11

»Wir werden nicht hineingehen«, sagte Meena mit fester Stimme.

»Nein«, stimmte Alaric ihr zu. »Wir nicht. Du und ich fahren zurück in die Stadt. Wir setzen nur Abraham ab.«

»Was?« Meena umfasste die Kopfstütze von Abrahams Sitz. »Sie wollen doch nicht etwa allein dort hineingehen?«

»Natürlich.« Abraham schmunzelte. »Wie wir alle wissen, ist Alarics Temperament nicht besonders gut für Missionen geeignet, in denen das Subjekt lebendig gefangen werden muss. Warum?« Abraham lächelte Meena an. »Ist das ein Problem?«

»Ja«, erwiderte Meena. Allerdings konnte sie nicht sagen, was ihr mehr Herzklopfen bereitete: die Vorstellung, dass der alte Mann allein einen Vampir in einem so finster aussehenden Haus jagen wollte, oder der Gedanke daran, dass sie mit Alaric im Auto nach New York City zurückfahren musste. »Eigentlich macht es doch mehr Sinn, weil Alaric auf diesem Gebiet so viel Erfahrung hat …«

»Miss Harper«, unterbrach Abraham sie sanft, »ich mache das hier viel länger als Alaric. Und trotz meiner äußeren Erscheinung kann ich mit Dämonenverseuchung durchaus umgehen. Aber Ihre Sorge rührt mich. Und jetzt sagen Sie mir die Wahrheit. Wollen Sie mir über diesen Umweg mitteilen, dass Sie eine Ihrer Visionen hatten?«

Meena errötete. »So etwas in der Art. Es ist nur … nun ja, Brianna hat auf den Fotos so süß ausgesehen. Aber Sie haben ja gesagt, New Jersey sei das Tor zur Hölle. Und gestern Abend kam David mir vor wie jemand, den ich nicht kannte …«

»Ja, natürlich«, antwortete Abraham tröstend. »Er hatte ja seine Menschlichkeit verloren. Er war ein Geschöpf der Dunkelheit, ohne Seele, nicht fähig zu Mitgefühl oder Mitleid. Sie haben gut daran getan, ihn aus seinem Elend zu erlösen. Wenn wir wissen, zu welchem Clan er gehörte  – nachdem wir seine Frau vernommen haben –, können wir sein Verhalten sicher besser erklären.«

Besorgt knabberte Meena an ihrem Daumennagel. Die Geheime Garde betrachtete alle Vampire als seelenlose Kreaturen. Und genau das war David gewesen. Daran bestand kein Zweifel.

Bei Lucien hatte sie dieses Gefühl nie gehabt, und dabei hatte auch er keine Seele. Ihre ehemaligen Nachbarn, seine Verwandten, die Antonescus, waren genauso gewesen. Sie hatten sogar ihren Hund davor bewahrt, von den Dracul, die ihre Wohnung verwüstet hatten, ermordet zu werden.

Alaric wusste das auch.

Doch er schwieg und stieg aus. Er wirkte glücklich und entspannt. Offenbar freute er sich darauf, sich ans Steuer setzen zu können, auch wenn es ein Hybridwagen war und nicht eins dieser benzinschluckenden Sportfahrzeuge, die er bevorzugte.

»Ich schätze es, dass Sie sich Sorgen um mich machen, Meena«, fuhr Abraham fort. Er holte seine Aktentasche aus dem Auto und zog aus einem Geheimfach eine Pistole, einige besonders spitze Pflöcke, eine Phiole mit Weihwasser und ein großes Kruzifix. Das alles verstaute er in den Taschen seines Anzugs.

»Ich mag Ihnen zwar vorkommen wie ein alter Mann, der zu viel Zeit an seinem Schreibtisch verbringt, aber ich versichere Ihnen, angesichts des Bösen weiß ich mich zu wehren«, sagte er. »Sie erinnern sich vielleicht, dass ich in jener Nacht in der Sankt-Georgs-Kathedrale viele Mitglieder aus dem Clan Ihres früheren Freundes ausgelöscht habe. Im Vergleich dazu ist dieses Unternehmen ein Spaziergang.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Meena. Nervös blickte sie zum Haus. »Ich habe ein schlechtes Gefühl.«

»Ich auch«, erklärte Alaric. »Abraham will mit einer Hausfrau aus New Jersey kämpfen, und es ist kein Kamerateam dabei, um die Angelegenheit zu filmen.«

