Kapitel 8
Ellen mochte den Frühdienst. Ihr gefiel der kleine
Spaziergang vom Wohnheim zur Station, vor allem im Frühjahr, wenn
der Klinikpark nach Harz und Blumen roch und Vogelgezwitscher die
unvergleichliche Stimmung der Morgendämmerung untermalte. Bis Mitte
Oktober, wenn die Tage allmählich kürzer und die Dunkelheit immer
hartnäckiger wurden, war dies Ellens liebste Arbeitszeit. Doch
nicht an diesem Dienstag.
An diesem Morgen fiel ihr nicht einmal auf, dass
sich der Wetterbericht getäuscht hatte und der klare Himmel einen
sonnigen Tag versprach.
Noch immer machte ihr der Traum zu schaffen.
Verrücktes Zeug, das sich nicht wie sonst, wenn sie einen seltsamen
Traum hatte, einfach wegschieben ließ. Ihre Begegnung mit dem
seligen Professor Bormann – wie lange hatte sie nicht mehr an ihn
gedacht? Monate? Jahre? – und der unheimliche, riesige Hund, den
sie nicht nur hatte sehen, sondern seinen Gestank regelrecht
riechen können, gingen ihr nicht aus dem Kopf. Ebenso die Patientin
ohne Namen, die sich in ihre Traumwelt eingeschlichen hatte.
Ellen träumte so gut wie nie von der Arbeit.
Sie schaffte es immer irgendwie, die Vorfälle auf
der Station mit ihrem Kittel bei Dienstschluss zurückzulassen. Und
selbst wenn sie und Chris zu Hause gelegentlich über die besonders
interessanten Fälle diskutierten, hatte es noch keiner dieser BIFs
geschafft, sie bis in ihre Träume zu verfolgen.
Mark hatte sie gewarnt, sich nicht in den Fall zu
verrennen,
und sie hatte seine Warnung ignoriert. Das tat sie immer noch.
Möglich, dass ihr dieser Fall näher ging als jeder andere zuvor,
aber deswegen verrannte sie sich noch lange nicht. Vielleicht
dachte er als Mann anders, aber sie konnte nur zu gut mit der
Patientin fühlen, für die der Albtraum aller Frauen Wirklichkeit
geworden war. Und nicht zuletzt war es auch ihre ärztliche
Pflicht, sich dieser Patientin anzunehmen, ihr zu helfen, so gut es
nur ging.
Wenn Chris sich doch nur endlich melden würde.
Natürlich würde sie nicht mit ihm über den Fall sprechen, er sollte
sich erholen und nicht an die Arbeit denken, aber sie hätte jetzt
einfach gern seine Stimme gehört oder ein paar Worte von ihm
gelesen. Das hätte ihr nach einer schlimmen Nacht wie der vorigen
gutgetan. Doch ihr Handy meldete noch immer keine neuen
Nachrichten.
Als sie Station 9 erreichte, stand Mark bereits im
Eingangsbereich und unterhielt sich mit einem Techniker, der am
Türmechanismus herumschraubte.
»Hoffnungslos veraltet.« Sie erkannte die Stimme
wieder, die sie tags zuvor per Handy zum Sicherungskasten gelotst
hatte. »Wahrscheinlich findet man irgendwo noch’nen Stempel mit dem
Reichsadler auf einer der Schaltungen. Wundern würd’s mich nicht.
Die sparen an der falschen Stelle, wissen Sie. Diesen Schrott zu
warten kostet auf die Dauer mehr als eine neue
Schließanlage.«
Mark nickte verständnisvoll. »Sehen Sie es so:
Solange wir uns aufgrund der Sparmaßnahmen keine neue Schließanlage
leisten können, ist Ihr Job hier sicher.«
»Hm«, machte der Techniker, ohne von seiner Arbeit
aufzusehen. »Da haben Sie auch wieder Recht.«
Ellen musste schmunzeln. »Guten Morgen, die Herren.
