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Meena starrte auf die Stelle, wo eine Sekunde zuvor noch David gestanden hatte. Dann sah sie auf den Holzpflock, den sie in der einen Hand hielt, und auf das Handy in der anderen.

Sie warf Lucien einen Blick zu. Er stand nur ein paar Meter von ihr entfernt. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht ganz einordnen – zumindest hatte sie ihn noch nie so gesehen. Was drückte er aus? Alarm, sicher. Und Sorge um sie.

Allerdings war da auch noch etwas anderes. Was war das bloß? War es … Schmerz?

Aber das konnte doch nicht sein. Er war der Fürst der Finsternis. Er konnte gar keinen Schmerz empfinden.

Jedenfalls erzählten sie ihr das in der Geheimen Garde immer, vor allem Alaric Wulf.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er sie. »Es tut mir leid, er hat mich überrascht. Ich bin nicht … ich hätte es nicht zulassen dürfen.«

Sie öffnete den Mund, um zu antworten.

Doch bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie Geräusche  – Schritte, die rasch näher kamen.

Leute kamen. Aber wer? Sie hatte noch nicht einmal eine Nummer gewählt.

Und David war völlig lautlos implodiert.

Sie blinzelte in die Dunkelheit und versuchte, etwas zu erkennen. Doch die Straßenlaternen leuchteten nicht mehr und große Teile der Straße waren völlig finster. Das hatte sie nicht gewusst, als sie diesen Ort als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, und als sie hier angekommen war, hatte sie es nicht bemerkt.

Und jetzt fragte sie sich, ob jemand absichtlich die Lampen kaputtgemacht hatte, weil er wusste, dass sie kam.

»Meena«, sagte Lucien besorgt. Er hatte die Schritte auch gehört.

In ihrer neuen Position in der Geheimen Garde musste Meena häufig blitzschnell Entscheidungen treffen. Heute war sie zum ersten Mal im Einsatz, denn normalerweise galt sie als zu kostbar, um auch nur in die Nähe von Dämonenaktivitäten zu kommen. In ihrer Arbeitszeit war sie auf das Hauptquartier der Geheimen Garde beschränkt, wo sie vorhersagte, welcher ihrer Kollegen möglicherweise während eines Einsatzes in tödliche Gefahr geraten würde.

Wenn in Nordamerika nur wenige Dämonenaktivitäten stattfanden, verbrachte Meena ihre Tage damit, mit Einheiten in Übersee zu skypen … oder in den Online-Abteilungen der riesigen Vatikanischen Apostolischen Bibliothek zu recherchieren, zu der sie als Angestellte der Geheimen Garde, der militärischen Einheit des Vatikans, unbegrenzten Zugang hatte. Sie konnte sogar in deren geheime Archive eindringen, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, da sie die Möglichkeit haben musste, nach allem zu suchen, was ihnen im Kampf gegen paranormale Wesen helfen konnte.

Doch sie suchte natürlich nach etwas viel Persönlicherem, und kürzlich hatte sie geglaubt, es gefunden zu haben.

Jetzt schlug ihr das Herz bis zum Hals. Ihr war klar, dass sie schnell handeln musste, weil sonst die harte Arbeit der letzten sechs Monate umsonst gewesen wäre.

Sie steckte das Handy in die Tasche ihrer Strickjacke, in der sich bereits Davids Autoschlüssel befanden. Instinktiv ließ sie den Holzpflock fallen …

Aber bevor er auf dem Pflaster aufschlagen konnte, hatte Lucien ihn geschnappt. Er steckte ihn in die Tasche seines Jacketts.

»Lass uns gehen«, meinte er. Er legte ihr den Arm um die Schultern und drehte sie in Richtung der nächsten belebten Straße.

»Warum …« Aber dann dämmerte es ihr. »Oh, natürlich«, sagte sie. Sie hatte schon früher Vampire getötet, aber noch nie so. »Er ist ein Beweis. Meine Fingerabdrücke befinden sich darauf.« Doch es gab keine Leiche. Sie würde sich nie an all das gewöhnen.

Sie ging neben Lucien her, und ihre Panik wuchs, als die Schritte hinter ihnen ebenfalls schneller zu werden schienen. Wer konnte das bloß sein? Bestimmt nicht die Geheime Garde, schließlich hatte sie sie nicht gerufen … Allerdings hatte ihr Handy ein eingebautes GPS. Aber wer mochte sie informiert haben? Doch bestimmt nicht die Polizei, sonst hätte sie ja Sirenen hören müssen …

»Es ist in Ordnung«, sagte Lucien gerade. Auch er schien sich Sorgen wegen der Schritte zu machen. Sie sah, dass er sich mehrmals umschaute.

