5

Alles war eine Katastrophe.

An einem einzigen Abend hatte Meena nicht nur ihren Exfreund erschlagen, der sich als Vampir entpuppt hatte, sondern sie lag auch noch mit einem im Bett.

Sie konnte sich kaum vorstellen, was denn noch Schlimmeres passieren könnte, es sei denn, ihr Bruder käme überraschend herein, fände Lucien Antonescu in ihrem Bett und würde Alaric Wulf rufen, der zweifellos mit Rauchgranaten und Tränengas einen militärischen Angriff in ihrer Wohnung inszenieren würde.

Doch sie hatte bereits mit Jon telefoniert und erfahren, dass er wie immer freitagabends in der Beanery arbeitete, wo er als Barista angestellt war. Vor elf würde er nicht nach Hause kommen.

Meena hatte noch genau eine Stunde Zeit, um Lucien aus der Wohnung zu entfernen.

Die Frage war nur, wie sie das tun sollte.

Sie hatte keine Ahnung, was mit Lucien los war. Seine Erklärung, dass er sie immer noch liebte, hatte die Dinge nicht besser gemacht. Dadurch schien er nur noch schwächer geworden zu sein, und sie musste ihn die letzten Schritte bis zu ihrem Haus stützen.

Eigentlich hatte sie ihn nicht mit hineinnehmen wollen. Allerdings kam er ihr so krank vor, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte ihn doch nicht einfach draußen lassen, auch wenn er sie darum bat.

Aber das war ja lächerlich. Er hatte schon zugegeben, so schwach zu sein, und er konnte die Tarnkappe, oder was immer es für ein Zauber war, nicht aufrechterhalten. Und schutzlos würde sie ihn ganz bestimmt nicht zurücklassen. Sie machte sich nicht nur Sorgen, wer – oder was – ihnen gefolgt war, sondern auch, wer ihm möglicherweise zufällig begegnen konnte. Alaric Wulf zum Beispiel. Er wohnte zwar in einer völlig anderen Gegend, doch sie wollte kein Risiko eingehen.

Zum Glück gab es in ihrem Gebäude einen Aufzug. Obwohl er uralt war, kaum Raum für zwei Personen und einen Wäschekorb bot und so langsam war, dass es normalerweise einfacher war, die Treppe hinaufzugehen, konnte sie Lucien damit jetzt sicher zu ihrem Stockwerk befördern.

Dort allerdings wurden die Dinge komplizierter. Sie hatte sich so daran gewöhnt, dass sie ganz vergessen hatte, welche Anstrengungen die Geheime Garde unternommen hatte, um die Wohnung vor Vampiren zu schützen. Über jedem Fenster und jeder Tür hing ein Kruzifix. Knoblauchstränge baumelten über ihrem Bett. Bruder Bernard, der Pfarrer der Kirche der heiligen Klara, hatte den Ort gesegnet, als sie eingezogen war, und in jede Ecke Weihwasser gesprenkelt. Schwester Gertrude war kürzlich erst mit geweihten Kerzen vorbeigekommen.

Lucien hatte aufgestöhnt, als sie die Wohnung betreten hatten.

»So schlimm ist es ja nun auch nicht«, hatte Meena gesagt.

»Das sagst du«, war seine Antwort gewesen.

Aber dann war da auch noch ihr Hund. Noch bevor sie gewusst hatte, dass es Vampire gab, hatte Meena bereits eine geheime Waffe im Kampf gegen die Dämonen besessen. Irgendwie hatte sie gerade den Zwergspitzmischling aus dem Tierheim in Manhattan erwischt, der besonders empfindlich auf den Geruch der Untoten reagierte. Oder vielleicht hatte der Hund sich auch für sie entschieden. Einer von ihnen hatte jedenfalls den anderen ausgesucht, weil er vielleicht eine dumpfe Ahnung hatte, was in der Zukunft passieren würde.