Gibt es Probleme?«
»Nur der übliche Fehlalarm«, erwiderte Mark. »Du
bist ziemlich blass. Geht es dir gut?«
»Nichts, was eine Kanne starker Kaffee nicht wieder
geradebiegen könnte. Schön, dass du da bist.«
Er hob eine Braue. »Wir sind verabredet, schon
vergessen?«
»Natürlich nicht.«
Die Art, wie er sie musterte, gefiel Ellen nicht.
»Was ist? Warum siehst du mich so an?«
»Nicht hier«, lautete die knappe Antwort.
»Sagen Sie mal«, unterbrach sie der Techniker,
»wäre es möglich, dass Sie diesen … diesen Typen da drin von der
Tür wegscheuchen? Der macht mich nervös.«
Erst jetzt fiel Ellen der Patient auf – Rüdiger
Maler, ein etwa Zwanzigjähriger mit kahlgeschorenem Kopf und dicken
Brillengläsern. Er drückte sich nur wenige Zentimeter von dem
Techniker entfernt an der Glastür die Nase platt und leckte dabei
über die Scheibe, wobei seine Zunge wie ein dicker Blutegel
aussah.
»Mach ich. Wenn Sie uns dafür hineinlassen.«
Der Techniker werkelte kurz in dem offenen
Schaltkasten herum, ehe der Summton der Schließanlage zu hören
war.
Rüdiger Maler wich mit verdutztem Blick von der
Scheibe zurück, und Ellen und Mark betraten die Station.
»Hallo, Herr Maler, nicht beim Frühstück?«, fragte
Ellen.
»Warum macht der Mann da draußen die Tür kaputt?«,
kam die Gegenfrage. Obwohl der junge Mann mit seinen
knappen eins neunzig eine imposante Erscheinung darstellte, war
sein Denken nicht sehr viel weiter entwickelt als das eines kleinen
Kindes. Dazu passte auch seine Stimme, die sich in einer Höhenlage
bewegte, als würde es noch Jahre bis zum Stimmbruch dauern.
»Er macht sie nicht kaputt«, erklärte Ellen. »Er
repariert sie gerade.«
»Aha«, machte Maler, dann verzog er das Gesicht zu
einem Grinsen. »Hab mir einen runtergeholt.« Stolz zeigte er auf
den Fleck im Schritt seiner Jeans. »Willste mal sehen?«
Noch bevor Ellen dieses Angebot ausschlagen konnte,
kam Carola, die neue Nachtschwester, aus dem Zimmer geeilt, das
sich Maler mit Herrn Brenner teilte.
»Rüdiger, komm sofort her!«
Nun erst sah sie Ellen und Mark und lief rot an.
Zuerst dachte Ellen, ihre plötzliche Verlegenheit liege daran, dass
die Schwester wusste, welch großen Wert Ellen auf einen
respektvollen Umgangston mit den Patienten legte. Ein
unprofessionelles Du oder die Anrede beim Vornamen waren für
Ellen ein Tabu, ganz gleich, was der Betreffende auch ausgefressen
haben mochte.
Aber dann wurde ihr klar, dass Carolas Verlegenheit
mit etwas anderem zu tun haben musste. Mit etwas, das sie hinter
ihrem zierlichen Rücken zu verstecken versuchte.
»Was ist denn los?«, fragte Ellen.
»Wenn ich gewusst hätte, wie es hier zugeht, hätte
ich mich nicht von der Intensivstation hierher versetzen lassen,
das können Sie mir glauben«, maulte die Schwester. »Die ganze Nacht
wird man von diesen Gestörten auf Trab gehalten, muss ihren Dreck
aufwischen, schauen, dass sie so schnell wie möglich ihr Frühstück
kriegen, sich mit drei
Fehlalarmen herumschlagen – und dann auch noch das
hier!«
Mit einer raschen Bewegung zog sie die Hände hinter
dem Rücken hervor und hielt Ellen zwei Pornomagazine vors
Gesicht.
»Ups«, entwich es Mark, den dies sichtlich
amüsierte. »Und das am frühen Morgen.«
Ellen bedachte ihn mit einem kurzen Seitenblick,
der seine Wirkung nicht verfehlte.
