9
Dicht gefolgt von Alaric betrat Meena die tadellos saubere Hightech-Polizeiwache von Freewell. Unwillkürlich fragte sie sich, warum sich ihr nicht alle Köpfe zuwandten, denn ihr Herz schlug so laut, dass sie meinte, jeder müsse es hören.
Doch anscheinend hörte nur sie es.
Abraham Holtzman saß in dem Konferenzraum, in den ihn der höfliche Polizist am Empfang geführt hatte, und redete mit einer verschlafen aussehenden Frau in einem beigefarbenen Kostüm und Davids Eltern, die Meena um Jahrzehnte gealtert vorkamen, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte.
Aber das war ja wohl auch normal. Ihr Sohn war tot. Obwohl sie es noch nicht wussten.
Meena schluckte und rang sich ein Lächeln ab, als sie die Anwesenden begrüßte.
Es fiel ihr schwer, vor allem, da Alaric Wulf so dicht hinter ihr stand. Sie würde nie vergessen, wie er sie angeschaut hatte, als er den Schal bemerkte, den sie sich um den Hals gebunden hatte, um die hässliche Bisswunde zu verdecken, die David ihr zugefügt hatte. Einen Moment lang hatte sie gedacht, er würde ihr den Kaffee ins Gesicht schütten.
Und ihre Wangen brannten, weil sie Lucien tatsächlich gestern Abend gesehen hatte. Ob er es wohl bemerkt hatte?
»Ah, da kommt ja Miss Harper, mit einem meiner Partner, Mr Wulf.« Abrahams Blick unter seinen buschigen Augenbrauen brannte sich wie Laserstrahlen in sie hinein.
Und das bedeutete, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Zwar hatte sie letztendlich ihre Pflicht getan und den »Vampir-Zwischenfall« von gestern Abend angezeigt, aber sie hatte nur einen erwähnt. Sie war entschlossen, Luciens Namen so lange wie möglich herauszuhalten.
Doch sie war sich nicht sicher, wie lange es ihr bei Abraham Holtzman und Alaric Wulf – den hartnäckigsten Männern, die sie kannte – gelingen würde.
»Es tut mir leid, dass ich zu spät komme«, sagte Meena nervös und blickte sich um. Sie kam sich vor wie in einem Fernsehkrimi, wo Verdächtige verhört wurden.
Allerdings gab es im Konferenzraum der Polizeiwache in Freewell keine Spiegelscheiben, nur Fenster, aus denen man über den gepflegten Rasen vor dem Gebäude blickte. Auf dem Tisch lagen ein paar Fotos … Fotos von David und Brianna, die die Delmonicos wahrscheinlich mitgebracht hatten.
Es waren Studio-Aufnahmen, auf denen das Baby erst ein paar Monate alt war. Das attraktive Paar wirkte glücklich und schaute strahlend in die Kamera. Jedes Haar und jeder Zahn waren an ihrem Platz.
Davids Spezialität waren Veneers. Er hatte Meenas leicht schiefen Vorderzahn immer schon richten wollen, aber sie hatte dankend abgelehnt, als er ihr erklärt hatte, wie er dabei vorgehen würde.
»Ich frage mich immer noch«, nörgelte Mrs Delmonico, »warum sie so viele Anwälte mitbringen musste. Sie wollte sich doch hier nur mit uns treffen …«
»Wir sind alle nur hier, um zu helfen, Mrs Delmonico«, unterbrach Abraham sie beruhigend. »Miss Harper, darf ich Ihnen Detective Rogerson vorstellen …« Abraham wies auf die müde aussehende Frau, die den Eindruck machte, sie wolle lieber ganz woanders sein, als hier mit ihnen zu sitzen. Meena konnte ihr das nicht verdenken. »Und die Delmonicos kennen Sie ja.«
Als Davids Eltern sie verwirrt anblickten, verlor Meena jede Kontrolle über ihren Mund. Ihr Lächeln erlosch. »Hallo«, murmelte sie und ließ sich auf den harten Plastikstuhl sinken, den Abraham ihr anbot. Beinahe hätte sie gesagt: Mein Beileid.
Aber die Delmonicos wussten ja noch gar nichts von ihrem Verlust.
Und sie würde es ihnen bestimmt nicht erzählen.
»Also, Miss Harper«, begann die Polizeibeamtin geschäftsmäßig. Sie sah kurz zu Alaric rüber. Er lehnte an der Fensterbank, wo er alles gut im Blick hatte. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und checkte seine Nachrichten. Anscheinend war er an den Vorgängen im Konferenzraum nicht im Geringsten interessiert.
