Kapitel 44
Die folgende Nacht verbrachte Mark im Hotel.
Nicoles Angebot, im Gästezimmer ihres Hauses zu übernachten, hatte
er dankend abgelehnt und war froh gewesen, dass sie Verständnis
dafür gezeigt hatte.
Er brauchte Ruhe und Abstand, um die Ereignisse des
vergangenen Tages zu verarbeiten. Eine Übernachtung im Haus der
Familie Keppler hätte sicherlich lange Gespräche über die Frau mit
sich gebracht, mit der er an diesem Morgen noch als Ellen Roth
gefrühstückt hatte und die nun unter dem Namen Lara Baumann mit
leerem Blick in einem Einzelzimmer des Kreiskrankenhauses
lag.
Die ganze Nacht über hockte Mark am Bettrand, kaute
gedankenverloren auf Salzstangen aus der Minibar und sah immer
wieder zur Decke empor, über der sich das Zimmer befand, in dem
Ellen genächtigt hatte, als sie noch Ellen gewesen war.
Lange dachte er über das nach, was ihr vor neunzehn
Jahren im Keller der Ruine zugestoßen war und was dieses schlimme
Ereignis in ihr ausgelöst haben mochte. Wie schon früher, als er
noch mit Traumapatientinnen gearbeitet hatte, wurde ihm wieder
bewusst, dass man zwar versuchen konnte, es sich
vorzustellen, aber die Wirklichkeit um ein Wesentliches schlimmer
gewesen sein musste. Schlimm genug, um eine Schutzpersönlichkeit
wie Ellen Roth entstehen zu lassen.
Aber was war dann geschehen? Was hatte die
Erinnerung an Lara zu ihr zurückgebracht? Diese Frage ließ ihn
nicht mehr los.
Als er Lara am nächsten Vormittag in der Klinik
besuchte, war Nicole bereits bei ihr. Der behandelnde Arzt hatte
einer Verlegung in die Waldklinik zugestimmt, und am späten
Nachmittag wurde Lara mit einem Krankentransport nach Fahlenberg
gefahren. Mark und Nicole fuhren dem Krankenwagen in Nicoles Auto
hinterher, nachdem Nicoles Ehemann an Marks Volvo einen
Totalschaden festgestellt und ihn zum Schrottplatz abgeschleppt
hatte.
In der Waldklinik angekommen, erhielt Lara auf
Professor Fleischers Anweisung hin ein Einzelzimmer auf der
Privatstation, wo man der noch immer reaktionslosen jungen Frau
erst einmal Zeit zum Akklimatisieren ließ.
Mark und Nicole blieben noch eine Weile bei ihr.
Obwohl Lara auf keines ihrer Worte reagierte, sondern mit leerem
Blick durch sie hindurchzustarren schien, redeten sie mit ihr –
hoffend, ein Teil von ihr würde dies doch wahrnehmen und ein wenig
Geborgenheit dabei empfinden.
Als sie später das Zimmer verließen, bat Nicole,
Mark möge ihr doch mehr über Ellen und die Ereignisse der
vergangenen Tage berichten. Mark sah, wie schwer es ihr fiel, das
Geschehene zu begreifen, und beschloss deshalb, sie zu den Orten zu
führen, die die Ellen-Persönlichkeit aufgesucht hatte. Manchmal war
es besser, etwas, das schwer zu glauben war, vor Ort zu
erklären.
Auf dem Weg zum Versorgungstunnel erzählte Mark ihr
von Laras Erlebnissen während der letzten Tage, von der imaginären
namenlosen Patientin, der Begegnung mit dem Schwarzen Mann, und wie
sie geglaubt hatte, er habe sie in den alten Therapieräumen
gefoltert.
Dabei vermied er es so gut es ging, die Namen
Lara oder Ellen auszusprechen. Der Schock darüber,
dass die Frau,
in die er die letzten vier Jahre so sehr verliebt gewesen war,
dass es manchmal wehtat, überhaupt nicht existiert hatte, setzte
ihm noch viel zu sehr zu.
Nicole hörte ihm aufmerksam zu, während sie durch
das Parkgelände der Klinik gingen. Als er fertig war, schwieg
sie.