Diese Station ist mein Verantwortungsbereich,
mein Lieber, sagte sie mit diesem Blick, und wenn sich das
Pflegepersonal von HEISSE STUDENTINNEN und MONSTERTITTEN
EXTRAabgestoßen fühlt, dann nehme ich so etwas ernst.
Mark verstummte augenblicklich.
Dass sich Schwester Carola davon abgestoßen fühlte,
zeigte sie mehr als deutlich – so deutlich, dass es in der Tat
etwas Belustigendes hatte. Sie hielt die beiden Magazine jeweils
zwischen Daumen und Zeigefinger, als handele es sich um etwas
Hochinfektiöses, und schien förmlich darauf zu brennen, sie
im nächstbesten Mülleimer zu entsorgen. Ellen wollte lieber nicht
daran denken, was geschehen wäre, wenn nicht Schwester Carola,
sondern ihre von Natur aus hysterische Kollegin Marion diesen Fund
gemacht hätte. Dagegen hätte ein Bombenalarm in einem ausverkauften
Fußballstadion wahrscheinlich wie ein entspanntes Kaffeekränzchen
gewirkt.
»Vor einer halben Stunde habe ich Herrn Brenners
Bett frisch bezogen und den Boden wischen müssen«, polterte die
Schwester. »Weil alles vollgekotzt war. Voll-ge-kotzt! Alles! Er
muss gestern noch die ganzen Reste aus dem Essenswagen in sich
hineingestopft haben. Und als sei das nicht
genug, liegt jetzt noch dieser Dreck offen im Zimmer herum!« Sie
wedelte mit den Heften, als wolle sie sagen: Nun nehmen Sie
mir das hier doch endlich ab!
»Werfen Sie den Schund einfach weg, okay?«, sagte
Ellen. »Und was Herrn Brenner betrifft: Er wird in den nächsten
Tagen entlassen. Wenn er sich bis dahin bei uns satt essen möchte,
sollten wir ihm das gönnen. Reden Sie ihm doch einfach ein wenig
zu, damit er es nicht übertreibt.«
Die Schwester setzte zu einem weiteren Kommentar
an, doch Ellen und Mark ließen ihr dazu keine Gelegenheit mehr.
Mark musste in einer knappen Viertelstunde seinen Dienst antreten
und sollte bis dahin genug Zeit gehabt haben, sich einen ersten
Eindruck von der Frau ohne Namen zu verschaffen.
»Scheint, als gebe es jemanden auf dem Gelände, der
mit diesen Heften handelt«, meinte Mark. »Allerdings sehen es die
Pfleger auf meiner Station etwas gelassener.«
»Vielleicht, weil sie Männer sind.«
»Eins zu null für dich. Aber Pornos sind das
Geringste, worüber wir uns im Augenblick Gedanken machen sollten.«
Er blieb stehen und bedachte Ellen erneut mit diesem seltsamen
Blick, der am ehesten als eine Mischung aus Besorgnis, Verwunderung
und Skepsis zu interpretieren war.
»Also gut, Mark, was ist los? Was sollen diese
Andeutungen?«
»Tja, also …« Er fuhr sich durchs Haar und seufzte.
»Es geht um diese namenlose Patientin, von der du mir erzählt
hast.«
»Ja, und weiter?«
»Also, ich war gestern nach unserem Treffen noch
einmal
in der Klinik. Ich war noch nicht müde und dachte mir, ich sehe
mal nach, ob sie ebenfalls noch wach ist.«
»Du bist abends um zehn zu meiner Patientin
gefahren?«
Er nickte. »Da sie dir so wichtig war, wollte ich
dich heute Morgen mit einer ersten Einschätzung überraschen.«
Ellen war einerseits verwundert, zum anderen aber
auch angetan von Marks Einsatz. Er war ein netter Kerl, und sie
wusste Kollegen wie ihn zu schätzen. Das war immerhin keine
Selbstverständlichkeit.
