Kapitel 34
Erst beim Essen merkte Ellen, wie groß ihr Hunger doch war. Himmel, sie hätte ein ganzes Pferd futtern können. Nun gut, vielleicht kein Pferd, aber zumindest die gesamten Köstlichkeiten auf der Karte von A Dong – Running Sushi in beliebiger Reihenfolge. Danach hätte Frau Li sicherlich nie wieder das All you can eat-Schild ausgehängt.
Mark sah ihr amüsiert zu, wie sie in Rekordzeit ihre Pizza Speziale verdrückte, und gab ihr noch ein Stück von seiner eigenen ab. Obwohl sie sich sonst nicht für Salami begeistern konnte, lehnte sie nicht ab.
Danach war sie pappsatt, und da sie zwischenzeitlich den viel zu großen Jogginganzug ihres Gastgebers gegen ihre eigenen Sachen hatte eintauschen können, fühlte sie sich deutlich wohler.
Während sie sich über den Nachtisch hermachten – Donuts mit Schokoglasur und frischer Kaffee -, zeigte ihnen Volker, was er bei seiner Recherche gefunden hatte.
»Das hört sich an wie eine Geschichte aus Akte X. Passiert ist das alles im August 1989 in einem Waldstück bei Alpirsbach im Schwarzwald. Hier, sieh dir das mal an.«
Er reichte Ellen den Ausdruck eines Zeitungsartikels. Das Foto neben dem Artikel zeigte ein lachendes Mädchen. Ihr Lachen versprühte trotz der Grobkörnigkeit des Zeitungsfotos etwas derart Lebendiges, dass Ellen zurückschreckte.
Für einen kurzen Augenblick hatte sie den grotesken Eindruck, diesem lachenden Mädchen leibhaftig gegenüberzustehen.
Ellen ließ das Foto fallen, als habe sie sich daran die Finger verbrannt. Ein abrupter Schmerz schoss ihr durch den Kopf – wie eine lange, weißglühende Nadel, die ihr durch die Schädeldecke ins Gehirn getrieben wurde. Gleichzeitig wurde ihr entsetzlich übel.
Sie sprang auf und stellte fest, dass sich der Raum zu drehen schien. Alle Farben um sie herum waren leuchtend hell und blendend. Sie schloss fest die Augen und fürchtete, sie würde es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette schaffen, sondern sich gleich hier auf den Wohnzimmerteppich übergeben müssen.
Doch genauso plötzlich, wie sie Schmerz, Schwindel und Übelkeit befallen hatten, waren sie auch wieder vorbei.
»Ellen?« Mark sah sie besorgt an. »Was ist los mit dir?«
Ellen holte tief Luft und atmete durch die Nase aus. »Es geht schon wieder. Meine verdammte Migräne.«
Sie rieb sich die Schläfen. Auch ihr Kopfschmerz hatte urplötzlich wieder aufgehört. Seufzend ließ sie sich zurück auf das Sofa sinken und nahm erneut das Bild vom Tisch. Ihre Hände zitterten leicht.
Das Foto war vor einem Kinderkarussell aufgenommen worden. Etwas undeutlich im Hintergrund sah man weitere Kinder auf Pferden, Feuerwehrfahrzeugen und einen Jungen auf einem überdimensionalen Plastikfrosch.
Seltsam, mir ist, als hätte ich das alles …
Schon einmal gesehen?
Ja, aber das ist unmöglich.
Auf einmal glaubte sie zu wissen – nicht nur zu ahnen, sondern wirklich zu wissen -, dass dem Mädchen etwas sehr, sehr Schlimmes widerfahren war. Es war dieselbe Intuition, die sie bei der ersten Begegnung mit der Frau ohne Namen gehabt hatte. Fast so, als teile sie das Déjà-vu-Erlebnis einer fremden Person.
Sie schob den Teller mit ihrem Donut beiseite. Schon allein der Anblick verursachte ihr jetzt Übelkeit, obwohl sie bis gerade eben noch ganz versessen auf etwas Süßes gewesen war. Dann begann sie zu lesen.
NEUNJÄHRIGE SPURLOS VERSCHWUNDEN
verkündete die Schlagzeile neben dem Foto.
Darunter stand:
SUCHE HÄLT AN
Von unserem Mitarbeiter Arno Maifeld.
Alpirsbach. Was als harmloses Kinderspiel begann, wurde bitterer Ernst. Seit gestern Nachmittag suchen Polizeibeamte der Direktion Freudenstadt und etliche freiwillige Helfer der Gemeinden Loßburg, Alpirsbach und Betzweiler nach der neunjährigen Lara Baumann.
