Kapitel 8

1 e9783641062019_i0058.jpg Kaeleer

Lord Magstrom ging nervös in dem Zimmer umher, in dem die Unterlagen des Dienstbasars aufgehoben wurden. Er war nur zwei Tage zu Hause gewesen und immer noch dabei, sich um die offiziellen Angelegenheiten seines Heimatdorfes zu kümmern. Doch Lord Jorval hatte ihn dringend gebeten, in die Hauptstadt von Kleinterreille zurückzukehren, da es eine Sache von »höchster Bedeutung« zu besprechen gäbe.

Zuvor hatte Magstrom mehrere Tage bei seiner ältesten Enkelin und deren Ehemann verbracht – Tage voll Aufregung und Besorgnis anstatt der Ruhe, derer er so sehr bedurfte. Seine Enkelin war mit ihrem ersten Kind schwanger, und es ging ihr, obwohl sie sehr glücklich darüber war, alles andere als gut. Folglich hatte er die meiste Zeit damit verbracht, ihrem Mann zu versichern, dass seine Enkeltochter sich nicht von dem Mann scheiden lassen würde, den sie liebte, nur weil sie ein paar Wochen lang ihr Frühstück nicht bei sich behalten konnte.

Magstrom hätte nicht »ein paar Wochen« sagen sollen. Der junge Mann hatte daraufhin ausgesehen, als könne er jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Zwar hatte Magstrom in aller Eile einen Brief über die Unstimmigkeiten, die ihm in den Unterlagen des Dienstbasars aufgefallen waren, an den Höllenfürsten geschrieben, doch hatte er letztlich gezögert, ihn abzuschicken. War es nicht möglich, dass seine eigene Übermüdung ihn dazu veranlasst hatte, finstere Machenschaften zu sehen, wo es sich in Wirklichkeit nur um nachlässige Schreibarbeit gehandelt hatte?

Egal. Sobald er wieder zu Hause war, würde er einen besser durchdachten, sorgfältig formulierten Brief aufsetzen, einen, der seiner Besorgnis Ausdruck verlieh, anstatt blind Alarm zu schlagen.

In dem Moment, in dem er seine Entscheidung gefällt hatte, wurde die Tür schwungvoll geöffnet, und Lord Jorval betrat das Zimmer.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist, Magstrom«, meinte Jorval ein wenig atemlos. »Ich war mir nicht sicher, wem sonst ich vertrauen könnte. Aber jeder, der mit dir zusammengearbeitet hat, weiß, dass du unmöglich in diese Sache verstrickt sein kannst!«

»Und was genau ist diese Sache?«, wollte Magstrom vorsichtig wissen.

Jorval trat an die Regale mit den Unterlagen und zog eine dicke Mappe heraus.

Magstrom verkrampfte sich innerlich. Es war die hayllische Mappe – dieselbe, die er sich angesehen hatte, bevor er so überstürzt aus Goth abgereist war.

Mit zitternden Händen blätterte Jorval durch die Papiere und breitete dann einige Blätter auf dem großen Tisch aus. »Sieh dir das an. In diese Listen haben sich Unstimmigkeiten eingeschlichen.« Er eilte erneut zu den Regalen, zog mehrere Mappen hervor und warf sie auf den Tisch. »Und nicht nur bei den hayllischen Listen. Zuerst dachte ich, es handele sich um Schreibfehler, aber…« Er zog ein Blatt Papier aus einer der Mappen und deutete darauf. »Kannst du dich an diesen Mann erinnern? Er war völlig ungeeignet, um nach Kaeleer einzuwandern. Völlig ungeeignet.«

»Ich erinnere mich an ihn«, sagte Magstrom matt. Ein widerlicher Kerl, dessen mentale Signatur ihm einen Schauder über den Rücken gejagt hatte. »Er hat Aufnahme an einem Hof gefunden?«

»Ja«, erwiderte Jorval grimmig, »und zwar an diesem hier.«

Magstrom betrachtete die hingekritzelten Worte mit zusammengekniffenen Augen. Der Name der Königin sowie das Territorium, das sie beherrschte, waren kaum zu entziffern. Mit Sicherheit ließ sich nur sagen, dass sich das Territorium in Kleinterreille befand. »Wer ist diese … Hektek?«