»Und? Wie war dein erster Eindruck?«
Er wich ihrem fragenden Blick aus und deutete
stattdessen mit dem Kopf zu Zimmer 7. »Sieh selbst nach.«
»Wieso? Was ist denn?«
»Bitte, Ellen, sieh einfach selbst nach.«
An Zimmer 7 war noch kein Namensschild angebracht
worden. Wie auch, dachte Ellen, »Frau X« sähe doch etwas
unpassend aus. Sie klopfte an, und wie erwartet kam keine
Antwort.
Behutsam öffnete Ellen die Tür – und
erstarrte.
Als Ellen in das helle Zimmer mit den weit
geöffneten Vorhängen und dem gekippten Fenster trat, traute sie
ihren Augen nicht. Aber ihre Augen waren vollkommen in Ordnung,
ebenso wie ihre Nase, die ihr nichts als den dezenten Geruch eines
antibakteriellen Reinigungsmittels vermeldete.
Ellen fuhr zu Mark herum. »Was geht hier vor? Wo
ist die Frau?«
»Nicht da.« Er zuckte mit den Schultern. »Und sie
war auch gestern Abend nicht hier.«
Ellen spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte.
Als ob sie sich in einem Aufzug befände, der mitten in der
Abwärtsfahrt abrupt stoppte. »Das kann nicht sein. Ich habe gestern
Nachmittag noch mit ihr gesprochen.«
»Ich weiß nicht, mit wem du gestern in diesem Raum
gesprochen hast, aber es kann keine Patientin dieser Station
gewesen sein. Zumindest keine, die in diesem Zimmer untergebracht
ist.«
»Was redest du denn da?« Ellen spürte, wie sie am
ganzen Leib zu zittern begann.
»Ellen, diese Frau ist nirgends aufgelistet, und
auch vom Personal weiß niemand von ihr. Ich habe das gestern
überprüft.«
»Das ist Unsinn.« Sie ließ Mark stehen und lief zum
Stationszimmer, wo sich Schwester Carola soeben mit übertriebener
Sorgfalt die Hände wusch.
»Was ist mit der Patientin aus Zimmer sieben
geschehen?«
Carola drückte erneut den Seifenspender, ehe sie
sich zu Ellen umsah. Ihre Augen waren gerötet, das Gesicht
tränenverschmiert, und ein alles dominierender Gedanke schien ihr
groß und breit auf die Stirn geschrieben zu sein: BITTE SCHICKT
MICH ZURÜCK AUF DIE INTENSIVSTATION.
»Zimmer sieben? Aber das habe ich doch gestern
schon zu Herrn Dr. Behrendt gesagt. Ich weiß nichts von einer
Patientin auf Zimmer sieben.« Vor lauter Seifenschaum waren die
Hände der Schwester kaum noch zu sehen. »Das Zimmer ist nicht
belegt.«
»Unmöglich!«
Ellen riss den Belegungsplan von der Pinnwand. Die
beiden herzförmigen Magneten, die ihn dort gehalten hatten,
schepperten zu Boden.
Tatsächlich: Wenn man dem Plan glauben wollte,
stand Zimmer 7 leer.
»Ellen?« Mark trat neben sie und wechselte einen
kurzen Blick mit der konsterniert blickenden Schwester. »Können wir
unter vier Augen sprechen?«
»Was geht hier vor, Mark? Wo ist die Frau aus
Zimmer sieben? Wieso ist sie nicht im Belegungsplan aufgeführt? Ich
meine, auch wenn ihr Name nicht bekannt war, man hätte zumindest
das Zimmer als belegt ankreuzen müssen.«
»Und wenn außer Chris und dir niemand von ihrer
Aufnahme gewusst hat?«
»Mark, die Frau ist seit drei Tagen hier auf
Station. Man kann sie doch nicht so einfach übersehen haben. Sie
musste etwas essen und … Moment mal.« Ellen schnappte sich die
Bestellliste für die Klinikküche vom Schreibtisch. »Seit Freitag
sind dreimal täglich zwölf Mahlzeiten geliefert worden. Zwölf! Mit
der Bestellung für Zimmer sieben hätten es dreizehn sein
müssen.«
»Wenn ich es doch sage, Zimmer sieben ist nicht
belegt.« Es war erstaunlich, wie schnell Schwester Carola wieder zu
ihrem trotzigen Tonfall zurückfinden konnte. »Ich habe bei meinen
Kontrollgängen bestimmt zweimal in dem Zimmer nachgeschaut. Und ich
kontrolliere gründlich, da kann man mir nichts nachsagen. Wenn
jemand drin gewesen wäre, hätte ich ihn gesehen.«
Das musste Ellen akzeptieren. Nicht selten kam es
vor, dass Patienten ein leerstehendes Zimmer für ein nächtliches
Schäferstündchen nutzten. Schließlich gab es für so etwas
in der Klinik keinen offiziellen Platz, auch wenn man schon oft
über das Thema diskutiert hatte. Das Personal der Nachtschicht war
dazu angehalten, regelmäßig in allen Räumen nachzusehen – ganz
gleich, ob sie als belegt gekennzeichnet waren oder nicht.
