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Alaric wusste, dass nach der Explosion alles dunkel sein würde. In all dem Qualm konnte man unmöglich etwas sehen … zumindest als menschliches Wesen.
Deshalb hatte er sich eingeprägt, wo jeder der Gardisten stand.
Und als dann der Kessel in die Luft flog und alles dunkel wurde, konnte er sie blitzschnell entwaffnen. Schließlich hatte er damit gerechnet und sie nicht.
Plötzlich hatte er zwei Aluminium-Armbrüste, und sie hatten nichts mehr. Das war eine gewaltige Verbesserung seiner Situation.
Andererseits füllten sich seine Lungen schnell mit dem beißenden Qualm, in seinen Ohren rauschte es von der Explosion, und er konnte nichts sehen. Die Vampire, mit denen er in diesem Flur gefangen war, hatten diese Probleme nicht.
Das war definitiv ein Minus.
Auf der Plusseite stand jedoch, dass er das Gebäude in-und auswendig kannte, selbst im Dunkeln, weil er so viel Zeit darin verbracht hatte.
Er schnappte sich also die Armbrüste, machte eine schnelle Schulterrolle durch die Tür ins Haupttreppenhaus, da er hoffte, dass dort bessere Luft war.
Das stimmte auch.
Leider nahmen ihm die Gardisten übel, dass er sie entwaffnet hatte, und folgten ihm.
Er brauchte nicht lange, um sie loszuwerden, obwohl er ein paarmal gebissen wurde. Das war Pech, aber unter den Umständen nur schwer zu vermeiden. Er verlor auch ein paar Pfeile. Es war ihm gelungen, im Dunkeln einen Köcher zu ergattern, indem er einer Wache zwischen die Beine gefasst hatte. Das war eine unangenehme Erfahrung für sie beide gewesen, aber daran konnte er nichts ändern.
Noch unangenehmer war allerdings, als er hörte, wie die Tür zum Treppenhaus aufgestoßen wurde und Henrique Mauricio »Wulf!« schrie. Seine Stimme klang so ähnlich wie die des kleinen Mädchens, dessen Körper von einem Dämon in Besitz genommen worden war.
Hastig lud Alaric die Armbrust, was nicht leicht war, da er mit der Waffe nicht vertraut war und zudem noch mit einem verletzten Bein auf einer verqualmten dunklen Treppe hockte. Das Geräusch von Sirenen und Schritte, die die Treppe herunterkamen, lenkten ihn außerdem noch ab. Oben waren anscheinend die Türen geöffnet worden, und der Rauch zog schnell ab.
»Ich weiß, dass du da bist, Wulf«, rief Mauricio zu ihm herauf. »Du gibst am besten gleich auf.«
»Vielleicht sollte ich besser weglaufen«, sagte Alaric. »So wie du in der Nacht des Exorzismus in Vidigal.«
Mauricio lachte leise. »Du hast recht, das war nicht einer meiner besten Momente. Taufen, Kommunion, Messen … all das ist leicht vorzutäuschen. Aber die dunkle Bestie aus der Seele eines Kindes vertreiben? Wie hätte ich das tun sollen … vor allem, wo doch die dunkle Bestie mein Herr ist? Du hättest sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich hatte keine andere Wahl als wegzulaufen.«
»Falsch gedacht«, sagte Alaric. »Ich habe so oder so gemerkt, dass etwas nicht stimmt.«
»Ich weiß. Ich hätte dich in jener Nacht besser getötet.«
»Ich hätte dich besser getötet in jener Nacht.«
»Klar. Aber jetzt sind wir hier. Du weißt, dass es nicht so sein muss. Es hat Vorteile, in meinem Team zu sein. Du könntest ein sehr angenehmes Leben führen, wenn du …«
»Versuch bitte nicht, mich mit all dem Vatikangold zu locken, mit dem du mich überschütten willst«, unterbrach Alaric ihn gelangweilt. »Ich bin schon reich genug, und du lebst hinter dem Mond. Der Vatikan fährt seit Jahren ein Defizit ein.«
»Das habe ich gar nicht gemeint«, sagte Mauricio. »Ich kann hören, dass du Schmerzen hast. Ich höre es an deiner Stimme. Du bist müde, und du fühlst dich sicher schwach wegen des Rauchs in deinen Lungen. Stell dir ein Leben vor, in dem du nie wieder Schwäche oder Schmerzen empfindest, nie einen Tag älter wirst und dazu noch übermenschliche Kräfte hast. Denk doch, wie nützlich diese Fähigkeiten beim Kampf gegen deine Feinde wären.«
»Du bist mein Feind«, erwiderte Alaric.
»Bin ich das?«, konterte Mauricio. »Ich habe mir die Freiheit genommen, mir deine Personalakte anzuschauen, Alaric, und ich glaube, ich weiß, wer wirklich dein Feind ist. Das bin nicht ich und auch sonst kein Vampir. Es ist dein Vater, nicht wahr, Alaric? Der Mann, der dich als Baby verlassen hat. Wäre deine Rache an ihm nicht viel glorreicher, wenn du ein Vampir würdest?«
»Warum kapiert das eigentlich keiner?«, fragte Alaric echt frustriert. »Ich kann Vampire nicht ausstehen.«
Er erhob sich und schoss die Pfeile ab. Wegen des Rauchs sah er noch nicht einmal, wohin er zielte.
Aber er hatte der Stimme des Vampirs gelauscht und das rote Glühen in seinen Augen gesehen. Die Armbrust schoss einen Pfeil nach dem anderen ab, weil sie eine automatische Auslösung hatte. Wenigstens einer davon musste treffen.
Dann sah er plötzlich einen Fuß aus dem Rauch auftauchen. Instinktiv wich er zurück.
Es stellte sich heraus, dass die schattenhafte Gestalt von sämtlichen Pfeilen getroffen worden war … jeder einzelne steckte an der Stelle, wo normalerweise Mauricios Herz gewesen wäre.
Und doch war er nicht tot. Er kam auf Alaric zu. Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen.
»Eins muss ich dir lassen, Wulf«, sagte Mauricio. »Du gibst nicht leicht auf. Das gefällt mir an dir. Deshalb wärst du ein solcher Gewinn für mein Team.«
»Wie …?« Alaric war fassungslos. »Wie ist das möglich? Du müsstest tot sein. Alle diese Pfeile haben dich ins Herz getroffen.«
»Ich weiß.« Bruder Henrique zuckte mit den Schultern. »Ich kann jedoch nur auf eine Art getötet werden. Und die hast du noch nicht herausgefunden. Na komm, lass uns darüber reden, wo du das Buch versteckt hast.«