26
Meena schloss die Tür zum Café ab und hängte das »Geschlossen«-Schild ins Fenster.
Sie hielt es für keine besonders gute Idee, wenn ihr Bruder in seiner jetzigen Verfassung Kunden bediente.
Sie hatte die Männer, deren Tisch er umgeworfen hatte, nur mit Mühe und Not überreden können, nicht die Polizei zu rufen. Sie hatte ihnen erzählt, er litte unter den Nebenwirkungen der Allergiemedikamente, die er nehmen musste. Der Mann, dessen Laptop am stärksten beschädigt war – es war allerdings nur eine kleine Delle, ansonsten funktionierte er einwandfrei – drohte, sich mit dem Geschäftsführer in Verbindung zu setzen.
Beinahe hatte Meena sich gewünscht, sie wären tatsächlich Vampire gewesen. Es wäre alles viel einfacher gewesen, wenn sie sie hätte pfählen können.
Leider waren sie jedoch keine Vampire.
»Sie haben dich gefeuert«, sagte Jon. Er hockte auf der Couch und trank den Kaffee, den Meena ihm gemacht hatte.
»Ja, genau«, pflichtete Meena ihm bei. Sie setzte sich an einen Tisch, nahm den Deckel von ihrem Kaffeebecher und trank einen Schluck. Natürlich war er jetzt nur noch lauwarm.
Doch es war ihr egal. Jack Bauer bezog Posten neben ihrem Stuhl und blickte aufmerksam und erwartungsvoll zu ihr auf, für den Fall, dass ein Krümel von dem Muffn herunterfallen würde, obwohl er heute Morgen sein Frühstück bereits bekommen hatte.
»Und sie haben Alaric versetzt«, fuhr Jon fort. »Nach Rom.«
»Das haben sie mir jedenfalls gesagt«, entgegnete Meena. Der Muffn lag ihr wie ein Stein im Magen.
Aber zumindest war es etwas zu essen. Sie brauchte etwas zu essen. Sie brauchte Normalität.
Allerdings rechnete sie in der nächsten Zeit nicht wirklich damit.
»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Jon. »Ihr seid doch die Guten.«
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, wer die Guten sind.« Meena griff in die hintere Tasche ihrer Jeans und reichte Jon einen zerknüllten Brief.
»Warte mal«, meinte Jon, nachdem er ihn aufgefaltet und gelesen hatte. »Hier steht, dies sei eine allerletzte Warnung, dass deine Stelle gekündigt wird, wenn sich deine Arbeitsleistung nicht beträchtlich verbessern sollte. Und du hast gesagt, sie hätten dich gefeuert.«
»Ich weiß«, sagte Meena. Ihre Augen brannten. Sie schaute aus dem Fenster auf all die glücklichen, sorglosen Leute, die zum Straßenfest gingen. Wie viele von ihnen mochten sich wohl so fühlen wie sie … so als ob ihr Leben vorbei sei und sie nicht mehr als lebende Tote seien.
Soweit sie sehen konnte, ging es niemandem sonst so. Sie lächelten alle und freuten sich auf das Abenteuer, das vor ihnen lag.
Anscheinend hatten die wenigsten Genevieve Fox’ Bericht in den Nachrichten gesehen, dass in der Stadt plötzlich ein dramatischer Anstieg an vermissten Personen – alles Touristen – zu verzeichnen war. Und doch, hatte Genevieve erklärt, hatte es aus irgendeinem Grund keine Pressemeldung darüber gegeben. Lag das daran, dass der Bürgermeister die Öffentlichkeit mitten in der Hauptsaison lieber nicht vor einem Serienkiller warnen wollte?
Das Büro des Bürgermeisters hatte bereits eine Erklärung abgegeben, in der versichert wurde, dass es keinen Grund gäbe, Alarm zu schlagen. Berichte über Vermisste wurden immer noch wie üblich an die Presse weitergegeben … allerdings nicht alle, damit die Öffentlichkeit nicht mit der Zeit »abstumpfte«. Der Bürgermeister und die Polizei würden jeden einzelnen Fall, den Genevieve erwähnt hatte, kennen und aktiv daran arbeiten.
Dies stimmte jedoch nicht mit den Interviews überein, die Genevieves Kollegen mit Angehörigen der Vermissten geführt hatten.
Und obwohl Alarics Name nie erwähnt wurde, hieß es, dass »eine Quelle, die eng mit der New Yorker Polizei zusammenarbeitet«, große Zweifel daran hätte, dass diese Fälle überhaupt ernst genommen würden.
»Und was ist mit der zehnjährigen Kaileigh Anderson«, fragte Genevieve in die Kamera, »die nur wissen will, warum ihr neunzehnjähriger Bruder Jeff nicht nach Hause nach Connecticut gekommen ist, nachdem er letzten Samstag mit seinen Freunden in Manhattan aus war?«
»Bitte«, schluchzte Kaileigh in die Kamera, während sie das Foto eines jungen Mannes im Gothic-Look umklammert hielt. »Bitte finden Sie meinen Bruder!«
»Du lieber Himmel, Meena«, sagte Jon und drehte den Ton leiser. »Was ist denn eigentlich los?«
»Ich weiß nicht«, gab sie zu. Sie ergriff ihre Tasche. »Deshalb brauche ich ja deine Hilfe. Du kannst doch gut mit Computern umgehen.« Aus der geräumigen Tasche, in der sie ihr Portemonnaie, Haarspray, antibakterielle Creme, Make-up, Notizblöcke, Kugelschreiber, Holzpflöcke und Fläschchen mit Weihwasser aufbewahrte, zog sie Jons Laptop. »Versuch dich bitte in den Computer der Geheimen Garde zu hacken und finde heraus, wo Alaric ist.«
»Was?« Jon blickte sie geschockt an. »Du hast doch gerade gesagt, sie hätten ihn nach Rom versetzt.«
»Das wollten sie mir einreden«, sagte Meena. »Und ich verstehe auch, wie sie es rechtfertigen wollen. All das, was Genevieve Fox in den Nachrichten über die Leute gesagt hat, die vermisst werden, ist Alarics Theorie. Ich habe gestern Abend gesehen, wie er mit ihr geredet hat. Er meint, jemand beißt alle diese Leute, und es wird vertuscht …«
Gestern Abend hatte sie geglaubt, Alaric und Genevieve Fox würden miteinander flirten. Aber nachdem sie die Nachrichten gesehen hatte – und es war die Hauptmeldung auf jedem Sender, das hatte Jon nachgeprüft –, wusste sie, worüber die beiden gesprochen hatten.