Und da auch der Abstellraum für das
Reinigungspersonal sowie der Erste-Hilfe-Raum und das Badezimmer zu
diesem Rundgang gehörten, wagte Ellen nicht, die überflüssige Frage
zu stellen, ob Carola dort ebenfalls nachgesehen hatte. Dann kam
ihr eine andere Idee. Eine Idee, die ihr einen Stich
versetzte.
»Der Fehlalarm! Was, wenn es gar keiner gewesen
ist?«
»Was denken Sie wohl, wo ich jedes Mal sofort
gewesen bin, wenn der Alarm losging?« Wäre die Nachtschwester eine
Figur in einem Comicstrip gewesen, hätte über ihr eine dicke
Gewitterwolke mit Blitzen gehangen. »Dreimal ging dieses Mistding
los, aber jedes Mal war die Tür fest geschlossen. Und ich glaube ja
wohl nicht, dass Sie dieser Patientin Ihren Zahlencode verraten
haben, Frau Doktor.«
An jedem anderen Tag hätte Ellen diese
Unverschämtheit nicht so einfach auf sich sitzen lassen, aber im
Augenblick war sie viel zu durcheinander, um den Sarkasmus dieser
Aussage weiter zu beachten. Denn mit einem hatte die Schwester
zweifelsohne Recht: Ohne den passenden Schlüssel und den richtigen
Code konnte man die Tür nicht öffnen.
Bisher war es jedes Mal ein defektes Relais
gewesen, das den Alarm ausgelöst hatte, aber nicht für den
Schließmechanismus der Sicherheitstür verantwortlich war. Und
diesmal?
Ellen rannte zur Tür, gab hastig ihren Code ein und
erwischte
den Techniker gerade noch, ehe er das Gebäude verlassen
konnte.
»Ja, wieder das gleiche Teil«, beantwortete er ihre
Frage. »Und ich will meinen Allerwertesten drauf verwetten, dass es
sich bald wieder meldet. Man müsste das ganze Schaltgehäuse
auswechseln. Aber erzählen Sie das mal dem Verwaltungsleiter. Der
wirft Sie aus dem Büro, ehe Sie Kostenvoranschlag auch nur
ausgesprochen haben.«
»Und Sie sind sich ganz sicher, dass dieses Relais
nichts mit dem Türöffner zu tun hat?«
»Absolut. Es löst nur den Alarm aus, aber die Tür
bleibt zu. Deswegen unternimmt die Verwaltung ja auch nichts. Ich
muss weiter. Also dann, bis zum nächsten Alarm.«
Er sah sich noch einmal nach Rüdiger Maler um, der
ihm durch die Glastür nachwinkte, dann stapfte er davon.
»Eine ziemlich seltsame Geschichte.«
Mark saß im Besucherstuhl in Ellens kleinem Büro
und zog die Stirn in Falten. »Vor allem, dass niemand außer dir von
dieser ominösen Patientin weiß. So etwas ist mir noch nie
untergekommen. Drei ganze Tage. In dieser Zeit muss sie doch
jemandem aufgefallen sein, oder?«
Ellen, die neben ihm auf und ab getigert war, blieb
abrupt stehen.