Jack Bauer – er hieß so, da sein Angstlevel nur noch von seiner Entschlossenheit, die Welt von allem Bösen zu befreien, übertroffen wurde – sprang sofort aus seinem Körbchen, als Lucien die Wohnung betrat, fletschte die Zähne und begann zu knurren, als ob sich vor ihm im Wohnzimmer die Apokalypse abspielen würde.

Deshalb musste Meena ihn im Badezimmer einschließen. Sie versorgte ihn mit seinem Wassernapf und seinem Lieblingskauspielzeug, aber er begann trotzdem sofort zu winseln, weil er den ganzen Spaß verpasste.

Als sie ins Schlafzimmer kam, wohin Lucien sich vor dem kleinen Hund geflüchtet hatte, sah sie, dass er auf ihrer hellblauen Steppdecke zusammengebrochen war. Er hatte einen Arm über die Augen gelegt, um sich vor dem Knoblauch an der Decke zu schützen. Die restlichen Wände  – ebenfalls hellblau – waren leer, da Meena so viel zu tun gehabt hatte, dass sie es bisher noch nicht geschafft hatte, die Wohnung richtig einzurichten.

Sie holte tief Luft und sank neben ihm auf das Bett. Der weite rote Rock ihres Kleides, der nach dem Gerangel mit David ein wenig zerknittert war, legte sich auf sie beide.

»Lucien, du musst es mir sagen. Was ist los?«, fragte sie. »Bist du verletzt? Brauchst du etwas?«

Das war eine blöde Frage, schließlich hatte sie keine Blutvorräte in der Wohnung herumliegen. Und ihren eigenen Hals wollte sie ihm nicht anbieten.

Aber sie hatte auch nicht die leiseste Ahnung, was sie sonst sagen sollte.

»Ich glaube nicht«, antwortete er und nahm den Arm von den Augen. Seine dunklen Augen senkten sich in ihre, und er lächelte sein herzzerreißendes Lächeln. »Dir wieder so nahe zu sein ist schon genug. Für den Augenblick jedenfalls. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich in meinen schwächeren Momenten frage, ob es so klug ist, eine Frau zu lieben, die bei einer Organisation arbeitet, die entschlossen ist, meine Leute zu vernichten. Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich dich lieber nicht lieben.«

Meena stockte der Atem. Sie hatte vergessen, wie es war, wenn ein Mann zu ihr sagte, dass er sie liebte.

Oh, klar, gelegentlich deuteten Männer an, dass sie mit ihr schlafen wollten. Und manchmal – wie bei David – schien sogar eine Beziehung daraus zu werden.

Aber letztendlich war es dann doch nicht so. Man brauchte ja bloß an ihre Beziehung mit Alaric Wulf zu denken. Er hatte sie – leidenschaftlich – ein einziges Mal geküsst.

Allerdings war er damals auch vom Blutverlust halb bewusstlos gewesen. Seitdem hatte er es nie wieder versucht. Er war sogar in der letzten Zeit ziemlich reserviert gewesen, wenn man einmal davon absah, dass er sie zum Abendessen eingeladen hatte, in seiner Wohnung.

Das war so eine offensichtliche Aufforderung zu unverbindlichem Sex, dass Meena beleidigt gewesen war. Sie hatte geglaubt, ihm ein bisschen mehr zu bedeuten. Das konnte er doch von jedem dummen Mädchen bekommen, das er irgendwo in einem Nachtclub in Manhattan kennenlernte. Wenn er sich nicht mehr anstrengte, um ihr zu zeigen, dass sie ihm etwas bedeutete, dann würde sie sich gar nicht mit ihm abgeben.

Andererseits hatte Alaric Wulf sich mehr oder weniger selber großgezogen. Es war also möglich, dass er es einfach nicht besser gewusst hatte. Aus diesem Grund hatte sie die Einladung nur höflich abgelehnt, anstatt ihm zu sagen, er solle zur Hölle fahren.