Die Polizeibeamtin schaute wieder weg und schlug den Notizblock auf, den sie vor sich liegen hatte. »Mrs Delmonico sagt, Sie hätten möglicherweise Informationen über ihren Sohn, der gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist. Was können Sie uns dazu sagen?«
Meena warf Abraham einen raschen Blick zu.
»Äh«, sagte sie. »Ich dachte … im Fernsehen verhören sie die Verdächtigen immer in getrennten Räumen.«
Detective Rogerson verzog keine Miene. »Wir sind hier nicht im Fernsehen, und Sie sind keine Verdächtige, Miss Harper, weil bis jetzt noch kein Verbrechen vorliegt. Es sei denn, Sie sind diejenige, die Mr Delmonicos Auto gestern Abend zerstört hat.«
»Nun, das ist ja wohl kaum möglich«, warf Abraham ein. »Meine Mandantin ist klein und zierlich, und man muss schon sehr stark sein, um so einen Schaden …«
Detective Rogerson schaute Abraham direkt ins Gesicht. Er lächelte sie freundlich an.
»Ja«, bekräftigte Meena hastig, »das stimmt. Mit dem Schaden an Davids Auto habe ich nichts zu tun.«
Da sie bereits einen strategischen Fehler gemacht hatte, achtete Meena sorgfältig darauf, Detective Rogerson beim Sprechen in die Augen zu blicken, damit sie ihr keine Lügen vorwerfen konnte.
Sie erklärte, sie sei mit David am Abend zuvor verabredet gewesen, um ihm seine Sachen zurückzugeben. Anschließend hätten sie noch eine Weile in Davids geparktem Auto gesessen, um zu »reden«. Sie habe schnell gemerkt, berichtete sie, dass er ein wenig angetrunken war. Deshalb habe sie vorgeschlagen, er solle nicht mehr nach Hause fahren, und er sei einverstanden gewesen.
Als sie das erwähnte, zog Mrs Delmonico scharf die Luft ein, obwohl Meena den Rest – dass David sich auf sie gestürzt hatte – gar nicht erst erwähnte. Das würde sie auf gar keinen Fall preisgeben, vor allem nicht vor Mrs Delmonico, die tatsächlich eine Perlenkette trug, genau wie Meena es sich vorgestellt hatte. Sie drehte sie die ganze Zeit so fest um die Finger, dass Meena schon Angst hatte, sie würde reißen.
Davids Dad hingegen sah so aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Seine Nase war voller roter Äderchen – vom Trinken, vermutete Meena. Allein die Tatsache, dass Meena Davids Alkoholkonsum erwähnte, schien seine Eltern schon zu deprimieren.
Sie würde auf keinen Fall alles noch schlimmer machen, indem sie erzählte, dass er sie angegriffen hatte. Das würden sie sowieso nie glauben.
Außerdem konnte sie es nicht erwähnen, da sie ja jetzt bei der Geheimen Garde arbeitete – der Undercover-Organisation des Vatikans zur Bekämpfung von Dämonen. Vor Zivilisten durfte die Existenz von Vampiren nicht zugegeben werden.
Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie also nicht sagen können, dass David nicht nur betrunken gewesen, sondern anscheinend auch in einen Untoten verwandelt worden war und sie angegriffen hatte.
Aber das wollte sie ja gar nicht.
Sie wollte vor allem eins: Lucien aus all dem heraushalten. Er hatte schließlich überhaupt keine Schuld daran – sie hatte die ganze Geschichte verbockt –, und er hatte seinen Hals für sie riskiert, indem er nach so vielen Monaten aus seinem Versteck gekommen war, um sie vor David zu retten, obwohl es ihm noch nicht einmal gut ging.
Und jetzt war auch noch Alaric Wulf involviert. Alaric war einer der besten Offziere der Geheimen Garde, und er kannte unzählige Geschichten von Opfern, die die Vampire, die sie nur als menschliche Futtersäcke benutzten, so tief liebten wie Meena Lucien liebte und ebenfalls lügen würden, um sie zu schützen.
Doch in ihrem Fall war es anders. Lucien hatte sie gestern Abend nicht angegriffen. Und er wollte sie auch nicht beißen. Er liebte sie.
Aus diesem Grund musste sie seinen Namen hier heraushalten. Auch wenn er sie gerettet hatte. Niemand in der Geheimen Garde – vor allem nicht Alaric – würde verstehen, dass Lucien nicht schuld gewesen war. Sie würden ihm so oder so die Schuld geben. Wie jede Bürokratie hatte auch die Geheime Garde ihre blinden Flecken.