»Mark, so wahr ich hier stehe, die Frau war
auf Zimmer sieben. Ich habe mich mit ihr unterhalten. Das
weißt du doch!«
»Du hast mir von ihr erzählt, ja.«
»Ich finde es ja auch unvorstellbar, dass man sie
drei Tage in dem Zimmer … Stopp! Was soll das heißen – ich habe dir
von ihr erzählt?«
»Was ich gesagt habe. Du hast mir von ihr
erzählt. Gesehen habe ich sie nicht.«
»Aber du glaubst mir doch?«
Einen Augenblick lang zögerte Mark mit seiner
Antwort, und das war für Ellen ein Augenblick zu viel.
»Ich fasse es nicht!«
»Ellen, hör mir doch erst mal zu. Der Raum war
leer, und nichts deutet darauf hin, dass sich jemand darin
aufgehalten hat. Ich meine, so wie du mir ihren Gestank beschrieben
hast, hätte man doch zumindest noch etwas davon riechen müssen.
Aber da ist nichts. Und dann noch der Umstand, dass niemand die
Frau gesehen haben will. Da würdest du dich sicherlich auch fragen,
ob es nicht vielleicht noch eine andere …«
»O nein, mein Lieber, Chris hat sie
gesehen!«
Mark machte eine ratlose Geste. »Wird im Moment
schwierig sein, ihn zu fragen.«
Nun platzte Ellen endgültig der Kragen. »Ich glaube
es einfach nicht! Du redest gerade so, als hätte ich mir das alles
nur eingebildet. Keine Ahnung, warum du das tust, aber ich kann dir
beweisen, dass auch Chris sie gesehen hat.«
Sie riss die oberste Schublade des Aktenschranks
auf, in dem die Anmeldeformulare und alle weiteren
Patientenunterlagen einsortiert waren. Hastig durchblätterte sie
die braunen Hängeregister, die unter dem Buchstaben B einsortiert
waren. Da der Name der Frau unbekannt war, hatte sie eine Akte
namens BIF angelegt.
»Bader, Biehler … na also, BIF! Hier ist sie, und
das hier ist der Anmeldebogen von Chris …«
Doch die Hängemappe war leer.
Die Art, wie Mark sie nun musterte, gefiel Ellen
überhaupt
nicht. Offensichtlich schien er ihr kein Wort zu glauben.
»Mark, ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber
ich schwöre dir, die Akte war da! Sie muss da drin sein. Ich
habe sie doch eigenhändig hineingelegt!«
Klar hast du das. Und wenn du lange genug
hineinstarrst, dann wird sie – Hokuspokus – auch wieder darin
erscheinen, höhnte eine Stimme in ihr.
»Es war gestern ein ziemlich anstrengender Tag für
dich«, sagte Mark. »Das hast du selbst gesagt. Wenig Schlaf, die
lange Fahrt vom Flughafen hierher, der Vorfall mit Böcks
Beinahe-Elektroshow. Ein ganz schöner Berg Stress, finde ich. Wäre
es da nicht möglich, dass du …«
»Mark!« Ellen bemühte sich, ruhig und überzeugend
zu klingen, was ihr erstaunlicherweise sogar gelang – zumindest,
was das Ruhige betraf. »Man kann sich einen Menschen doch nicht so
einfach einbilden. Und selbst wenn man es könnte, ich habe mit der
Patientin gesprochen. Genau so, wie Chris mit ihr gesprochen
hat.«
»Nach dem, was du mir erzählt hast, war es gestern
dunkel in dem Raum, oder? Und hatte nicht auch Chris diese
mysteriöse Patientin nur kurz gesehen?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Gesetzt den Fall, unser allseits beliebter
Scherzkeks hat sich einen Spaß mit euch erlaubt, was wäre
dann?«
»Du meinst Rüdiger Maler?«