Das Mädchen ist beim Spielen in der Ruine des ehemaligen Sallinger Hofs spurlos verschwunden. Zusammen mit ihrer Cousine Nicole hatte die kleine Lara die Trümmer auf der Waldlichtung unweit des östlichen Ortsrands erkundet und war gegen 15.45 Uhr in einen Kellerraum gekrochen. Dabei muss sich die Tür des Kellers geschlossen haben. Nachdem die beiden Mädchen die schwere Tür aus eigener Kraft nicht mehr hatten öffnen können, war Nicole zurück in den Ort gelaufen, um Hilfe zu holen. Als ihr Vater nach ungefähr einer halben Stunde am Ort des Geschehens eintraf, fand er den Keller leer vor. Seither wird fieberhaft nach dem verschwundenen Mädchen gesucht.
Bisher habe man noch keine verwertbaren Spuren gefunden, sagte der für die Suche verantwortliche Hauptkommissar Gustav Breuninger. Man vermute, Lara sei vielleicht doch aus eigener Kraft aus dem Keller entkommen und irre nun unter Schock stehend durch den Wald.
Breuninger schließt dennoch ein Verbrechen nicht aus, da in dem Kellerraum Blutspuren entdeckt worden seien. Noch wisse man nicht, ob das Blut tatsächlich von dem Mädchen oder vielleicht von einem Tier stamme, das ebenfalls dort eingeschlossen war. Man tue jedoch alles Menschenmögliche, die kleine Lara gesund und unversehrt zu finden, so der Ermittlungsleiter.
Die Suchaktion läuft weiterhin auf Hochtouren. Der Suchradius wurde auf die weitere Umgebung der Ruine des Bauernhofs ausgeweitet. Dennoch lag uns bis Redaktionsschluss noch keine Erfolgsmeldung vor.
 
Der letzte Absatz forderte die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Suche auf und endete mit der Rufnummer der zuständigen Polizeidirektion in Freudenstadt, an die man sich wenden konnte, falls man etwas beobachtet oder Lara gesehen hatte.
»Hat man sie gefunden?« Ellen legte den Ausdruck wieder auf den Tisch. In ihrem Mund breitete sich ein kupfriger Geschmack aus. Die Blutspuren, von denen der Artikel berichtete, schienen ihre Vorahnung zu bestätigen.
»Das ist ja das Verrückte daran«, sagte Volker kauend und deutete mit seinem angebissenen Donut auf das Notebook. »Ich habe mal in den nachfolgenden Ausgaben gestöbert. Außer diesem Artikel ist nichts mehr zu dem Thema geschrieben worden. Kein einziges Wort. Neunzehn Jahre lang. Was auch immer der Kleinen zugestoßen ist, man hat sich darüber ausgeschwiegen. Weder ein freudiges Hurra, da ist sie wieder noch eine Meldung über das Schlimmste, was in so einem Fall eintreten kann. Zumindest gibt es keine Todesanzeige, aus der man das hätte entnehmen können. Lara Baumann scheint buchstäblich verschwunden zu sein, ebenso wie das Thema ihres Verschwindens selbst.«
»Verrückt«, murmelte Ellen.
»Das kannst du laut sagen«, nickte Volker. »Ich meine, wenn ich dieser Arno Maifeld gewesen wäre, hätte ich mir so eine Story doch nicht durch die Lappen gehen lassen. Ganz gleich, wie das damals ausgegangen ist, man hätte mit dem Bericht darüber ordentlich Kohle machen können. Ich weiß, das hört sich herzlos an, aber so ist das Journalistengewerbe nun mal.«
»Fragt sich also«, sagte Mark, »warum dieser Reporter nicht mehr als diesen einen Artikel darüber geschrieben hat. Aber das lässt sich herausfinden. Hast du die Telefonnummer der Redaktion?«
Volker warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Kurz nach halb sieben. Wenn die Jungs und Mädels dort genauso fleißig sind wie bei den Blättern, für die ich arbeite, können wir bestimmt noch jemanden erreichen.«
Mit der zweiten der im Impressum genannten Nummern hatte Mark Erfolg. Er schaltete die Mithörfunktion ein und wurde zu einer Frau namens Katrin Fäustle durchgestellt.
Sie war die Chefredakteurin der Schwarzwälder Neuesten Nachrichten, die vor neunzehn Jahren über das Verschwinden von Lara Baumann berichtet hatten.
Dem Klang ihrer Stimme nach schätzte Ellen sie auf Mitte vierzig. Frau Fäustle klang gestresst, und um sie herum waren weitere Stimmen zu hören.
