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Meena Harper wusste Dinge, Dinge, die sonst niemand wusste … Dinge, die niemand wissen konnte.

Eines davon war, dass der Mann, der neben ihr im Auto saß, sterben würde.

Es gab allerdings auch eine Menge Dinge, die Meena Harper nicht wusste.

Zum Beispiel, wie sie dem Mann beibringen sollte, dass er dem Tod nahe war.

»Meena«, sagte er und betrachtete ihr Profil, »du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen. Komisch, dass du angerufen hast. Ich habe gerade an dich gedacht.«

»Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen«, antwortete sie.

Das war eine Lüge. Sie freute sich keineswegs, ihn zu sehen. Wie sollte sie es ihm bloß sagen? Außerdem sah er schrecklich aus. Er roch schrecklich. Aber vielleicht lag das ja am Innenraum seines Autos. Sie bekam nicht heraus, wonach es roch.

»Ich habe auch an dich gedacht«, log sie weiter. »Danke, dass du dich mit mir triffst.«

Schuldbewusst blickte sie sich in der dunklen, schmalen Straße um. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie behauptet hatte, hier zu wohnen. Außerdem hatte sie erzählt, er könne nicht hereinkommen, da die Eltern ihrer Zimmergenossin zu Besuch seien.

»Wollen wir nicht lieber einen Kaffee trinken gehen?«, fragte sie. »Um die Ecke ist ein nettes Café. Das ist doch viel gemütlicher als in deinem Auto.«

Vor allem, was den Geruch anging. Und das, was sie ihm zu sagen hatte.

»Nein, lass uns hierbleiben«, erwiderte er lächelnd. »Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe.«

Das war Meena neu. Sie hatte seit über einem Jahr nichts von ihm gehört. Sie hatten sich relativ freundschaftlich getrennt – obwohl sie damals geglaubt hatte, er habe ihr das Herz gebrochen. Sie hatte damals Drehbücher für eine mittlerweile abgesetzte Soap geschrieben, und er war Zahnarzt, hatte sich auf Veneers spezialisiert und wollte in einen Vorort ziehen, um eine Familie zu gründen.

Natürlich hatte es nicht funktioniert.

»Ich dachte, du seist mit Brianna echt glücklich«, sagte sie. »Mit der Praxis und dem Baby und so.«

Das machte es sogar noch schlimmer. Wie sollte sie ihm nur beibringen, dass er jeden Moment sterben konnte, wenn er doch so viel hatte, für das es sich zu leben lohnte?

Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Brianna«, erklärte er, »sie bedeutet mir gar nichts.«

»Aber natürlich«, widersprach Meena ihm überrascht. »Was redest du da?«

Jetzt machte sie sich ernsthaft Sorgen um ihn. David hatte sie schließlich wegen Brianna sitzen gelassen. Brianna war sein Ein und Alles.

Er hatte bestimmt wieder einen Hirntumor. Daran war er beim ersten Mal auch beinahe gestorben. Doch sie hatte ihn rechtzeitig gewarnt, und die Ärzte hatten den Tumor entdeckt und ihm das Leben gerettet.

Schade daran war nur gewesen, dass er so entsetzt darüber gewesen war, dass er sie auf der Stelle verlassen und sich in die Arme der Röntgenassistentin gestürzt hatte.

Aber es war schon in Ordnung. Meena hatte sich inzwischen ihr eigenes Leben aufgebaut. Obwohl auch dieses Leben zerstört worden war, und zwar von Lucien Antonescu, dem Mann, der sie gelehrt hatte, wie sich ein gebrochenes Herz wirklich anfühlt.

Doch es gelang ihr, nie mehr an ihn zu denken.

Fast nie mehr.

In der letzten Zeit hatte sie solche schrecklichen Träume von David gehabt. In den Träumen war er tot. Es war nicht so, dass sie seine Leiche sehen konnte. Im Traum konnte sie Davids Zukunft sehen.

Und er hatte keine. Um ihn herum war nur Dunkelheit.

Als sie am dritten Morgen nacheinander aus dem Traum erwachte, atemlos, weil sie das Gefühl hatte, die Dunkelheit würde sie einschließen, wusste sie, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als ihn anzurufen.

Aber ihr war klar, dass sie ihm eine solche Nachricht nicht übers Telefon überbringen konnte. Sie musste ihn persönlich treffen.

David war überraschend wild darauf gewesen und hatte ihr sofort angeboten, am frühen Nachmittag nach irgendeinem Zahnärztetreffen in der Stadt auf dem Heimweg nach New Jersey bei ihr vorbeizukommen.

Da Meena ihre neue Adresse nur ungern jemandem preisgab – selbst alten Freunden nicht, mit denen sie früher zusammengelebt hatte –, hatte sie automatisch eine falsche Adresse genannt und auf der Straße vor dem Gebäude auf ihn gewartet.

