Kapitel 16

1 e9783641062019_i0138.jpg Kaeleer

Daemon ging die Treppenstufen hinab, die in den Garten im Innern der Burg führten, in den Garten mit den beiden Statuen.

Als er aus dem Beruhigungsmittelschlaf erwacht war, der ihm von Surreal und Saetan verordnet worden war, hatte er darum gebeten, den Bergfried verlassen zu dürfen. Sie waren mit ihm gekommen. Tersa ebenfalls.

Lucivar nicht.

Das war vor einer Woche gewesen.

Er war sich nicht sicher, was er in den vergangenen Tagen getan hatte. Sie waren einfach verstrichen. Und nachts …

Nachts kroch er von seinem eigenen Bett in Jaenelles, weil es der einzige Ort war, an dem er schlafen konnte. Ihre Signatur war dort spürbar, und im Dunkeln konnte er sich beinahe einreden, dass sie nur kurz weg sei, dass er eines Morgens erwachen würde und sie an ihn geschmiegt daläge.

Er starrte die Statue des Mannes an, der eine Hand oder Pfote in einer beschützenden Geste über der schlafenden Frau ausgestreckt hielt. Teils Mensch, teils Biest. Das Wilde als Beschützer der Schönheit. Doch jetzt sah er noch etwas anderes in den Augen des Mannes funkeln: die Todesqualen, den Preis, der manchmal gezahlt werden musste.

Er wandte sich ab und ging zu der anderen Statue hinüber. Lange, sehr lange Zeit blickte er ihr unverwandt ins Gesicht – in jenes vertraute, geliebte Antlitz.

Da kamen ihm die Tränen – wieder einmal. Der Schmerz hingegen war immer vorhanden.

»Tersa sagt mir unaufhörlich, dass alles gut werden wird, dass ich einer vertrauen solle, die es gesehen habe«, sagte er zu der Statue. »Surreal ermahnt mich immer wieder, nicht aufzugeben, dass die verwandten Wesen es schaffen werden, dich zurückzuholen. Und das möchte ich ja auch glauben. Ich muss es glauben. Aber wenn ich Tersa direkt auf dich anspreche, reagiert sie zögerlich und meint, es sei zu früh, um etwas zu wissen. Die verwandten Wesen kämpfen darum, den Traum im Fleisch festzuhalten.« Er stieß ein verbittertes Lachen aus. »Sie kämpfen nicht darum, den Traum im Fleisch festzuhalten, Jaenelle. Sie kämpfen darum, ausreichend viel von dir wieder zusammenzufügen, damit es überhaupt etwas gibt, wohin der Traum zurückkehren kann. Und du wusstest, was passieren würde, nicht wahr? Als du dich entschieden hast, es zu tun, wusstest du es!«

Er ging auf und ab, beschrieb einen Kreis und kehrte zu der Statue zurück.

»Ich habe es für dich getan«, sagte er leise. »Ich habe dir Zeit verschafft, ich habe das Spiel für dich gespielt. Für dich.« Sein Atem ging unruhig, und er begann zu schluchzen. »Ich wusste, dass ich ein paar Dinge tun müsste, die man mir nicht verzeihen würde. Das wusste ich, als du mich darum gebeten hast, nach Hayll aufzubrechen; doch ich tat es trotzdem. F-für dich. Weil ich dachte, ich würde zu dir zurückkommen, und alles andere sei dann egal. W-weil du auf mich warten würdest. Doch du hast mich dorthin geschickt, obwohl du wusstest, dass du bei meiner Rückkehr nicht hier sein würdest, obwohl du wusstest …« Er sank in die Knie. »Du hast gesagt, keine Opfer. Du wolltest mein Versprechen, keine Opfer darzubringen. Aber wie nennst du dann das hier, Jaenelle? Wie nennst du es? Bei meiner Rückkehr sollten wir h-heiraten … Und du hast mich verlassen. Verdammt noch mal, Jaenelle! Ich habe es für dich getan, und du hast mich verlassen. Du hast mich verlassen.«

Weinend brach er auf dem Rasen neben der Statue zusammen.



Lucivar stützte sich mit einer Faust an der Steinmauer ab und neigte den Kopf.