»Ich weiß es nicht. Es gibt keine Königin namens Hektek in Kleinterreille, die auch nur über ein Dorf herrscht. Aber an jenem Hof wurden dreißig Terreilleaner aufgenommen. Dreißig!«

»Wohin gehen dann diese ganzen Leute?«

Jorval zögerte. »Ich glaube, dass jemand direkt vor unserer Nase heimlich ein Heer zusammenstellt und den Dienstbasar benutzt, um seine Spuren zu verwischen.«

Magstrom schluckte hart. »Weißt du, wer es ist?« Er erwartete halb, dass Jorval den Höllenfürsten bezichtigen würde – was lächerlich wäre.

»Ich glaube schon«, entgegnete Jorval, in dessen Augen ein eigenartiges Glitzern trat. »Wenn sich mein Verdacht bestätigen sollte, müssen die Territoriumsköniginnen von Kaeleer auf der Stelle gewarnt werden. Deshalb habe ich dich gebeten, herzukommen. Heute Abend treffe ich mich mit jemandem, der behauptet, im Besitz von Informationen über die Leute zu sein, die von den Listen verschwunden sind. Ich wollte, dass ein weiteres Mitglied des Rates mich begleitet, um Zeuge zu sein. Dich habe ich auserkoren, weil der Höllenfürst auf dich hören wird, falls wir tatsächlich in Gefahr schweben sollten.«

Magstrom erwog seine nächsten Worte sorgfältig. »Da die Weitergabe dieser Informationen mit einem gewissen Risiko verbunden sein dürfte, sollten wir diese Person nicht warten lassen,« sagte er schließlich.

»Nein«, antwortete Jorval in seltsamem Tonfall, »das sollten wir besser nicht.«

Kurz nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, fanden sie eine von Pferden gezogene Mietdroschke. Undurchdringliches Schweigen senkte sich auf das Kutscheninnere, bis sie ein paar Minuten später hielten.

Magstrom stieg aus der Droschke und fühlte, wie heftige Angst in ihm aufstieg, als er sich umsah. Sie befanden sich am Rand von Goths Elendsviertel, keinem Ort, an dem man sich unüberlegt aufhalten sollte – als alter Mann schon gar nicht.

»Ich weiß«, meinte Jorval gehetzt, während er Magstrom am Arm packte und begann, ihn durch die engen, schmutzigen Straßen zu führen. »Ein ziemlich unmöglicher Treffpunkt, aber ich denke, deshalb hat man ihn ausgewählt. Selbst wenn uns jemand erkennen sollte, würde er glauben, sich getäuscht zu haben.«

Schwer atmend gab Magstrom sich Mühe, mit Jorval Schritt zu halten. Er spürte Blicke, die ihnen aus dunklen Torwegen folgten – und er konnte das kurze Aufflackern der Kräfte derjenigen spüren, die sie beobachteten. Es gab viele Gründe, weswegen ein Mann mit dunklem Juwel an einem Ort wie diesem enden konnte.

Schließlich schlüpften sie durch die Hintertür eines großen Gebäudes und erklommen schweigend die Treppenstufen. Vor einer Tür im zweiten Stock hantierte Jorval ungeschickt mit dem Schlüssel herum und trat dann beiseite, um Magstrom die Zimmerflucht betreten zu lassen.

Die Möbelstücke in dem Wohnzimmer waren abgenutzt und heruntergekommen. Der Raum an sich sah aus, als sei er schon seit langem nicht einmal mehr oberflächlich gereinigt worden. Außerdem stank es nach Moder.

»Stimmt etwas nicht?«, wollte Jorval eigenartig fröhlich wissen.

Magstrom ging auf die schmalen Fenster zu. Ein wenig frische Luft würde vielleicht gegen den Gestank helfen. »Ich glaube, hinter den Wänden muss eine Maus oder Ratte verendet sein, also …«

Jorval gab ein seltsames Geräusch von sich – ein scharfes, hohes Kichern. Im selben Augenblick öffnete sich die Schlafzimmertür, und eine Gestalt, deren Gesicht von einer Kapuze verhüllt war, betrat das Zimmer.

Magstrom drehte sich um – und brachte kein Wort heraus.

Fingerknochen sahen aus der aufgeplatzten Haut hervor, als die braunen Hände die Kapuze zurückschoben.

Magstrom starrte die hasserfüllten goldenen Augen in dem zerfurchten, verwelkten Gesicht an. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Er wich einen Schritt zurück. Dann noch einen … und noch einen … bis er an eine Wand anstieß.

Jorval lächelte ihm zu. »Ich dachte, es sei an der Zeit, dass du die Bekanntschaft der Dunklen Priesterin machst.«

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Stimmt etwas nicht?«, erkundigte Daemon sich bei Saetan. Er warf Lucivar einen Blick zu und stellte fest, dass dieser ihren Vater aufmerksam musterte.

Schließlich sah Saetan von dem Blatt Papier auf, das mitten auf seinem Schreibtisch lag. »Ich habe einen Brief von Lord Jorval erhalten, in dem er mir schreibt, dass Lord Magstrom letzte Nacht brutal ermordet wurde.«

Daemon stieß langsam die Luft aus, wohingegen Lucivar fluchte. »Ich bin Magstrom kurz auf dem Dienstbasar begegnet. Er schien ein anständiger Mann zu sein.«

»Das war er«, bestätigte Saetan. »Und er war das einzige Mitglied des Dunklen Rates, mit dem Jaenelle zu tun haben wollte.«

»Wie ist er umgekommen?«, wollte Lucivar unverblümt wissen.

Saetan zögerte. »Man fand ihn in einer Gasse im Elendsviertel von Goth. Der Körper war derart zerfetzt, dass das Gerücht umgeht, er sei von einem verwandten Wesen angefallen worden.«

»Wieso fällt der Verdacht immer gleich auf die verwandten Wesen?«, fragte Daemon im selben Augenblick, in dem Lucivar zornig meinte: »War es ein vollständiger Tod?«

»Ja, es war ein vollständiger Tod«, beantwortete Saetan zuerst Lucivars Frage. »Von daher besteht nicht einmal die geringste Hoffnung, dass Magstrom lange genug im Dunklen Reich als Geist weilt, um jemandem sagen zu können, was ihm wirklich zugestoßen ist. Es gibt wilde Hundemeuten, die tatsächlich eine Gefahr darstellen können, aber mithilfe der Kunst hätte Magstrom einen Schild erschaffen können, der ihn beschützt. Nur ein Rudel verwandter Wesen oder aber ein verwandtes Wesen, das dunklere Juwelen als Magstrom trug, hätte ihm das antun können.«

»Ist das wahrscheinlich?«, fragte Daemon.

»Wenn ein fremder Mensch in ein Territorium der verwandten Wesen spaziert, ist es fast eine gegebene Tatsache. Aber in Goth? Nein.«

»Folglich hat man ihn verstümmelt, um die wahren Wunden zu verbergen, die zu seinem Tod geführt haben.«

»Davon müssen wir ausgehen.«

»Möchte Jorval die Heilung verschieben?«, erkundigte sich Lucivar.

Saetan schüttelte den Kopf. »Das Treffen ist für den späten Nachmittag angesetzt. Sind sämtliche Vorbereitungen getroffen? «

Lucivar nickte. »Wir brechen in der nächsten Stunde auf.«

»Der Ort, an den ihr Jaenelle bringt, ist sicher?«, fragte Saetan.

»Es ist ein Wachhaus in Dea al Mon«, gab Lucivar Auskunft. »Chaosti wird uns begleiten, und die Wachen der Dea al Mon werden uns kräftemäßig ergänzen. Katze hat ein paar Erledigungen in Amdarh zu machen, von daher werden wir im Anschluss wohl direkt dorthin weiterreisen und ein oder zwei Tage bleiben. Chaosti wird hierher zurückkehren und Bericht erstatten.«

Nur mit Mühe gelang es Daemon, die Eifersucht im Zaum zu halten, die ihn von innen her zerfraß. Selbstverständlich würde Lucivar ein paar Tage mit Jaenelle verbringen, obgleich die Eyrier immer noch darauf warteten, sich vor dem Wintereinbruch in Askavi niederlassen zu können, und obwohl er Frau und Kind hatte. Jaenelle war nicht nur seine Schwester, sondern auch seine Königin. Er würde sie begleiten, wann und wo auch immer sie ihn benötigte.

