7

Meena erwachte vom Schrillen ihres Handys und blickte auf den Digitalwecker neben ihrem Bett. Es war erst sechs Uhr morgens. Vor acht Uhr brauchte sie nicht aufzustehen, weil sie so nahe an ihrem Arbeitsplatz wohnte. Es musste schon etwas passiert sein, damit jemand so früh anrief.

Es war in der Tat etwas passiert. Das wusste sie in der Minute, in der sie nach ihrem Handy griff und die Vorwahl von New Jersey sah.

Meena kannte niemanden mehr, der in New Jersey lebte. Ihre Eltern waren nach Florida gezogen.

Ihr blieb beinahe das Herz stehen.

»Wer zum Teufel ist das?«, fragte ihr Bruder. Er kam mit nacktem Oberkörper aus seinem Zimmer geschlurft und stand schläfrig blinzelnd in der Tür. Auch Jack Bauer war aus seinem Körbchen in der Ecke gekrabbelt und hüpfte um ihr Bett herum, da er dachte, es sei schon Zeit, um aufzustehen.

»Arbeit«, log sie. »Kannst du mal eben mit Jack rausgehen?«

»Ach, zum Teufel«, sagte Jonathan gutmütig. »Na komm, Jack.« Er verschwand, um seine Schuhe anzuziehen und die Hundeleine zu holen.

Meena ging ans Telefon.

»Hallo«, meldete sich eine Frauenstimme. Sie klang vertraut, war jedoch älter und zittriger, als Meena erwartet hatte. »Mein Name ist Olivia Delmonico. Mit wem spreche ich?«

Meena hatte sich schon gedacht, dass sie letztendlich von der Frau in Davids Leben hören würde.

Aber nicht von dieser.

»Äh«, sagte sie. Sie war nicht bereit. Sie …

»Hallo«, rief Mrs Delmonico. »Ist da jemand?«

»Ja«, antwortete Meena. »Ja, Mrs Delmonico, ich bin es, Meena Harper.«

»Meena Harper?«

Mrs Delmonico stieß die Worte voller Abscheu hervor. Davids Eltern hatten Meena nie leiden können. Obwohl sie es nie offen zugegeben hatten, hatte Meena immer das Gefühl gehabt, sie missbilligten es, dass ihr Sohn nach dem College mit ihr zusammengezogen war, und nicht nur, weil sie als unverheiratetes Paar zusammenlebten, sondern …

Na ja, sie hatten Meena einfach nicht gemocht. Vielleicht waren sie ja der Meinung gewesen, eine Drehbuchautorin sei nicht gut genug für ihren ehrgeizigen Sohn.

Aber vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass Meena bei ihrem ersten gemeinsamen Abendessen, mit dem sie Davids Examen als Zahnarzt gefeiert hatten, erwähnt hatte, dass Mr Delmonico für sie keinen Wein zu bestellen brauchte, da er ja sowieso Probleme damit hätte.

Es stellte sich heraus, dass David keine Ahnung von den Alkoholproblemen seines Vaters gehabt hatte, jedenfalls nicht bis zu diesem Abend, als sie sie ausposaunt hatte.

Ups.

»Nun«, meinte Mrs Delmonico, »das ist … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe deine Nummer gerade auf einem Notizblock neben Davids Küchentelefon gefunden. Mir war nicht klar, dass ihr noch … Kontakt zueinander habt.«

»Oh.« Meenas Gedanken überschlugen sich. »Das. Nun, wissen Sie, ich bin kürzlich aus unserer alten Wohnung ausgezogen, und da ich immer noch ein paar alte Kisten von ihm hatte, habe ich ihn angerufen, damit er sie abholt …«

»Oh ja«, erwiderte Mrs Delmonico kalt. »Natürlich. Nun, entschuldige bitte, dass ich so früh anrufe. Ich bin im Moment bei David und Brianna und gehe alle Nummern durch, um herauszufinden, ob jemand vielleicht von David gehört hat. Er ist gestern Abend nämlich nicht nach Hause gekommen.«

»Ach nein?« Meena bemühte sich, ehrlich überrascht zu klingen. »Das ist merkwürdig.«

»Ja, äußerst merkwürdig«, sagte Mrs Delmonico. »Es sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.« Und dann fragte sie mit kaum verhohlener Abneigung: »Du weißt wohl nicht zufällig, wo er ist, Meena?«

Vor Meenas geistigem Auge stieg ein Bild von Mrs Delmonico auf, die mit ihrer Perlenkette und ihrem Chanel-Kostüm in Davids und Briannas Haus saß – mit der offenen Küche und dem großen Wohnraum, der Garage, die Platz für drei Autos bot, und dem beheizten Swimmingpool. Tatsächlich jedoch war Meena noch nie in Davids Haus in Freewell, einem schicken Ort, etwa eine Fahrstunde von der Stadt entfernt, gewesen.