»Lara Baumann, sagten Sie? Warten Sie mal kurz.« Tastaturgeklapper im Hintergrund, dann: »Tut mir leid, ich kann nichts dazu finden.«
»Das kann nicht sein«, widersprach Mark. »Auf den Archivseiten Ihrer Homepage waren …«
»Was wollen Sie denn darüber wissen?«, unterbrach sie ihn ungeduldig.
»Ich möchte wissen, was aus dem Mädchen geworden ist.«
Aus dem kleinen Lautsprecher erklang ein Seufzen. »Hören Sie, das ist … wie lange, sagen Sie? … zwanzig Jahre her, und ich kann mich weder an einen solchen Vorfall erinnern, noch finde ich einen Artikel dazu.«
»Aber ich habe hier …«
»Herr Behrendt, wenn ich es Ihnen doch sage, es gibt keinen Artikel«, entgegnete Frau Fäustle unwirsch, und nun hörte sich ihre Stimme deutlich älter an. »Glauben Sie mir, ich sitze lange genug auf diesem Platz, um Ihnen das mit Sicherheit sagen zu können. Was haben Sie überhaupt mit so einer alten Geschichte zu tun?«
Mark ignorierte die Frage. Stattdessen erkundigte er sich nach dem Reporter, der über den Vorfall geschrieben hatte, Arno Maifeld.
»Auch da muss ich Sie leider enttäuschen«, sagte Frau Fäustle, obgleich das Wörtchen leider in diesem Satz nicht besonders überzeugend klang. »Arno Maifeld ist vor vier Jahren gestorben. Rauchen Sie?«
»J-ja. Warum?«
»Arno Maifeld war auch Raucher. Vierzig Sargnägel und mehr am Tag. Sie geben es besser auf. Dann hat unser Telefonat wenigstens einen Sinn gehabt.«
Sie wünschte Mark »einen schönen Tag noch«, was sich allerdings mehr nach »Trau dich ja nicht, hier noch mal anzurufen!« anhörte, und legte auf.
Konsterniert sah er den Hörer an, aus dem ihm nun das Freizeichen entgegentönte. »Die hat sie doch nicht mehr alle.«
»Es kommt noch besser.« Volker drehte sein Notebook so, dass Mark und Ellen erkennen konnten, was auf dem Monitor zu sehen war. »Ich habe gerade noch einmal versucht, in das Online-Archiv der Zeitung zu gelangen.«
Unter der Kopfzeile mit den Frakturlettern der Schwarzwälder Neuesten Nachrichten leuchtete nun ein weißes Feld mit einem kurzen Text, das Archiv sei momentan aus technischen Gründen nicht verfügbar.
»Momentan«, sagte Volker zu dem Bildschirm. »Technische Gründe. Gequirlte Scheiße, Freunde!«
Mark zeigte auf die Homepage. »Das ist doch kein Zufall, oder?«
»Entweder, wir sind jetzt alle drei paranoid«, sagte Ellen, »oder da hat irgendjemand ein ziemlich großes Skelett im Schrank.«
»Wenn es in diesem Fall nur mal nicht die sprichwörtliche Leiche im Keller ist«, meinte Mark und nahm ein Päckchen Camel aus dem Regal. »Tut mir leid, aber die brauche ich jetzt.«
Ellen öffnete die Terrassentür und zwinkerte dann Volker zu. »Du bist doch gut mit diesem Ding, oder?«
Er zwinkerte zurück. »Klar doch.«
»Dann sind wir noch nicht am Ende angekommen.« Sie deutete auf Mark, der einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nahm. »Und bevor wir dank meines Kollegen das Schicksal dieses Reporters teilen, könntest du noch eine weitere Telefonnummer für mich herausfinden.«
Wie Ellen aus ihrem Telefonat mit der Freudenstädter Polizei erfuhr, befand sich Hauptkommissar Breuninger bereits seit einigen Jahren in Pension. In den folgenden fünfzehn Minuten unternahm sie mehrere Versuche, Breuninger unter seiner Privatnummer zu erreichen, doch jedes Mal hörte sie nur das Besetztzeichen. Ellen ließ nicht locker, und gerade als Mark seine Zigarette ausgedrückt hatte, war die Leitung endlich frei.
»Breuninger«, meldete sich eine dunkle, müde Männerstimme.
»Wer spricht da?«, fragte Ellen.
»Gustav Breuninger.«
»Oh, entschuldigen Sie. Da habe ich mich wohl verwählt.«
Sie legte auf.