Doch mit Lucien war alles anders. Lucien hatte von Anfang an von Liebe geredet.

Klar, er hatte keine Seele. Und er war fünfhundert Jahre alt und der Sohn des größten Serienkillers aller Zeiten, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, um Unsterblichkeit zu erlangen und deshalb menschliches Blut brauchte, um leben zu können.

Und natürlich, ihre Beziehung war in Rekordzeit zu einer absoluten Katastrophe geworden, weil er nicht aufgehört hatte, sie zu beißen. Und dann hatten sich auch noch die anderen Mitglieder seiner Familie über sie hergemacht. Und jetzt schienen Vampire auf der ganzen Welt Meenas Blut für einen Erfrischungsdrink zu halten.

Aber trotzdem. Er hatte nie aufgehört, sie zu lieben.

»Ich glaube wirklich nicht«, sagte Meena, der bewusst war, dass die Beleuchtung im Zimmer viel zu gedämpft war – man konnte sie fast schon als romantisch bezeichnen  –, weil nur die kleine Nachttischlampe brannte, »dass dies die richtige Zeit oder der richtige Ort ist, um darüber zu sprechen.« Obwohl sie am liebsten immer weiter darüber sprechen würde. »Mit dir stimmt offensichtlich etwas nicht, und du solltest es mir sagen, damit ich versuchen kann, dir zu helfen.«

Doch Lucien schüttelte nur den Kopf.

»Ich habe dir ja gesagt, dass ich dich bis ans Ende aller Zeiten lieben werde«, versicherte er ihr und zog seine unwiderstehlichen Mundwinkel hoch. Allerdings wohl nicht, weil er die Situation für komisch hielt, sondern mehr aus Traurigkeit … aber auf eine amüsierte Art. »Und jemand, der wahrscheinlich so lange leben wird, sagt so etwas nicht leichtfertig. Ich liebe dich seit dieser schrecklichen Dinnerparty in der Wohnung meines Cousins. Danach sind wir ins Metropolitan Museum of Art gegangen, und du hast mir dein Lieblingsgemälde gezeigt, das von Jeanne d’Arc. Jetzt, mit dieser Frisur, siehst du noch mehr so aus wie sie. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, was das für eine Farbe sein soll …«

Instinktiv zupfte Meena an einer ihrer Haarlocken. Ihre beste Freundin Leisha, die bestbezahlte Stylistin im N.M.T. (nur mit Termin) Salon, hatte ihr erlaubt, ihren Pixie-Schnitt herauswachsen zu lassen, aber nur unter der Bedingung, dass sie dann mit Farbe experimentieren dürfte. Meena hatte nun jeden Monat eine andere Haarfarbe.

Aber darunter war sie immer noch dieselbe Person, die sie an dem Tag gewesen war, als sie Lucien kennengelernt hatte.

Und sie wusste, dass außer ihr niemand glaubte, dass er sich verändert haben könnte.

Niemand außer ihr, weil sie immer hinter seine Fassade geblickt hatte.

»Du bist ganz anders als die anderen Frauen, die ich kenne«, sagte er gerade und blickte sie aufmerksam an. »Ich habe es anfangs nicht geglaubt, aber du schienst es wirklich ernst zu meinen, als du sagtest, du wolltest die Menschheit vor Geschöpfen wie mir retten, und nichts würde dich daran hindern. Und du hattest recht. Du bist wundervoll. Das weißt du, nicht wahr?«

Wundervoll? Sie war wundervoll? Nie zuvor hatte sie jemand als wundervoll bezeichnet. Merkwürdig, ja. Ein bisschen bescheuert, oft. Verrückt, viele Male.

Aber wundervoll nie. Sie konnte es kaum glauben. Und Lucien erinnerte sich sogar an ihr Gespräch im Metropolitan Museum of Art vor dem Gemälde von Jeanne d’Arc, ihrem Lieblingsbild, weil Johanna von Orléans Voraussagen machte, die zuerst niemand glaubte. Bald jedoch überzeugte sie so viele Leute von der Wahrheit, dass sie eine Audienz beim König bekam und schließlich sogar ihre eigene Armee.

