24
Die Leute, die Meena festhielten, gerieten in Panik, als sie sahen, wie Lucien durch das Oberlicht schwebte.
Sie jedoch empfand große Erleichterung, obwohl sie wütend auf Lucien war, weil er versucht hatte, sie mitzunehmen. Es geschah der Geheimen Garde recht, dass er entkommen war. Wie konnten sie nur so blöd sein, ein Netz über ihn zu werfen, auch wenn es aus Silber war? Wenn Abraham noch die Verantwortung gehabt hätte, wäre das nie passiert.
Aber als sie herumwirbelte, um das demjenigen zu sagen, der ihr Handschellen angelegt hatte – warum legten sie ihr Handschellen an? –, stellte sie erschreckt fest, dass es Bruder Henrique war.
»Es tut mir leid«, sagte er, womit er anscheinend ihre Handschellen meinte. »Ich nehme sie Ihnen sofort wieder ab, wenn Sie uns sagen, wo er sich aufhält.«
Er hatte seine weiße Kutte abgelegt. Darunter trug er wie die anderen eine eng anliegende schwarze Uniform. Auf der rechten Brust prangte das kleine goldene Emblem eines Ritters auf einem Pferd, der einen Drachen erschlug – der heilige Georg, der Schutzpatron der Geheimen Garde.
Meena war so wütend, dass sie erneut versuchte, Bruder Henrique zu treten. Aber eine Offzierin der Geheimen Garde, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, hielt sie auf.
Bruder Henrique schüttelte den Kopf.
»Sie benehmen sich aber nicht wie der Profi, für den ich Sie gehalten habe, Miss Harper«, sagte er. »Aber tun Sie sich keinen Zwang an, wenn Sie unbedingt wollen.« Er zuckte mit den Schultern und wedelte mit der Hand. Die Offzierin schubste Meena zum Aufzug.
»Oh«, sagte Meena höhnisch zu Bruder Henrique, »aber Sie sind wohl ein absoluter Profi, was? Ich dachte, man hätte Sie für die Gemeinde von Sankt Georg geholt, aber wahrscheinlich sind Sie hier, weil Sie ein solcher Experte für Lamir sind. Lucien ist aber leider kein Lamir. Wussten Sie nicht, dass er sich in Luft auflösen kann? Die anderen hier wussten das alle.«
Kurz bevor die Aufzugtüren sich schlossen, sprang Bruder Henrique mit ihr in die Kabine und bedeutete der Offizierin zu gehen. Die Türen glitten zu, und Meena war mit Bruder Henrique allein im Aufzug. Unbehaglich musterte sie ihn. In was für eine Situation hatte sie sich jetzt gebracht?
Er drückte auf den Abwärtsknopf. »Ich glaube nicht, dass Sie begreifen, wie ernst die Situation ist, Meena«, sagte er. »Es ist von äußerster Dringlichkeit, dass Lucien Antonescu gefangen genommen wird.«
Sein Englisch war wesentlich besser als bei seinem Fernsehinterview mit Genevieve Fox oder bei seiner Unterhaltung mit Bruder Bernard und Schwester Gertrude, die seltsamerweise bei dieser Operation nicht dabei waren, stellte Meena fest.
»Glauben Sie, das weiß ich nicht?«, fragte Meena. »Aber ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, mir Handschellen anzulegen …«
Bruder Henrique beugte sich vor. Er war ein wenig größer als sie.
»Tun Sie doch nicht so, als wären Sie nicht mit ihm zusammen«, erwiderte er. »Sie sind gestern Abend mit ihm gesehen worden. Sie haben doch dazu beigetragen, dass diese Situation geschaffen wurde. Ich habe gehört, dass Sie von dem Buch geträumt und es angefordert haben. Sie haben ihm wahrscheinlich sogar davon erzählt. Und nun hat er es. Sie können sich nicht im Geringsten vorstellen, was Sie da getan haben. Sie haben im Grunde Kräfte in ihm geweckt, von denen er keine Ahnung gehabt hat. Und jetzt kann ihn niemand mehr aufhalten.«
Meena blickte ihn erschüttert an. »Ich … ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Das war nicht in meinem Traum. Das habe ich überhaupt nicht geträumt.«
»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass dies keine gewöhnliche Devotionalie ist. Und jetzt, wo sie ihm in die Hände gefallen ist, kann kein Mensch sagen, was er tun wird. Wenn Sie also wissen, wo er ist, dann sagen Sie es uns besser, oder Sie werden die Verantwortung dafür tragen, wenn alles, was wir uns so hart erarbeitet haben, vernichtet wird.«
Die Türen des Aufzugs glitten auf, und er ergriff ihren Arm.