Meena hatte gehofft, die Dinge unter Kontrolle halten zu können, indem sie nach dem Gespräch mit Mrs Delmonico Abraham angerufen hatte und nicht die Notfallnummer der Geheimen Garde. Sie hatte ihm erklärt, er bräuchte sich keine Sorgen zu machen. Am Abend zuvor habe es einen unglückseligen Zwischenfall gegeben, aber es sei nichts wirklich Schlimmes.
Nun, vielleicht ein bisschen …
Doch sie hätte wissen müssen, dass Abraham Alaric mitbringen würde. Alaric, bei dessen Anblick draußen sie die Tränen nicht hatte zurückhalten können. Er hatte unsicher gewirkt, hatte aber trotzdem die Arme um sie geschlungen und fest und unerschütterlich wie ein Baum dagestanden.
Er hatte frisch und kühl und irgendwie nach Blättern gerochen. O Gott. Warum hatte sie überhaupt die Geheime Garde angerufen? Sie wusste es nicht.
Allerdings hätten sie es ja sowieso herausgefunden.
Als Meena ihren Bericht beendet hatte, blickte sie nervös auf Detective Rogersons Notizblock. Sie saß so, dass sie genau erkennen konnte, was darauf stand.
Zu ihrer Überraschung entdeckte sie, dass die Polizeibeamtin ein äußerst detailliertes Porträt eines Marienkäfers gezeichnet hatte. Der Marienkäfer trug einen Zylinder und einen Frack.
»Als Sie David zum letzten Mal gesehen haben«, sagte Detective Rogerson gelangweilt, »war er also leicht angetrunken und ging zur Houston Street, um von dort ein Taxi zur Penn Station zu nehmen?«
»Ja«, erwiderte Meena. Sie bemühte sich, besorgt, aber nicht zu besorgt zu klingen. »Ich muss allerdings sagen, dass ich mir ein wenig Sorgen um Brianna mache. Meine beste Freundin Leisha hat vor einem halben Jahr ein Baby bekommen, und sie würde niemals eine Nacht von zu Hause wegbleiben, jedenfalls nicht, ohne anzurufen. Ich muss zugeben, ich kenne Brianna nicht besonders gut, aber ich finde es wirklich seltsam …«
Detective Rogerson begann bereits einen zweiten Marienkäfer zu zeichnen.
»Und Sie wissen nichts darüber, dass sein Auto beschädigt worden ist?«
»Beschädigt?« Mr Delmonico klang empört. »Der Polizeibeamte sagte am Telefon, die Fahrertür sei buchstäblich aus den Angeln gerissen und auf den Bürgersteig geworfen worden und die Windschutzscheibe sei zerschmettert. Das kann man wohl kaum als beschädigt bezeichnen. Es war ein brandneuer Volvo V50. Da handelt es sich wohl eher um Körperverletzung.«
Detective Rogerson warf ihm einen Blick zu. »Ja«, sagte sie, »aber die Stereoanlage, die Wagenpapiere und sogar der Babysitz waren noch im Auto. Laut unseren Informationen von der New Yorker Polizei scheint nichts zu fehlen.«
»Außer dem Eigentümer«, schrie Mrs Delmonico. Ihr Mann beugte sich zu ihr und drückte ihr die Hand. »Und seine Frau. Sie wird auch vermisst.« Sie hielt eins der Fotos hoch. »Was ist mit ihr? Kümmert sich um sie gar keiner?«
»Doch, wir, Mrs Delmonico«, sagte Detective Rogerson. Meena sah, dass sie dem zweiten Marienkäfer einen Brautschleier gezeichnet hatte. »Deshalb sind wir ja alle hier. In der Zwischenzeit bleiben Sie am besten in der Nähe des Telefons.«
»An ihrem eigenen Telefon«, warf Meena ein.
Detective Rogerson sah sie an. »Wie bitte?«
»Nun«, sagte Meena, »sie haben doch am Telefon ihres Sohnes gesessen, in seinem Haus.«
»Genau«, ergänzte Abraham. »Es ist unwahrscheinlich, dass David sich selbst anruft, oder? Also sollten Mr und Mrs Delmonico nach Hause fahren und auf ihr Telefon aufpassen.«
Detective Rogers blickte von Meena zu Abraham und wieder zurück. Auch Alaric schaute von seinem Handy auf und starrte sie an. Wusste er Bescheid? Wahrscheinlich.