Und doch war dies wohl kaum ein Gespräch gewesen, an das sich jemand erinnern würde, der schon ein halbes Jahrtausend auf der Welt war.

Aber er hatte sich daran erinnert.

Anscheinend merkte Lucien, dass seine Enthüllung sie sprachlos gemacht hatte, und legte seine Hand über ihre.

»Du hast allen Grund, mich zu verachten«, sagte er mit wehmütigem Lächeln. »Du hast ja schon darauf hingewiesen, dass ich dein Leben – und das Leben aller Menschen, die du liebst – nicht nur in Gefahr gebracht, sondern tatsächlich ruiniert habe. Es vergeht kein Augenblick, in dem ich mir dieser Tatsache nicht bewusst bin. Ich wünsche mir so sehr, ich könnte das alles rückgängig machen, könnte die Leben wieder zurückbringen, die mein Vater und mein Halbbruder genommen haben, bevor sie endlich aufgehalten wurden. Und ich will dich auf keinen Fall erneut in Gefahr bringen. Aber ich habe das Gefühl, das ist bereits geschehen. Deshalb möchte ich die Chance nutzen, um dir zu sagen, was ich empfinde …« Er umschloss ihre Hand fester. »Meine Gefühle für dich werden sich nie ändern, ich erwarte aber nicht von dir, dass du ebenso empfindest. Und ich habe auch nicht die Hoffnung, dass sich etwas ändern wird.«

»Lucien …«

Am liebsten hätte sie sich ihm in die Arme geworfen und begonnen, ihn wild zu küssen.

Am liebsten hätte sie »Ich liebe dich auch« gesagt und die ganze Vampirgeschichte vergessen – die Tatsache, dass er tot war, dass sie lebte und Familie und Freunde hatte, Leute, für die sie verantwortlich war.

Doch sie konnte es nicht.

Denn wenn man seine Schwäche bedachte – und ihre Träume in der letzten Zeit –, dann war es unabdingbar wichtig, dass wenigstens einer von ihnen einen kühlen Kopf bewahrte.

»Lucien«, sagte sie noch einmal, »erinnerst du dich noch daran, wie du mir an jenem Abend im Metropolitan Museum of Art den Holzschnitt von dem Schloss gezeigt hast, in dem du aufgewachsen bist, und mir von deiner Mutter erzählt hast?«

»Ja, ich erinnere mich«, erwiderte er und zuckte leicht zusammen. »Aber ich halte es für keine besonders gute Idee, in einem solchen Augenblick die Mutter eines Mannes zu erwähnen, Meena …«

»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber es geht nicht anders. Du hast mir gesagt, sie sei die erste Frau deines Vaters gewesen, sie sei sehr schön und unschuldig gewesen und er habe sie sehr geliebt. Und nach ihrem Tod haben die Leute geflüstert, sie sei jetzt bestimmt ein Engel …«

Er entzog ihr seine Hand und setzte sich auf.

»Und für Engel ist jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt«, erklärte er. Er warf einen Blick auf das Fenster, das mit Brettern vernagelt war, auf denen das größte Kruzifix im Raum hing. »Allerdings kann ich verstehen, dass es schwierig für dich ist, hier nicht daran zu denken.«

»Lucien, du musst mir zuhören«, drängte Meena. »Ich habe ständig diesen Traum, jede Nacht denselben. Und ich glaube, es geht um dich und deine Mutter. Ich weiß nicht, wer es sonst sein könnte. Er findet statt in diesem Schloss, das auf dem Holzschnitt dargestellt ist. Ich habe im Internet recherchiert, wo du aufgewachsen bist – Schloss Poenari  –, und es sieht genauso aus. Im Traum sitzt diese Frau auf einem Sitz am Fenster und liest einem kleinen Jungen aus einem Buch vor. Der kleine Junge sieht genauso aus wie du, und die Frau auch. Sie hat lange schwarze Haare, große dunkle Augen und trägt ein blaues Kleid …«