Mark nickte. »Was, wenn er dich hinters Licht
geführt hat? Er hat doch schon so gut wie jeden hier
veralbert.«
Nun musste Ellen lachen. Ein kurzes, bitteres
Lachen. »Glaubst du etwa, ich kann Maler nicht von einer Frau
unterscheiden?«
»Ellen, du hast unter Stress gestanden, vergiss das
nicht. Chris sicherlich auch, so kurz vor seinem plötzlichen
Abenteuerurlaub. Und Wahrnehmung unter Stress hat ihre eigenen
Regeln.«
»Nun hör mir mal gut zu, du Meisteranalytiker. Dein
Problem mit Chris ist deine höchsteigene Sache, aber wenn du mir
weismachen willst, ich sei gestern nicht ganz zurechnungsfähig
gewesen, dann versichere ich dir hiermit das Gegenteil. Ich war im
Stress, okay. Aber das ist man hier den ganzen Tag. Das brauche ich
dir ja wohl nicht zu erzählen, oder? Also versuch nicht, mir
einzureden, ich sei paranoid oder sonst was.«
»Ich sage doch nicht, dass du paranoid bist. Ich
sage nur, dass du die Frau bei keiner eurer Begegnungen deutlich
gesehen hast. Wäre es da nicht doch möglich, dass Maler oder sonst
ein Spaßvogel …«
»Mir langt’s, ich hab genug, Mark. Schönen Dank
auch für deine Hilfe.«
»Ellen, bitte, niemand verschwindet einfach so von
dieser Station. Ich meine …«
»Vergiss es, Mark. Ich weiß jetzt, wie du von mir
denkst, das musst du nicht noch genauer sagen.«
»Schon gut, schon gut. Ich muss sowieso längst zum
Dienst.« Mark seufzte und ging zur Tür. »Ist nicht einfach, diese
ganze Sache zu glauben, Ellen. Vielleicht versetzt du dich ja mal
bei Gelegenheit in meine Lage.«
»Und wie verhält es sich umgekehrt?«
Mark senkte kurz den Blick und schien zu überlegen,
ehe er fragte: »Nimmst du eigentlich irgendetwas? Gegen die
Anspannung, meine ich.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Tun wir doch alle, hin und wieder.«
»Wolltest du nicht zu deinem Dienst?«
Mit einem Schulterzucken verschwand er aus ihrem
Büro.
Für eine oder zwei Sekunden glaubte Ellen, sie
würde in Tränen ausbrechen, aber dann nahm sie sich zusammen.
Heulen bringt nichts. Versuch es lieber mit
Nachdenken.
Langsam drehte sie sich mit ihrem Stuhl im Kreis
und rief sich das Gespräch mit der namenlosen Frau ins Gedächtnis
zurück.
Lange, strähnige Haare, zeigte die Leinwand
vor ihrem geistigen Auge. Maler hatte sich mit Sicherheit keine
Perücke aufgesetzt, dafür war er nicht clever genug. Und selbst
wenn, die Frau hatte völlig anders ausgesehen. Sie hatte …
Moment mal!
Aus dem Augenwinkel hatte Ellen etwas entdeckt, von
dem nun ihr Wahrnehmungssinn meldete, dass es wichtig sein könnte.
Sie drehte sich mit dem Stuhl ein wenig zurück – und sah es
wieder.
Vorhin, als sie vor Wut und Aufregung nur so
geschäumt hatte – Stress, das war Stress, beste Ellen; auch Wut
ist ein Stresszustand! -, war ihr dieses kleine Detail
entgangen. Nun aber schrie es sie regelrecht an.
Langsam und beinahe so, als könne sich dieses
Detail jeden Augenblick wieder verflüchtigen, wenn sie sich zu
schnell bewegte, erhob sie sich aus ihrem Stuhl und ging auf den
Aktenschrank zu.
Warum war er vorhin nicht verschlossen gewesen?
Das ist Vorschrift, und du hältst dich doch immer an die
Vorschriften.