Sie betastete die Kette, die Alaric ihr gegeben hatte. Sie hatte sie noch nicht einmal während des Duschens abgenommen. Wahrscheinlich bedauerte Alaric mittlerweile, dass er sie ihr gegeben hatte.
Sie war ein Idiot gewesen.
»Warte«, warf Jon ein. »Warum glaubst du denn nicht, dass er tatsächlich in Rom ist?«
Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Ja klar, Jon«, sagte sie, »Alaric ist einfach nach Rom geflogen. Ohne sich von uns zu verabschieden. Abraham wird immer noch vermisst. Und in dieser Stadt läuft ein wahnsinniger Killer frei herum, der alle Touristen umbringt. Lucien ist der Festnahme entkommen. Das klingt wirklich absolut nach Alaric Wulf.«
Jon nickte. »Okay. Ja, du hast recht. Alaric ist nicht in Rom. Aber, Meena, so talentiert ich auch sein mag – und ich bin unglaublich begabt –, ich kann mich nicht in den Computer einer geheimen militärischen Einheit des Vatikans hacken und – was soll ich da machen?«
»Wir haben alle Handys mit GPS«, sagte Meena. »Ich habe ein Dutzend Mal auf Alarics Handy angerufen, und sofort springt die Mailbox an. Er hat keine meiner Nachrichten beantwortet. Sie haben alle meine Passwörter geändert, so dass ich mich nicht mehr ins System einloggen kann, und wenn ich jemanden im Hauptquartier anrufe, entweder hier in der Stadt oder in Rom, komme ich nicht durch. Sie blockieren mich wahrscheinlich. Jon, ich weiß, dass Alaric nicht die Stadt verlassen hat. Er ist hier irgendwo, und er steckt in Schwierigkeiten. Ich muss ihn finden, damit wir ihn retten können«.« Sie schob seinen Laptop über den Tisch. »Du musst mir helfen.«
»Ja klar«, sagte Jon sarkastisch. »Kein Problem. Ich mache mich gleich an die Arbeit.« Er ergriff Meenas Handy und betrachtete es eingehend. »Meena, das ist ein teures Gerät. Warum haben sie es dir überhaupt wiedergegeben, wenn sie sich schon die Mühe gemacht haben, all deine Passwörter zu ändern?«
»Das liegt doch auf der Hand«, erwiderte sie achselzuckend. »Sie benutzen es, um mich zu verfolgen.«
»Dich?« Er schüttelte den Kopf. »Warum denn? Was glauben sie denn, wo du hingehst?«
»Das ist ihnen egal«, sagte sie. »Sie sind eher an dem interessiert, was zu mir kommt.«
Jon blickte sie an. »Oh mein Gott. Sie benutzen dich, um Lucien zu finden. Was dir passiert, ist ihnen wirklich egal, was?«
»Genau«, sagte sie, nahm ihm das Handy aus der Hand und ließ es in ihren halbvollen Kaffeebecher fallen. »Hilfst du mir jetzt oder nicht?«
Jon riss die Augen auf. »Aber, Meena … ist dir eigentlich klar, mit wem du dich da einlässt?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«, fragte sie.
»Äh«, sagte Jon. »Weglaufen?« Er ergriff seinen Laptop und stand auf. »Wir mieten uns ein Auto und hauen hier ab. Wenn wir gleich aufbrechen, können wir bei Einbruch der Dunkelheit in Georgia sein.«
»Jon«, antwortete Meena, »Lucien und die Geheime Garde finden uns auch in Georgia. Außerdem, was ist mit Alaric?«
»Oh.« Betrübt verzog er das Gesicht. »Ja.«
Sie zuckten zusammen, als plötzlich an die Glastür zur Beanery gehämmert wurde. Jack Bauer sprang auf und begann zu bellen.
»Du lieber Himmel!«, schrie Jon alarmiert.
Es stellte sich heraus, dass es nur die drei Männer mit den hochgeschlagenen Kragen waren, deren Tisch Jon umgekippt hatte.
Meena entspannte sich … aber dann sah sie, dass zwei New Yorker Polizisten die beiden begleiteten. Einer der Polizeibeamten zeigte auf den Türgriff und schrie: »Machen Sie sofort die Tür auf!«
Meena schaute die beiden Polizisten an und dann ihren Bruder.
»Gibt es hier einen Hinterausgang?«, fragte sie.
»Äh«, sagte er, »ja. Aber er führt nur auf eine Gasse. Es ist ziemlich eklig da, weil alle Geschäfte ihren Abfall dort hinstellen.«
»Kommt man von dort zur Straße nach vorne?«, wollte sie wissen.
»Nein«, antwortete er. »Nur durch die Vordertür hier. Warte mal … meinst du wirklich, wir sollten … Wir können doch nicht einfach …«
»Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst«, sagte Meena. Sie ergriff ihre Tasche und Jack Bauers Leine. »Ich mache mich auf die Suche nach Alaric.«