäre sie sicher gewesen, ein etwa sechsbis achtjähriges Mädchen vor sich zu haben.
»Wollen Sie mir sagen, wer er ist?«
»Dich holt er auch, sobald er von dir weiß.«
»Warum sollte er mich holen wollen?«
»Weil er mit dir spielen will.«
Ellen musste an das denken, was Mark ihr erzählt hatte. Verdrängung zum Schutz vor schlimmen Erinnerungen. Hatte sie es hier mit einem ähnlichen Fall zu tun? Die weit aufgerissenen Augen, die zu einem Schmollmund geformten Lippen und nun das Handtuch, das die Frau hielt wie ein Kind seine Lieblingspuppe oder seinen Teddybären, legten die Vermutung nahe. Ebenso die hohe, verstellte Stimme und die Art, wie sich die Frau ausdrückte. Bei ihrem Anblick musste Ellen unweigerlich an die kleine Tochter einer Bekannten denken, die sich bei Gewitter stets unter der Treppe versteckte.
War diese traumatisierte Frau in ihre eigene Kindheit geflüchtet, weil es einfacher für sie war, das Erlebte mit kindlichen Worten und Gedanken auszudrücken? Spielen klang beileibe nicht so schlimm wie verprügeln oder vergewaltigen, auch wenn es für diese Frau dasselbe bedeuten mochte.
Immerhin war das ein Anfang. Besser, als wenn sie sich hinter einer Mauer des Schweigens verbarrikadierte.
Wenn du Zugang zu ihr bekommen willst, solltest du dich zunächst auf ihr Verhalten einlassen. Vergiss das Gerede von wegen therapeutischer Distanz und dass man seine Patienten siezen soll. Wenn sie sich für ein Kind hält, dann rede zu ihr wie zu einem Kind.
»Verrätst du mir deinen Namen?«
Die Frau schüttelte energisch den Kopf und presste das Handtuch noch fester an sich.
»Du kannst ihn mir ruhig verraten. Hier kann dir nichts geschehen«, versicherte Ellen.
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Weil er mich dann hört und mich holen kommt. Und dich auch!«
Wieder diese Andeutung, dass der Unbekannte auch vor Ellen nicht haltmachen würde.
Was mochte die Frau nur durchgemacht haben? Hatte es vor ihr auch andere Opfer gegeben und wusste sie davon?
»Weißt du denn, wo er gerade ist?«
Wieder schüttelte die Frau den Kopf. Diesmal drückte sie dabei beide Hände auf die Ohren und presste Augen und Mund fest zu.
»Bitte«, versuchte Ellen zu ihr durchzudringen, »du kannst mir vertrauen. Ich werde dich vor ihm beschützen, aber das kann ich nur, wenn ich weiß, wer er ist. Und wenn ich weiß, wer du bist.«
Weiter den Kopf schüttelnd, begann die Frau mit verstellter Stimme zu singen. »Wenn er aber kommt, dann laufen wir davon.«
Es hörte sich auch so schon unheimlich an, aber in der kleinen, dunklen Toilettenkabine klang es noch viel unheimlicher.
Als höre man eine Kinderstimme durch einen geschlossenen Sargdeckel, dachte Ellen.
 
Zurück in ihrem Büro, machte sie sich daran, den Patientenbericht über diese Frau auf ihrem Notebook zu schreiben, und ergänzte Chris’ Notizen mit ihren eigenen Beobachtungen. Dabei ging sie wie immer sehr detailliert vor. Das half ihr dabei, das Beobachtete in den richtigen Kontext zu setzen.
Ja, dies war wirklich ein Besonders Interessanter Fall, und es würde eine Menge Arbeit erfordern, Zugang zur Patientin zu bekommen. Es gab jedoch eine Person, die ihr dabei helfen konnte. Jemanden, der Erfahrungen mit Traumaopfern hatte.
Sie griff zum Telefon, und als Mark sich nach dem zweiten Läuten meldete, fragte sie: »Was hältst du von Sushi?«
Trigger - Dorn, W: Trigger
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