»Aber das«, sagte er und führte sie zu einem Hinterausgang, an dem zahlreiche andere Wachen warteten, »ist natürlich Ihre Entscheidung.«
Als er das sagte, hörte sie Alaric rufen: »Erzähl dem Bastard nichts, Meena!« Dann schlug eine Autotür zu, und er war nicht mehr zu hören. Sie hatten ihn in einen wartenden Van geschoben, der sofort losfuhr. Dahinter fuhr ein weiterer Van heran … für Meena, wie sich herausstellte.
Meena schlug das Herz bis zum Hals. Sie hatte keine Ahnung, wovon Bruder Henrique redete. Was würde mit ihr passieren? Das war schließlich die Geheime Garde, eine Undercover-Organisation des Vatikans. Niemand wusste, dass es sie überhaupt gab. Sie konnten alles Mögliche mit ihr machen, und niemand würde dafür zur Verantwortung gezogen werden.
Aber sie glaubte auch nicht wirklich, dass sie David verwandelt hatten, wie Lucien behauptet hatte, damit er sie angreifen sollte. Das war absurd. Die Geheime Garde hielt doch keine Vampire gefangen, um unschuldige Zivilisten zu infizieren, die dann auf die Bevölkerung losgelassen wurden, nur um ihr Ziel Nummer eins aus seinem Versteck zu locken …
Oder doch?
»T-tut mir leid«, stammelte Meena und schaute Bruder Henrique an. »Aber ich weiß wirklich nicht, wo Lucien ist.«
Eigentlich stimmte das nicht so ganz. Mary Lou hatte etwas von einer Höhle gesagt. Doch sie hatte nicht vor, diese Information weiterzugeben. Nicht nur, weil Alaric sie gewarnt hatte, sondern weil sie tief im Herzen nicht glaubte, dass der Priester die Wahrheit sagte.
Bruder Henriques Gesichtsausdruck wurde hart.
»Ich verstehe«, sagte er. »Darf ich Ihnen einen Rat geben, Miss Harper? Wählen Sie Ihre Freunde besser aus. Letztendlich scheinen sie alle kein gutes Ende zu nehmen. Und ich würde ungern eines Tages das Gleiche über Alaric Wulf sagen müssen.«
Meena blinzelte. Hatte er gerade tatsächlich eine Drohung gegenüber Alaric ausgestoßen? Sie war sich nicht ganz sicher, denn eine Sekunde später lächelte er sie an, so charmant, wie er Genevieve Fox im Fernsehen angelächelt hatte.
»Wir sehen uns im Hauptquartier«, sagte er.
Damit schlenderte er davon, und sie saß mit offenem Mund im Van und starrte ihm nach.
Sie war sich beinahe sicher, dass sie direkt mit ihr zum Fluss fahren und sie erschießen würden. Und dann würden sie sie – zusammen mit Alaric – ins dunkle Wasser werfen.
Doch das taten sie natürlich nicht. Sie brachten sie direkt zum Hauptquartier der Geheimen Garde in der Kirche der heiligen Bernadette. Jetzt hätte sie eigentlich beruhigt sein müssen, aber das war seltsamerweise nicht so. Den Van, in den sie Alaric verfrachtet hatten, sah sie nicht, und sie hörte auch seine Stimme nirgendwo. Eine schlimme Vorahnung stieg in ihr auf. Unabhängig davon, ob Lucien mit seiner Verschwörungstheorie innerhalb der Geheimen Garde recht hatte, zwischen Alaric und Bruder Henrique bestand keine Liebe.
Und nun schien Bruder Henrique in eine Machtposition befördert worden zu sein. Nicht dass sie glaubte, er würde diese Macht missbrauchen … aber was hatte er gemeint, als er sagte, er wolle nicht, dass Alaric etwas Schlimmes passierte? Sollte das heißen, dass ihm ohne Meenas Hilfe etwas Schlimmes passierte? Das musste wohl so sein. Es hatte ja jeder gesehen, dass Lucien Schlimmes mit ihm vorhatte (aber nur weil Alaric versucht hatte, ihr zu helfen).
Der Priester konnte doch nicht gemeint haben, dass er Alaric etwas antun wollte? Meena hatte nicht das Gefühl, Alaric wäre in Gefahr – zumindest nicht in tödlicher Gefahr. Doch sie hatte keine Ahnung, wo er steckte. Sie war in einem Krankenzimmer der ehemaligen Schule eingeschlossen, das in früheren Zeiten bestimmt genutzt worden war, um Kinder mit ansteckenden Krankheiten von den anderen Schülern zu isolieren. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen.
Und – sollte jemand daran denken, sie retten zu wollen – auch keinen Weg in das Zimmer hinein, abgesehen von der Tür. Und die war verschlossen.
Aber anscheinend dachte sowieso niemand daran, sie zu retten, denn Stunden vergingen, ohne dass sich der Türgriff bewegte.
Das Gebäude war natürlich absolut dämonensicher, deshalb würde Lucien auch gar nicht hereinkommen.
Das war zweifellos eine Erleichterung, wenn man bedachte, wie er sich im Metropolitan Museum of Art aufgeführt hatte. Als sie gesehen hatte, wie Rauch von seiner Haut aufstieg, weil er mit dem Weihwasser in Berührung kam, war sie immer noch fassungslos über sein Verhalten. Sie erkannte ihn nicht wieder. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie entführen zu wollen?
Meena hatte viel Zeit, darüber nachzudenken. Sie war ganz allein und hatte nichts anderes zu tun. Sie war zwar nicht mehr gefesselt, aber sie hatten ihr das Handy weggenommen. Irgendwann musste sie wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn auf einmal wurde sie wachgerüttelt.
»Nein!«, schrie sie. »Ich weiß es nicht! Ich schwöre, ich weiß nicht, wo er ist.«
»Das ist unglückselig«, sagte Bruder Henrique und zog sich einen Stuhl an den Untersuchungstisch heran, auf den sie sich gelegt hatte. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht nachgedacht und Ihre Meinung geändert.«
Meena schüttelte den Kopf.
»Nein«, entgegnete sie. »Und Sie können mich nicht hier festhalten. Ich verlange, freigelassen zu werden. Wo ist Alaric?«
»Ich habe durchaus das Recht, Sie hier festzuhalten«, erwiderte Bruder Henrique. »Sie halten wichtiges Beweismaterial zurück, das wir zur Verfolgung des meistgesuchten Verbrechers auf der ganzen Welt brauchen. Aber ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu streiten. Ob Sie es glauben oder nicht, eigentlich stehe ich auf Ihrer Seite.«
»Ich glaube es nicht«, sagte Meena. »Wenn Sie auf meiner Seite stünden, hätten Sie mich nicht hier eingesperrt.«
»Das ist zu Ihrer eigenen Sicherheit«, erklärte Bruder Henrique. »Ihnen ist doch wohl klar, dass Lucien Antonescu Sie heute Nacht verwandeln wollte, oder nicht?«
Meena warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das würde er niemals tun«, antwortete sie. Allerdings hatte er es schon einmal versucht. Aber sie hatten darüber gesprochen, und er hatte eingewilligt, es nie wieder zu tun. Hatte er seine Meinung geändert? Sie weigerte sich, das zu glauben. Und selbst wenn, woher wollte Bruder Henrique das wissen? »Nicht ohne meine Zustimmung.«
»Das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit zu sagen«, entgegnete Bruder Henrique. »Er hat jetzt das Buch, und alles ist anders. Er ist anders. Mit diesem Buch in seinem Besitz wird Lucien Antonescu unbesiegbar werden. Verglichen mit seinem Vater … nun, das wäre so, als ob man ein Baby mit einem wildgewordenen Bullen vergleicht. Dieses Buch macht ihn zum mächtigsten Wesen, das die Welt jemals gesehen hat. Vielleicht sogar … allmächtig.«
Meena starrte ihn an. In ihrem Traum hatte sie nichts Böses in dem Buch erkannt. Und als sie es im Metropolitan Museum of Art gesehen hatte, war ihr auch nichts aufgefallen.
Doch Lucien hatte sich definitiv verändert. Allerdings hatte er sich schon verändert, bevor er das Buch in Händen gehabt hatte.
»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden«, sagte sie schließlich. »Ich dachte, Lucien sei bereits allmächtig. Er ist doch schließlich der Fürst der Finsternis. Wie viel mächtiger – oder böser – kann er denn noch werden?«
Bruder Henrique schüttelte den Kopf. »Sie haben sicher von den entsetzlichen Taten gehört, die Luciens Vater an seinem eigenen Volk begangen hat. Die Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern, die er bei lebendigem Leib gepfählt hat, um seine Feinde einzuschüchtern. Davon rede ich.«
Meena war mittlerweile so müde und verwirrt, dass sie gar nichts mehr begriff. Lucien war nicht so. Es war einfach nicht möglich.
»Wenn das Buch bei Lucien so etwas bewirken kann«, sagte Meena, »warum hat der Vatikan es dann nicht in Rom gelassen?«
Bruder Henrique verzog finster das Gesicht.
»Nicht jeder glaubt so stark wie ich daran, dass so ein Büchlein solche Macht über den Herrscher der Finsternis haben kann. Sie glauben, er will es zurückhaben, weil es seiner Mutter gehört hat, und sie waren bereit, es als Köder zu benutzen, um ihn aus seinem Versteck zu locken … aber es war ihnen nicht wirklich klar, was es bedeutet, dass es jetzt in seine Hände gefallen ist. Dass Sie daran glauben, sehe ich Ihnen an, Meena. Sonst hätten Sie auch niemals davon geträumt. Sie wissen von seiner Macht über ihn … Sie glauben daran. Und Sie können den Gang der Ereignisse aufhalten … indem Sie uns einfach sagen, wo er ist.« Bruder Henrique machte ein trauriges Gesicht. »Glauben Sie mir, Meena, ich weiß, wie schmerzlich es manchmal sein kann, das Richtige zu tun, weil es nicht immer leichtfällt. Aber ich habe über die Jahre gelernt, dass es Wichtigeres gibt als unsere egoistischen Bedürfnisse. Und wenn Sie ihm wirklich helfen wollen, sagen Sie mir, wo er ist.«
Meena seufzte.
»Sie haben recht«, sagte sie.
Bruder Henriques Miene hellte sich auf. »Ja?« »Mit dem Buch«, fuhr sie fort. »Ich glaube tatsächlich, dass es wichtiger ist, als irgendjemand sonst anzunehmen scheint. Aber bei Lucien irren Sie sich. Er ist nicht böse.«
Bruder Henrique schaute sie entgeistert an. »Miss Harper …«, begann er.
»Ich habe Vertrauen in ihn. Auch wenn ich die Einzige bin«, sagte Meena. »Er wird schon das Richtige tun. So, und wo ist eigentlich Alaric?«
Auf Bruder Henriques Gesicht zeichnete sich eine Wut ab, die Meena noch nie bei einem Geistlichen gesehen hatte. Es dauerte eine Zeitlang, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er sprechen konnte. Dann sagte er nur: »Gute Nacht, Miss Harper.«
Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich ab.
Meena konnte Bruder Henrique zwar überhaupt nicht leiden, doch er tat ihr fast ein bisschen leid. Offensichtlich war er in eine Position befördert worden, für die er nicht geeignet war. Wer mochte ihn wohl empfohlen haben?, fragte sie sich. Denjenigen sollte man feuern. Verdient hätte er es.
Im Morgengrauen öffnete sich die Tür, und Dr. Fiske, Alarics Therapeut, kam herein. Mit verlegenem Lächeln verkündete er, dass er in Abraham Holtzmans Abwesenheit zum zeitweiligen Personalchef ernannt worden sei.
Er war nicht gekommen, um sie zu foltern oder zu töten, und er wollte sie auch nicht fragen, wo Lucien war. Stattdessen überreichte er ihr einen Brief.
Ein Kündigungsschreiben.
Meena, nicht Bruder Henrique, war gefeuert.
Dr. Fiske ließ sie das Schreiben sorgfältig durchlesen, um sicherzustellen, dass sie alles verstand. Dann bat er sie, den Empfang zu quittieren.
Er gab ihr ihre Tasche und ihr Handy zurück und sagte, vor der Tür warte ein Wagen auf sie, um sie nach Hause zu bringen.
Benommen sprang Meena vom Untersuchungstisch. In gewisser Weise war dies schlimmer, als gefoltert zu werden. Nach allem, was sie erwartet hatte, war dies so banal.
Sie war gefeuert?
Dr. Fiske war nicht unfreundlich. Eigentlich war er sogar sehr verständnisvoll, mitfühlend und freundlich.
Aber Meena, so sagte er, habe so ziemlich jede Regel aus dem Handbuch für die Geheime Garde gebrochen, und die meisten davon in den vergangenen achtundvierzig Stunden.
Und deshalb war es wirklich sehr unwahrscheinlich, angesichts der Größe des Schadens, den sie angerichtet hatte, dass sie weiter für den Vatikan arbeiten dürfte, selbst wenn sie darum bat.
Ihre Dienste wurden nicht länger benötigt.
Als Meena fragte, wo Alaric sei, blickte Dr. Fiske auf seine Uhr und sagte: »Ich glaube, er fliegt gerade mit einer Linienmaschine nach Rom zurück.«
Meena war auf alles Mögliche gefasst gewesen, aber nicht auf diese Antwort.
»Nach Rom?«, fragte sie ungläubig.
»Nun«, erläuterte Dr. Fiske, den ihre Reaktion wohl überraschte, »es war natürlich keine einfache Entscheidung. Wir mussten ihn entweder versetzen oder uns von ihm trennen. Und da er ja offensichtlich ein äußerst wertvoller Mitarbeiter ist, plädierte ich für Versetzung. Es erschien mir am sinnvollsten.«
Meena schüttelte fassungslos den Kopf.
»Und Alaric war einverstanden? Wo Lucien Antonescu angeblich im Besitz eines Buches ist, das ihn zum mächtigsten Dämon der Weltgeschichte machen kann?«
Zum ersten Mal verzog Dr. Fiske unbehaglich das Gesicht. »Nun, davon weiß ich nichts. Ich bin nur in der Verwaltung. Aber mir wurde gesagt, er habe den Vorschlag sehr positiv …«
»Ihnen wurde gesagt?« Die Alarmglocken in Meenas Kopf läuteten so laut, dass sie einen Moment lang dachte, sämtliche Feuermelder im Gebäude seien angesprungen. »Sie haben gar nicht selber mit Alaric gesprochen?«
»Miss Harper«, sagte Dr. Fiske und schaute sie über den Rand seiner Brille hinweg an. »Wir sind, wie Sie ja wissen, dabei, den mächtigsten Dämon auf der Welt zu verfolgen. Ich musste überraschend die Position eines vermissten Kollegen einnehmen, der seinen Schreibtisch nicht gerade besonders organisiert hinterlassen hat. Aber ich war fast sechs Monate lang Alaric Wulfs Psychotherapeut, und ich glaube, ich bin durchaus qualifiziert zu sagen, dass Alaric seit einiger Zeit seine Entscheidungen zu sehr von seinen Emotionen abhängig gemacht hat. Um genau zu sein, seit er Sie kennengelernt hat.«
Das brachte die Alarmglocken keineswegs zum Schweigen. »Aber ich glaube nicht, dass Alaric …«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und unterbrach sie sanft. »Sie und Alaric Wulf haben eine so ungesunde Beziehung zueinander entwickelt, dass dadurch der Tod einiger unserer Kollegen verursacht wurde. Das können selbst Sie nicht leugnen, Meena. Es ist wirklich das Beste, wenn Sie die Dinge eine Weile aus der Distanz betrachten. Deshalb hat Alaric der Versetzung auch zugestimmt und ist jetzt auf dem Weg nach Rom. Und nun stellen Sie bitte keine Fragen mehr über Alaric, da ich ungern meine ärztliche Schweigepflicht verletzen möchte …«
Die Worte der Tod einiger unserer Kollegen trafen Meena hart.
