Kapitel 14
1 Kaeleer
Du musst mir einen Gefallen erweisen«, meinte Jaenelle und trat steif an den Arbeitstisch, von dem sie zwei kleine Glasbehälter nahm.
»Du musst mir nur sagen, um was es sich handelt«, antwortete Titian. Jaenelle hatte zu viel Macht durch sich hindurchgeleitet, ohne ihrem Körper eine Erholungspause zu gönnen. Was hat sie vor, das so viel Kraft benötigte?
»Einen verschwiegenen Gefallen.«
»Verstanden.«
»Ich brauche Blut von zwei Leuten, die Dorotheas oder Hekatahs Makel tragen. Vorzugsweise jeweils eine Person, die von einer der beiden verdorben wurde.«
Titian dachte kurz nach. »Lord Jorval lebt in der Hauptstadt von Kleinterreille, nicht wahr?«
Jaenelle schluckte. Selbst das schien ihr Mühe zu bereiten. »Ja, Jorval befindet sich zur Zeit in Goth. Kartane SaDiablo ebenfalls.«
»Ach!« Titian betrachtete die erschöpfte Frau vor sich und musste an das Kind denken, das Jaenelle einst gewesen war. Und sie erinnerte sich an andere Dinge. »Ist es schlimm, wenn keiner von beiden den nächsten Sonnenaufgang erlebt?«
Tödliche Kälte schimmerte in Jaenelles Saphiraugen. »Nein.«
Titian lächelte. »In dem Fall werde ich mit deiner Erlaubnis Surreal mitnehmen. Es ist an der Zeit, ein paar Rechnungen zu begleichen.«
2 Kaeleer
Ladvarian stand zitternd in dem gewaltigen Saal, der den Dunklen Thron beherbergte, und blickte zu Lorn empor. Er hatte nicht wirklich Angst vor Lorn – zumindest nicht für gewöhnlich. Doch Lorn war der Prinz der Drachen, des sagenhaften Volkes, das die Angehörigen des Blutes erschaffen hatte. Lorn war sehr, sehr alt und sehr weise und vor allem sehr groß. Ladvarian war kleiner als eines von Lorns Mitternachtsaugen. Im Moment fühlte er sich wirklich sehr klein.
Und dann war da noch Draca, die Seneschallin des Bergfrieds, die Lorns Partnerin und die Drachenkönigin gewesen war, bevor sie ihre wahre Gestalt geopfert hatte, um die Kunst an andere Wesen weiterzugeben.
Opfer. Nein, er wollte nicht an Opfer denken! Es würde kein Opfer geben. Die verwandten Wesen würden es nicht zulassen.
Doch von Lorn und Draca zu einem Zeitpunkt hierher beordert zu werden, an dem die arachnianische Königin so kurz davor stand, jenes besondere Netz der Träume fertig zu stellen … Es machte ihm Angst. Sollten sie den verwandten Wesen verbieten, dies zu tun … Die verwandten Wesen würden es trotzdem machen, koste es, was es wolle.
*Kleiner Bruder*, erklang Lorns tiefe, ruhige Donnerstimme.
*Prinz Lorn.* Ladvarian zitterte so heftig, dass sie es sehen konnten.
*Ich habe ein … sss … Geschenk für dich, kleiner Bruder. Gib dies … sss … der Traumweberin.*
In der Luft vor Ladvarian erschien eine flache Schachtel mit schönen Holzschnitzereien. Als sie aufging, erblickte er einen schnörkellosen Anhänger aus weißem und gelbem Gold und einen ebenso einfachen Ring. Doch das Juwel, das in jene Schmuckstücke eingelassen war, ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Er legte die Ohren flach an den Kopf an.
Es hatte keine Farbe, und doch war es nicht farblos. Ruhelos schimmerte es, begierig darauf, seine Verwandlung zu vollenden. Es zerrte an ihm und versuchte, eine Verbindung mit seinem Geist zu knüpfen.
Er wich einen Schritt zurück. Als er zu Lorn hinauf schaute, wütend und verstört genug, um mit einem Trotz zu reagieren, der zugleich töricht und sinnlos gewesen wäre, stellte er fest, dass Lorns Schuppen das gleiche lichtdurchlässige Schimmern aufwiesen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Winselnd trat er einen weiteren Schritt zurück.