Detective Rogerson zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder ihrer Marienkäfer-Hochzeitsszene. »Nun«, sagte sie gelangweilt, »Sie haben absolut recht. Keine vermisste Person ruft bei sich selbst an.«
Mrs Delmonico wirkte empört. »Aber alle Sachen von David junior sind bei ihm zu Hause!«
»Wir gehen gerne mit Ihnen jetzt zu Davids Haus, um die Babysachen zu Ihrem Haus zu bringen«, erklärte Meena.
Die Delmonicos schauten sie verblüfft an. Und auch Alaric wandte seinen Blick nicht von ihr.
»Äh«, sagte Mr Delmonico. »Das ist nicht nötig. Wir kommen schon allein zurecht …«
»Nein, nein«, beharrte Abraham. »Wir machen es gerne.«
»Nun«, erwiderte Mr Delmonico beeindruckt, »Ihre Kanzlei scheint ja wirklich vollen Service zu bieten.«
»Ach, begreifst du nicht, was sie da tun?«, fuhr Mrs Delmonico ihn an. »Sie versuchen, uns von der Tatsache abzulenken, dass Meena unseren Sohn betrunken und hilflos mitten in New York alleingelassen hat, als leichte Beute für Schurken!«
Mr Delmonico warf Meena einen erschreckten Blick zu.
»Nein, das würde ich nicht so sehen«, murmelte Meena. »Wir wollen doch bloß helfen …«
»Er liegt wahrscheinlich irgendwo in einer finsteren Gasse«, weinte Mrs Delmonico, »und verblutet, weil sie ihn betrunken gemacht und zurückgelassen hat, damit er von Dieben überfallen werden kann. Es ist alles nur ihre Schuld.«
»Sie sollten besser erst überlegen, bevor Sie solche Anschuldigungen vorbringen, Madam«, sagte Abraham sachlich. »Schließlich ist Ihr Sohn betrunken zu dem Termin mit Miss Harper erschienen. Und dann hat er sich auch noch unerwünschte sexuelle Übergriffe erlaubt.«
Mr und Mrs Delmonico fuhren aufgebracht auf. Detective Rogerson hielt im Zeichnen inne, und Alaric zog die Augenbrauen hoch. Abraham Holtzman blickte unschuldig zur Decke.
Meena wäre am liebsten im Boden versunken, aber leider ging das nicht. Diese Information hatte sie Abraham vertraulich weitergegeben. Sie hatte nicht erwartet, dass er sie vor Davids Eltern ausplaudern würde.
Doch als ihr »Anwalt« hatte er wahrscheinlich keine andere Wahl.
»Das … das ist ungeheuerlich!«, schrie Mrs Delmonico. »Mein Sohn würde niemals im Leben eine solche …«
»Meena«, unterbrach Abraham sie, »ich weiß, dass Sie vor seinen Eltern nichts Negatives über David sagen wollen, um sie nicht aufzuregen. Aber es ist wichtig, dass Sie die Wahrheit sagen, damit Detective Rogerson sich ein Bild verschaffen kann.«
»Ich habe die Wahrheit gesagt«, erwiderte Meena rasch. Sie warf Abraham einen eisigen Blick zu.
»Ist zwischen Ihnen und David etwas vorgefallen, das Sie uns nicht erzählt haben, Miss Harper?«, fragte die Polizeibeamtin neugierig.
»Nein«, sagte Meena. »Es gibt nichts zu erzählen.«
»Na ja, etwas muss es schon geben«, entgegnete die Polizistin. »Sie werden ja ganz rot.«
Sie hatte Detective Rogerson unterschätzt, das wurde Meena jetzt klar. Zwar hatte sie diese Käfer gezeichnet, aber das bedeutete nicht, dass sie sich nicht auf die Vernehmung konzentriert hatte.
Sie hatte offensichtlich gezeichnet, weil sie sich dann besser konzentrieren konnte.
»Nun, ich würde es nicht als etwas bezeichnen.« Meena betrachtete das fröhliche, lächelnde Gesicht Briannas auf einem der Fotos, die auf dem Tisch lagen. »David war ein wenig betrunken, wie ich bereits sagte, und ja, es stimmt, er versuchte, mich zu küssen, aber … es kann ganz schön anstrengend sein, sich auf das neue Leben mit einem Baby einzustellen«, fügte sie rasch hinzu. »Meine Freundin Leisha, die ich bereits erwähnt habe und die auch ein Baby hat, sagt, dass zwischen ihr und ihrem Mann nichts mehr so ist wie früher. Sie sagt, seit Jeanie, ihre kleine Tochter, da ist, war sie nicht ein einziges Mal mit Adam, ihrem Mann, essen …«
Sie brach ab, als sie merkte, dass alle sie anstarrten. Erneut wurde sie rot.
