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Früher einmal, als Meena noch Drehbücher für die Soap Opera Eternity geschrieben hatte, hatte sie gelesen, dass es unter New York City ein Netz von Höhlen, Tunnels und unterirdischen Gängen gab, die so alt waren, dass sich niemand mehr daran erinnerte. Es war ein Wunder, dass die Stadt nicht schon längst eingestürzt war.

Und wenn man bedachte, dass sie mitten auf einer Spannungslinie saß, würde das vielleicht eines Tages noch passieren.

Als sie durch das Fenster schlüpfte, durch das Brianna verschwunden war – die Polizisten waren kurzfristig abgelenkt gewesen, weil die drei Männer aus dem Café nach hinten in die Gasse gekommen waren und beim Anblick des Toten und von Jons Verletzungen sofort angefangen hatten zu würgen –, stellte sie fest, dass sie sich in einem dieser unterirdischen Gewölbe befand. Es erschien sich fast über den ganzen Block zu erstrecken, unterbrochen nur von Stützsäulen aus Metall und Metallkäfigen, in denen sich die Habseligkeiten irgendeines Bewohners von oben befanden.

Ein perfekter Aufenthaltsort für Vampire, da das einzige Licht ab und zu ein Sonnenstrahl war, der durch ein Fenster auf Straßenhöhe drang.

Obwohl es dunkel war, war es nicht schwer, Briannas Spur zu folgen. Der SuperStaker hatte sie so schwer verletzt, dass sie einen leichten Brandgeruch hinterlassen hatte.

Meena verlor jedoch schnell die Orientierung, während sie sich durch das riesige Labyrinth bewegte. Sie hörte – und spürte – die Subway ganz in der Nähe vorbeirumpeln, doch sie hatte keine Ahnung, unter welcher Straße sie sich gerade befand. Sie fröstelte und hatte Gänsehaut, aber da sie ihr Sweatshirt bei Jon gelassen hatte, konnte sie nichts dagegen tun.

Mit klopfendem Herzen zog sie den SuperStaker heraus. Was machte sie hier eigentlich? Was wollte sie mit Brianna machen, wenn sie sie fand? Sie verhören? Selbst wenn Brianna wusste, wer David und sie verwandelt hatte, dann würde Meena sie wahrscheinlich foltern müssen, um ihr die Antworten zu entlocken. Und letztendlich würde sie sie doch töten müssen.

Und Meena war sich nicht sicher, ob sie es aushalten würde, an diesem Wochenende ein weiteres Mitglied der Familie Delmonico zu töten, auch wenn es so wild war wie Brianna.

So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt, als sie den Arbeitsvertrag bei der Geheimen Garde unterschrieben hatte. Sie hatte gedacht, sie würde Leben retten und die Welt verbessern. Stattdessen erwiesen sich Menschen, die sie für ihre Freunde gehalten hatte, als Feinde, und die Menschen, die sie liebte, wurden verwundet oder verschwanden.

Und nichts, was sie sagte oder tat, änderte daran etwas. Es war fast das Gegenteil von dem, was die Frau in ihrem Traum dem kleinen Jungen versichert hatte. Es mochte ja tatsächlich so sein, dass alle Geschöpfe Gottes die Wahl zwischen Gut und Böse hatten, aber bis jetzt war Meena nur sehr wenigen begegnet, die sich für das Gute entschieden hatten …

Manchmal wünschte sie, sie würde das normale, langweilige Leben führen, das ihre Eltern sich immer für sie vorgestellt hatten, ein Leben, wie es Millionen anderer Menschen führten, die über ihrem Kopf herumliefen und das Straßenfest genossen.

Sie hatten keine prophetischen Träume (die anscheinend sowieso nicht so prophetisch zu sein schienen).

Sie adoptierten keine Hunde, die Vampire riechen konnten.

Sie verloren nicht ihre Jobs (zweimal sogar), weil der Typ, mit dem sie ausgingen, sich als Fürst der Finsternis entpuppte.

Sie lebten nicht in Wohnungen, die verwüstet wurden, ihre Freunde und Familien wurden nicht terrorisiert und ihre Leben zerstört, nur weil sie sich in den falschen Mann verliebt hatten.

Andererseits konnten sie aber auch nicht voraussagen, wie jemand sterben würde … eine ganz nützliche Fähigkeit eigentlich, wenn sie sie auch auf sich anwenden könnte.

Während sie nämlich um eine besonders dunkle Ecke schlich, fühlte sie plötzlich, dass sie in eine Falle lief. Beinahe konnte sie den Blick von jemandem auf sich spüren … und zwar mit einer Intensität, die ihr nur zu vertraut war.

Das konnte nur eines bedeuten.

Als sie plötzlich an der rechten Seite ein eiskalter Windstoß traf, brauchte sie noch nicht einmal den Kopf zu drehen. Sie wusste, wer es war.

»Lucien«, setzte sie an, »nicht …«

Sie hätte sich doch besser umgeschaut.

Das Letzte, was sie sah, bevor sie fest mit dem Kopf an etwas schlug, war Brianna Delmonicos blutverschmiertes Gesicht mit gefletschten Fangzähnen.