*Hab keine Angst, kleiner Bruder. Es … sss … ist eine Gabe. Die Weberin wird sie für ihr Netz brauchen.*
Ladvarian nahm all seinen Mut zusammen und näherte sich wieder der Schachtel. *Ich habe noch nie ein solches Juwel gesehen.*
*Und du wirst nie wieder ein solches sehen*, erwiderte Lorn freundlich. *Etwas Derartiges wird es nie wieder geben.*
Immer noch argwöhnisch meinte Ladvarian: *Es hat keinen Rang. Es weiß nicht, was es ist.*
*Es weiß selbst… sss … noch nicht, was es ist*, stimmte Lorn ihm zu. *Aber es … sss … hat einen Namen: Schatten der Dämmerung.*
Nachdem Ladvarian mit der Schachtel den Rückweg nach Arachna
angetreten hatte, starrten Draca und Lorn einander an.
»Du gehst ein hohes … sss … Risiko ein, indem du ihm solch ein Juwel aushändigst«, sagte Draca.
*Ich habe meine Gründe, viel … sss … zu riskieren*, antwortete Lorn. *Hexe hat ihr Netz… sss … beinahe fertiggestellt? *
»Ja … sss.« Zum ersten Mal, seitdem sie Jaenelle kennen gelernt hatte, konnte sie die Last ihrer Jahre spüren.
*Wir können den Makel nicht heilen, Draca*, sagte Lorn sanft. *Aber sie … sss … kann es.*
»Ich weiß. Als ich die Gabe der Magie verschenkte, tat ich es aus freien Stücken. Ich wusste, dass … sss … ich von da an niemals ändern könnte, was … sss … damit geschieht.« Draca zögerte. »Wenn sie dies … sss … tut, wird sie sterben.«
*Sie ist Kaeleers … sss … Herz. Sie darf nicht sterben.* Lorn hielt inne, um dann mit weicher Stimme hinzuzufügen: *Die verwandten Wesen waren schon immer … sss … starke Träumer.*
»Werden sie stark genug sein?«
Die Frage, auf die keiner von beiden eine Antwort wusste, hing zwischen ihnen.
3 Kaeleer
Eine verstohlene Bewegung und das plötzliche Aufleuchten einer kleinen Kugel Hexenfeuers ließen Jorval aus seinem unruhigen Schlaf auffahren. »Priesterin?«
Jemand packte ihn am Haar und riss seinen Kopf empor. »Nein«, meinte die Frau mit dem silbernen Haarschopf, während sie Jorval mit dem Messer die Kehle durchschnitt. »Ich bin die Rache.«
4 Kaeleer
Genug«, sagte Daemon. Er führte Jaenelle in ihr Wohnzimmer. »Du musst dich unbedingt ausruhen.«
»Das Netz ist fast fertig. Ich brauche …«
»Erholung. Solltest du einen Irrtum begehen, weil du zu erschöpft bist, um einen klaren Gedanken zu fassen, wäre all das hier umsonst.«
Sie setzte zu einem matten Fauchen an, ließ sich dann aber kraftlos in einen Sessel sinken.
Am liebsten hätte Daemon sie wütend angeschrien, wusste jedoch, dass es keinen Sinn hätte. Sie hatte erschreckend schnell an Gewicht verloren und war nun viel zu dünn. Ihr Hindernisse in den Weg zu legen, würde sie nur zwingen, Energie zu verschwenden, auf die sie nicht verzichten konnte. Also entschied er sich, einen anderen Weg zu beschreiten.
»Vor ein paar Minuten hast du mir erzählt, du würdest noch ein paar Dinge benötigen, um das Netz zu vollenden.«
»Diese Dinge werden Zeit brauchen«, wandte sie ein.
Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie sanft und verführerisch. Als er spürte, wie sie darauf ansprach, murmelte er an ihren Lippen: »Wir gönnen uns ein ruhiges Abendessen. Dann spielen wir ein paar Runden Wiege. Ich werde dich sogar gewinnen lassen.«
Ihr kehliges Lachen erweckte einen Hunger in ihm, der nichts mit dem Abendessen zu tun hatte. Seine Küsse wurden immer leidenschaftlicher, während er mit der Hand über ihre Brüste streichelte.
»Ich glaube, ich bin auch hungrig«, stieß Jaenelle atemlos hervor, als er ihr schließlich Gelegenheit gab, etwas zu sagen.
Nachdem sie den einen Hunger gründlich gestillt hatten, widmeten sie sich einem ausführlichen Abendessen.