Daemon schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den zeitlichen Verlauf der Geschehnisse. Während seiner Reise von Goth zur Burg war er nicht bei klarem Verstand gewesen, aber sie musste doch mindestens zwei Stunden gedauert haben. Diesen geheimen Ort in Dea al Mon zu erreichen, würde wahrscheinlich noch länger in Anspruch nehmen. Wenn Lucivar vorhatte, in der nächsten Stunde zu dem Wachhaus aufzubrechen, plante er dort so anzukommen, dass gerade noch genug Zeit wäre, damit Jaenelle sich ausruhen und ein spätes Mittagessen zu sich nehmen konnte, bevor sie tat, was immer sie zu tun gedachte. Gerade noch genug Zeit …

Da erwachte der Sadist in ihm. Er sah zu Saetan hinüber und stellte fest, dass sich dieselben Zweifel in den Augen seines Vaters widerspiegelten, die auch er hegte. »Wann ist der Leichnam gefunden worden?«, fragte er eine Spur zu ruhig.

Lucivar wurde mit einem Mal sehr aufmerksam. Dann fluchte er heftig.

Kurzzeitig erwiderte Saetan Daemons unverwandten Blick. »Wenn Jorval sofort informiert wurde, hätte er gerade noch genug Zeit gehabt, eine eilige Nachricht zu verfassen und sie per Kurier hierher zu schicken«, bemerkte der Höllenfürst.

»War sie übereilt geschrieben?«

»Nein, das würde ich nicht sagen.«

Jorval hatte also von Magstroms Tod gewusst, bevor man den Leichnam entdeckt hatte. Und Jorval war derjenige, der Jaenelles Reise nach Kleinterreille eingefädelt hatte.

Sobald Lucivar und er Saetans Arbeitszimmer hinter sich gelassen hatten, legte Daemon seinem Bruder eine Hand auf die Schulter, wobei sich seine langen, schwarz gefärbten Fingernägel gerade so tief in dessen Fleisch bohrten, dass er sich Lucivars ungeteilter Aufmerksamkeit sicher sein konnte. »Du wirst alles tun, was nötig ist, um sie zu beschützen und für sie zu sorgen, nicht wahr?«

»Ich werde sie beschützen, Bastard. Darauf kannst du dich verlassen.« Dann setzte Lucivar sein träges, arrogantes Lächeln auf. »Aber kümmern wirst du dich schon selbst um sie müssen. Du hast weniger als eine Stunde zum Packen, alter Knabe. Nimm genug Sachen mit, um auch noch ein paar Tage in Amdarh bleiben zu können.«

Entgeistert starrte Daemon Lucivar an. Dann trat er einen Schritt zurück und ließ die Hände in seinen Hosentaschen verschwinden. »Sie fühlt sich in meiner Nähe nicht wohl, Mistkerl. « Nicht einmal Lucivar gegenüber würde er zugeben, wie Jaenelle quasi aus den eigenen Räumlichkeiten geflohen war, um von ihm wegzukommen, nachdem er die Nacht bei ihr verbracht hatte. »Es würde sie nur beunruhigen, wenn ich auch dort wäre.«

»Du bist ihr Gefährte«, versetzte Lucivar schroff. »Also steh gefälligst deinen Mann.«

»Aber …«

»Vor diesem Treffen wird sie keinem von uns beiden Beachtung schenken, und ich werde mit dabei sein, wenn ihr nach Amdarh reist. Während sie herumflucht, weil ich ihr ständig im Weg bin, wird sie gar keine Zeit haben, sich von deiner Anwesenheit nervös machen zu lassen.« Lucivar überging den nächsten, bereits schwächer vorgebrachten Einwand. »Ich brauche dich in diesem Wachhaus, Daemon.«

Schließlich begriff er. Lucivar wollte nicht, dass er mitkam, weil er der Gefährte, sondern weil er der Sadist war.

Daemon nickte. »Ich werde reisefertig sein, sobald ihr es seid.«

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Als Lucivar die verhaltene Trauer in Jaenelles Augen erblickte, musste er nicht erst fragen, ob man sie von Lord Magstroms Tod in Kenntnis gesetzt hatte. Beinahe hätte er sich erkundigt, ob sie das Treffen verschieben wollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Etwas anderes in ihren Augen sagte ihm, dass sie ihre ganz persönlichen Beweggründe hatte, dieses Treffen nicht ausfallen zu lassen.

Er beäugte die gewaltige flache Schachtel, die neben ihrer Reisetasche stand. Jaenelle besaß mehrere Schachteln unterschiedlicher Größe, in denen sich die Holzrahmen befanden, die sie benutzte, um ihre unterschiedlichen Netze zu weben.

»Du erwartest, ein derart großes heilendes Netz weben zu müssen?«, fragte er.

»Es ist nicht für das heilende Netz, sondern für den Schatten. «

Er warf der Kiste erneut einen Blick zu. Bei einem so genannten Schatten handelte es sich um eine komplizierte Illusion, die den Anschein erweckte, eine Person sei tatsächlich anwesend. Jaenelle konnte einen Schatten erschaffen, der so realistisch war, dass er in der Lage war, Dinge aufzuheben oder anzufassen. Der einzige Unterschied zu einem echten Lebewesen war, dass man ihn nicht berühren konnte. Diese Art Schatten hatte sie vor acht Jahren erschaffen, als sie ihre Suche nach Daemon begonnen hatte, um ihn aus dem Verzerrten Reich zu holen. Lucivar konnte sich noch gut entsinnen, wie sehr die Aufrechterhaltung jenes Schattens sie körperlich ausgezehrt hatte.

»Fühlst du dich wohl genug, so viel Kraft durch deinen Körper auf den Schatten umzuleiten, dass er einen derart umfangreichen Heilungsprozess durchführen kann?«

»So umfangreich wird der Heilungsprozess nicht sein«, gab ihm Jaenelle gelassen zur Antwort.

Das war nicht der Eindruck, den Saetan und er Jorvals dringlichen Briefen entnommen hatten, doch er sagte lieber nichts. Die letzten paar Jahre in Jaenelles Diensten hatten ihn erkennen lassen, wann er sich ihrem Willen zu beugen hatte.

Sie ließ die Kiste und die Reisetasche verschwinden und griff nach einem bodenlangen schwarzen Umhang mit Kapuze. »Sollen wir uns auf den Weg machen?«

4 e9783641062019_i0061.jpg Kaeleer

Kartane SaDiablo ging im Wohnzimmer seiner Zimmerflucht auf und ab.

Das Luder verspätete sich. Wenn er bei sich zu Hause wäre, hätte das Miststück so etwas niemals gewagt, Dorotheas Sohn warten zu lassen. Beim Feuer der Hölle, er freute sich beinahe darauf, nach Hayll zurückzukommen!

Während er sich immer weiter in Rage redete, hätte er beinahe das leise Klopfen an der Tür überhört. Er riss sich zusammen. Schließlich war er auf die Schlampe angewiesen, die Jorval zufolge die beste Heilerin in ganz Kaeleer war. Wenn er sich ihr gegenüber nicht höflich verhielt, konnte nichts und niemand sie daran hindern, kehrtzumachen und gleich wieder aus der Tür zu spazieren.

Er ging zu den Fenstern hinüber und blickte nach draußen. Sie sollte nicht wissen, dass er begierig auf ihre Ankunft gewartet hatte, denn es bestand kein Anlass, ihr auch nur diese kleine Macht über ihn zu gewähren. »Herein!«, rief er, als das Klopfen ein zweites Mal erklang.

Obwohl er das Öffnen der Tür nicht gehört hatte, stand eine Gestalt in einem langen schwarzen Umhang mit Kapuze im Zimmer, als er sich das nächste Mal umdrehte.

Zuerst dachte er, es handele sich um jene Hexe, die Dorothea die Dunkle Priesterin nannte, doch deren mentaler Signatur haftete etwas Schleimiges an, wohingegen …

Kartane runzelte die Stirn. Er konnte nicht die geringste mentale Signatur erspüren. »Du bist eine Heilerin?«, wollte er unsicher wissen.

»Ja.«

Der Klang jener Mitternachtsstimme jagte ihm einen Schauder über den Rücken. Er versuchte, das unbehagliche Gefühl zu ignorieren, das ihn beschlichen hatte, und griff sich an den Kragen, um sich das Hemd aufzuknöpfen. »Du wirst mich untersuchen wollen.«

»Das wird nicht notwendig sein. Ich weiß, was dir fehlt.«

Seine Finger erstarrten an dem Hemdknopf. »Du hast diese Krankheit schon zuvor gesehen?«

»Nein.«

»Aber du weißt, was es ist?«

»Ja.«

Ärgerlich über die kurz angebundenen Antworten gab er es auf, höflich sein zu wollen. »Was zur Hölle ist es also?«

»Es heißt Briarwood«, erwiderte die Mitternachtsstimme.

Auf einen Schlag wich das Blut aus Kartanes Kopf, sodass ihm schwindlig wurde.

»Briarwood ist das süße Gift«, fuhr die Stimme fort, während hellhäutige Hände nach oben griffen und die Kapuze zurückschoben, »gegen das es kein Heilmittel gibt.«

Kartane starrte sie an. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, vor dreizehn Jahren, war sie im Grunde mehr eine unter Drogen gesetzte Marionette gewesen als ein Kind – ein Spielzeug, das man in eine der Kammern in Briarwood gesperrt hatte, für jene, die es benutzen wollten. Doch niemals hatte er jene saphirblauen Augen vergessen oder das Entsetzen, das ihn gepackt hatte, als er versucht hatte, ihren Geist zu berühren.

»Du.« Das Wort entwich ihm zusammen mit seinem Atem. »Ich dachte, Greer hätte dich umgebracht.«

»Er hat es versucht.«

Da traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Anklagend zeigte er mit dem Finger auf sie. »Du hast mir das hier angetan. Du warst es!«

»Ich erschuf das Verworrene Netz, ja. Doch was das betrifft, was dir widerfahren ist, Kartane, so bist du selbst schuld daran.«

»Nein!«

»Doch. Jeder erhält das, was er anderen angetan hat. Das war der einzige Befehl, den ich in das Netz einwob.«

»Da du das hier angerichtet hast, kannst du es verdammt noch mal auch wieder rückgängig machen!«

Sie schüttelte den Kopf. »Viele der Kinder, welche die Fäden jenes Verworrenen Netzes waren, sind in die Dunkelheit zurückgekehrt. Sie sind außer Reichweite, selbst für mich, und es ist unmöglich, das Netz ohne sie zu entwirren.«

»Du lügst!«, rief Kartane. »Wenn ich dir genug Gold gebe, wirst du ganz schnell einen Weg finden!«

»Es gibt kein Heilmittel gegen Briarwood. Allerdings gibt es ein Ende, falls dir das ein Trost sein sollte. Jeder erhält das, was er anderen angetan hat.«

»Was soll das bedeuten?«

»Jeder Schlag, jede Wunde, jede Vergewaltigung, jeder Augenblick der Angst, die du anderen zugefügt hast, wird nun auch dich ereilen. Du bekommst all das zurück, was du ausgeteilt hast, Kartane. Sobald du alles zurückgenommen hast, wird die Rechnung beglichen sein, und das Netz wird dich aus seinem Bann lassen, wie die anderen Männer, die sich einst in Briarwood amüsiert haben.«

»Sie sind alle tot, du dummes Miststück! Ich bin der Letzte, der noch übrig ist. Niemand hat dein Netz überlebt.«

»Das Netz hat lediglich die Bestimmungen abgesteckt. Wenn keiner der anderen überlebt hat … Wie viele Kinder, die man nach Briarwood schickte, haben euch überlebt?«

»Wieso bist du überhaupt hierher gekommen, wenn du nicht vorhast, mich zu heilen? Bloß um dich hämisch an meinem Anblick zu weiden?«

»Nein. Ich kam als Zeugin für all diejenigen her, die nicht mehr sind.«

Nachdem Kartane sie einen Moment lang gemustert hatte, schüttelte er den Kopf. »Du kannst das hier beenden.«

»Ich sagte dir bereits, dass ich es nicht kann.«

»Du kannst es beenden. Du kannst dafür sorgen, dass diese Schmerzen aufhören. Und das wirst du verflucht noch mal auch tun!«

Unter Wutgeheul kam Kartane auf sie zugestürzt – und lief einfach durch sie hindurch. Da er zu viel Schwung hatte, um rechtzeitig zu bremsen, krachte er gegen die Tür.

Als er sich wieder umdrehte, befand sich niemand außer ihm in dem Zimmer.