Er besaß Kräfte und Macht, die die Geheime Garde höher einschätzte als die jedes anderen paranormalen Wesens. Sie selbst hatte erlebt, wie er Dinge getan hatte, zu denen ein Lebewesen nicht fähig war. Unter anderem konnte er sich in eine Kreatur verwandeln, die zwölfmal so groß war wie ein normaler Mann. Und Feuer spuckte. Noch vor einer Viertelstunde hatte er die verschlossene Tür eines Volvo-Kombis herausgerissen und einen Mann so hoch in die Luft geschleudert, dass er erst Sekunden später wieder heruntergekommen war.

Aber vielleicht hatte ihn das auch Kraft gekostet, zumal David ihm ja auch einen Schwinger versetzt hatte, denn aus irgendeinem Grund packte er sie jetzt nicht, um mit ihr davonzufliegen. Dabei wusste sie ganz genau, dass er das konnte. Er beschleunigte noch nicht einmal seine Schritte, obwohl sie ihm anmerkte, dass er es eilig hatte, von hier wegzukommen.

Was war nur los mit ihm?, fragte sie sich. Er wirkte beinahe …

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich und legte den Arm um ihn. »Hier, stütz dich auf mich.«

»Meena«, knurrte er, »mir geht es gut.«

»Selbstverständlich«, erwiderte sie. »Uns beiden geht es gut.«

Damit konnte sie noch nicht einmal sich selbst überzeugen.

Sie bogen in eine heller erleuchtete, wesentlich belebtere Straße ein. Paare führten ihre Hunde spazieren, und an den Ampeln warteten Familien darauf, dass es Grün wurde, damit sie die Straße überqueren konnten. Alle wollten zum San-Gennaro-Straßenfest, das gerade eben in Little Italy, ein paar Blocks entfernt, angefangen hatte. Alle lachten und genossen den warmen Spätsommerabend.

Niemand achtete auch nur im Geringsten auf den Mann, der den Arm um das Mädchen mit dem weißen Taschentuch um den Hals gelegt hatte. Niemand schien zu bemerken, dass sie unter dem Jackett den Arm um seine Taille geschlungen hatte oder dass sie wahrscheinlich verfolgt wurden.

»Sind sie immer noch hinter uns?«, fragte er angespannt.

Meena warf einen Blick über die Schulter.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich konnte sie nicht gut sehen. Du?«

Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich haben sie denjenigen hinter uns her geschickt, der deinen Freund verwandelt hat.«

»Dann …«, sagte sie und schaute auf die lächelnden Leute, die den ersten Abend des Wochenendes genossen. »Vampire.«

Es war kaum zu glauben, dass an einem so schönen, warmen Abend etwas so Böses existierte.

Aber sie hatte gerade einen getötet. Und ihr Arm lag um die Taille eines anderen.

»Es ist keiner aus meinem Clan«, erklärte er. »Deine Freunde in deinem neuen Job haben ganze Arbeit geleistet, um fast alle auszulöschen.«

»Du hast zu David gesagt, du herrschst über alle Dämonen auf dieser Seite der Hölle«, sagte Meena, ohne auf seine sarkastische Bemerkung einzugehen. »Wieso kann dann einer von ihnen so etwas tun, ohne dass du davon weißt?«

Luciens dunkle Augen blitzten bedrohlich.

»Ich war in der letzten Zeit … nicht so verfügbar«, entgegnete er.

Sie war sich nicht sicher, ob er so barsch antwortete, weil sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Sie standen nämlich mittlerweile an einer Kreuzung, und die rote Ampel hinderte sie daran, die Straße zu überqueren. Ein Bus dröhnte vorbei, gefolgt von einem Dutzend Taxis.

Sie spürte Luciens Anspannung. Aufmerksam blickte er sich um.

Meena bemerkte zum ersten Mal die bläulichen Schatten unter seinen dunklen Augen, die jetzt in der hellen Beleuchtung der belebten Straße viel deutlicher hervortraten.

Sie war sich nicht ganz sicher, was es für einen Vampir bedeutete, wenn er Schatten unter den Augen hatte. Dieses Thema war während ihrer Ausbildung bei der Geheimen Garde nie erwähnt worden.

»Lucien, geht es dir wirklich gut?«, fragte sie. »Ich meine … bist du krank oder so?«

Er warf ihr einen gekränkten Blick zu. »Ich habe dir doch gesagt, dass es mir gut geht«, erwiderte er.

»Na ja«, sagte Meena, »ich meine ja nur. Du kommst mir so verändert vor … nicht böse oder so«, fügte sie hastig hinzu.

»Wie schade«, antwortete er. »Und dabei bemühe ich mich so sehr, böse zu sein.«

Er lächelte sie an. Und sie wünschte sofort, er hätte es nicht getan.