Diese Frage kam ihr erst jetzt in den Sinn, da ihr
die
Antwort darauf vor Augen stand. Ihr Finger hinterließ eine feine
Spur aus kaltem Schweiß, als sie den Kratzer auf der grauen
Lackschicht des Metalls entlangfuhr. Der Kratzer befand sich
unmittelbar neben der Stelle, an welcher der Riegel des Schlosses
die Schublade von innen blockierte. Jemand hatte dort mit einem
schmalen länglichen Gegenstand herumgestochert, bis es ihm oder ihr
gelungen war, den Riegel zu öffnen. Als sei sie erst jetzt wieder
die vollkommene Herrin ihrer Wahrnehmung, sah Ellen den
Brieföffner, der auf dem Aktenschrank neben einer Ausgabe des
Pschyrembel und der Roten Liste lag.
»Du bist eingebrochen und hast die Akte
mitgenommen«, murmelte Ellen vor sich hin, ohne zu wissen, wen sie
damit meinte.
Die Frau ohne Namen? Wäre sie wirklich das Risiko
eingegangen, einen nichtssagenden Anmeldebogen mitgehen zu lassen
und dabei vielleicht entdeckt zu werden, während sie nach einer
Möglichkeit gesucht hatte, die Station so unauffällig wie nur
möglich zu verlassen? Hätten dazu nicht Insiderwissen und ein
klarer Verstand jenseits aller Beeinträchtigung durch Angst und
Schock gehört?
Nein, jemand, der sich nachmittags noch mit einem
Trauma in der Toilettenkabine versteckt und das Lied vom Schwarzen
Mann vor sich hin gesungen hatte, war zu so etwas nicht in der
Lage.
Aber wer dann?
Vielleicht der Schwarze Mann selbst?
Ellen schauderte. Was, wenn der Kerl herausgefunden
hatte, wo sie sich aufhielt? Unmöglich war das nicht. Es gab nicht
viele Orte, an die man eine Frau in dieser Verfassung bringen
würde, sobald sie irgendwo in der Öffentlichkeit
auffiel. Dass sie aufgefallen sein musste, war schließlich
nicht schwer zu erraten.
»Ja, du hast dich durchgefragt und sie gefunden«,
murmelte Ellen. »Vielleicht hast du dich als besorgter Angehöriger
ausgegeben, der du wahrscheinlich auch bist. Nur ist deine
Besorgnis von anderer Art. Du wolltest nicht belastet
werden.«
Das war auch eine Erklärung, weshalb es gleich drei
Fehlalarme in dieser Nacht gegeben hatte. Er hatte es nicht auf
Anhieb geschafft, die Tür aufzubekommen, aber mit ein wenig
technischem Wissen und Fingerspitzengefühl war es ihm dann
schließlich doch geglückt.
Falls es tatsächlich so gewesen war, stellte sich
die Frage, was der Kerl mit der Frau anstellen würde. Sicherlich
würde er sie nicht zu Kerzenlicht und einem romantischen Abendessen
mit nach Hause nehmen.
Er wird dich verprügeln und dir ein für alle Mal
einbläuen, wer der Herr im Haus ist – und was mit denjenigen
passiert, die diese Regeln missachten.
Ellen griff nach dem Telefon, ließ dann aber wieder
davon ab. Wen sollte sie informieren? Mark? Der glaubte ihr ebenso
wenig wie die Nachtschwester oder der Techniker, der fest davon
überzeugt gewesen war, es habe sich mal wieder um das Relais
gehandelt.
Natürlich konnte sie Mark von ihren Vermutungen
erzählen, aber ihr Stolz hinderte sie daran. Nicht, nachdem er sie
vor wenigen Minuten noch wie eine durchgeknallte hysterische Kuh
hingestellt hatte.
Die Polizei? Was sollte sie denen erzählen? Sie
wusste so gut wie nichts über diese Patientin. Und überhaupt, wenn
ihr nicht einmal ihr Kollege und das Personal Glauben
schenkten, dass es die Patientin wirklich gegeben hatte, wieso
sollte ihr dann die Polizei glauben?
Nein, die Antwort darauf war so offensichtlich wie
die Tatsache, dass sie sich dies alles nicht nur eingebildet
hatte.
Sie musste selbst herausfinden, was passiert war.
Und sie wusste auch schon, wo sie mit der Suche beginnen
würde.