»Das ist nicht komisch«, sagte Meena. »Ich finde, wir sollten hierbleiben. Wenn nun die Delmonicos auftauchen? Ich könnte …«

Abraham öffnete seine Wagentür. »Alaric nimmt an der Eröffnung der Ausstellung der Vatikanschätze im Metropolitan Museum of Art teil. Ich weiß, dass er sie auf keinen Fall verpassen möchte.« Alaric verdrehte die Augen. »Und im Licht der jüngsten Ereignisse wäre es sinnvoll, wenn Sie ebenfalls teilnehmen würden, Meena. Nach dem Vorfall gestern Abend würde ich Sie nur ungern allein lassen …«

Meena unterbrach ihn: »Ich glaube, ich habe bereits bewiesen, dass ich durchaus in der Lage bin, auf mich aufzupassen, Dr. Holtzman.«

»Ja«, sagte Abraham, »gewiss. Aber wir wollen das Glück nicht herausfordern. Und es hat …« Sein Handy piepte. Abraham blickte auf das Display und brachte sie auf den neuesten Stand: »Oh, sie sind spät weggekommen, offenbar ist irgendwo ein Stau. Aber in ein paar Minuten müssten sie hier sein.«

»Ich warte noch so lange«, antwortete Meena und wollte die Tür aufmachen. »Es ist keine gute Idee, Sie allein hier …«

Doch Alaric saß bereits hinter dem Lenkrad und fuhr los.

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie endlich so weit sind zu glauben, dass hinter den verschwundenen Touristen doch eine paranormale Verbindung steckt«, rief er Abraham zu.

»Nein, auf gar keinen Fall«, erwiderte Abraham und winkte. »Weil es nicht so ist.«

»Ja klar«, murmelte Alaric sarkastisch und drückte das Gaspedal durch. »Wir werden schon sehen.«

»Warte!«, sagte Meena, die gerade noch rechtzeitig die Tür schließen konnte. »Was ist los mit dir? Wir können ihn nicht einfach hier zurücklassen. Er könnte getötet werden. Was für verschwundene Touristen?« Sie kletterte über die Rückenlehne auf den Beifahrersitz. »Alaric, was ist hier los? Was verschweigst du mir?«

»Genauso viel wie du mir«, fuhr er sie an.

»Ich habe dir alles erzählt.« Meena drehte sich um und beobachtete, wie Abraham über David Delmonicos makellos gepflegten Rasen ging und um die Ecke des Hauses verschwand. Das schlechte Gefühl, das sie die ganze Zeit über schon gehabt hatte, verstärkte sich. »Wenn Abraham etwas Schreckliches passiert, weil wir ihn am Tor zur Hölle verlassen haben, dann erzähle ich allen, dass es deine Schuld war.«

»Meine Schuld.« Er lachte humorlos. »Das gefällt mir.«

»Meine Schuld war es ganz bestimmt nicht«, sagte sie. »Ich habe schließlich versucht, euch zu warnen …«

»Oh ja«, sagte Alaric. »Lass uns darüber einmal reden. Lass uns darüber reden, wie offen und kommunikativ du mit alldem umgehst, ja?«

»Nun, das stimmt ja auch.« Meena verspürte leichte Gewissensbisse. Allerdings nur ganz leichte. Es lag doch auf der Hand, warum sie Alaric nicht die ganze Wahrheit sagen konnte, und Luciens Anteil an der Geschichte spielte ja auch gar keine Rolle. Was die wichtigen Details anging, war sie schließlich aufrichtig gewesen. »Was für Touristen hast du gemeint?«

»Oh nein«, sagte er. »Wenn du mir nicht erzählen willst, was wirklich passiert ist, warum sollte ich dir dann etwas erzählen?«

Verblüfft schaute Meena ihn an. »Was soll das heißen? Ich habe dir erzählt, was wirklich passiert ist. Vielleicht hatte Abraham recht und ich hätte besser schon gestern Abend angerufen, aber …

»Du hast nicht allein in diesem Auto gesessen, als die Tür abgerissen wurde«, sagte Alaric. Er zog seinen Arm ins Wageninnere und schloss das Fenster. Daran merkte Meena, wie ernst es ihm war. Er hasste es, bei geschlossenem Fenster Auto zu fahren. »Das kann gar nicht sein, weil kein Vampir aus dem Auto gestiegen wäre, solange seine Beute noch darin ist.«

Meena blickte starr geradeaus und schwieg.

Aber das Gefühl der Furcht, das nicht weggegangen war, schlang sich wie die Wurzeln einer besonders schnell wachsenden giftigen Pflanze um ihr Herz.