5 Hölle
Schmerzen ließen ihn erwachen.
Kartane schlug die Augen auf. Im fahlen Licht zweier verglimmender Kugeln Hexenfeuer konnte er deutlich erkennen, dass er sich im Freien befand. Da bemerkte er, dass er mit dem Kopf nach unten hing. Jemand hatte ihn gefesselt und verkehrt herum aufgehängt!
In dem Gebüsch ganz in seiner Nähe raschelte etwas.
Er wandte den Kopf ein Stück und starrte auf einen eigenartigen Haufen brauner, säuberlich gefalteter Kleidung.
Auf einmal schlug ihm das Herz im Hals und das Atmen fiel ihm schwer.
Die Schatten, die ihn umgaben, hoben sich ein Stück und er konnte ausmachen, dass es sich bei dem seltsamen Haufen keineswegs um Kleidung handelte. Es war braune Haut.
Als er Luft holte, um einen Schrei auszustoßen, erschienen glühend rote Augen in der Dunkelheit um ihn her.
Selbst mit dem Kopf unter Wasser konnte Surreal Kartane schreien hören.
Sie tauchte auf, verschwand dann aber gleich wieder bis zum Hals im Wasser. Der Teich, in den eine heiße Quelle mündete, war herrlich warm, doch die Luft war beißend kalt.
Fauchen, ein Aufheulen und angsterfüllte Schreie drangen an ihr Ohr.
Die Lufttemperatur war nicht das einzig Beißende hier.
»Das ist also die Hölle«, sagte sie und blickte sich um. Es war zu dunkel, um viel erkennen zu können, doch die Gegend um den Teich war von einer gewissen gleichförmigen Schönheit gekennzeichnet.
»Das ist die Hölle«, erwiderte Titian mit einem erfreuten Lächeln. Sie richtete sich auf und sah Surreal forschend an. »Ist die Rechnung zu deiner Zufriedenheit beglichen, Surreal?«
Das Fauchen und die Schreie hörten kurzzeitig auf, um kurz darauf wieder einzusetzen.
»Ja.« Surreal lehnte sich seufzend zurück. »Ich bin zufrieden. «
6 Kaeleer
Manchmal offenbart das Herz mehr, als Glasscheiben es je könnten.«
Saetan wandte sich von dem Fenster ab und spannte sich an. Er trat einen Schritt vor und blieb dann stehen. »Tersa, warum bist du im Bergfried?«
Lächelnd durchquerte Tersa das Zimmer und hielt ihm einen dicken Briefumschlag entgegengestreckt. »Ich bin hergekommen, um dir dies hier zu geben.«
Noch bevor er nach dem Umschlag gegriffen hatte, wusste er, von wem er stammte. Sylvia fügte ihrem Siegelwachs immer einen Tropfen Lavendelöl hinzu.
Tersa legte ihm eine Hand auf die Schulter und küsste ihn auf die Lippen; es war ein sehnsüchtig verweilender Kuss, der ihn überraschte – und beunruhigte.
Sie trat einen Schritt zurück. »Das war der zweite Teil der Botschaft.« Erst als sie bereits beinahe die Tür erreicht hatte, fand er seine Sprache wieder.
»Tersa, das kann nicht der einzige Grund sein, weswegen du zum Bergfried gereist bist.«
»Nein?« Sie blickte verwirrt drein. »Nein, war es nicht.«
Er wartete ab, doch sie sagte nichts.
»Liebling«, drängte er sie sanft, »warum bist du hier?«
Ihr Blick klärte sich, und er war sich sicher, dass er zum ersten Mal in all den Jahrhunderten, die er sie nun kannte, einen Moment lang Tersa so sah, wie sie gewesen war, bevor man sie gebrochen hatte. Sie war furchteinflößend – und strahlend schön.
»Ich werde hier gebraucht«, flüsterte sie und verließ das Zimmer.
Etliche Minuten stand er nur da und starrte auf den Briefumschlag in seinen Händen. »Reiß dich zusammen, SaDiablo«, murmelte er schließlich und öffnete das Kuvert vorsichtig. »Egal, was in dem Brief steht, die Welt wird davon nicht untergehen. «
Es war ein langer Brief. Er las ihn zweimal, bevor er ihn wegsteckte.
Er war nicht in der Lage gewesen, Sylvia mehr als Worte zu bieten, doch anscheinend hatte das gereicht. Der Dunkelheit sei Dank.
