15

Meena holte tief Luft. Dann schloss sie die Wohnung, die sie mit ihrem Bruder teilte, auf und öffnete die Tür. Das enthusiastische Bellen von Jack Bauer und der Geruch nach Pizza empfingen sie.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Jonathan. Er lag auf der Couch vor dem Fernseher. Neben ihm auf dem Couchtisch stand ein aufgeklappter Laptop neben einem Teller mit einem halb gegessenen Stück Pizza.

»In New Jersey«, sagte Meena und verriegelte die Tür hinter sich. Sie holte noch einmal tief Luft, dann bückte sie sich und kraulte den Hund hinter den Ohren.

»O Gott«, stöhnte Jon. Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, trank er einen Schluck Cola aus der Dose, die er in der Hand hatte. »In New Jersey? Warum das denn?«

»Weil« – Meena richtete sich auf –, »weil ich gestern Abend David Delmonico getötet habe.«

Jonathan verschluckte sich und prustete Cola auf den Monitor seines Laptops. Einzelne Tropfen flogen sogar bis zum Fernsehbildschirm, aber er achtete nicht darauf. Er starrte Meena entsetzt an.

»Was?«

»Jemand hat ihn in einen Vampir verwandelt«, erklärte Meena. Sie trat an die Couch, ergriff die Fernbedienung und stellte den Fernseher leiser. »Er hat mich angegriffen. Ich habe ihn gepfählt. Das war seine Mutter, die heute Morgen angerufen hat. Ich musste in New Jersey mit der Polizei sprechen. Ist noch Pizza da? Ich bin am Verhungern.«

Jonathan starrte sie immer noch an. Hoffentlich konnte er nicht sehen, dass sie geweint hatte. Bevor Alaric sie abgesetzt hatte, hatte sie versucht, sich alle Tränenspuren abzuwischen.

Sie hatte zwar nichts dagegen, dass ihr Bruder sah, wie sehr sie die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden mitgenommen hatten, aber sie wollte verhindern, dass er sich genauso aufregte wie sie. Sie standen sich sehr nahe … schließlich hatten sie beide die Erziehung ihrer Eltern überlebt, die überhaupt nicht dazu geeignet gewesen waren, Kinder zu haben.

Peinlich berührt von einer Tochter, die jedem, den sie kennenlernte, mitteilte, wie er sterben würde, beschlossen Mr und Mrs Harper, einem Psychiater zu glauben, der ihnen erklärte, das Problem würde schon vergehen, wenn sie ihr Kind nicht ermutigen würden.

Aber weil Meena ihre Freunde und Verwandten aus dem Wunsch heraus informierte, ihren Tod zu verhindern, und nicht, um Aufmerksamkeit zu erlangen, produzierte die ablehnende Haltung ihrer Eltern einen neurotischen, isolierten Teenager, aus dem dann – wie so häufig – eine neurotische, isolierte Autorin wurde.

Stattdessen konzentrierten die Harpers sich auf ihren sportlichen, beliebten Sohn Jonathan, aus dem ein erfolgreicher, offener junger Mann wurde …

… bis er seinen Job als Finanzanalyst verlor.

Mr und Mrs Harper fanden, dass er dadurch nur auf sich aufmerksam machen wollte, und zeigten ihm die kalte Schulter, weil sie glaubten, er würde umso schneller wieder auf die Beine kommen, wenn er sich nicht auf seine Eltern stützen könnte.

Das wäre sicher ein korrektes Verhalten gewesen, wenn er seinen Job wegen Drogen oder mangelnder Leistung verloren hätte.

Aber Jonathan war einfach, wie Millionen andere auch, während der Rezession entlassen worden.

Also nahm Meena ihren großen Bruder bei sich auf, als er seine Miete nicht mehr bezahlen konnte, und Jonathan versuchte, Meena vor den Dracul zu retten, die ihr unbedingt das Blut aussaugen wollten, damit sie ebenfalls die Zukunft vorhersagen konnten.

Meena liebte ihren Bruder und würde alles für ihn tun, und sie wusste, dass er genauso für sie empfand. Sie hatten nur einander.

Doch sie wusste auch, dass er mit manchen Dingen einfach nicht umgehen konnte. Deshalb hatte die Geheime Garde auch sie eingestellt und nicht ihn, obwohl er unbedingt einen Job dort haben wollte.