Er sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, wie
sie versuchte, all den Wahnsinn, den diese Geschichte in sich barg,
zu verstehen. Ein unmögliches Unterfangen, dachte er, wo
selbst er als Psychiater Schwierigkeiten hatte, die Komplexität
dieses Wahnkonstrukts völlig zu erfassen.
Schweigend stiegen sie in den Versorgungstunnel
hinunter. Diesmal benutzte Mark den offiziellen Zugang durch eines
der Stationsgebäude. Sie folgten dem Gang bis zu der Abzweigung,
die in die alten Therapieräume führte.
Im Vorraum erwartete sie der muffige Geruch nach
Reinigungsmitteln und der halb zerfallene Stuhl im Licht der
flackernden Neonröhre. Auf dem Boden des alten Hydrotherapieraums
standen noch immer Wasserlachen, die von Ellens Rettung herrührten.
In einer Ecke lag die Abdeckung mit den Schnappverschlüssen. Bei
ihrem Anblick fragte sich Mark, was wohl geschehen wäre, wenn diese
Verschlüsse nicht eingerastet wären, als Ellen den Deckel von innen
aufgelegt hatte. Wäre ihr dann vielleicht bewusst geworden, dass
sie nicht wirklich gefoltert wurde? Möglich, aber er glaubte nicht,
dass dieses Bewusstsein lange genug angehalten hätte.
»Ziemlich unheimlich hier«, sagte Nicole
fröstelnd.
»Frei interpretiert ist das der Grund, warum sie
hier heruntergekommen ist«, meinte Mark. »Wie ein kleines Kind, das
das Monster im Keller aufsucht, um sich ihm zu stellen.«
»Mark, ein kleines Kind würde so etwas niemals
tun.«
»Mag sein, aber vielleicht hat ihr erwachsener
Anteil ihr versprochen, sie werde nur so zur Ruhe kommen. Immerhin
war sie selbst Psychiaterin und wirklich gut in ihrem Job.«
»Lara geht also an einen Ort, der ihr Angst macht,
um sich ihren Erinnerungen zu stellen, vor denen sie noch viel mehr
Angst hat?«
»Konfrontationstherapie oder etwas in der Art.«
Mark zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, es ist nur eine
mögliche Erklärung ihrer Handlungen.«
Sie betraten den Raum, in dem der Stahltisch und
das EKT-Gerät standen. Erschrocken hielt Nicole die Hand vor den
Mund.
»Gott, was ist das für ein Gestank?«
»Sie … Ellen, ich meine Lara, sie hat …« Mark
brachte es nicht fertig, es auszusprechen. »Die Nebenwirkung einer
unsachgemäßen Elektrokrampftherapie.«
Er ignorierte die Stahlplatte des Tischs, die mit
Kot und Urin verschmiert war, und ging zu dem EKT-Gerät. Die
Elektropole hingen auf den Boden herunter und sahen wie leblose,
überdimensional große Spulwürmer aus. Er besah sich das Gerät
genauer. Auf dem Drehregler, mit dem man die Stärke der Stromstöße
regulieren konnte, waren fettige Fingerabdrücke zu sehen. Sie
stammten von einer Person, die sehr stark geschwitzt haben
musste.
Er betätigte den EIN-Schalter, doch statt eines
elektrischen Summens hörte er – nichts. Das Gerät verfügte über
keine Stromquelle.
»Wie ich es mir gedacht habe. Selbst die
Elektroschocks waren Wahngebilde.«
»Und trotzdem hat sie …« Nicole sprach nicht zu
Ende, sondern ging rückwärts in den Vorraum zurück.
Seufzend ging Mark zu einem Drehhocker und ließ
sich darauf nieder. »Sie war davon überzeugt, er foltere sie mit
Strom. In Wahrheit war es jedoch die Vorstellung, sich der
Wirklichkeit stellen zu müssen. Alles in ihr hat sich dagegen
gewehrt, sich an den Missbrauch durch ihren Onkel und seine Tötung
zu erinnern.«
»Aber was ich noch immer nicht begreife, ist diese
Frau. Die Patientin ohne Namen. Wer ist sie?«
»Lara selbst. So, wie sich Ellen vorgestellt hat,
wie Lara aussehen würde, wenn sie sie nicht geschützt hätte.