Mark sah sie verwundert an. »Was war das denn jetzt? Wieso hast du ihn denn nicht gefragt?«
»Das solltest du als Psychiater doch am besten wissen. Am Telefon fällt es einem leicht, sich verleugnen zu lassen oder einfach aufzulegen. Wenn jemand vor der Tür steht, ist das schon etwas schwieriger.«
»Du willst ihn besuchen?«
»Hast du eine bessere Idee? Wenn dieser Spinner Wort hält, und das befürchte ich schwer, bleibt uns nur noch bis morgen Mittag Zeit, die Frau zu finden. Lara Baumann ist der einzige konkrete Hinweis, den wir haben. Du musst mich nicht begleiten, aber ich werde auf alle Fälle dorthin fahren.«
»Natürlich komme ich mit«, beschwichtigte sie Mark. »Hey, ich wollte doch schon immer mal einen außerdienstlichen Ausflug mit dir machen. Auf ins Reich der Kuckucksuhren.«
»Die Sache stinkt schlimmer als ein fauliger Fisch«, sagte Volker, als er schon auf halbem Weg aus der Tür war. »Ich würde ja wirklich gerne mitkommen, aber wenn ich meinen Artikel nicht bis neun eingereicht habe …«
»Ist schon okay«, meinte Mark. »Ohne deine Hilfe würden wir wahrscheinlich immer noch auf der Stelle treten.«
»Ihr passt gut auf euch auf, ja?«
»Tun wir«, versicherte Ellen. »Und nochmals vielen Dank.«
Er zwinkerte ihr zu und drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand. »Falls du mal wieder jemanden für eine Recherche brauchst.« Dann fügte er leiser hinzu: »Oder falls du mal wieder meine Schultern sehen willst.«
»Geht klar. Ich werde bei meiner Junggesellinnenparty an dich denken.«
»Wow!«, machte Volker und schnalzte mit der Zunge.
Kurz nachdem er davongefahren war, schnappte sich auch Mark seine Jacke und die Autoschlüssel.
»Moment noch«, hielt Ellen ihn zurück. »Es gibt da noch etwas, worüber ich mit dir reden möchte.«
»Ach ja? Worüber denn?«
Es war nicht einfach für sie, zu dem Regal im Wohnzimmer zu gehen und das Fotoalbum herauszunehmen. Aber sie musste wissen, was es damit auf sich hatte.
Sie räusperte sich und hielt ihm das Album entgegen. »Das habe ich bei dir entdeckt. Ich schnüfe sonst nicht in anderer Leute Sachen herum, aber andererseits steht ja mein Name drauf. Und wenn man sich den Inhalt ansieht, müsste das Thema Indiskretion wohl eher jemand anderem peinlich sein.«
Und es war Mark peinlich, sehr peinlich sogar. Ellen hatte noch nie zuvor jemanden so tief rot anlaufen sehen.
»Ich … äh … also, das ist so …«
Sie schlug das Bild auf, das sie mit Chris und Mark zeigte. Das Bild, auf dem Chris’ Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt worden war.
»Ich höre.«
»Ellen, ich … ich …« Er schluckte und senkte verschüchtert den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich das jetzt erklären soll, ohne dabei kitschig zu klingen. Ich …« Er räusperte sich, warf einen verstohlenen Blick auf das Foto und betrachtete dann wieder seine Schuhspitzen.
Ellen konnte sehen, wie er mit sich kämpfte. Doch nachgeben würde sie nicht, das stand für sie fest. Mark musste ihr schon längere Zeit nachspioniert haben, das bewiesen die Fotos. »Warum hast du das getan, Mark? Kannst du dir vorstellen, wie ich mich beim Anblick dieser Fotos fühle?«
»Du hast ja Recht …« Er nickte, schaffte es aber nicht, ihren Blick zu erwidern. »Ellen, du bist jemand ganz Besonderes für mich, deshalb hat es auch nie eine andere für mich gegeben, seit ich dir begegnet bin. Du hast es bestimmt nicht gemerkt, aber ich war sofort in dich verknallt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich weiß, ich höre mich jetzt bestimmt wie ein liebestoller Pennäler an, aber es ist mein völliger Ernst.« Er seufzte tief und zeigte auf das Foto. »Das hier … nun ja, das ist passiert, nachdem ich erfahren hatte, dass du und Chris zusammenziehen werdet. Ich war ziemlich fertig und …«
»Pscht!«, machte Ellen und legte ihren Finger auf seine Lippen.
Sie trat dicht an ihn heran, nahm ihren Finger weg und küsste ihn. Als Mark sie umarmen wollte, entwand sie sich ihm und schüttelte den Kopf.
»Der war für deine Ehrlichkeit und für deine Hilfe«, sagte sie und sah ihm tief in die Augen. »Aber einen zweiten wird es niemals geben.«
Trigger - Dorn, W: Trigger
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