»Das überrascht mich gar nicht, dass David Delmonico in einen Vampir verwandelt worden ist und versucht hat, dich umzubringen.« Jonathan ergriff eine Pizzaschachtel vom Fußboden und reichte sie Meena. »Der Typ war so ein Arschloch, ich weiß sowieso nicht, was du jemals an ihm gefunden hast. Wollte er nicht jedem Veneers verpassen?«

Meena nahm sich ein Stück Pizza. Hoffentlich merkte Jonathan nicht, wie sehr ihre Hände zitterten. Sie hatte sich immer noch nicht beruhigt.

Aber das war ja auch kein Wunder nach allem, was Alaric ihr im Auto über die verschwundenen Touristen erzählt hatte.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Als ich ihn kennenlernte, war er süß.«

»Er hatte doch anscheinend das Verfallsdatum schon auf der Stirn eingraviert«, entgegnete Jonathan. »Ich fasse es ja nicht, dass gerade du ihn ins Jenseits geschickt hast. Hat er nicht eine Krankenschwester oder so geheiratet?«

Meena zuckte zusammen. »Ja«, antwortete sie, »Brianna. Sie wird auch vermisst.«

»Vermisst?« Jonathan blickte sie aufgeregt an. »Ehrlich? Hat David sie getötet?«

Meena ließ die Pizzakruste in die Schachtel fallen.

»Weißt du was?«, sagte sie. »Es war ein langer Tag, und mir ist nicht so nach Reden zumute. Ich möchte eigentlich nur noch ein Bad nehmen. Dann muss ich mich umziehen, weil ich noch einmal weg …«

Jonathan nahm ihr die Pizzaschachtel ab. »Soll ich Adam und Leisha anrufen und sie fragen, ob sie erst später vorbeikommen können? Das kann ich gerne machen. Sie flippen aus, wenn sie hören, dass David tot ist, obwohl …«

Meena starrte ihn an.

»Adam und Leisha kommen vorbei? Wovon redest du?«

»Dem San-Gennaro-Straßenfest«, sagte er. »Erinnerst du dich? Adam und Leisha kommen gleich mit dem Baby, damit wir hingehen können. Adam holt sie gerade noch von der Arbeit ab und kommt dann mit ihr hierher. Der Termin steht doch schon seit acht Wochen fest. Jetzt sag bloß nicht, du hast es vergessen.«

Meena streichelte mit zitternden Händen Jack Bauer, der ihr auf den Schoß gesprungen war.

»Doch, das habe ich vergessen«, erwiderte sie mit schwacher Stimme.

»Meena, wenn du jetzt absagen willst, dann muss ich dich warnen«, meinte Jon. »Adam war den ganzen Tag hier und hat von nichts anderem geredet als davon, wie sehr er sich auf heute Abend freut. Sie sind seit Monaten nicht mehr zusammen ausgegangen.«

Meena zuckte zusammen. Sie wusste, dass das stimmte. Aber sie wusste auch, dass dieser Zeitpunkt denkbar ungeeignet war, um sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

»Jonathan«, entgegnete sie, »du musst Adam anrufen und ihm sagen, dass wir unsere Pläne geändert haben. Sag ihnen, sie sollen nach Hause gehen, sich chinesisches Essen bestellen und sich einen Film ausleihen.«

»Was zum Teufel ist denn los mit dir, Meena?« Jonathan sprang auf. »Ich soll sie anrufen und ihnen sagen, du kannst nicht, weil … ja, warum denn eigentlich? Bist du so durcheinander, weil du deinen Exfreund getötet hast?«

»Deshalb nicht«, antwortete Meena und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich kann nicht gehen, weil jemand da draußen Menschen in Vampire verwandelt und sie in die Stadt schickt. Und gestern Abend hat einer von ihnen versucht, mich zu töten. Seine Frau ist noch nicht wieder aufgetaucht. Glaubst du, ich will Adams und Leishas Leben in Gefahr bringen, indem ich sie einlade, mit mir auf ein Straßenfest zu gehen? Und zwar eins, auf dem an diesem Wochenende über eine Million Menschen erwartet werden? Und dann haben sie auch noch das Baby dabei! Das ist doch Wahnsinn. Es könnte alles Mögliche passieren. Sie sollten sich am besten jetzt nicht mal mehr auf der Straße aufhalten.«

Jonathan schaute sie zerknirscht an.