Aber irgendwie konnte sie sich Mrs Delmonico trotzdem darin vorstellen.

Am Tonfall der Frau hörte sie, dass Mrs Delmonico vermutete, ihr Sohn läge neben Meena im Bett.

In einem anderen Universum – in dem es Vampire und deshalb auch Lucien Antonescu nicht gab – wäre dies vielleicht sogar so gewesen. Denn dann wäre David nie gebissen worden, und Meena hätte vielleicht tatsächlich so wenig Selbstachtung gehabt, dass sie ihn mit zu sich nach Hause genommen hätte. Denn dann hätte sie nicht gewusst, dass es da draußen etwas Besseres für sie gab.

Aber in diesem Universum?

Niemals.

»Nein«, sagte Meena. »Ich weiß nicht, wo David ist.«

Das war noch nicht einmal eine Lüge. Sie wusste wirklich nicht, wo David war. Sie hoffte, er war im Himmel, aber wetten würde sie darauf nicht.

»Oh. Nun gut.« Mrs Delmonicos Stimme klang auf einmal niedergeschlagen. »Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll. Ich habe jede Nummer in diesem Adressbuch angerufen, und niemand hat von ihm gehört. Diese Nummer … sie war meine letzte Hoffnung. Sein Handy springt sofort auf die Mailbox, ebenso wie Briannas. David junior hat die ganze Nacht geweint. Er hat noch nie eine Nacht ohne seine Mutter und seinen Vater verbracht, und er ist einfach völlig aufgewühlt …«

Meena fuhr erschreckt auf. Ihr blieb fast das Herz stehen.

»Warten Sie«, sagte sie. »Heißt das, Sie wissen auch nicht, wo Davids Frau ist?«

»Ja«, antwortete Mrs Delmonico. Sie schluchzte jetzt. Meenas Bild von der Frau im Chanel-Kostüm mit Perlenkette löste sich auf. Nun hörte sie nur noch die Stimme einer Großmutter, die vor Angst außer sich war. »Niemand hat etwas von ihr gehört, seit sie gestern Abend ein Rezept einlösen wollte. Und das war um sechs Uhr. Ich habe in sämtlichen Krankenhäusern angerufen, aber es wurde niemand eingeliefert, auf den Davids oder Briannas Beschreibung passt …«

Meena sprang aus dem Bett. Das war nicht möglich. Sie hatte David doch getötet. Sie hatte ihn getötet. Brianna konnte doch nicht ebenfalls verschwunden sein. Meena hatte Brianna doch gerettet. Gestern Abend hatte sie sie gerettet.

»Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll«, fuhr Mrs Delmonico mit bebender Stimme fort. »Gerade eben hat jemand von der New Yorker Polizei angerufen. Sie haben Davids Auto in der Nähe von Little Italy gefunden – die Papiere lagen noch drin. Was wollte David dort? Er fährt doch sonst nie in die Stadt. Vielleicht haben Brianna und er sich ja spontan entschlossen, zum San-Gennaro-Straßenfest zu fahren. Aber warum haben sie mich dann nicht angerufen?«

»Mrs Delmonico«, entgegnete Meena. Ihre Kehle war auf einmal sehr trocken. »Hören Sie mir genau zu. Es ist sehr wichtig. Sind Sie gerade in Davids Haus?«

»Natürlich«, antwortete Mrs Delmonico. »Es muss ja jemand bei David junior bleiben. Mein Mann ist auch hier. Er spricht gerade auf der anderen Leitung mit dem Abschleppunternehmen, damit wir Davids Auto zurück …«

»Mrs Delmonico«, unterbrach Meena sie, »können Sie das Baby irgendwo hinbringen? Nur für kurze Zeit?«

»Nun, wahrscheinlich zu meiner Tochter.« Mrs Delmonico klang verwirrt. »Davids Schwester wohnt ein paar Kilometer von hier entfernt. Aber was hat Naomi damit zu tun? Ich habe schon mit ihr gesprochen, und sie hat auch nichts von David oder Brianna gehört …«

»Ich hielte es für das Beste, wenn Sie und Ihr Mann ein paar Sachen für das Baby zusammenpacken und es zu Naomi bringen würden. Auf der Stelle.«

»Aber der Polizeibeamte aus New York hat gesagt, wir sollten am Telefon sitzen bleiben und auf Davids Anruf warten. Wenn wir David oder Brianna offziell als vermisst melden wollten, dann könnten wir das auf der Polizeiwache in Freewell tun. Ich fand das ja ziemlich unfreundlich von ihm, schließlich hätte er die Anzeige auch aufnehmen können, da er mich sowieso gerade am Telefon hatte. Aber er meinte, das ginge nur in dem Bezirk, in dem wir wohnten.«

Meena holte tief Luft. Ihr wurde auf einmal klar, dass sie tatsächlich genauso verflucht war wie Cassandra.

Denn Cassandra – die arme, hellsichtige Cassandra, die die Liebe eines Gottes zurückgewiesen hatte – hatte sich mit Agamemnon eingelassen und war von seiner rachsüchtigen Frau Klytämnestra ermordet worden.

»Mrs Delmonico«, sagte sie. Ihr Mund war trocken wie Sandpapier. »Haben Sie denn schon Vermisstenanzeige erstattet?«

»Nein«, erwiderte Mrs Delmonico. »Der Polizeibeamte sagte, wir könnten es nur persönlich tun, und wir können ja das Baby nicht hier allein lassen …«

»Genau«, sagte Meena. »Bringen Sie das Baby bei Davids Schwester vorbei, und dann fahren Sie so schnell wie möglich zur Polizeiwache in Freewell. Haben Sie gehört, Mrs Delmonico? Es ist sehr wichtig, dass Sie David und Brianna sofort als vermisst melden.«

Mrs Delmonico klang äußerst überrascht. »Oh«, entgegnete sie, »das hat der Polizeibeamte nicht gesagt. Ich weiß gar nicht, ob Naomi überhaupt darauf eingerichtet ist, David junior zu sich zu nehmen. Sie hat ja die Drillinge, wissen Sie. Aber unter diesen Umständen ist es wahrscheinlich in Ordnung. Ich weiß bloß nicht, was wir mit Davids Auto machen sollen. Das Abschleppunternehmen macht noch Schwierigkeiten. Anscheinend will die Polizei den Wagen erst noch untersuchen oder so …«

»Wissen Sie was?«, sagte Meena mit leiser Verzweiflung. »Ich treffe Sie an der Polizeiwache in Freewell. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.«

Mrs Delmonicos Überraschung wuchs. »Helfen? Wie denn?«

»Ich habe vielleicht ein paar Informationen«, antwortete Meena. »Informationen über David, die für die Polizei möglicherweise nützlich sind. Allerdings dauert es noch ein bisschen, bis ich dort sein kann, weil ich zuerst duschen und dann noch mit dem Zug fahren muss. Aber um neun Uhr bin ich bestimmt da. Und dann treffen wir uns dort, ja? Und lassen Sie das Baby bei Davids Schwester.«

»Nun«, erwiderte Mrs Delmonico verblüfft. »Ich … ja. Danke, Meena. Das ist sehr … nett von dir.«

Schuldbewusst legte Meena den Hörer auf.

Sie war nicht nett. Sie hatte keine andere Wahl. Sie war die letzte Person, die David Delmonico lebend gesehen hatte.

Und sie hatte versucht, das Leben seiner Frau zu retten.

Aber anscheinend war es ihr nicht gelungen. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie … Und jetzt musste sie sich Sorgen um das Leben von Davids Eltern und seines Babys machen. Wer wusste schon, wo Brianna Delmonico war?

Meena wollte nicht das Risiko eingehen, dass Brianna vielleicht zum Frühstück in ihr Haus zurückkam. Die Delmonicos mussten unbedingt dort verschwinden.

Wenn sie das Unrecht wiedergutmachen wollte, das sie am Abend zuvor begangen hatte, hatte sie eine Menge zu tun.

Als sie jedoch zur Polizeiwache kam, an der sie sich mit den Delmonicos verabredet hatte, sah sie, dass ihre karmische Bestrafung noch schlimmer ausfiel, als sie vorausgesehen hatte.

Denn vor der Polizeiwache wartete die letzte Person auf der Welt auf sie, die sie jetzt sehen wollte.

Alaric Wulf.