21
Meena war viel zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt gewesen, um die Ausstellung wirklich wahrzunehmen. Sie war wie im Nebel an ihr vorbeigerauscht.
Jetzt jedoch lief sie direkt zu dem kleinen Sockel, den Mary Lou beschrieben hatte.
Sie wollte nicht glauben, dass es das Buch war, das sie in ihren Träumen gesehen hatte … das Buch, von dem sie Lucien – und jedem, der ihr zuhören wollte – erzählt hatte.
Es konnte unmöglich das Buch sein, das sie bei der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek angefordert hatte, weil sie fand, dass die Beschreibung – Stundenbuch, rumänischen Ursprungs, Mitte sechzehntes Jahrhundert – richtig klang, obwohl die wenigen Illustrationen im Internet nur vage den Bildern entsprachen, die sie in ihren Träumen gesehen hatte.
Wenn es nämlich so wäre, dann würde es bedeuten …
Sie wollte nicht darüber nachdenken, was es bedeuten würde. Sie musste sich mit eigenen Augen überzeugen. Sie musste sich ganz sicher sein, bevor sie überstürzt handelte.
Das Buch – das wirklich klein war, wie Mary Lou gesagt hatte – stand aufrecht in einem Glaswürfel. Eine exquisit illustrierte Seite war von den anderen getrennt worden und wurde so beleuchtet, dass sie in einem beinahe überirdischen Licht schimmerte.
Dies lag daran, dass man tatsächlich Gold geschmolzen und in papierdünnen Blättern auf das Pergament gelegt hatte, aus dem das Manuskript bestand, wie Meena von ihren Recherchen wusste. Die wunderschön gezeichnete Illustration zeigte eine dunkelhaarige junge Frau in einem langen königsblauen Gewand, die ein Lamm in den Armen hielt.
Meena starrte die Frau an, die umgeben war von der leuchtenden Goldschicht, die noch zusätzlich mit Zeichnungen von Schmetterlingen und Blumen in den schönsten Farben verziert war. Ihren Recherchen zufolge waren für diese Farben Blei, Bleisulfat, Arsen und Lapislazuli gemischt worden, was ihnen ihre Leuchtkraft und Dauerhaftigkeit verlieh.
Es war nicht das Bild von der Frau und dem kleinen Jungen, das sie in ihren Träumen gesehen hatte, aber es hatte entschieden eine Anziehungskraft …
»Sehr hübsch, nicht wahr?«
Meena zuckte zusammen. Doch als sie aufblickte, sah sie nur Bruder Henrique. Auch er bewunderte das Manuskript.
»Äh«, sagte sie. »Ja.«
Sie blickte sich um. Die Party war immer noch in vollem Gange, obwohl es schon spät war. Am anderen Ende des Saals sah sie Alaric, ins Gespräch vertieft mit der Reporterin des New Yorker Nachrichtensenders, Genevieve Fox. Anscheinend war ihm bislang nicht aufgefallen, dass Meena noch nicht wieder zu ihm zurückgekommen war.
»Ich verstehe leider nicht besonders viel von diesen Büchern«, sagte Bruder Henrique bescheiden, »aber ich habe einmal gelesen, dass der Künstler, wenn ein Verlobter ein solches Buch in Auftrag gab – wie dieses hier –, irgendwo in seinem Werk ein Bild der Braut einfügte. Da dieses Buch angeblich einer schönen Prinzessin gehört haben soll, muss es wohl diese Frau hier gewesen sein.«
Er zeigte auf die Frau, die das Lamm in den Armen hielt.
»Sie hat keinen Heiligenschein, sehen Sie?«, sagte Bruder Henrique. »Also ist sie nicht die Jungfrau Maria oder eine Heilige. Und sie ist sehr attraktiv und reich gekleidet.«
Meena betrachtete die Frau in der Illustration. War das Luciens Mutter?
Das Porträt, das sie einmal von Luciens Vater gesehen hatte – hier im Metropolitan Museum of Art –, hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Lucien gehabt.
Aber je näher sie sich über die Illustration beugte, desto mehr sah sie eine Ähnlichkeit mit der Frau in ihrem Traum … und mit Lucien. Es lag nicht nur an den schwarzen Haaren, den düsteren Gesichtszügen oder der geschmeidigen Gestalt. Nein, sie erkannte die sanften Augen, und einen Zug von Humor – und Freundlichkeit – um den kleinen Mund, den sie noch nirgendwo gesehen hatte.
Sie glaubte auch nicht, dass sie es nur sah, weil sie es sehen wollte, denn eigentlich wollte sie es ja nicht sehen. Denn wenn es das Buch aus ihren Träumen war, das Buch, das sie aus dem Katalog angefordert hatte, dann konnte die Tatsache, dass der Vatikan es hier ausstellte und es ihr nicht geschickt hatte, nur bedeuten …
Nun, genau das, was Lucien – und sogar Alaric – gemeint hatten: Diese Ausstellung wurde tatsächlich nur zu einem einzigen Zweck veranstaltet … um den Fürsten der Finsternis aus seinem Versteck zu locken, damit die Geheime Garde ihn fangen konnte.
Sie musste Alaric unbedingt darüber informieren. Er hatte es die ganze Zeit über vermutet.
Aber es ging nicht. Sie konnte doch Lucien nicht in noch größere Gefahr bringen.
Außerdem schien Alaric völlig in das Gespräch mit Genevieve Fox vertieft zu sein. Oder vielmehr schien Genevieve Fox völlig in das Gespräch mit Alaric vertieft zu sein. Jetzt zog sie etwas aus ihrer Handtasche und …
Großer Gott. Es war ihr BlackBerry.
Genevieve Fox gab Alaric Wulfs Telefonnummer in ihren BlackBerry ein.