Mutter der Nacht! Daemon hatte sich auf das Spiel eingelassen und erwartet, zu seiner eigenen Hochzeit zurückzukehren. Mutter der Nacht!

Er war hier, weil Marian ihm heute Morgen leidenschaftlich ins Gewissen geredet hatte. Er hatte das ganze Temperament zu spüren bekommen, das unter ihrem ruhigen Naturell verborgen lag. Sie hatte ihm gesagt, ja, er sei verletzt worden, doch man habe ihn verletzt, um Daemonar und sie zu retten. Anschließend hatte sie ihn gefragt, ob er es vorgezogen hätte, seine Ehefrau oder seinen Sohn tatsächlich zu verlieren, wenn dafür auf seine Gefühle Rücksicht genommen worden wäre. Außerdem hatte sie ihm an den Kopf geworfen, dass der Mann, den sie geheiratet hatte, den Mut besitzen würde, zu vergeben.

Deshalb war er hergekommen.

Doch jetzt …

Als Daemon und er in Terreille Sklaven gewesen waren, hatten sie beide ihre Spielchen gespielt, hatten einander benutzt und sich gegenseitig wehgetan. Manchmal hatten sie es getan, um ihren eigenen Schmerz zu vergessen, gelegentlich war es aus besseren Beweggründen geschehen. Doch sie waren immer in der Lage gewesen, über jene Spiele hinwegzusehen und die einander zugefügten Wunden zu verzeihen, weil es niemand anderen gegeben hatte. Sie hatten miteinander gekämpft, doch gleichzeitig hatten sie auch füreinander gekämpft.

Mittlerweile hatte er andere Menschen, einen größeren Kreis, den er liebte. Eine Frau, einen Sohn. Vielleicht lag es daran. Er brauchte Daemon nicht mehr. Doch, beim Feuer der Hölle, in diesem Moment brauchte Daemon ihn!

Aber es war mehr als das. Vor dreizehn Jahren hatte er Daemon fälschlich beschuldigt, Jaenelle umgebracht zu haben. Das war der erste harte Schlag gewesen und hatte dazu geführt, dass Daemon acht Jahre im Verzerrten Reich verbracht hatte, verloren im Wahnsinn. Und Daemon hatte ihm verziehen, weil er, wie er meinte, bereits um einen Bruder getrauert habe und es nicht ein zweites Mal tun wolle.

Dreizehn Jahre lang hatte Daemon eine unendlich schmerzhafte Lüge geglaubt. Er selbst hingegen hatte nur zwei Tage lang an eine grausame Unwahrheit glauben müssen. Marian hatte Recht gehabt, ihm eine erbitterte Moralpredigt zu halten.

Folglich würde er tun, was in seiner Macht stand, um sich wieder zu versöhnen – um seinetwillen genauso wie um Daemons willen. Denn im Laufe jener langen Jahrhunderte der Sklaverei, als sie nur einander gehabt hatten, war ihre Wut immer wieder aufgelodert und in Hass umgeschlagen, doch darunter hatte sich immer Liebe befunden.

Lucivar stieß sich von der Mauer ab und ging die Treppe hinab. Er ließ sich auf dem Gras neben Daemon in die Knie sinken und berührte seinen Bruder an der Schulter.

Daemon blickte ihn an, das Gesicht von Kummer und Schmerz gezeichnet. Dann warf er sich ihm in die ausgebreiteten Arme.

»Ich will sie wiederhaben«, rief Daemon schluchzend. »Oh, Lucivar, ich will sie zurück!«

Lucivar hielt ihn fest umschlungen, während ihm selbst die Tränen die Wangen hinabliefen. »Ich weiß, Bruder. Ich weiß.«

2 e9783641062019_i0139.jpg Kaeleer

Du reist ab?« Lucivar sprang auf und starrte Saetan entgeistert an. »Was meinst du damit, du reist ab? Wohin?« Er ging hinter den beiden Sesseln auf und ab, die vor dem Ebenholzschreibtisch standen. Anklagend wies er mit dem Finger auf seinen Vater. »Du gehst nicht ins Dunkle Reich. Dort ist niemand mehr. Und du wirst nicht alleine leben.«

»Lucivar«, sagte Saetan ruhig. »Lucivar, so hör mir doch bitte zu.«

»An dem Tag, an dem die Sonne in der Hölle scheint!«

*Mistkerl*, meinte Daemon auf einem schwarzgrauen Speerfaden.