7 Terreille
Dorothea schritt in dem Zimmer auf und ab. »In ganz Terreille sammeln sich Heere, die Territorien im Schattenreich werden nun schon seit Wochen von den Leuten angegriffen, die wir in Kleinterreille versteckt hatten, und Kaeleer hat uns noch immer nicht offiziell den Krieg erklärt.«
»Das liegt daran, dass Jaenelle Angelline nicht das Rückgrat hat, ihre Macht einzusetzen«, sagte Hekatah, die sorgfältig ihren bodenlangen Umhang drapierte. »Sie ist bloß eine Maus, die in ihrem Loch hin und her huscht, während sich die Katzen zum Festtagsschmaus versammeln.«
»Selbst eine Maus kann beißen«, versetzte Dorothea.
»Diese Maus wird nicht beißen«, entgegnete Hekatah gelassen. »Sie ist viel zu zimperlich, um einen Schritt zu tun, der zu einem Blutbad führen würde.«
Dorothea war sich in diesem Punkt bei weitem nicht so sicher, wie Hekatah es zu sein schien. Allerdings ließ der Umstand, dass Jaenelle Alexandra nach der fehlgeschlagenen Entführung mit dem Leben hatte davonkommen lassen, auf eine gewisse Temperamentlosigkeit schließen. Sie selbst hätte das Luder gewiss nicht verschont. Diese Sanftmütigkeit Jaenelles gereichte ihnen zum Vorteil, aber trotzdem … »Du scheinst zu vergessen, dass der Höllenfürst Fänge hat und keineswegs zu zimperlich ist, um Gebrauch davon zu machen.«
»Was Saetan betrifft, habe ich nichts vergessen«, knurrte Hekatah wütend. »Sein Ehrgefühl behindert ihn, wie es das schon immer getan hat, und seine emotionale Schwäche wird ihm einen Maulkorb anlegen. Wenn wir ihm nur gut zusprechen, wird er den Schwanz einziehen und tun, was immer wir von ihm verlangen.«
Dorothea hoffte nur, der Sack vermoderter Knochen vor ihr würde Recht behalten. Sie mussten Saetan, Lucivar und Daemon aus dem Weg räumen. Wenn diese drei einmal ausgeschaltet waren, wären die terreilleanischen Heere in der Lage, die Königinnen und Kriegerprinzen Kaeleers zu vernichten. Im Laufe der Geschehnisse würden ganze Armeen niedergemetzelt werden, aber letzten Endes würden sie den Krieg gewinnen. Und dann würde sie über alle Reiche herrschen – nachdem sie der Dunklen Priesterin zu einer wohlverdienten und ewigen Ruhe verholfen hatte.
Der Gedanke ließ sie verzückt stehen bleiben. Da fiel ihr auf, dass Hekatah zum Aufbruch bereit war. »Wohin gehst du?«
Hekatah lächelte boshaft. »Nach Kaeleer. Es ist an der Zeit, den ersten Teil des Köders einzusammeln, der uns die Kontrolle über Jaenelle Angelline verschaffen wird.«
8 Kaeleer
Als Andulvar endlich Zutritt zu Jaenelles Wohnzimmer erhalten hatte, musterte er sie entgeistert. Ihm kamen auf der Stelle etliche Dinge in den Sinn, die er Daemon Sadi am liebsten angetan hätte. Verflucht noch mal, der Mann war ihr Gefährte und hätte sich um sie kümmern müssen! Sie war viel zu dünn, und die Haut unter ihren Augen wies vor lauter Erschöpfung dunkle Schatten auf. In ihren Augen lag ein eigenartiges, beinahe verzweifelt anmutendes Glitzern.
»Prinz Yaslana«, sagte Jaenelle leise.
Soso. Ihre Unterhaltung würde förmlich ablaufen.
»Lady«, erwiderte Andulvar steif. »Da ich offensichtlich nicht als dein Onkel hier bin, darf ich mich dann als Hauptmann deiner Wache an dich wenden?« Als sie zusammenzuckte, bereute er die schroffen Worte auf der Stelle. Sie sah nicht aus, als sei sie in der Lage, allzu viele verbale Schläge einzustecken.