Sie glaubte nicht, dass sie den Tod von Abraham und Carolina und dem restlichen Team, das nach Freewell geschickt worden war, verursacht hatte. Sie wusste immer noch nicht, wo sie waren oder warum sie sich nicht gemeldet hatten. Aber wenn sie sich im Geiste ihre Gesichter vorstellte, dann war sie ziemlich sicher, dass sie am Leben waren.
Und doch, sie waren ihretwegen nach Freewell gegangen. Es war ihre Schuld, dass sie – und Brianna – vermisst wurden.
Davids Tod hingegen … nun, den hatte sie tatsächlich verursacht. Ihretwegen war er in einen Vampir verwandelt worden.
Das wusste sie, und sie war bereit, ihre Entlassung aus der Geheimen Garde zu akzeptieren.
Eins wollte sie jedoch nicht akzeptieren. Etwas, das Dr. Fiske anscheinend nicht wusste.
»Na, na«, sagte Dr. Fiske, der ihren Gesichtsausdruck anscheinend fehlinterpretierte. »Ich weiß, im Moment haben Sie das Gefühl, die Welt geht unter. Aber in ein paar Tagen werden Sie sich schon besser fühlen. Die Sonne ist jetzt aufgegangen, und Sie können gehen. Ein Auto wartet auf Sie. Leben Sie wohl, Meena.«
Wie betäubt nahm Meena das Schreiben, das Dr. Fiske ihr aushändigte, entgegen. Dann ging sie aus dem Zimmer den leeren Gang entlang, bis sie auf den Stufen zum Hauptquartier stand. Sie blinzelte in das Sonnenlicht und betrachtete den Brunnen der heiligen Bernadette, die vor der fußlosen Madonna kniete. Wie immer sprudelte dort kein Wasser.
Weil es noch so früh war, war niemand auf der Straße. Nur das Auto wartete auf sie am Ende des Hofes. Mit schmerzenden Augen starrte Meena es an.
Was hatte Alaric noch einmal auf dem Weg zum Metropolitan Museum of Art gesagt, als sie ihn gefragt hatte, ob er jetzt nach Antigua ziehen würde? Ach ja.
Keine Sorge. Ich lasse keine unerledigten Angelegenheiten zurück.
Ihr war klar, dass Alaric Wulf auf keinen Fall in eine Linienmaschine nach Rom gestiegen war. Nicht freiwillig jedenfalls. Nicht ohne sich von ihr zu verabschieden. Und nicht, wo Lucien Antonescu noch in der Nähe war.
Alaric hatte einfach viel zu viele unerledigte Angelegenheiten hier in New York, um nach Rom fliegen zu können.
Meena war sicher, dass Dr. Fiske nicht gelogen hatte. Er glaubte wahrscheinlich, es stimmte, was er ihr erzählt hatte.
Aber jemand anderer hatte Dr. Fiske angelogen.
Langsam ging ihr auf, was die Ereignisse der letzten Stunden für sie bedeuteten … sie war nun allein. Alles lag an ihr, und sie würde ihre Entscheidungen allein treffen müssen.
Doch das war schon in Ordnung. Sie würde es schon schaffen.
Hoffentlich.
Sie lief an dem wartenden Auto vorbei – der Fahrer war so vertieft in die Lektüre der Morgenzeitung, dass er noch nicht einmal aufblickte – und ging zu Fuß zu ihrer Wohnung.