Sie gaben ein attraktives Paar ab. Beide waren sie so groß und blond. Meena fragte sich, warum ihr der Anblick einen Stich versetzte.
Doch sie hatte nun keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste Lucien warnen und den Raum verlassen, ohne dass Alaric es merkte. Dann war ja seine Beschäftigung mit Genevieve Fox wenigstens zu etwas nütze.
Aber zunächst einmal musste sie Bruder Henrique loswerden, der immer noch auf sie einredete.
»Diese kleinen Bücher waren im fünfzehnten Jahrhundert ungeheuer beliebt«, erklärte er gerade. »Der Inhalt war mehr oder weniger immer gleich. Auszüge aus Kirchenliedern, die Stunden des Kreuzes, die sieben Buße-Psalmen, ein Kalender der kirchlichen Feiertage und verschiedene Devotionalien. Dieses hier ist jedoch ein wenig ungewöhnlich. Es enthält auch Sternzeichen und die verschiedenen Mondphasen.«
»Sehr interessant«, murmelte Meena.
Meena konnte es nicht leugnen. Je länger sie die Illustration betrachtete, desto mehr glaubte sie, dass die Frau auf dem Bild die Frau aus ihrem Traum war … die Frau, die sich lieber in den Fluss gestürzt hatte, als sich von den Feinden ihres Mannes gefangen nehmen zu lassen. Und deshalb war aus Vlad Tepes Vlad der Pfähler geworden.
Diese Frau hatte Dracula geschaffen und seinen Sohn Lucien geboren.
Und weil Meena so viel Aufmerksamkeit auf ihr Stundenbuch gezogen hatte, war sie jetzt die Frau, die – wenn auch unabsichtlich – bald zur Gefangennahme und dem Untergang dieses Sohnes beitragen würde.
Sie musste gehen. Sie musste Lucien unbedingt warnen … Er musste so schnell wie möglich das Metropolitan Museum of Art verlassen …
»Entschuldigen Sie.« Bruder Henrique berührte sie am Arm. Erschreckt zuckte sie zusammen. Er blickte sie besorgt an. »Ist Ihnen nicht gut? Darf ich Ihnen etwas bringen? Ein Glas Wein vielleicht? Oder Wasser?«
»Ich … mir geht es gut«, erwiderte Meena. Bildete sie es sich ein, oder hatte sein Englisch sich in der letzten Stunde verbessert? »Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einen Anruf tätigen muss. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …«
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich es erwähne«, sagte Bruder Henrique, »aber Sie machen einen unglücklichen Eindruck auf mich. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, ich glaube, ich wäre auch unglücklich, wenn um mich herum alle sterben würden.«
»Ich versuche, den Tod zu verhindern«, antwortete Meena automatisch. Sie musste unbedingt den Saal verlassen, bevor Alaric sein Gespräch mit Genevieve Fox beendet hatte. »Die Zukunft ist bei niemandem gewiss. Sie hängt immer von den Entscheidungen ab, die wir treffen. Vielleicht kann ich ja dazu beitragen, dass jemand eine bessere Entscheidung trifft. Wenn Sie mich jetzt bitte …«
Bruder Henrique nickte ernst. »Dafür sind solche Devotionalien da.« Er zeigte auf das Stundenbuch. »Damit die Frauen, die sie besaßen, bessere Entscheidungen treffen und auf dem richtigen Weg bleiben konnten. Damals gab es nur sehr wenige Bücher. Die meisten Leute lernten niemals lesen, geschweige denn, dass sie ein Buch besaßen. Es gab nur wenige gebildete Menschen, die den Ungebildeten den richtigen Weg zeigten. Damals war es so leicht, in die Finsternis zu stürzen. Heute allerdings ist es noch leichter, und …« – er blickte zu Genevieve Fox und seufzte – »… und die Menschen suchen bei ihr nach Erleuchtung. Nun. Was können wir schon tun, als es immer weiter zu versuchen?«
Meena starrte ihn an. Was wusste er denn davon, wie es war, in die Finsternis zu stürzen?, fragte sie sich. Er war doch bei dem Exorzismus damals vor der Dunkelheit davongerannt. Das hatte er doch selbst zugegeben. Vielleicht wollte er ja jetzt dagegen kämpfen.
Aber Genevieve schlechtzumachen, die so ein nettes Interview geführt hatte, war wohl kaum ein geeigneter Weg.
»Können wir gehen?«, wollte eine tiefe Stimme wissen.
Erschreckt fuhr Meena herum. Alaric stand neben ihr. Wo war er denn so schnell hergekommen? Er hatte eben doch noch angeregt mit Genevieve Fox geplaudert.
»Äh …« Meena konnte es nicht fassen. Wie sollte sie jetzt wegkommen? »Ich bin noch nicht ganz fertig …«
Sie brach ab. Mary Lou kam quer durch den Raum auf sie zu.
»Was ist?«, fragte Alaric ungeduldig. Er wirkte verärgert, aber ob es etwas damit zu tun hatte, dass Bruder Henrique neben ihr stand, spielte eigentlich keine Rolle. Mary Lou kam immer näher, die roten Lippen zu einem strahlenden Lächeln verzogen. »Wenn du noch einmal zur Toilette musst, dann sag es einfach. Ich warte auf dich. Ihr Frauen verbringt doch sowieso euer halbes Leben im Badezimmer.«
»Ich …« Meenas Augen weiteten sich, als Mary Lou Alarics Schultern ergriff und ihn zu sich herumdrehte.
»Alaric«, sagte Mary Lou fröhlich. »Liebling, da bist du ja. Ich habe dich so vermisst. Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen.«
Und dann küsste sie ihn mitten auf den Mund.