»Deshalb denke ich, dass noch eine dritte Person anwesend war«, fuhr Alaric fort. »Jemand, dessen Name du absichtlich nicht erwähnt hast, jemand, der, wie Abraham es formuliert hat, heftige Rache an seinen Lakaien geübt hat, die es gewagt haben, dich zu verletzen. Jemand, der in den letzten fünfhundert Jahren unter zahlreichen Namen aufgetreten ist, sich in der letzten Zeit jedoch Lucien Antones…«

»Hör auf!« Meena wandte sich ihm zu. »Hör einfach auf. Wenn du die ganze Zeit über gewusst hast, dass er dabei war, warum hast du es dann nicht einfach gesagt? Und es ist immer noch kein Grund, Abraham einfach allein zu lassen. Können wir bitte zurückfahren? Ich habe wirklich ein schreckliches Gefühl seinetwegen an diesem Ort …«

»Du liebe Güte, Meena«, sagte Alaric. »Abraham kann auf sich selbst aufpassen. Ich mache mir Sorgen um dich. Und du weißt ganz genau, dass ich dich erst aus diesem Auto lasse, wenn du mir alles erzählt hast. Die ganze Wahrheit. Also fang von vorne an. Ich habe den ganzen Tag Zeit.«

Sie wusste, dass er es absolut ernst meinte. Er würde sie wirklich nicht aus dem Auto lassen, bis sie ihm erzählte, was er wissen wollte. Seufzend gab sie auf. Es war zwecklos. Früher oder später würde er sie doch dazu bringen.

»Gut«, sagte sie. »David hat versucht, mich zu töten. Lucien tauchte aus dem Nichts auf … und das war ein Glück für mich, weil er mir das Leben gerettet hat. Aber ich schwöre, dass ich ihn gestern Abend seit letztem Frühjahr zum ersten Mal gesehen habe …«

Alaric umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Verdammt noch mal, Meena«, sagte er, ohne sie anzusehen.

»Das ist die Wahrheit, Alaric«, versicherte sie ihm. »Ich schwöre. Und Lucien hat mich nicht gebissen, und er hat auch David nicht verwandelt. Mit dem, was in Freewell passiert ist, hat er ganz bestimmt nichts zu tun …«

»Wie kann das sein?«, fragte Alaric. »Er ist der Fürst der Finsternis, Meena. Er muss etwas damit zu tun haben. Er weiß alles, was die Dämonen tun. Das ist sein Job, seine Existenzgrundlage.«

»Nein, das stimmt nicht ganz, Alaric«, erwiderte sie. »Das soll vielleicht so sein, aber es ist nicht so. Letztes Mal, als sein eigener Bruder …«

»Hat er dir das erzählt?«, wollte Alaric wissen. »Was hat er dir gestern Abend sonst noch so erzählt? Dass seine Liebe wie eine Flamme brennt, die niemals erlischt, und dass jeder Augenblick ohne dich wie eine offene Wunde ist? Floskeln übrigens, die er vor dir schon unzähligen Frauen gesagt hat. Nur weil sie schon alle tot sind und niemand sich mehr an sie erinnern kann, heißt das noch lange nicht, dass die Morde an ihnen vergeben und vergessen sind.«

Meena warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das hat er überhaupt nicht gesagt.« Jedenfalls nicht mit diesen Worten. »Und du brauchst mir hier keinen Vortrag zu halten, Alaric. Ich bin keiner von diesen albernen Teenagern, vor denen du dich ständig aufspielen musst, damit sie sich von ihren Vampirfreunden nicht als Futtersack missbrauchen lassen und wieder nach Hause zu ihren Eltern gehen. Ich arbeite tatsächlich für dieselbe Organisation wie du und habe an den letzten Vorträgen mitgearbeitet, erinnerst du dich?«

»Warum glaubst du denn dann alles, was er dir erzählt?«, fragte er. »Du bist dir im Klaren darüber, dass es so etwas wie einen vegetarischen Vampir nicht gibt, oder? Er muss Menschenblut trinken, um am Leben zu bleiben.«

»Lucien trinkt schon seit langer Zeit kein Menschenblut mehr. Nun ja, er trinkt es, aber nicht von lebenden Menschen. Nur von Blutbanken.«

»Hat er dir das erzählt?«, fragte Alaric wieder und lachte zynisch. »Das ist ja eine süße Geschichte. Und woher bekommt er jetzt wohl das Blut? Alle seine Konten sind eingefroren. Er besitzt keinen Cent. Schwarzmarktblut ist nicht gerade billig, weißt du. Benutz doch mal deinen Kopf statt deines Herzens. Woher bekommt er sein Blut?«

Meena hatte die ganze Nacht wachgelegen und über genau dieses Problem nachgedacht. Wie kam Lucien – dem die Geheime Garde nicht nur seine letzte Identität, sondern auch sein gesamtes Vermögen genommen hatte – an das Blut, das er brauchte, um zu überleben? Wie konnte er ohne Geld existieren und trotzdem sein Versprechen halten, nie ein menschliches Leben zu nehmen?