»Oh«, sagte er. »Na ja, wenn du es so formulierst … ja, zu Hause sind sie wahrscheinlich besser aufgehoben. Was ist denn überhaupt mit dir und all den Untoten, die dich umbringen wollen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Meena düster und streichelte Jack Bauer. »Ich habe eine besondere Gabe.«

»Ja, ernsthaft.« Jonathans Miene hellte sich auf. »Hey, bedeutet das, dass sie jemanden zu deiner Bewachung schicken? Aus der Geheimen Garde? Alaric vielleicht?«

Meena seufzte. Es schien erst ein paar Wochen her zu sein, seit man ihren Bruder und sie darüber informiert hatte, dass es dunkle, paranormale Mächte gab und dass Meenas neuer Freund, Lucien Antonescu, hinter alldem steckte. Alaric Wulf – den man geschickt hatte, damit er es ihnen mitteilte – hatte erklärt, er würde nicht aus ihrer Wohnung weichen, bis sie ihm Luciens Adresse gab.

Damals hatte Jonathan seine Faszination für die Geheime Garde entwickelt … und sich sozusagen in Alaric verliebt. Meena wünschte sich inständig, ihr Bruder hätte eine Freundin, damit das endlich vorüber wäre.

Aber es war natürlich schwer, eine Freundin zu finden, wenn man als Barista arbeitete und in einer winzigen Kammer in der Wohnung der Schwester in Little Italy wohnte. Auch wenn das Objekt seiner Zuneigung eine angehende Schauspielerin aus Osteuropa war, die noch vor einem halben Jahr Sklavin in einem Vampir-Sexring gewesen war und jetzt als Schneiderin im Secondhandshop der Kirche arbeitete.

In gewisser Weise konnte Meena auch verstehen, dass Jonathan sich zu Alaric hingezogen fühlte. So frustrierend Alaric manchmal sein konnte, zu anderen Zeiten – wie zum Beispiel heute früh vor der Polizeiwache in Freewell, als er sie in seinen starken Armen gehalten hatte – konnte er … nun ja, wundervoll sein.

Allerdings wartete Jonathan nicht deshalb so gespannt auf sein Erscheinen.

»Glaubst du, er sieht sich meinen SuperStaker an?«, fragte er.

Meena betrachtete den seltsamen Gegenstand, den ihr Bruder in der Hand hielt. Es war ihr Haartrockner.

Andererseits aber auch wieder nicht. Ihr Haartrockner war gelb. Das Ding war schwarz.

»Es hat beinahe funktioniert«, sagte Jonathan gerade. Er drückte auf den Startknopf. Doch es kam kein Laut heraus. Auch keine Luft. »Na ja, beinahe eben. Es hat immer noch ein paar Macken. Und ich konnte es natürlich noch nicht testen. Wirklich schade, dass du es nicht dabeihattest, als du David begegnet bist. Er wäre das perfekte Testobjekt gewesen.«

Meena hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er redete. Aber sie liebte ihren Bruder.

»Ja, Alaric sieht es sich bestimmt an, wenn er vorbeikommt«, sagte sie zögernd. »Er ist nur noch kurz zu seiner Wohnung gefahren. Dann kommt er mich abholen. Wir müssen heute Abend auf einen Empfang. Hör mir gut zu: Wenn wir weg sind, darfst du niemanden hier hereinlassen. Niemanden! Deine Pflöcke hast du, oder? Und Weihwasser auch? Halte alle Fenster geschlossen, und mach die Tür nicht auf, bis wir wieder zu Hause sind, okay?«

Jonathan wirkte geschockt. »Du gehst aus? Aber wenn doch Vampire die Stadt überfallen, wäre es dann nicht besser … ?«

»Es ist Arbeit«, unterstrich Meena. »Der Empfang ist ein Geschäftstermin. Es hat was mit der Geheimen Garde zu tun.«

Sie hatte vor allem eingewilligt, mit zur Ausstellungseröffnung zu kommen, weil Abraham betont hatte, wie wichtig ihre Teilnahme sei.

Und nachdem Alaric ihr seine Theorie bezüglich der verschwundenen Touristen erläutert hatte, hielt sie es für besser, ihn zu begleiten, damit er niemand anderem davon erzählte.

Lucien mochte ja zum Teil ein Monster sein. Doch das machte ihn noch lange nicht zur Bestie.

Allerdings musste sie unwillkürlich daran denken, wie rot Luciens Augen gestern Abend geleuchtet hatten, als er sie im Schlafzimmer geküsst hatte. Besonders menschlich hatten sie nicht ausgesehen.

Aber bewies das nicht eher, dass Lucien auf gar keinen Fall etwas mit dem Verschwinden der Touristen zu tun haben konnte? Dann würde er doch nicht so ausgehungert wirken!