*Und warum im Namen der Hölle sitzt du bloß dort?*, wollte Lucivar wissen. *Schließlich ist er auch dein Vater. *

Daemon verbiss sich eine wütende Entgegnung. *Lass ihn ausreden, Mistkerl. Wenn uns nicht gefällt, was er zu sagen hat, dann werden wir auf alle Fälle etwas dagegen unternehmen. * »Du willst wegen Sylvia fort?«, fragte er seinen Vater.

Lucivar erstarrte. Leise fluchend sank er in seinen Sessel zurück.

»Zum Teil«, antwortete Saetan. »Hüter sollen sich nicht inmitten der Lebenden aufhalten. Nicht auf diese Weise.« Er zögerte, bevor er hinzufügte: »Wenn ich bleibe … Ich kann nicht bleiben und mit ihr befreundet sein und sie ermuntern … Sie verdient es, mit jemandem zusammen zu sein, der ihr mehr geben kann als ich.«

»Du könntest nach Ebon Rih kommen und bei uns leben«, schlug Lucivar vor.

»Danke, Lucivar, aber ich muss dein Angebot ablehnen. Mir …« Saetan holte tief Luft. » Mir wurde eine Stelle im Bergfried als stellvertretender Geschichtsschreiber und Bibliothekar angeboten. Geoffrey meint, er spüre langsam die Last der Jahre, außerdem sei es meine Schuld, dass er jetzt mehr Arbeit denn je habe, weil ich dem Hexensabbat die Bibliothek des Bergfrieds gezeigt hätte. Von daher ist es an der Zeit, dass ich mich ein wenig nützlich mache.«

»Der Bergfried ist gleich um die Ecke von unserem Haus«, sagte Lucivar.

»Du wirst auf keinen Fall Daemonar in die Bibliothek bringen !«

Lucivar bedachte Saetan mit einem schiefen Grinsen. »Hast du mich etwa dorthin mitgenommen, als ich in seinem Alter war?«

»Einmal«, erwiderte Saetan trocken. »Und Geoffrey erinnert mich heute noch gelegentlich an dieses kleine Abenteuer.« Er warf Daemon einen Blick zu. »Ich werde euch beide besuchen. Schließlich muss ich doch wissen, welchen Unsinn ihr anstellt.«

Die Anspannung fiel von Daemon ab. Er wollte seinen Vater sehen, aber nicht im Schwarzen Askavi. Den Bergfried würde er niemals wieder betreten.

»Der Familie gehören drei Gebiete in Dhemlan«, erklärte Saetan. »Ich habe sie zwischen euch aufgeteilt. Daemon, dir überlasse ich die Burg und sämtliche Ländereien und Erträge, die dazugehören. Lucivar, du erhältst das Land nahe der Grenze von Askavi. Der andere Besitz soll euch beiden gehören.«

»Ich brauche keine Ländereien«, wandte Lucivar ein.

»Du bist immer noch der Kriegerprinz von Ebon Rih, weil die Leute wollen, dass du der Kriegerprinz von Ebon Rih bist. Doch vielleicht möchte Daemonar nicht herrschen – oder du könntest andere Söhne und Töchter haben, die eine andere Art von Leben vorziehen. Du wirst der Verwalter dieser Ländereien sein, weil die Familie SaDiablo dieses Land seit tausenden von Jahren verwaltet hat. Verstanden?«

»Ja, Sir«, meinte Lucivar leise.

»Und du?«, sagte Saetan mit einem strengen Blick auf Daemon.

»Ja, Sir«, erwiderte er genauso leise. Nun, das erklärte, weshalb Saetan die letzten beiden Monate darauf bestanden hatte, ihn in die Familiengeschäfte einzuführen. Er hatte geglaubt, es handele sich nur um den Versuch, ihn zu beschäftigen, damit er keine Zeit zum Nachdenken habe.

Die Arbeit war ihm mehr als willkommen gewesen, zumal Saetan die Bürde auf sich genommen hatte, Geoffrey bei einer weitaus schwierigeren Aufgabe zu helfen. Man hatte Daemon und Lucivar über die Ergebnisse unterrichtet, doch er wusste, dass es ihm unerträglich gewesen wäre, die Informationen anzusammeln.

Über vierzig Prozent der Angehörigen des Blutes in Terreille waren tot. Endgültig tot. Weitere dreißig Prozent waren nur zur einfachsten Kunst in der Lage. Die Angehörigen des Blutes, die noch in Terreille übrig waren, befanden sich in einem regelrechten Taumel, hervorgerufen durch die miterlebte Zerstörung – und die plötzliche Freiheit.

Er hatte nicht gefragt, was mit Alexandra, Leland und Philip geschehen war – und Saetan hatte nicht von sich aus davon gesprochen. Oder falls er es doch getan hatte, dann nur Wilhelmina gegenüber.

Die Zahlenverhältnisse waren in Kleinterreille ungefähr die gleichen wie im Reich Terreille. Doch der Rest von Kaeleer war beinahe unberührt – mit Ausnahme von Glacia. Karla stand vor der schwierigen Aufgabe, ihr Volk wieder zu vereinen und ihren Hof neu zu bilden. Der Makel, mit dem Dorothea und Hekatah die Angehörigen des Blutes befleckt hatten, mochte vernichtet sein, doch die Narben blieben.

Alles hat seinen Preis.

»Was ist mit Jaenelles Haus in Maghre?«, fragte Lucivar.

Daemon schüttelte den Kopf. »Wilhelmina soll es haben. Sie möchte sich auf Scelt niederlassen und …«

»Das Haus ist für Jaenelle gepachtet worden«, meinte Saetan bestimmt. »Es bleibt Jaenelles. Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, dass Wilhelmina darin wohnt, bis sie etwas Eigenes gefunden hat, kann sie das gerne.«

Daemon gab sich geschlagen. Er liebte das Haus ebenfalls, doch er war sich nicht sicher, dass er jemals wieder dort leben könnte. Genauso wenig war er sich sicher, ob Saetan tatsächlich daran glaubte, dass Jaenelle zurückkommen würde, oder ob sein Vater sich nur nicht eingestehen wollte, dass sie für immer fort war. Schließlich waren mittlerweile zwei Monate verstrichen, ohne dass sie etwas gehört hatten, mit Ausnahme von Tersas ununterbrochener – und nutzloser – Versicherung, alles werde gut. »Gibt es sonst noch etwas?«

Er las die Antwort an Saetans Augen ab. »Ich komme in einer Minute nach«, sagte er zu Lucivar, als sein Bruder sich erhob und ihn auffordernd ansah.

Als sie allein waren, meinte Saetan vorsichtig: »Ich weiß, wie du im Moment zum Schwarzen Askavi stehst.«

Daemon beeilte sich zu sagen: »Ich hoffe wirklich, dass du mich besuchen kommen wirst, denn ich werde nie wieder einen Fuß in den Bergfried setzen.«

»Einmal wirst du noch dorthin müssen«, sagte Saetan sanft. »Draca möchte dich sehen.«

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Es … sss … gibt da etwas, das … sss … ich dir zeigen möchte. « Draca schloss eine Tür auf und trat zur Seite.

Daemon betrat einen gewaltigen Raum, der sich als Porträtgalerie entpuppte. Viele Dutzend Gemälde hingen an den Wänden.

Zuerst sah er jedoch nur ein einziges. Das letzte.

Da er es nicht ertrug, jenes Bild anzusehen, wandte er sich davon ab und begann die restlichen Porträts der Reihenfolge nach zu betrachten. Manche waren sehr, sehr alt, aber alle waren meisterhaft gemalt. Als er langsam das Zimmer abschritt, fiel ihm auf, dass die Bildnisse sämtliche Rassen der Angehörigen des Blutes abbildeten – und dass sie alle Frauen zeigten.

Als er das letzte Bild erreichte, musterte er Jaenelles Porträt eine lange Zeit. Dann wanderte sein Blick zu der Signatur. Dujae. Natürlich.

Er drehte sich um und sah zu Draca.

»Sie alle waren Fleisch … sss … gewordene Träume, Prinz«, sagte Draca freundlich. »Manche hatten nur einen Träumer, andere waren eine … sss … Brücke. Diese waren Hexe

»Aber …« Daemon blickte erneut zu den Porträts. »Ich kann Cassandras Porträt nicht entdecken.«

»Sie war eine Hexe mit … sss … schwarzem Juwel, die Königin des Schwarzen … sss … Askavi. Doch sie war nicht Hexe. Sie war nicht Fleisch … sss … gewordene Träume.«

Er schüttelte den Kopf. »Hexe trägt Schwarz. Sie ist immer eine Königin mit schwarzem Juwel.«

»Nein. Das … sss … ist nicht immer der Traum, Daemon. Es hat sanfte Träume gegeben und … sss … starke Träume. Es hat Königinnen gegeben und Liedermacherinnen.« Sie hielt kurz wartend inne. »Dein Traum war es … sss … der Gefährte der Königin des Schwarzen Askavi zu sein. Ist das … sss … nicht so?«

Daemons Herz begann in seiner Brust zu hämmern. »Ich dachte, sie waren ein und dasselbe. Ich dachte, Hexe und die Königin des Schwarzen Askavi seien dieselbe Person.«

»Und wenn sie es nicht sind?«

In seinen Augen brannten Tränen. »Wenn sie nicht dieselbe Person gewesen wären, wenn ich zwischen der Königin und Jaenelle hätte wählen müssen … dann hätte ich diesen Ort hier niemals betreten. Entschuldige mich, Draca. Ich …«

Er wollte an ihr vorbeilaufen, doch da hob sie die Hand, als wolle sie ihn zurückhalten. Es wäre ihm nicht schwergefallen, an ihr vorüberzugehen, doch er konnte sich jemandem wie ihr gegenüber nicht derart respektlos verhalten.

Sie bewegte ihre Hand langsam und legte sie ihm schließlich auf den Arm.

»Die Königin des … sss … Schwarzen Askavi ist gestorben«, flüsterte sie kaum hörbar. »Aber das …sss … Herz von Kaeleer, Hexe … sss … lebt.«

4 e9783641062019_i0141.jpg Kaeleer

Du wirst das Einkommen annehmen, das ich dir vermache«, meinte Saetan wütend, während Surreal und er durch einen der Gärten der Burg spazierten. Er war davon ausgegangen, dass dies eine leichte Aufgabe sein würde, etwas, womit er sich die Zeit vertreiben könnte, bis Daemon vom Bergfried zurückkehrte.

»Ich brauche dein verfluchtes Einkommen nicht«, fuhr Surreal ihn schroff an.

Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um. »Bist du ein Mitglied der Familie oder nicht?«

Sie trat auf ihn zu, bis ihre Zehenspitzen die seinen berührten. »Ja, ich gehöre zur Familie, aber …«

»Dann nimm das verfluchte Einkommen!«, rief er.

»Warum?«, schrie sie zurück.

»Weil ich dich liebe!«, brüllte er. »Und ich möchte es dir geben.«

Sie stieß eine Serie von Flüchen aus.

Beim Feuer der Hölle, warum waren nur all seine Kinder derart stur?

Er zügelte sein Temperament. »Es ist ein Geschenk, Surreal. Bitte nimm es an.«

Sie schob sich das Haar hinter die Ohren. »Wenn du es so formulierst …«

Ein Wolf erhob die Stimme zu einem Heulen, das von etlichen Pausen unterbrochen wurde.

»Das ist nicht Graufang«, stellte Surreal fest.

Saetan spannte sich an. »Nein, es ist ein Wolf aus dem Rudel in den nördlichen Wäldern.«

Sorge trat in ihre Augen. »Einer von ihnen ist zurückgekommen? Warum klingt das Jaulen so abgehackt?«

»Die Tigerlaner benutzen Trommeln, um Nachrichten zu übermitteln – bloß für schöne Dinge, wie einen Tanz oder eine spontane Versammlung«, erwiderte Saetan geistesabwesend. »Das hat die Wölfe fasziniert, und sie haben ihre eigenen Signale entwickelt.«

Die gleiche Serie von Heulen und Jaulen war erneut zu hören.

»Das hätte Graufang mir gegenüber aber auch mal erwähnen können«, murmelte Surreal verdrießlich. »Was bedeutet dieses Signal?«

»Es bedeutet, dass es eine Botschaft gibt, auf die alle achten sollen.«

Der Wolf setzte zu einem anderen Lied an. Dann fiel ein weiterer Wolf ein. Und noch einer. Und noch einer.

In die Ferne lauschend, fing Saetan zu weinen an – und zu lachen. Es gab nur einen einzigen Grund, weswegen die Wölfe ihre Stimmen auf diese ganz besondere Weise erheben würden.

Surreal packte ihn am Arm. »Saetan, was ist los?«

»Es ist ein Lied der Freude. Jaenelle ist zurückgekehrt.«

5 e9783641062019_i0142.jpg Kaeleer

Es war Frühherbst. Seit seiner Ankunft in Kaeleer war beinahe ein Jahr vergangen.

Behutsam ließ Daemon die kleine Kutsche auf der Weide landen und stieg aus. Am Rand der Wiese wartete Ladvarian auf ihn.

Seit Wochen hatte er einen Wutausbruch nach dem anderen gehabt, gefleht, gebettelt und geflucht. Es hatte nichts geholfen. Draca hatte darauf bestanden, dass sie selbst nicht genau wisse, wo die verwandten Wesen Jaenelle versteckt hätten. Außerdem hatte sie gesagt, dass der Heilungsprozess noch sehr instabil sei, und die Anwesenheit einer starken Signatur – und schwieriger Gefühle – schädlich sein könnten. Schließlich hatte sie ihm entnervt vorgeschlagen, sich nützlich zu machen.

Also hatte er sich in die Arbeit gestürzt. Und an jedem einzelnen Abend hatte er einen Brief an Jaenelle geschrieben, hatte ihr von seinem Tag berichtet und ihr sein Herz ausgeschüttet, das vor Liebe überquoll. Zwei- bis dreimal pro Woche suchte er den Bergfried auf und ging Draca auf die Nerven.

Jetzt war die Botschaft endlich eingetroffen. Die verwandten Wesen hatten alles in ihrer Macht Stehende getan. Die Heilung war nicht abgeschlossen, doch der Rest würde Zeit in Anspruch nehmen, und Jaenelle sollte sich von nun an in einer warmen Menschenhöhle aufhalten.

So hatte Daemon endlich erfahren, wohin er die Kutsche bringen sollte, in der Jaenelle zurück zur Burg fahren würde.

Er überquerte die Weide und blieb einen knappen Meter vor Ladvarian stehen. Der Sceltie sah unnatürlich dünn aus, doch in den braunen Augen schimmerte Freude – und Wachsamkeit.

»Ladvarian«, meinte Daemon leise und voll Respekt.

*Daemon.* Ladvarian trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. *Menschenmann … Manche Menschenmänner achten zu sehr auf das Äußere.*

Er verstand die Warnung und konnte die Angst aus den Worten heraushören. Nun begriff er auch, weswegen sie ihm nicht gestattet hatten, früher zu kommen – sie hatten befürchtet, er könnte ihren Anblick nicht ertragen. Sie hatten immer noch Angst.

»Es macht nichts, Ladvarian«, sagte er sanft. »Es macht nichts.«

Der Sceltie musterte ihn eingehend. *Sie ist sehr zerbrechlich. *

»Ich weiß.« Das hatte Draca ihm wieder und wieder eingeschärft, bevor sie ihn hatte ziehen lassen.

*Sie schläft viel.*

Er lächelte trocken. »Ich habe kaum geschlafen.«

Zufrieden drehte Ladvarian sich um. *Hier entlang. Pass auf. Es gibt viele Sicherheitsnetze.*

Als er sich umsah, entdeckte er die Verworrenen Netze, die einen Geist bestricken und in eigenartige Träume – oder schreckliche Alpträume – locken konnten.

Er ging vorsichtig vorwärts.