»Ich … Es gibt da etwas, das ich dir zu sagen habe. Und ich brauche deine Hilfe.«
Er gab sich Mühe, freundlicher zu klingen. »Weil ich der Hauptmann deiner Wache bin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Weil du der Dämonenprinz bist. Nach Saetan verfügst du über die größte Autorität in der Hölle. Die Dämonentoten werden auf dich hören – und dir folgen. «
Er trat auf sie zu und nahm sie behutsam in den Arm, da er befürchtete, sie könne zerbrechen, falls er sie so drückte, wie er es eigentlich tun wollte. »Was ist los, Gör?«
Sie lehnte sich gerade weit genug zurück, um ihm in die Augen blicken zu können. »Ich habe einen Weg gefunden, um Dorothea und Hekatah und den Makel aus der Welt zu schaffen, mit dem die Angehörigen des Blutes aufgrund ihrer Machenschaften behaftet sind. Doch die übrigen Angehörigen des Blutes schweben in Gefahr, es sei denn, die Dämonentoten erklären sich bereit, mir zu helfen.«
Eine halbe Stunde später schloss Andulvar die Wohnzimmertür, tat
zwei Schritte und sank dann kraftlos gegen die Wand.
Mutter der Nacht.
Er hegte keinerlei Zweifel am Gelingen des Plans. Jaenelle hätte nicht gesagt, dass sie es tun konnte, wenn sie selbst daran zweifeln würde. Aber … Mutter der Nacht!
Im letzten Krieg zwischen Terreille und Kaeleer hatte er gekämpft. Jener Krieg hatte beide Reiche verwüstet und Millionen das Leben gekostet. Und es hatte keinen Unterschied gemacht. Nun standen sie erneut am Rand der Klippe und kämpften gegen dieselbe ehrgeizige Gier, die einfach wieder untertauchen würde, wenn man sie nicht endlich von Grund auf vernichtete.
Wie Mephis und Prothvar war auch ihm klar gewesen, dass es sinnlos wäre, einen weiteren Krieg auf diese Art und Weise zu führen. Wie diese beiden hatte er sich an dem Tisch umgeblickt, als der Erste Kreis lautstark für eine offizielle Kriegserklärung eingetreten war, und hatte sich gefragt, wie viele der Anwesenden bei Kriegsende noch unter den Lebenden weilen würden.
Jaenelle hatte sich diese Frage nicht gestellt. Sie hatte gewusst , dass keiner von ihnen überleben würde. Beim Feuer der Hölle, es war nicht verwunderlich, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, um die anderen an dem einzigen Ort zu halten, an dem sie in Sicherheit waren.
Und jetzt hatte sie einen Plan, der … beim Feuer der Hölle!
Selbst als sie ihn eingeweiht hatte, hatte er ein ungutes Gefühl bei der Sache gehabt – als habe sie etwas beschönigt. Saetan hätte gewusst, was es war, aber Saetan …
In dieser Beziehung hatte sie Recht. Der Hexensabbat und die Männer würden auf Saetans Weisheit und seine Erfahrung angewiesen sein, um die Wunden zu heilen, die Kaeleer bereits zugefügt worden waren. Deshalb konnte er seinem Freund nicht erzählen, was Jaenelle vorhatte. Das Risiko war einfach zu groß, dass Saetan sich ihnen mit all seiner Macht anschließen würde, anstatt zurückzubleiben. Doch das durfte nicht passieren, denn nachdem alles vorüber war, würden die Lebenden den Höllenfürsten dringend brauchen.
Ladvarian wartete in den Schatten, bis feststand, dass Andulvar
tatsächlich fort war. Dann schlüpfte er in Jaenelles
Wohnzimmer.
Sie starrte aus dem Fenster. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass alles gut werden würde, obgleich er sich da keineswegs sicher war. Doch, er war sich sicher! Alles würde gut werden. Die verwandten Wesen würden keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Sie würden stark sein. Allerdings konnte er ihr das nicht anvertrauen, denn nun war eine Zeit der Klauen und Fänge angebrochen. Eine Zeit des Tötens. Und sie konnten sich nicht sicher sein, ob sie in der Lage wäre, zu töten, wenn sie ihr offenbarten, was im Anschluss geschehen würde.
Doch es gab etwas anderes, das er ihr erzählen musste.
*Jaenelle?*
In ihren Augen spiegelten sich zu gleichen Teilen Trauer und Freude wider, als sie sich umdrehte und ihn erblickte. »Was gibt es, kleiner Bruder?«
*Ich habe eine Nachricht für dich – von der Traumweberin. *
Sie rührte sich nicht, und er hatte schon Angst, Hexe werde tief in sein Innerstes schauen und das sehen, was er vor ihr zu verbergen suchte.
»Wie lautet die Botschaft?«
*Sie sagte, das Dreieck muss zusammenbleiben, um zu überleben. Der Spiegel kann die anderen beschützen, aber nur, wenn sie zusammen sind.* Er zögerte, als sie ihn nur unverwandt anstarrte. *Wer ist der Spiegel?*
»Daemon«, erwiderte sie geistesabwesend. »Er ist der Spiegel seines Vaters.«
Einen Augenblick lang wirkte sie verwirrt, so lange, dass Ladvarian sich schon Sorgen zu machen begann. *Verstehst du die Botschaft?*
»Nein.« Sie sah sehr bleich aus. »Aber ich bin mir sicher, dass ich sie verstehen werde.«
9 Kaeleer
Luthvian hörte, wie die Tür ihres Schlafzimmers aufging, doch sie fuhr fort, ihre Kleidung in eine Reisetasche zu stopfen, und drehte sich nicht um. Verfluchter eyrischer Welpe! Einfach so ihr Zimmer zu betreten, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten. Und verflucht sei Lucivar, der darauf bestanden hatte, dass sie zum Bergfried aufbrach und Geleitschutz mitnahm. Sie brauchte keinen Begleiter – und schon gar nicht Palanar, der kaum alt genug war, sich eigenhändig die Nase zu putzen!
Als sie sich umdrehte, um ihm das an den Kopf zu werfen, stürzte eine vermummte Gestalt mit Kapuze auf sie zu. Instinktiv baute sie einen roten Schild auf. Da traf sie im gleichen Augenblick ein Blitz roter Kraft, der verhinderte, dass sich der Schild bildete. Im nächsten Moment war die Gestalt über ihr. Sie fielen gemeinsam zu Boden.
Luthvian merkte erst, dass man sie erstochen hatte, als die Gestalt das Messer mit einem Ruck aus ihrem Körper zog.
Da sie Heilerin war, konnte sie abschätzen, dass es nicht gut um sie stand – es war eine tödliche Verletzung.
Wütend und in dem Wissen, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, riss sie der feindlichen Gestalt die Kapuze vom Kopf und starrte sie einen Augenblick lang entsetzt an. »Du!«
Hekatah rammte Luthvian das Messer in den Bauch. » Miststück«, zischte sie. »Ich hätte etwas aus dir machen können. Nun wirst du lediglich als Aas enden.«
Luthvian versuchte, sich zur Wehr zu setzen, wollte ihre Angreiferin kratzen oder schlagen, aber ihre Arme waren viel zu schwer. Sie konnte selbst dann nichts tun, als das ekelhafte Luder seine Zähne in ihrer Kehle vergrub und sich an ihrem Blut labte.
Für den Körper konnte nichts mehr getan werden, aber ihr inneres Selbst …
Sie nahm all ihre Kraft und Wut zusammen und lenkte sie in die inneren Barrieren, um diese zu verstärken.
Hekatah hämmerte gegen die Barrieren, während sie von ihrem Blut trank, hämmerte und hämmerte, um sie aufzusprengen und das Töten zu Ende zu führen. Doch Luthvian gab nicht nach, sondern ließ ihren Zorn zur Brücke zwischen Leben und Tod werden, während sie weiterhin all ihre Kraft in die inneren Barrieren fließen ließ. Weiter und weiter, bis nichts mehr übrig war. Nichts.
Nach einer gewissen Zeit hörte das Hämmern auf, und Luthvian empfand bittere Genugtuung darüber, dass es das Miststück nicht vermocht hatte, ihre Barrieren aufzubrechen.
Weit, weit entfernt konnte sie spüren, wie Hekatah von ihrem Körper rollte. Irgendwo in einer verschwommenen, nebligen Entfernung erschienen scharfe Nägel, die auf ihr Gesicht herabfuhren.
Doch die Hand verharrte in der Luft, bevor die Nägel ihre Augen erreicht hatten.
»Nein«, meinte Hekatah. »Wenn dir die Verwandlung zur Dämonentoten gelingen sollte, möchte ich, dass du siehst, was ich deinem Sohn antue.«
Bewegung. Die Schlafzimmertür schloss sich. Stille.
Luthvian spürte, wie sie immer schwächer wurde. Mit Mühe bewegte sie einen Finger – nur ein kleines bisschen.