Verzweifelt, körperlich lädiert, verwahrlost und vollkommen
wahnsinnig. Deshalb wollte sie sich schützen. Deshalb hat sie sich
gewehrt und ihr wahres Ich verleugnet.«
Nicole stand im Vorraum und hatte die Hände tief in
ihre Hosentaschen geschoben, was sie bei ihrem burschikosen
Erscheinungsbild wie einen zu groß geratenen, trotzigen Jungen mit
blondem Pferdeschwanz aussehen ließ. »Und sie hat wirklich
geglaubt, dass sie selbst eine ihrer Patientinnen ist?«
»Ja, so schwer das auch nachzuvollziehen ist«,
sagte Mark. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, was aber
nichts gegen die Kälte auszurichten vermochte, die der Raum
ausstrahlte. »Aus irgendeinem Grund muss sich Ellen ihrer
Lara-Persönlichkeit bewusst geworden sein. Da jedoch ihr
Wahnkonstrukt die Anerkennung der Wahrheit nicht zuließ, entstand
die namenlose Patientin: eine Schutzbefohlene, die auf der Flucht
vor ihrem Peiniger war. Jemand, auf den die starke Ärztin aufpassen
musste. Damit für Ellen tatsächlich feststand, dass sie nicht
selbst Lara sein konnte, erfand sie diese Frau ohne Namen. Sie
wurde derart real für sie, dass sie davon überzeugt war, ihr
wirklich begegnet
zu sein. Sie sollten mal den Arztbericht sehen, den sie über ihr
zweites Ich geschrieben hat.«
»Aber trotzdem hat sie nach ihr gesucht«, warf
Nicole ein. Auch sie schien zu frösteln. »Also hat sie doch
gewissermaßen nach ihrem wahren Ich gesucht, nicht wahr?«
»So ist es«, stimmte Mark zu. »Und genau das ist
es, was mich so beschäftigt. Wenn es ihr neunzehn Jahre lang
gelungen war, Lara vor sich selbst zu verbergen, warum hat sie dann
auf einmal damit begonnen, nach ihr zu suchen? Etwas muss das
Wahnkonstrukt beschädigt haben, und ich wüsste zu gern, was dieses
Etwas gewesen ist.«
Für einige Minuten herrschte beklemmendes
Schweigen. Nur aus dem Nebenraum war das leise Tropfen von Wasser
zu hören. Dann fragte Nicole: »Können wir bitte gehen?«
»Ja, natürlich. Ich denke, die Antwort ist ohnehin
woanders zu suchen.«
Es war bereits dunkel, als Mark Nicole zu ihrem
Wagen auf dem Besucherparkplatz begleitete.
»Sie können auch über Nacht hierbleiben«, schlug er
vor. »Ich kann Ihnen meine Couch anbieten oder ein Zimmer in einer
Pension, wenn Sie wollen.«
Nicole winkte ab. »Nein danke. Das ist nett von
Ihnen, aber ich denke, ich kann hier vorerst nichts für Lara tun.
Ich werde zu Hause gebraucht. Mein Mann und die Kinder werden sich
sicherlich schon Gedanken machen, wo ich bleibe. Aber ich werde
Lara besuchen, so oft ich kann.«
Bevor sie die Tür hinter sich schloss, sah sie sich
noch einmal zu Mark um.
»Was werden Sie jetzt tun?«
»Nach der Antwort suchen, dem Auslöser für Laras
Zusammenbruch.«
Nicole legte den Kopf auf die Nackenlehne und
schloss die Augen. Mark konnte sehen, wie sie mit den Tränen
kämpfte. Als sie ihn wieder ansah, hatte sie den Kampf gewonnen,
aber ihre Augen waren gerötet. »Es war meine Schuld, dass alles so
gekommen ist, nicht wahr?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie beide waren damals zur
falschen Zeit am falschen Ort. Dafür tragen Sie keine
Verantwortung.«
»Das sagen Sie so einfach. Hätte ich sie nicht …«
Sie sprach nicht zu Ende, sondern stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wenigstens ist jetzt alles raus. Ich fühle mich zwar noch nicht
wirklich erleichtert, aber ich denke, das kommt noch.
Irgendwann.«
Sie wartete nicht ab, ob Mark noch etwas
antwortete, sondern zog die Tür zu.
Mark sah ihr hinterher, als sie vom Parkplatz fuhr
und wenig später auf der Schnellstraße im Abendverkehr
verschwand.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf.