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Der Schuss wäre tödlich gewesen, aber zwei Dinge passierten.

Carolina machte einen Satz und zog Schwester Gertrude aus der direkten Flugbahn der vier Pfeile, die sich nacheinander von der Armbrust lösten. Statt sich in Schwester Gertrudes Herz zu bohren, streiften sie nur ihre Schulter.

Und Meena rammte Bruder Henrique mit dem Ellbogen fest in den Solarplexus. Der Priester verlor das Gleichgewicht, ließ aber Meena nicht los. Beide taumelten die Stufen herunter, und die Schüsse gingen ins Leere.

»Schwester!« Bruder Bernard hockte sich neben die Nonne. »Ist alles in Ordnung?«

»Berühren Sie sie nicht«, warnte Abraham den Sohn des Deli-Besitzers, der Schwester Gertrude instinktiv Hilfe leisten wollte. »Sie verblutet. Wir brauchen einen Krankenwagen.«

»Die Krankenwagen kommen nicht durch«, erinnerte Morioka ihn.

»Siehst du?« Meena funkelte Lucien wütend an. »Im Buch ist etwas, das du nicht sehen sollst. Sie wollte dir helfen, und er hat auf sie geschossen. Und deshalb können wir hier auch nicht einfach weggehen.«

Emil, der herbeigerannt war, um die Armbrust aufzuheben, die Bruder Henrique hatte fallen lassen, stimmte ihr zu.

»Mylord«, sagte er und betrachtete den Priester, der fast einen Kopf größer war als er. »Ich bitte um Verzeihung, aber dieses … Geschöpf kommt mir bekannt vor.«

»Nein, nein, du irrst dich«, antwortete Bruder Henrique rasch. »Ich dachte, die Nonne wollte nach ihrer Pistole greifen. Ich habe nur versucht, Seine Lordschaft zu verteidigen.«

»Nein«, sagte Lucien, der immer noch – beinahe andächtig  – die Seiten des Buches umblätterte. »Emil hat recht. Von nahem siehst du vertraut aus. Woher kenne ich dich, abgesehen von gestern Abend im Metropolitan Museum of Art?«

»Gar nicht«, erwiderte Bruder Henrique. »Ich bin aus Südamerika. In diesem Teil der Welt hier war ich noch nie zuvor.«

»Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich«, entgegnete Emil, »aber irgendetwas an ihm erinnert mich an deinen Vater, Mylord.«

»Niemals!« Bruder Henrique lachte nervös. »Obwohl ich mich natürlich für das Kompliment bedanke …«

Lucien hielt inne. Er starrte auf eine farbige Illustration eines Mannes, der die Erdkugel in den Händen hielt. Über ihm war der Himmel mit einem Engel dargestellt, unter ihm die Hölle mit Luzifer.

Am Bild entlang stand etwas geschrieben, das Meena nicht entziffern konnte.

Aber sie wusste schon, was da stand, weil sie den Text so oft laut vorgelesen gehört hatte. Es war die Illustration aus ihrem Traum … aus dem Traum, in dem Lucien neben seiner Mutter auf dem Sitz am Fenster gesessen hatte.

Lucien erkannte das Bild wohl auch wieder … nur dass er damit etwas völlig anderes assoziierte als Meena. Mit einem Ruck hob er den Kopf und blickte Bruder Henrique an.

»Das warst du«, sagte Lucien. Seine Augen leuchteten tiefrot.

»Was?« Bruder Henrique riss die Augen auf. »Nein, nein, Mylord, ich weiß nicht, was Ihr …«

»Das bist du.« Lucien hielt das Buch hoch, und als Meena jetzt die Zeichnung nicht mehr nur so verschwommen wie im Traum sah, erkannte sie, dass er recht hatte. Die Gestalt in der Illustration war Bruder Henrique. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, das lockige, dunkle Haar, die dunklen Augen und das starke, ausgeprägte Kinn. Selbst das fließende Priestergewand war das Gleiche.

Der einzige Unterschied war die Tonsur, die Bruder Henrique damals offensichtlich getragen hatte, ein geschorener Kreis mitten auf seinem Kopf.

»Ich erinnere mich«, sagte Lucien, dessen Stimme immer normaler klang. Langsam hörte er sich wieder so an wie der Mann, in den sie sich einmal verliebt hatte. »Ich erinnere mich jetzt an dich. Du warst der Priester auf Schloss Poenari. Pater Henric. Du hast alle Messen gehalten. Du hast mir meine erste Kommunion gegeben. Du hast mich getauft. Du hast mir aus diesem Buch Katechismus-Unterricht gegeben.«

Pater Henric schien klar zu werden, dass er ertappt worden war … Deshalb beschloss er blitzschnell, eine andere Taktik anzuwenden.

»Ja«, sagte er unterwürfig. »Ja, Mylord, das stimmt. Ich fühle mich so geehrt, dass Ihr Euch erinnert. Ich dachte, es sei nicht der Rede wert, weil es schon so lange her ist und Ihr seitdem in der Welt so aufgestiegen seid, während ich …«

»Südamerika?« Lucien blickte wieder auf das Buch. »Was hast du die ganze Zeit über in Südamerika gemacht?«

»Oh«, erwiderte Pater Henric, »das Gleiche wie immer. Messen abgehalten. Erstkommunionen. Katechismus unterrichtet. Taufen …«

»Wie geht denn das?«, fragte Emil staunend. »Das Weihwasser allein …«

Pater Henric lächelte. »Wenn ein Priester auf Geheiß seines Dienstherrn die dunkle Seite beschwört«, erklärte er, »so wie ich es für Euren Vater, Mylord, nach dem Tod Eurer Mutter getan habe, geht er ein enormes Risiko ein. Und damals war es noch schwieriger als heute. Mir drohte die Exkommunizierung oder noch Schlimmeres. Es war nur richtig, dass ich belohnt wurde. Unsterblichkeit war das Mindeste, was ich verdiente, aber der dunkle Prinz beschloss, mich mit weit mehr auszustatten. Nachdem er mich gebissen und zu einem seiner Art gemacht hatte, stellte ich fest, dass ich nicht nur das Geschenk des immerwährenden Lebens besaß, sondern auch über eine Art innere Immunität gegen die Dinge verfügte, die die meisten Dämonen töten – Licht, Pflöcke, Kreuze …«

Um seine Behauptung zu untermauern, legte der Priester eine Hand auf Meenas Kette. Als er sie wieder hochhielt, konnte jeder sehen, dass seine Handfläche unversehrt war.

»Seht Ihr?« Er zuckte mit den Schultern. »Das war das Geschenk Eures Vaters an mich, Sire, für den Gefallen, den ich ihm tat. Und für niemand anderen wäre ich dieses Risiko eingegangen. Euer Vater war ein äußerst bemerkenswerter Mann – er liebte Eure Mutter so sehr. Sie war so eine besondere Frau. Und als sie weg war, nun ja, da veränderte er sich. Er wurde …

»Wahnsinnig«, sagte Lucien knapp.

»Besorgt«, korrigierte Pater Henric ihn. »Um Euch und Euren Bruder, möge er in Frieden ruhen. Euer Vater wollte Euch allen das ewige Leben schenken. Der Tod Eurer Mutter war so schmerzlich für ihn, dass er den Gedanken daran, einen von Euch verlieren zu müssen, nicht ertragen konnte. Deshalb fragte er mich, ob ich einen Weg wüsste, wie ich Euch alle unsterblich machen könnte. Und so …« Der Priester zuckte mit den Schultern. »Da tat ich es eben. Und ich habe es gerne getan.«

Dieses Mal gab es kein Beben vom Mannette. Keinen Donner. Keinen Blitz. Lucien reagierte überhaupt nicht auf die Erklärung des Priesters.

Er öffnete die Hände, und das Buch seiner Mutter fiel zu Boden.

Es landete in einer Pfütze. Meena beobachtete, wie das schmutzige Wasser es überflutete.

Und auf einmal wusste sie es. Sie wusste es mit solcher Sicherheit und Klarheit, als sei Luciens Mutter wieder lebendig geworden und habe es ihr ins Ohr geflüstert. Sie wusste es nicht nur, sondern sie verstand es auch – nicht nur, warum Lucien an den Mannette gegangen war, sondern auch, wie viel Entsetzen und Schmerzen er in den vergangenen fünf Jahrhunderten durchgemacht haben musste, während er zusah, wie sein Vater unzählige Menschen quälte und tötete, ohne dass er ihn aufhalten konnte.

Und er war selbst mit diesem unstillbaren Durst nach Blut infiziert und hatte ebenfalls Menschen getötet.

Im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Bruder jedoch hatte er seine Seele nie aufgegeben. Er konnte es nicht, es war ihm körperlich unmöglich.

»Euer Vater war äußerst erfreut über mein Geschenk, Mylord«, prahlte Pater Henric. »Und Ihr sollt wissen, dass ich bis zu seinem Ende bei ihm war. Als ich in London vor der Geheimen Garde floh, direkt nachdem sie ihn ermordet hatten, dachte ich trotzdem immer weiter an Euch, Mylord. Ich reiste so weit weg, wie ich konnte, in den Dschungel von Südamerika, wo ich die Lamir entdeckte. Mit ihnen baute ich eine Armee auf, mit der ich zurückkehren und seinen Tod rächen konnte. Ich konnte doch nicht tatenlos danebenstehen, während Ihr Eure geliebte Mutter und dann auch noch Euren Vater und Euren Halbbruder verloren habt. Ich durfte nicht zulassen, dass Ihr gejagt wurdet wie ein Tier. Es musste etwas geschehen. Und deshalb bin ich hier.«

»Er lügt.«

Erstaunt wandte Meena den Kopf. Alaric stand mit gezogener Armbrust da und zielte auf Henric. Er wusste zwar, dass der Priester durch Pfeile nicht zu verletzen war, aber anscheinend war das die Macht der Gewohnheit.

»Er ist nicht unzerstörbar«, sagte Alaric zu Lucien. »Er hat mir drinnen noch gesagt, es gäbe einen Weg, um ihn zu töten.«

»Er lügt, Mylord«, warf Henric hastig ein. »Versteht Ihr denn nicht? Sie lügen alle, weil sie die Schönheit unseres Seins nicht verstehen.«

»An eurem Sein ist nichts Schönes«, sagte Meena wütend. »Was ist denn so schön daran?« Sie wies auf Schwester Gertrude, die von zischenden Lamir umringt am Boden lag. Sie hielten sich nur zurück, weil Abraham, Carolina, Morioka, Santiago und Bruder Bernard sie mit dem SuperStaker und den anderen Utensilien aus Meenas Tasche in Schach hielten.

»Diese Situation ist unhaltbar geworden, Mylord«, sagte Emil nervös.

»Da muss ich dir zustimmen«, murmelte Mary Lou.

Lucien blickte von ihnen zu Henric. Aber er schien keinen von ihnen wirklich zu sehen.

»Haltet euch heraus«, sagte er. »Es geht keinen von euch etwas an.«

»Doch, es geht uns alle an«, widersprach Meena ihm. Sie bückte sich, um das Buch aus der Pfütze aufzuheben.

Es schien gar nicht so schlimm beschädigt zu sein. Sie hatte ganz vergessen, dass die Seiten aus Vellum bestanden, chemisch behandeltem Leder, und somit wasserabweisend waren. Wenn es getrocknet war, war es wahrscheinlich wieder in Ordnung. Wie sie alle vielleicht …

… wenn sie am Leben blieben.

»Es gibt nur eine einzige gute Sache, die Pater Henric jemals getan hat«, sagte Meena. »Und damals hatte er keine Ahnung, wohin es führen würde. Als er es jedoch herausfand, versuchte er alles, was in seinen Kräften stand, um zu verhindern, dass du davon erfährst, Lucien, weil nur das ihn vernichten kann. Deshalb ist er hier. Richtig, Pater Henric?«

»Bitte, sagt mir, dass Ihr ihr nicht zuhört, Mylord«, protestierte Pater Henric. »Ein Mensch! Sie versuchen doch, uns zu vernichten. Und warum? Warum jagt und hetzt man uns, wo wir doch nur tun, was die Natur für uns vorgesehen hat?«

»Die Natur?« Meena lachte bitter. »Was ist denn natürlich an dem, was du Lucien angetan hast? Hast du nicht eher gegen die Gesetze der Natur verstoßen?«

»Sein Vater war mein Fürst«, verteidigte sich Pater Henric. »Ich tat, was er mir befohlen hat.«

»Hast du nicht auch einem höheren Fürsten gedient?«, wollte Meena wissen. »Hättest du nicht zuerst ihn konsultieren müssen?«

»Das habe ich doch«, erwiderte Henric triumphierend.

»Oh«, sagte Meena und schlug das Buch auf Seite vierundsiebzig auf, der Seite aus ihrem Traum. »Meinst du diesen Fürsten?« Sie zeigte auf die Illustration von Luzifer.

Henrics Grinsen wurde schwächer. »Genau.«

»Er ist kein Fürst«, sagte Meena. »Du weißt sehr wohl, dass er ein gefallener Engel ist. Und was war Luciens Mutter?«

»Ei-eine Prinzessin«, stammelte Henric. In seinen Augen stand blankes Entsetzen.

»Nein.« Lucien schüttelte den Kopf. »Sie war ein Engel.«

Meena blickte in seine dunkelbraunen Augen. Ihr kamen die Tränen.

»Ja, Lucien«, sagte sie und hielt ihm das Buch aufgeschlagen hin. »Deshalb hat Henric versucht, dieses Buch von dir fernzuhalten. Ihm war klar, dass es dir vielleicht dabei hilft, dich an das zu erinnern, was deine Mutter dich gelehrt hat. Gerade du hast wirklich eine Wahl. Du kannst das Gute wählen … weil du zum Teil gut bist. Wie sehr du auch versuchen magst, der Sohn des Teufels zu sein, du hast immer noch einen Engel als Mutter.«

Sie sah ihm an, dass er sie jetzt verstand, weil er es eigentlich immer schon gewusst hatte.

Lucien hob den Blick von den goldenen Seiten des Buches, um ihr in die Augen zu sehen.

»Meena«, sagte er verwundert.

Sie lächelte ihn an. »Gern geschehen.«

Deshalb hörte sie das gebieterische »Gib sie mir« hinter sich ebenso wie Emils Warnruf zu spät. Sie wurde grob von Lucien weggerissen, und die Armbrust, die Emil aufgehoben hatte, wurde von Henric an ihre Brust gepresst.

Sie ließ Luciens Buch wieder in den Schmutz fallen.

»Habt ihr geglaubt, dieses Buch könnte mich vernichten?« , knurrte Pater Henric. »Nein. Das kann nur er. Nur er kann mich vernichten.«

Meena wechselte einen Blick mit Lucien. Er schien genauso verwirrt zu sein wie sie. Nur hatte er wahrscheinlich nicht solche Angst, weil kein Pfeil auf ihn gerichtet war.

Oder vielleicht hatte er doch Angst. In seinen Augen war kein einziger roter Funke zu sehen. Sie waren so dunkel wie die Nacht.

»Jetzt wisst Ihr es«, sagte Pater Henric und schleppte Meena zu den Bogengängen am Rand des Schulhofs. »Ich schlage vor, Ihr haltet großen Abstand, Mylord, oder ich erschieße dieses Mädchen. Versteht Ihr mich?«

»Ich glaube schon«, entgegnete Lucien. »Ich glaube, ich verstehe jetzt alles.« Er blickte Meena unverwandt an.

»Gut«, sagte Henric. »Du wirst mich nicht wiedersehen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Lucien mit ruhiger Stimme. »Wulf?«

Alaric stand mitten im Hof, die Armbrust auf Pater Henrics Kopf gerichtet, obwohl er doch bereits wusste, dass die Waffe nichts ausrichten konnte. »Was ist?«

»Ich weiß, dass du mich nie besonders leiden konntest«, sagte Lucien.

Alaric sah Lucien noch nicht einmal an. »Das stimmt«, antwortete er.

»Und du hast absolut keinen Grund, mir zu trauen.«

»Auch das ist korrekt«, bestätigte Alaric.

»Aber ich weiß, dass du dir etwas aus Meena Harper machst«, fuhr Lucien fort. »Und für sie würdest du alles tun.«

»Auch das stimmt«, sagte Alaric, ohne Pater Henric, dessen Blick nervös zwischen den beiden Männern hin und her irrte, aus den Augen zu lassen.

»In diesem Fall weißt du doch sicher, was du zu tun hast«, sagte Lucien.

»So gerne ich es tun würde«, konterte Alaric, »es würde nicht funktionieren. Sie ist zu nahe bei ihm, und ich kann den Pfeil nicht schnell genug abschießen. Er würde sie vorher noch töten. Und das ist ehrlich gesagt keiner von euch Bastarden wert.«

»Hört auf!«, schrie Pater Henric und drückte die Armbrust fester gegen Meenas Brust. »Hört sofort auf!«

Sie brauchten sowieso nicht mehr darüber zu reden. Meena wusste, was Lucien von Alaric erwartete … und was Alaric, Wunder über Wunder, ablehnte.

Ihr war auch klar, dass Lucien der Einzige war, der Pater Henric vernichten konnte. Und sie wusste, was sie zu tun hatte.

Sie wollte nicht so sterben. Es sollte nicht so enden müssen.

Aber sie wusste auch, dass es nur so enden konnte, dank der Entscheidungen, die viele andere Leute getroffen hatten … von denen einige gestorben waren, lange bevor sie auf der Welt war.

Meena fragte sich, ob Johanna von Orléans sich wohl auch so gefühlt hatte, als sie den Scheiterhaufen entzündeten, auf dem sie nach ihren treuen Diensten für König und Vaterland wegen Ketzerei verbrannt werden sollte. Johanna hatte sich nur geweigert zu lügen, und am Ende wurde sie verbrannt.

Wahrscheinlich hatte sie genau das Gleiche empfunden wie Meena, als sie jetzt Pater Henric mit aller Macht gegen das Schienbein trat und spürte, wie er überrascht auf den Auslöser drückte.

Es war einfach nicht fair.