»Ich verstehe nicht, warum du mir das erzählst«, unterbrach Lucien sie barsch. »Du hast also diesen Traum. Ja, und? Ich dachte, du besitzt die Gabe, in die Zukunft zu schauen, nicht in die Vergangenheit.«

»Das stimmt ja auch«, entgegnete Meena verletzt. »Ich meine, es ist immer so gewesen. Aber in der letzten Zeit, ich weiß nicht, da verändert es sich. Es wird stärker oder so. In diesem Traum nämlich liest die Frau dem kleinen Jungen – der wahrscheinlich du bist – aus einem Buch vor, in dem es um Gut und Böse geht. Ich weiß nicht, wieso ich verstehen kann, was sie sagt, weil sie in einer Sprache spricht, die ich noch nie zuvor gehört habe. Sie redet davon, dass niemand vollkommen gut oder vollkommen böse ist und dass alle Geschöpfe Gottes – das betont sie extra noch einmal, alle Geschöpfe – die Fähigkeit haben zu wählen. Das Böse kann ohne das Gute nicht existieren, und selbst manche von Gottes Engeln …«

Lucien erhob sich. Anscheinend wollte er von ihr weg.

Aber es gelang ihm nicht, denn was auch immer mit ihm los war, hinderte ihn daran und warf ihn wieder aufs Bett. Er sank auf die Matratze, raufte sich die Haare und fluchte.

»Lucien« – Meena krabbelte auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter –, »was ist los? Was ist mit dir los?«

»Nichts«, stieß er überraschend heftig hervor.

Meena ließ die Hand sinken. Jetzt bekam sie erst richtig Angst.

Vor ihm.

Was hatte sie getan? Was hatte sie gesagt? Sie hatte gedacht, er würde sich über ihren Traum freuen. Es war ja kein trauriger Traum. Sie fand ihn hoffnungsvoll … auch wenn in der Geheimen Garde niemand ihre Meinung teilte, dass Dämonen die Fähigkeit zum Gutsein in sich trugen.

Aber sie hatte widersprochen, vor allem Alaric Wulf, der fast das Zimmer verließ, wann immer sie ihren Traum erwähnte. Es bedeutete doch zumindest, hatte sie gemeint, dass Lucien Antonescu eine Mutter gehabt hatte, die ihn geliebt und ihm beigebracht hatte, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden … zumindest bis sie im Fluss, der an Schloss Poenari vorbeifloss, Selbstmord begangen hatte. Der Fluss wurde danach Prinzessinnenfluss genannt.

Vielleicht war es ja diese schmerzliche Erinnerung an seine Mutter, die Lucien nun veranlasste, sie plötzlich an beiden Schultern zu packen und sie grob an sich zu ziehen.

Er wirkte auf einmal überhaupt nicht mehr schwach. Davon zumindest hatten ihn Meenas Worte wohl befreit.

»Was ist los?«, schrie sie ihn an. »Was ist los?«

Er schwieg. Er blickte sie nur an, und seine dunklen Augen verschlangen sie mit einem Hunger, den sie nicht begreifen konnte. An seinem Kinn zuckte ein Muskel. Es kam ihr so vor, als versuche er sich zu beherrschen, doch es gelang ihm nicht ganz. Angstvoll fragte sie sich, was ihn wohl bedrückte. Ob sie besser ihr Handy holte, das im Nebenzimmer lag?

Aber bevor sie auch nur die Chance dazu hatte, senkten sich seine Lippen auf ihre.