5 e9783641062019_i0062.jpg Kaeleer

Vorsichtig näherte Daemon sich Jaenelle. Es widerstrebte ihm, sie in ihrer Einsamkeit zu stören, außerdem war er nicht sicher, was die eigenartige Mischung aus Traurigkeit und Genugtuung auf ihrem Gesicht zu bedeuten hatte. Die Einsamkeit war selbstverständlich reine Illusion. Als Jaenelle ihr Zimmer in dem Wachhaus verlassen hatte, um draußen in der Nähe des Baches zu sitzen, waren ihr Lucivar, Chaosti und ein halbes Dutzend Wächter der Dea al Mon gefolgt und eilig im Wald verschwunden. Er konnte keinen der Männer sehen, wusste aber, dass sie ganz in der Nähe waren und alles mitbekamen, was sich zutrug.

»Hier«, sagte er, indem er ihr eine Tasse reichte. »Es ist bloß Kräutertee. Nichts Besonderes.« Als sie sich bei ihm bedankte, ließ er die Hände in die Hosentaschen gleiten. Ein Gefühl der Unsicherheit befiel ihn. »Ist alles in Ordnung?«

Jaenelle zögerte. »Ich habe getan, weswegen ich hergekommen bin.« Sie trank einen Schluck Tee, spähte in die Tasse und warf dann ihm einen Blick zu. »Was ist da drin?«

»Ein bisschen hiervon und ein wenig davon.«

»So, so.«

Wenn irgendeine andere Frau in diesem zweifelnden Tonfall mit ihm gesprochen hätte, wäre er beleidigt gewesen. Doch die Konzentration – und die Spur von Frustration – in ihren Augen während des nächsten Schlucks ließen ihn ahnen, dass ihre Zweifel nicht dem Gebräu an sich galten, sondern seinem abwehrenden »Nichts Besonderes«.

Sie betrachtete ihn forschend. »Du wärst wohl nicht bereit, das Rezept für diesen Trank gegen eines von meinen einzutauschen? «

Da ihr das Getränk derart gut schmeckte, war die Versuchung groß, abzulehnen, damit er der Einzige blieb, der es ihr zubereiten konnte. Doch im nächsten Moment kam ihm in den Sinn, dass ihm viel mehr daran lag, Zeit mit ihr zu verbringen, während sie die Köpfe über einem Tisch voll Kräutern zusammensteckten.

Daemon lächelte. »Ich kenne ein paar Mischungen, die dich vielleicht interessieren dürften.«

Jaenelle erwiderte das Lächeln, leerte dann die Tasse und erhob sich. »Ich möchte bald nach Amdarh aufbrechen«, sagte sie auf dem Rückweg zu dem Wachhaus. »So können wir uns noch heute Abend dort einrichten.«

Trotz Lucivars und Chaostis Warnung fiel es Daemon schwer, ihr nicht vorzuschlagen, zuerst etwas zu essen. Sie hatten ihm erklärt, dass ihre Laune nach dem Treffen sich gewiss auf ihren Appetit auswirken würde. Es hatte nur eines einzigen Blicks auf ihr Gesicht bedurft, als sie aus ihrem Zimmer getreten war, um zu erkennen, dass jeglicher Vorschlag in dieser Hinsicht zwecklos war.

»Ich glaube, Amdarh wird dir gefallen«, meinte Jaenelle. »Es ist eine schöne …« Sie blieb stehen und schnüffelte. »Ist das Eintopf?«

»Ich glaube schon«, antwortete Daemon zuvorkommend. »Lucivar und Chaosti haben ihn gekocht. Er sollte gerade fertig sein.«

»Sie haben Wildholzeintopf gekocht?«

»Soviel ich weiß, heißt das Gericht so.«

Jaenelle warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Du bist bestimmt hungrig, oder?«

Es wäre ihm nur mit Mühe gelungen, seinen Einsatz zu verpassen. »Ich bin tatsächlich hungrig. Meinst du, wir könnten die Abreise nach Amdarh bis nach dem Abendessen verschieben?«

Sie wandte den Kopf ab, doch nicht so weit, dass er nicht hätte sehen können, wie Jaenelle sich mit der Zunge über die Lippen leckte. »Es dauert ja nicht so lange, eine Schüssel Eintopf zu essen. Oder auch zwei«, fügte sie hinzu und eilte in Richtung des Wachhauses.

Daemon machte größere Schritte, um sich nicht abhängen zu lassen. Wie hart würden sich die Männer ihre Essensportionen wohl erkämpfen müssen?

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Kartane stürmte in Jorvals Wohnzimmer. »Lebt dieses Luder noch?«, wollte er ungehalten wissen.

Jorval eilte auf ihn zu, während ein Mann, den Kartane noch nie zuvor gesehen hatte, am Tisch sitzen blieb und ihn anstarrte.

»Lord Kartane«, meinte Jorval besorgt. »Wenn ich gewusst hätte, dass die Heilung nur so kurze Zeit in Anspruch nehmen würde, hätten wir mit dem Abendessen gewartet …«

»Zur Hölle mit dir, beantworte mir gefälligst meine Frage! Ist sie am Leben?«

»Lady Angelline? Ja, natürlich ist sie am Leben. Warum fragst du? Hat sie sich nicht blicken lassen?«

»Sie hat sich blicken lassen«, erwiderte Kartane unwirsch.

»Ich verstehe nicht«, sagte Jorval in klagendem Tonfall. »Sie ist die beste Heilerin im ganzen Reich. Wenn sie …«

»Sie ist diejenige, die mir das hier angetan hat!«

Jorvals Entsetzen machte rasch einem verschlagenen Gesichtsausdruck Platz. »Ich verstehe. Bitte komm und setz dich zu uns. Es ist nicht zu übersehen, dass du einen aufreibenden Nachmittag hinter dir hast. Vielleicht werden dir etwas gutes Essen und angenehme Gesellschaft Erleichterung verschaffen. «

»Nichts wird mir Erleichterung verschaffen, bis ich mir nicht dieses Luder gefügig gemacht habe«, stieß Kartane hervor, der sich auf einem Stuhl an dem Tisch niederließ und ein hastig für ihn eingeschenktes Glas Wein entgegennahm. Wütend blickte er den anderen Mann an, der ihn immer noch anstarrte.

»Lord Kartane«, meinte Jorval mit weicher Stimme, »darf ich dir Lord Hobart vorstellen? Auch ihm ist daran gelegen, Jaenelle Angelline an die Kandare zu legen.«

»Und nicht nur Jaenelle Angelline«, knurrte Hobart.

»Ach ja?« Kartanes eigener Zorn hob sich für den Moment, wohingegen sein Interesse an Hobart wuchs.

»Lord Hobart herrschte etliche Jahre über das Territorium Glacia«, erklärte Jorval. »Als seine Nichte Königin des Territoriums wurde …«

»Das undankbare Luder hat mich in die Verbannung geschickt! «, schrie Hobart.

»Und du möchtest wieder an die Macht gelangen«, sagte Kartane, dessen Interesse sofort zu erlöschen begann.

Da fügte Jorval hinzu: »Lady Karla ist eine enge Freundin von Jaenelle.«

Kartane suchte sich willkürlich Speisen von den Serviertellern aus, während er sich das Gesagte durch den Kopf gehen ließ. In diesem Augenblick gab es nichts, was er lieber getan hätte, als einer engen Freundin dieses Miststücks wehzutun. »Vielleicht kann ich euch behilflich sein. Meine Mutter ist die Hohepriesterin von Hayll.«

Hobart sah nicht nur reichlich unbeeindruckt aus, sondern wirkte geradezu, als sei ihm auf einmal unbehaglich zumute. Er räusperte sich. »Das ist ein großzügiges Angebot, Lord Kartane. Ein sehr großzügiges Angebot, aber …«

»Aber ihr erhaltet bereits Unterstützung von der Dunklen Priesterin«, vermutete Kartane. Als Hobart erbleichte, legte Kartane Mittel- und Zeigefinger seiner Rechten über Kreuz und hielt sie in die Höhe. »Vielleicht ist euch nicht bekannt, dass meine Mutter und die Dunkle Priesterin so zueinander stehen.«

Hobart schluckte hart. Jorval trank seinen Wein und beobachtete sie aus dunklen Augen, die vor verschlagener Heiterkeit funkelten.

»Ich verstehe«, meinte Hobart schließlich. »In diesem Falle ist uns deine Hilfe höchst willkommen.«