»Natürlich hat David so etwas über Brianna nicht gesagt«, ergänzte sie.
»Also wollen Sie keine Anzeige gegen David Delmonico wegen sexueller Belästigung erstatten?«, fragte Detective Rogerson.
»Oh mein Gott.« Mrs Delmonico schlug sich die Hand vor den Mund. Ihr Mann legte tröstend den Arm um sie und zog sie an sich.
In den Lokalnachrichten hieß es zurzeit ständig, wie ungewöhnlich warm es für die Jahreszeit sei, doch die Klimaanlage in der Polizeiwache von Freewell schien abgestellt zu sein. Allen stand der Schweiß auf der Stirn.
Nur Meena fröstelte, obwohl sie die Strickjacke über ihrem ärmellosen Kleid zusammenzog.
»N-nein«, stammelte sie. »Natürlich nicht. Und es tut mir schrecklich leid, aber mehr als das, was ich bereits gesagt habe, weiß ich leider auch nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte Abraham in seiner strengen Anwaltsstimme. Er hatte tatsächlich ein juristisches Examen abgelegt. »Es handelt sich offensichtlich um eine persönliche Angelegenheit zwischen dem Sohn der Delmonicos und seiner Frau. Ich bin sicher, dass sie nach Hause kommen werden, sobald sie ihren Streit beigelegt haben. In der Zwischenzeit helfen wir Ihnen gerne, die Sachen des Babys …«
»Nein!«, schrie Mrs Delmonico. »Sie haben schon genug getan.«
Ihr Mann warf in ruhigerem Tonfall ein: »Danke. Meine Frau will sagen, dass wir hier genug Verwandte haben, die uns helfen können.«
»Gut«, sagte Abraham. »Nun, Detective Rogerson, wenn meine Mandantin Ihnen bei den Ermittlungen noch irgendwie behilflich sein kann, dann rufen Sie mich an, und sie wird gerne …«
Er brach ab, als Davids Mutter sich an Meena wandte. Ihre blauen Augen blitzten.
»Wenn Sie wissen, was mit meinem Sohn passiert ist, Meena Harper«, zischte sie, »dann müssen Sie es uns sagen. Ich weiß, dass Sie Dinge wissen. Nachdem sein Hirntumor entfernt worden war, hat David mir erzählt, dass Sie davon wussten, noch bevor die Ärzte überhaupt die Diagnose gestellt hatten. Und wir sind alle darüber im Bilde, dass Sie über seinen Vater Bescheid wussten. Also sagen Sie es mir. Sagen Sie mir, was mit meinem Sohn passiert ist.«
Meena erstarrte. Sie machte der Frau keinen Vorwurf daraus, dass sie sie hasste. Sie hatte nur versucht, David zu helfen … der allerdings ihre Hilfe eigentlich gar nicht verdient hatte.
Aber er hatte es auch nicht verdient zu sterben. Jedenfalls nicht so. Und seine arme Frau …
Unwillkürlich warf Meena einen Blick auf das Hochglanzporträt, das mitten auf dem Tisch lag. Brianna sah so hübsch aus, so glücklich und voller Hoffnung.
»Es tut mir leid«, sagte sie und blickte Mrs Delmonico an. Tränen traten ihr in die Augen. »Es tut mir so leid …«
Plötzlich packten sie starke Hände an den Schultern. Jemand zwang sie aufzustehen. Alaric.
»Ich hoffe, Ihr Sohn taucht bald wieder auf«, sagte er mit seiner tiefen Stimme zu den Delmonicos und dirigierte Meena aus dem Konferenzraum. »Ihre Schwiegertochter auch. Auf Wiedersehen.«
Meena merkte, dass sie zitterte.
Sie versuchte es zu verbergen. Sie hielt ihre Arme um sich geschlungen, als sie mit Alaric und Abraham das Gebäude verließ.
Doch sie konnte ihr keuchendes, stoßweises Atmen nicht verbergen.
David würde nie wieder auftauchen.
Aber Brianna. Wo war Brianna? Vielleicht würde sie ja bald auftauchen.
Und wenn, dann würde sie sehr hungrig sein.