Nachdem sie etliche Minuten gegangen waren, erreichten sie einen Pfad, der in eine geschützte Bucht führte. Auf einer Anhöhe, ein gutes Stück über dem Grundwasserspiegel, stand ein großes Zelt. Der farbige Stoff würde vor Sonneneinstrahlung schützen, schien jedoch lose genug zu sein, um Luft durchzulassen.

In der Nähe des Wassers befanden sich zahlreiche ungeschickt erbaute Sandburgen. Er musste lächeln, als er sah, wie Kaelas versuchte, mit einer seiner riesenhaften Pfoten Sand aufzulesen.

Am Zelteingang waren die Stoffbahnen zurückgeschlagen, sodass die Frau sichtbar war, die im Inneren schlief. Sie trug einen langen Rock aus wild ineinander wirbelnden Farben. Ihr amethystfarbenes Hemd war nicht zugeknöpft und der Stoff zur Seite geglitten, sodass man ihren Oberkörper sehen konnte.

Schon nach einem Blick wich Daemon jäh von dem Zelt zurück.

Ein paar Meter weiter blieb er stehen und versuchte, normal einzuatmen, während sich sein Magen verkrampfte.

Die verwandten Wesen hatten ihr Bestes gegeben. Sie hatten sich monatelang mit aufrichtiger Hingabe auf den Heilungsprozess konzentriert, um überhaupt zu diesem Ergebnis zu gelangen. Nie im Leben wollte er wissen, wie sie ausgesehen haben musste, als sie Jaenelle hierher gebracht hatten!

Er spürte, wie Ladvarian von hinten auf ihn zutrat. Da der Sceltie wusste, wie sie ausgesehen hatte, verstand der Hund seine Reaktion wahrscheinlich nicht. »Ladvarian …«

*Sie ist zu schnell von den heilenden Netzen aufgestiegen*, sagte Ladvarian mit einer Stimme, in der bittere Vorwürfe mitschwangen. * Wegen dir.*

Langsam wandte Daemon sich um. Sein Herz blutete nach dem verbalen Schlag, den der Hund ihm versetzt hatte.

*Wir haben versucht, ihr zu sagen, dass du unverletzt bist, dass sie länger unten in den heilenden Netzen bleiben müsse. Wir versicherten ihr, dass die Selt- … dass Tersa dir sagen würde, dass sie zurückkäme, dass sich der Höllenfürst um seinen Welpen kümmern würde. Doch sie hat nur immer wieder gesagt, dass du leiden würdest, und dass sie es versprochen habe. Sie blieb so lange in den Netzen, bis ihre inneren Verletzungen geheilt waren und stieg dann empor. Doch als sie sah …*

Daemon schloss die Augen. Nein. Süße Dunkelheit, nein! Sie hatte bestimmt Schmerzen gehabt, Qualen erlitten. Das alles wäre ihr erspart geblieben, wenn sie unten in den heilenden Netzen geblieben wäre.

»Tersa hat es mir gesagt«, stieß er mit gebrochener Stimme hervor. »Immer und immer wieder. Doch … ich konnte nur daran denken, dass Jaenelle versprochen hatte, mich zu heiraten, und mich dann verlassen hatte, und…« Die Stimme versagte ihm.

*Vielleicht hätten wir dich einweihen sollen*, sagte Ladvarian nach langem Schweigen zögerlich. *Wir haben bezweifelt, dass die Menschen an ihre Heilung glauben würden – zumindest nicht stark genug. Aber vielleicht hättest du daran glauben können, wenn wir dir von all den Netzen erzählt hätten. *

Es war nicht sehr wahrscheinlich. Egal, wie sehr er daran hätte glauben wollen, ihn hätten Zweifel beschlichen – und vielleicht hätte er am Ende alles zerstört, was er retten wollte. »Tersa sagte mir, alles würde gut werden. Ich habe nicht auf sie gehört.«

Erneut herrschte Schweigen. Schließlich meinte der Hund: *Es ist schwer zuzuhören, wenn man mit der Pfote in einer Falle steckt.*

Dieses Maß an Verständnis, die Vergebung taten ihm weh. Er sah den Sceltie an, denn er musste die Wahrheit erfahren. »Ladvarian … habe ich sie für immer zum Krüppel gemacht?«

*Nein*, erwiderte der Sceltie sanft. *Sie wird heilen, Prinz. Von Tag zu Tag geht es ihr ein Stück besser. Es wird nur länger dauern.*

Daemon ging zu dem Zelt zurück und betrat das Innere.

Diesmal sah er nur Jaenelle vor sich.

*Sie ist ganz. Es fehlt kein Stück*, sagte Ladvarian besorgt.

Mit einem Nicken schlüpfte Daemon aus den Schuhen, zog sich das Jackett aus und legte sich dann behutsam neben sie. Er stützte sich auf einen Ellbogen, um sie betrachten zu können. Zaghaft streckte er die Hand aus und strich mit den Fingern über ihr kurzes goldenes Haar. Beinahe war er zu ängstlich, um auch nur so weit zu gehen. Sie war so zerbrechlich. So furchtbar, furchtbar zerbrechlich. Aber sie lebte!

*Wir mussten ihr das Fell stutzen.*

Angesichts des Zustands, in dem sie sich befunden haben musste, war es eine praktische Lösung gewesen, um den verwandten Wesen zu ersparen, sie regelmäßig ›striegeln‹ zu müssen.

Er streichelte ihr leicht mit den Fingern über die Wange. Ihr Gesicht war zwar schrecklich abgemagert, aber immer noch dasselbe.

Dann fiel ihm das Juwel auf, das auf ihrer Brust ruhte. Zuerst dachte er, es handele sich um Purpur. Dann konnte er in den Tiefen des Juwels Rose, Aquamarin und Opal funkeln sehen. Grün, Saphir und Rot. Grau und Schwarzgrau. Und einen Hauch von Schwarz.

*Es heißt Schatten der Dämmerung*, erklärte Ladvarian. *Es gibt kein anderes Juwel dieser Art.* Mit diesen Worten zog sich der Sceltie zurück und ließ Daemon mit ihr allein.

Er beobachtete sie, während sie schlief; sah ihr einfach nur zu. Nach einer Weile war er mutig genug, um seine Finger auf Erkundungsreise zu schicken.

Ladvarian hatte Recht. Sie war ganz, doch sie war kaum mehr als eine dünne Hülle aus Haut, die um Knochen und Organe lag.

Als ein Finger sachte über ihre Brustwarze strich, hielt er inne, dachte über das offene Hemd nach und blickte sich dann zu dem Strand um, von wo aus Ladvarian und Kaelas ihn beobachteten. *Sie wusste nicht, dass ich komme, nicht wahr?*

*Nein*, erwiderte Ladvarian.

Er musste nicht fragen, warum das so war. Wenn es ihm nicht möglich gewesen wäre, das zu akzeptieren, was sich seinen Blicken bot, hätten die verwandten Wesen ihr niemals erzählt, dass er hierher gekommen war. Stattdessen hätte Ladvarian sie an einen anderen Ort gebracht, zu jemand anderem , der sie im Laufe der Wintermonate heilen würde.

Er kannte seine Antwort. Er liebte sie und wollte nur eines: bei ihr sein. Doch trotz Ladvarians Worten … oder wegen Ladvarians Worten … war er sich nicht länger sicher, ob sie ihn immer noch wollte.

Da regte sie sich ein wenig, und er wusste, dass er nirgendwohin gehen würde, solange sie ihn nicht fortschickte.

Er richtete sich vorsichtig auf, um ihr nicht wehzutun, beugte sich über sie und strich sanft mit den Lippen über die ihren.

Er hob den Kopf. Sie starrte ihn aus gehetzten Saphiraugen an.

»Daemon?« In ihrer Stimme lag so viel Unsicherheit.

»Hallo, mein Herz.« Er rang darum, nicht zu weinen, was seine Stimme heiser klingen ließ. »Ich habe dich vermisst.«

Mühsam hob sie langsam die Hand und legte sie ihm an die Wange. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Daemon.«

Als sie seinen Namen diesmal sagte, klang es wie eine zärtliche Liebkosung und wie ein Versprechen.