Und dann spielte auf einmal nichts mehr eine Rolle. Nur noch seine Bartstoppeln, die leicht über ihre Haut kratzten, und seine Arme, die sie so vorsichtig umschlangen, als ob er Angst hätte, sie könne zerbrechen, wenn er sie so fest an sich ziehen würde, wie er eigentlich wollte …

… und dann wurde der Kuss drängender und tiefer, und er zog sie an sein totes Herz, als ihm klar wurde, dass sie nicht unter seinem Griff zerbröselte.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals, und seine Lippen und seine Zunge lösten Gefühle in ihr aus, die sie nur bei ihm empfand.

Es konnte natürlich nicht von Dauer sein.

Schon Sekunden später löste er sich von ihr – riss sich buchstäblich von ihr los. Sie öffnete die Augen und musste sich abstützen, um nicht vom Bett zu fallen, als seine Arme sie nicht mehr hielten. Er war nämlich plötzlich verschwunden.

Sie war so erschüttert über das abrupte Ende des Kusses, dass sie ihn am liebsten wieder an sich gezogen hätte. Was dachte er sich bloß?

Doch dann sah sie, dass er in einer dunklen Zimmerecke stand und sie anstarrte. Seine Augen waren nicht mehr dunkel, sondern leuchteten unheimlich rot …

So rot, wie sie immer wurden, wenn er wütend war.

Oder hungrig.

O Gott.

Sie starrte ihn an. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wovon er dieser Tage lebte. Aber als sie jetzt in seine roten Augen blickte, konnte sie an nichts anderes denken.

»Die Geheime Garde hat deine gesamten Konten eingefroren«, sagte sie leise.

»Ja, jedenfalls die, die sie zurückverfolgen konnten, weil sie unter meinem früheren Namen liefen«, erwiderte er. Seine Stimme klang wie flüssiger Rauch und legte sich heiß um sie.

»Aber es ist bestimmt schwierig, unter solchen Bedingungen Menschenblut zu bekommen«, entgegnete Meena zitternd. Sie hatte das Gefühl, in kühlem, dichtem Nebel zu sitzen. Während sie auf seine Antwort wartete, zog sie die Bettdecke an sich.

»Machst du dir Sorgen, dass ich nicht genug zu essen habe, Meena?« Sein Tonfall klang spöttisch. »Oder eher, dass ich morden muss, um an meine Mahlzeiten zu kommen? Ich kann dich beruhigen.« Er griff in seine Jackentasche. »Hier.« Er warf etwas auf das Bett, und sie griff instinktiv danach.

Es war der Holzpflock, mit dem sie David getötet hatte.

»Du hast meine Erlaubnis, mich zu töten, wenn ich jemals wieder versuchen sollte, dich zu beißen«, sagte er. »Gegen deinen Willen jedenfalls. Ich will doch hoffen, dass ich noch Manns genug bin, um dich nie wieder zu verletzen. Aber sollte der Fall jemals eintreten … nun, heute Abend hast du ausreichend bewiesen, dass du weißt, wie du damit umgehen musst.«

Meena starrte auf das Stuhlbein. Sie schluckte ein paar Mal, bevor ihre Stimme ihr wieder gehorchte.

»Lucien«, sagte sie, »ich habe dir vor sechs Monaten gesagt, dass ich dich niemals verletzen will. Ich werde immer alles in meiner Macht Stehende tun, um zu versuchen, dir zu helfen … auch wenn du es nicht willst. Deshalb habe ich dir von dem Traum erzählt. Ich glaube, ich kann beweisen …«

Er trat aus den Schatten. Seine Augen hatten wieder ihre normale Farbe, doch über sein Gesicht huschten zahllose unterschiedliche Emotionen.

»Du weißt, was ich von dir will, Meena«, entgegnete er rau. »Sobald du bereit bist, es mir zu geben – und zugeben kannst, dass auch du es willst –, komm zu mir. Du brauchst nicht weit zu gehen. Ich werde in deiner Nähe sein. Das war ich immer.«

Damit öffnete er die Schlafzimmertür und ging hinaus. Eine Sekunde später hörte sie die Wohnungstür zuschlagen.