Mittlerweile bereute sie jedoch dieses Arrangement, weil David sich wirklich merkwürdig benahm. Und wonach roch er bloß?

»Du«, sagte er, »du warst immer die Einzige, Meena.«

»David« – Meena blickte ihn verwirrt an –, »du hast mich wegen Brianna verlassen. Du hast gesagt, du wolltest mit jemandem zusammen sein, der den Menschen das Leben schenkt, nicht mit jemandem, der ihren Tod voraussagt. Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Ich hätte bei dir bleiben sollen«, antwortete David. »Wirklich. Wir zwei sind viel besser miteinander klargekommen als Brianna und ich. Warum bin ich nicht bei dir geblieben, Meena? Warum nicht? Du warst magisch mit deiner … Magie.«

Endlich dämmerte es ihr. Wenigstens wusste sie jetzt, warum er so komisch roch. Das machte ihre Aufgabe wesentlich leichter.

»Okay«, sagte sie und blickte sich auf dem Boden des Autos nach der Flasche um. Oder vielleicht war er ja noch vom Mittagessen betrunken? Wie viele Martinis mochten Zahnärzte zu sich nehmen, wenn sie sich in der Stadt zum Essen trafen?

»Weißt du noch, wie du deine Magie bei mir angewendet hast?«, sagte er. »Danach ging es mir viel besser. Mach es wieder. Ich bitte dich.«

»So funktioniert es eigentlich nicht«, erwiderte Meena, die immer noch nach der Flasche suchte. »Ich sage nicht, dass ich dir nicht helfen kann. Eigentlich glaube ich nämlich, ich könnte es. Du musst mir bloß ein Stückchen entgegenkommen und mir sagen, wo die Flasche ist.«

In diesem Moment stürzte er sich auf sie, um sie zu küssen. Und sie fand die Flasche. Allerdings war es eher ein Flachmann, und er drückte sich durch seine Hosentasche hart gegen ihren Oberschenkel.

Nun ja, dachte Meena. Das habe ich nun davon, wenn ich versuche, den Retter zu spielen. Warum mache ich das bloß immer wieder?

Na ja, klar. Es war eben ihr Job.

Und das war auch gut so, denn sie konnte sicher nicht mit der Schuld leben, dass jemand während ihrer Wache starb. Das war schon mehr als einmal passiert, vor allem seit sie mit Lucien Antonescu zusammen war, der sich leider als einer der Dämonen entpuppt hatte, die die Geheime Garde – die Organisation, die sie eingestellt hatte, nachdem sie aus der Soap gefeuert worden war (bevor sie abgesetzt wurde) – jagte.

Und nicht nur irgendein Dämon, sondern der Herrscher aller Dämonen auf der Erde, der Fürst der Finsternis.

Meena hatte eben noch nie besonders viel Glück in der Wahl ihrer Freunde gehabt.

Und da die meisten Leute ihr nicht glaubten, wenn sie ihnen sagte, sie würden sterben, hatte sie in diesem Bereich auch nicht besonders viel Glück.

Sie war sich nicht ganz sicher, warum sie überhaupt jemals auf den Gedanken gekommen war, ihr Ex, David Delmonico, sei es wert, gerettet zu werden. Die Erde wäre nicht schlimmer dran, wenn er einfach von ihr verschwinden würde.

Aber er hatte schließlich ein Baby. Das Baby verdiente einen Vater.

»Meena«, stöhnte David die ganze Zeit. Glücklicherweise lagen seine Lippen nicht auf ihren, sondern hatten sich an ihrem Hals festgesaugt. Das war wirklich ein Glück, sein Atem roch nämlich noch schlimmer als der Innenraum seines Autos.

Er versuchte, seine Hände in den Ausschnitt ihres Kleides zu schieben … des Kleides, das sie selbst umgenäht hatte – na ja, mit ein bisschen Hilfe von Yalena aus dem Secondhandshop der Kirche. Denn obwohl Meenas neuer Job gut bezahlt wurde, hatte sie ihre gesamte Garderobe erneuern müssen, da ihr Kleiderschrank von Lucien Antonescus Verwandten, den Dracul, zerstört worden war. Daher war das Stöbern in Secondhandshops ihr neues Hobby geworden.

»David«, sagte sie und stieß ihn mit dem Ellbogen an die Schulter. Allerdings nicht allzu fest, weil er ihr ein bisschen leidtat. Schließlich lag er sozusagen im Sterben. »Deshalb habe ich dich nicht angerufen.«

»Ja«, sagte er stöhnend. »Oh ja. Wunderschöne Meena. Was für ein Narr ich war …«

»David.« Sie zerrte seinen Kopf an den Haaren hoch und blickte in seine Augen, die er zu betrunkenen Schlitzen zusammengekniffen hatte.

»Wa…?«, fragte er benommen.

»Es tut mir leid, dass du gerade jetzt Probleme in deinem Privatleben hast«, sagte sie. »Aber du hast dich nun einmal für Brianna entschieden. Und ich habe mein Leben weitergelebt.«

»Aber …« Sein Blick wurde etwas klarer. »Du hast am Telefon gesagt, du hättest keinen Freund.«

Sie hielt ihm weiter den Kopf an den Haaren hoch. »Das stimmt auch.« Wie nett von ihm, ihr die Tatsache unter die Nase zu reiben, dass sie Single war. Als ob sie etwas dafür könnte, dass ihr letzter Freund versucht hatte, die halbe Upper East Side abzufackeln. »Aber wie kommst du auf die Idee, dass ich deshalb in dich verliebt sein könnte?«

Er wackelte mit dem Zeigefinger. »Begreif doch, Meena«, sagte er. »Die Tatsache, dass du immer noch Single bist, bedeutet, dass du nie wirklich über mich hinweggekommen bist.«

»Vielleicht«, erwiderte Meena, »bedeutet es aber auch, dass ich über einen Mann, mit dem ich nach dir zusammen war, nicht hinweggekommen bin. Auf diesen Gedanken bist du wohl nicht gekommen. Nein, wahrscheinlich nicht.« Sie ließ seinen Kopf los und zog den Autoschlüssel aus dem Zündschloss. »David, geh nach Hause, und schlaf deinen Rausch aus.«

Sie würde es ihm nicht sagen. Nicht auf diese Art. Nicht, wenn er betrunken war und sich so danebenbenahm. Wahrscheinlich würde er sich dann sowieso an nichts erinnern können, wenn er wieder nüchtern war.

Und außerdem würde er die Information wahrscheinlich nicht gut aufnehmen. Am Ende sprang er noch von der George-Washington-Brücke.

Und Meena hatte gelernt, dass die Dinge sich immer noch zum Guten wenden konnten. Unser Schicksal war schließlich nicht in Stein gemeißelt. Man brauchte sich ja bloß David anzusehen. Sie hatte ihn einmal davor gewarnt, dass er sterben würde, und er hatte sich seine Gesundheit bewahrt, und jetzt war er …

Na ja, vielleicht war David kein gutes Beispiel. Aber es gab einige andere. Alaric Wulf zum Beispiel, einer ihrer Kollegen von der Geheimen Garde. Sie warnte ihn praktisch jeden Tag vor irgendeiner neuen Bedrohung, in die er hineinmarschierte, und weil er auf sie hörte, starb er nicht.

Schade war nur, dass er in anderer Hinsicht überhaupt nicht auf sie hörte.

»Sei dankbar für das, was du hast, David«, sagte Meena, statt ihn davor zu warnen, dass seine Nummer schon wieder aufgerufen worden war. »Das ist viel, und die Wahrheit ist … du hast es vielleicht nicht mehr allzu lange.«

»Aber ich will dich«, beharrte er. Er wirkte verwirrt.

»Nein«, sagte Meena fest. »Dass du mich wegen Brianna sitzen gelassen hast, war das Klügste, was du je getan hast. Vertrau mir. Du und ich, wir waren einfach nicht füreinander bestimmt. Nimm ein Taxi zur Penn Station, und fahr mit dem Zug zurück in dein nettes, sicheres Zuhause in New Jersey. Die hier schicke ich dir mit der Post.« Sie klimperte mit den Schlüsseln. »Eines Tages wirst du mir dafür dankbar sein, das kann ich dir versprechen.«

Wahrscheinlich allerdings erst, wenn er wieder nüchtern war, sie ihn angerufen hatte, um ihm die schlechten Nachrichten zu überbringen, und er Gelegenheit gehabt hatte, sich beim Arzt komplett durchchecken zu lassen.

Sie öffnete die Tür, um auszusteigen. Sie wollte in ihre neue Wohnung zurück, in ihr neues Leben, aus dem David innerhalb einer Nanosekunde wieder verschwinden würde, wenn er etwas darüber wüsste.

Meena Harper wusste nämlich viele Dinge, von denen ihr Exfreund keine Ahnung hatte. Nicht nur, wie Menschen sterben würden oder dass Dämonen und Dämonenjäger nicht nur in Romanen vorkamen, sondern auch, dass jede Kreatur auf der Erde, ob Dämon oder nicht, zu Gutem wie zu Bösem fähig war.

Und schon der winzigste Schubs konnte einen Erdrutsch auslösen.

Schade war nur, dass ihre Vorahnungen ihr nicht sagten, wann einer dieser Schubse notwendig war … oder in welche Richtung … oder wann jemand anderer als sie selbst sterben würde.

Diese Information wäre jetzt bestimmt nützlich für sie gewesen, als sie aus Davids Auto aussteigen wollte und seine Hand vorschoss und sich mit eisernem Griff um ihr Handgelenk legte.

Am schlimmsten war, dass er gar nichts sagte. Er hielt nur ihr Handgelenk fest und blickte sie aus leeren Augen an.

Dann öffnete er den Mund und entblößte spitze Fangzähne.