Und wenn jemand in Manhattan sein Unwesen trieb und Touristen aussaugte, dann würde der Fürst der Finsternis ja wohl bestimmt darüber Bescheid wissen. Er war schließlich der Herrscher der dunklen Wesen.

Meena war sich jedoch nicht sicher, wie es mit seiner Herrschaft dieser Tage noch aussah, wenn sie bedachte, in welcher Verfassung Lucien gewesen war. Würde er wirklich wissen, wer dafür verantwortlich war, dass Menschen in alarmierender Menge aus Manhattan verschwanden? Er hatte ja auch nicht gewusst, wer David verwandelt hatte.

Meena machte sich mehr denn je Sorgen um Lucien, vor allem, weil er sich geweigert hatte, ihre Theorie über ihren Traum anzuhören. Es hatte so ausgesehen, als ob es ihm körperliche Schmerzen bereitete, als sie das Thema aufgebracht hatte.

Und jetzt, da sie ihn in ihr Schlafzimmer eingeladen hatte, konnte sie die Einladung nicht wieder rückgängig machen. Irgendetwas sagte ihr, dass er heute Nacht dort auftauchen würde.

Bestimmt nicht, um mit ihr über ihren Traum zu reden.

Das war natürlich nicht der einzige Grund gewesen, warum sie nur mit den Schultern gezuckt und gleichgültig getan hatte, als Alaric erklärt hatte, er wolle bei ihr in der Wohnung übernachten.

Er sollte nicht dahinterkommen, dass Lucien nicht nur schon wusste, wo sie wohnte, sondern sie ihn gestern Abend sogar mit zu sich genommen hatte. Böse Geister konnten ein Haus nur betreten, wenn man sie ausdrücklich einlud. Jetzt konnte Lucien kommen und gehen, wann er wollte, solange er den Kreuzen und dem Knoblauch auswich.

Der Gedanke allerdings, dass Alaric in der Nähe war, schien ihr wenig tröstlich, wenn man bedachte, wie Lucien sich verhalten hatte – seine Augen hatten so rot geleuchtet, als ob ein Feuer dahinter lodern würde.

Was war nur los mit ihr? Sie hatte Lucien immer vertraut und geglaubt, dass er ihr nie etwas tun würde. Gestern Abend hatte er geschworen, er würde sie noch lieben, und seine Küsse waren so verzweifelt gewesen, dass sie überzeugt war, er sagte die Wahrheit.

Warum sollte sie es denn dann tröstlich finden, Alaric in der Nähe zu haben? Er hatte doch Lucien immer nur töten wollen.

Sie wusste es nicht. Und ein Teil von ihr war sich ziemlich sicher, dass sie es gar nicht wissen wollte.

Deshalb machte ihr Herz vielleicht auch einen kleinen Satz, als ein paar Stunden später das Klopfzeichen an der Tür ertönte, das sie mit Alaric vereinbart hatte. Mittlerweile fühlte sie sich fast wieder wie ein Mensch. Sie hatte gebadet, sich ein enges schwarzes Kleid angezogen und war in neue High Heels geschlüpft.

Sie verstand nicht, warum ihr Herz schneller schlug. Sie freute sich doch gar nicht darauf, Alaric zu sehen.

Aber kaum hatte sie die Tür geöffnet und sein Gesicht gesehen, da wusste sie es.

Es lag nicht an Alarics Kleidung. Er sah gut aus in seinem Smoking, die dunkelblonden Haare noch feucht vom Duschen.

Nein, es lag an seinen Augen. Heute Abend glitzerten sie nicht jungenhaft und mutwillig wie sonst. Sie leuchteten auch nicht tödlich entschlossen. Sie kannte den Ausdruck nicht.

»Was ist?«, fragte sie, und ihr Herz schlug noch schneller. Was war passiert? Lucien? War etwas mit Lucien? Jetzt schon? Aber Alaric war doch gerade erst gekommen. War Lucien etwa gleichzeitig mit ihm im Flur …? Meena versuchte, an Alarics breiten Schultern vorbeizuschauen.

»Mach mal die Nachrichten an«, sagte er grimmig.

Erst da erkannte sie den Ausdruck in seinen Augen. Sie hatte ihn bisher nur einmal gesehen, in jener Nacht in der Sankt-Georgs-Kathedrale, als Lucien Antonescu sie beinahe getötet hatte.

Es war Angst.