Denn Lucien Antonescus Lächeln rief Reaktionen bei ihr hervor, die ein Mädchen, das für eine Organisation arbeitete, die Vampire vernichtete, besser nicht verspüren sollte.

Aber es gab immer noch etwas Menschliches in ihm. Oder vielleicht sogar etwas, das besser war als menschlich.

»Darüber solltest du keine Witze machen«, sagte sie und schob sich nervös die Haare aus der Stirn. »Ich habe es ernst gemeint, als ich eben gesagt habe, dass ich glaube …«

In diesem Moment prallte ein Junge – der in einer Gruppe von Schulfreunden über den Bürgersteig schlenderte – gegen Meena, als ob er sie überhaupt nicht gesehen hätte.

»Uff«, sagte Meena. Lucien zog sie schützend an sich.

Der Junge taumelte und fiel hin. »Was zum Teufel?«, beschwerte er sich gutmütig, als seine Freunde ihn auslachten. Anscheinend hatte er sich nicht wehgetan, er war wohl nur ein wenig betrunken.

»Oh, Entschuldigung«, sagte Meena zu ihm, obwohl ja er in sie hineingerannt war.

Der Junge antwortete nichts, sondern ließ sich lachend von seinen Freunden auf die Beine helfen. Lucien zog Meena rasch weg von der Gruppe, und sie gingen weiter den belebten Bürgersteig entlang.

»Das war merkwürdig«, sagte Meena. »Er scheint mich überhaupt nicht gesehen zu haben.«

»Er konnte dich auch nicht sehen«, erwiderte Lucien.

»Er konnte mich nicht sehen?« Erschreckt blickte Meena ihn an. »Wie meinst du das? Wieso konnte er mich nicht sehen?«

»Im Moment kann uns niemand sehen«, erklärte Lucien mit ausdrucksloser Miene. »Wir befinden uns unter einer Schutzhaube. Leider kann ich sie nicht lange aufrechterhalten, aber es sollte reichen, bis ich dich zu deiner Wohnung gebracht habe. Dort müsstest du sicher sein, wenn du die üblichen Sicherheitsmaßnahmen gegen unerwünschten Dämonenbesuch getroffen hast.«

Eine Mischung verschiedenster Emotionen überflutete sie. Und auf einmal merkte sie, dass sie gerade in ihre Straße einbogen.

»Lucien«, sagte sie und blieb abrupt stehen, »woher weißt du, wo ich wohne?«

Sie war so vorsichtig gewesen. Nachdem seine Untertanen ihre Wohnung verwüstet hatten, war sie in das Pfarrhaus der Kirche der heiligen Klara gezogen, und sie war so vorsichtig gewesen, als sie von dort in ihre neue Wohnung gegangen war. Ihre Post wurde an ein Postfach geschickt, sie hatte ihren alten Handyvertrag gekündigt, ihre Mitgliedschaft im Fitness-Studio, ja, sogar ihren Bibliotheksausweis abgegeben. Sie hatte ihre alte Wohnung verkauft und teilte sich nun eine Wohnung zur Untermiete mit ihrem Bruder. Sogar die Fernsehrechnung lief auf den Namen des ursprünglichen Eigentümers.

Woher konnte er es also wissen?

Andererseits … wieso nicht?

Es machte ihr keine Angst, jedenfalls nicht so viel Angst, wie sie gerade noch gehabt hatte. Und um ihr Leben fürchtete sie auch nicht. Sie brauchte nur einen Knopf zu drücken, und innerhalb weniger Minuten würde die gesamte Manhattan-Einheit der Geheimen Garde bei ihr sein.

Allerdings konnte sie in dieser Zeit natürlich schon längst tot sein.

Aber auch vor dem Sterben hatte sie keine große Angst mehr. Nicht mehr.

»Meena«, sagte er ernst, »was du darüber gesagt hast, dass ich mich verändert habe …«

Es kostete ihn offensichtlich Mühe, die Worte auszusprechen. Und jetzt wurde ihr auch klar, was sie vorher in seinem Gesichtsausdruck nicht identifizieren konnte. Es war tatsächlich Schmerz. Er hatte sich tief unter seinen Augen eingegraben.

»Das ist vermutlich Teil meines Problems«, erklärte er.

Verwirrt legte sie den Kopf schräg.

»Was?«, fragte sie.

Taumelnd trat er einen Schritt auf sie zu. Aber er war nicht betrunken wie der Junge, der sie angerempelt hatte. Sein Körper lehnte sich schwer gegen ihren.

»Trotz deiner Entscheidung im letzten Frühjahr«, flüsterte er, »sind meine Gefühle für dich unverändert. Ich liebe dich noch so wie eh und je.«