Sie hatte den Stoff seines Anzugs gefühlt. Er war weich gewesen, wie das Fell an Jack Bauers Bauch.

Lucien schien gut zu leben.

Dann fiel ihr ein, wie rot seine Augen aufgeflammt waren, als er sie geküsst hatte. Und er hatte schwach und krank gewirkt.

Vielleicht ernährte er sich doch nicht so gut.

»Vielleicht hilft ihm ja jemand«, sagte sie ohne wirkliche Überzeugung. »Er hat ja bestimmt Freunde.« Sie dachte an ihre ehemaligen Nachbarn, Mary Lou und Emil Antonescu. Sie hatten die Schlacht in der Sankt-Georgs-Kathedrale überlebt, und die Geheime Garde wusste noch nichts über ihren jetzigen Aufenthaltsort – oder ihr Vermögen. Sie würden den Fürsten doch bestimmt nicht im Stich lassen …

»Das bezweifle ich«, entgegnete Alaric. »Dämonen haben keine Freunde. Und kennst du diese Pfennigfuchser aus der Buchhaltung? Sie drehen jeden Stein um, um auch die letzten flüssigen Mittel zu finden. Höchstwahrscheinlich stiehlt er. Das wäre typisch.«

Meena zog scharf die Luft ein. »Warum hasst du ihn so sehr?«, fragte sie. »Ständig bezeichnest du ihn als seelenloses Monster. Und dabei hat er dich in der Sankt-Georgs-Kathedrale, als er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, nicht getötet. Im Gegenteil, er hat dich beschützt. Und Bruder Bernard, Schwester Gertrude und mich, und sogar diese Feuerwehrmänner, die uns ausgegraben haben. Stattdessen hat er seine eigene Art umgebracht. Handelt so ein seelenloses Monster? Wann wirst du endlich zugeben, dass nicht jeder Dämon zu hundert Prozent böse ist? Es ist ja auch nicht jeder Mensch zu hundert Prozent gut. Wann, Alaric? Wann?«

Er schaute sie an. Es verblüffte sie immer wieder, wie hellblau seine Augen waren. Manchmal, auf langweiligen Personalsitzungen, begegneten sich ihre Blicke. Ab und zu zog er dann eine seiner blonden Augenbrauen hoch – vor allem, wenn Abraham gerade einen seiner pedantischen Vorträge hielt –, und Meena musste ein Lachen unterdrücken, weil er dann aussah wie ein mutwilliger Schuljunge.

Bei diesen Gelegenheiten fiel es ihr schwer zu glauben, dass er schon so vielen von Luciens Verwandten skrupellos den Kopf abgeschlagen hatte.

Aber sie hatte gesehen, wie er es getan hatte, und sie wusste, dass sein jungenhafter Gesichtsausdruck im Bruchteil einer Sekunde todernst werden konnte.

Und so war es auch jetzt, als er sie anblickte.

»Ich glaube, ich weiß, wie sich dein Freund am Leben gehalten hat, seit wir ihn zum letzten Mal gesehen haben«, sagte er.

»Ach wirklich?«, erwiderte sie. Es war warm im Auto, da die Klimaanlage nicht an war. Er ließ die Fensterscheibe ein wenig herunter, und ein warmer Luftstrom traf ihr Gesicht. Ihre Haarspitzen und die Enden des rosa Schals wehten nach oben. »Dann erklär es mir.«

»Das werde ich«, antwortete er. »Aber vorher muss ich dich warnen, denn wenn ich fertig bin, wirst du dir wünschen, ich hätte es dir nicht erzählt. Und das kommt daher, weil du tief im Innern weißt, dass es wahr ist.«

»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Aber tu dir keinen Zwang an, und erzähl es mir ruhig.«

Dann stellte sich jedoch heraus, dass er recht hatte. Als er fertig war, wäre ihr lieber gewesen, er hätte nichts gesagt.