Ihre Wut hatte sie durch die Verwandlung katapultiert, ohne dass sie sich dessen bewusst gewesen war oder Hekatah es gemerkt hätte. Sie war dämonentot, doch sie hatte nicht genug Kraft, um weiter zu existieren. Ihr Selbst würde bald zu einem Flüstern in der Dunkelheit werden. Vielleicht würde ihr Selbst eines Tages, wenn es sich erholt und etwas Kraft geschöpft hatte, die Dunkelheit verlassen und in die Reiche der Lebenden zurückkehren. Vielleicht.
Wie viele Male hatte Lucivar ihr ans Herz gelegt, Warnschilde um ihr Haus aufzubauen? Und jedes Mal hatte sie seine Bitten als grundlos abgetan. Doch insgeheim hatte sie sich darüber gefreut, dass er es zumindest versucht hatte.
Es war eine Prüfung gewesen, doch nur sie hatte das gewusst. Jedes Mal, wenn er die Schilde erwähnt hatte, nachdem sie die Idee abermals verworfen hatte, jedes Mal, wenn er ihre scharfe Zunge ertrug, während er ihr auf die eine oder andere Weise half, war eine Prüfung gewesen, um ihr zu beweisen, dass ihm etwas an ihr lag.
Oh, es hatte Zeiten gegeben, da sie seine versteinerte Miene und die Kälte in seinen Augen gesehen und sich gesagt hatte, dass dies das letzte Mal sein würde, die letzte Prüfung. Das nächste Mal, wenn er die Schilde erwähnte, würde sie tun, was er von ihr verlangte, um ihm zu zeigen, dass auch ihr an ihm lag.
Dann kam das nächste Mal, und regelmäßig wollte, ja, brauchte sie eine einzige weitere Prüfung. Und noch eine. Immer eine mehr.
Von jetzt an würde es keine Prüfungen mehr geben, doch ihr Sohn, ihr tapferer eyrischer Kriegerprinz würde niemals erfahren, dass sie ihn geliebt hatte.
Sie hätte nur eine einzige Stunde als Dämonentote gebraucht, nicht mehr! Eine Stunde, um es ihm zu sagen. Sie konnte ihm noch nicht einmal eine Botschaft hinterlassen. Nichts.
Nein. Moment! Vielleicht war es ihr möglich, ihm das Wichtigste zu sagen, die eine Sache, die an ihr genagt hatte, seitdem Surreal ihre Wut an ihr ausgelassen hatte.
Sie nahm alles zusammen, was noch von ihrer Kraft übrig war, und formte es zu einem Tropfen, der einen Gedanken umschloss. Dann stieß sie den Tropfen nach oben, immer weiter und weiter nach oben, bis er an der Außenseite ihrer inneren Barrieren zu liegen kam.
Lucivar würde ihn finden. Da war sie sich ganz sicher.
Kein Anker. Nichts, um sich festzuhalten. Voll Reue, die nur durch den Tropfen verkündeter Liebe abgemildert war, verblasste sie und ging in die Dunkelheit.
10 Kaeleer
Zögerlich klopfte Palanar an der Küchentür. Wahrscheinlich war es eine Ehre, gebeten worden zu sein, Lady Luthvian zum Bergfried zu begleiten, aber sie hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie eyrische Männer nicht mochte. Von daher wusste er nicht genau, ob dies Hallevars Art war, ihm zu zeigen, dass er ihm vertraute, oder eine raffiniert eingefädelte Strafe für etwas, das er getan hatte.
Er öffnete die Tür und steckte vorsichtig den Kopf in die Küche. »Lady Luthvian?«
Sie stand neben dem Tisch und starrte ihn an. Dann meinte sie mit einem Lächeln: »Hast du etwa Angst, Krieger?«
Beschämt trat er in die Küche. »Bist du fertig?«, fragte er, wobei er sich Mühe gab, genauso arrogant zu klingen, wie er es von Falonar und Lucivar kannte.
Sie ließ den Blick von der Reisetasche, die neben ihr stand, zu ihm wandern.
Seit wann erwartete Luthvian von einem Mann, dass er ihr irgendetwas trug? Bei seinem letzten dahingehenden Versuch hatte sie ihm beinahe die Zähne eingeschlagen. Hallevar hatte Recht gehabt, als er einmal sagte: »Gewöhn dich lieber daran, dass eine Frau schneller ihre Meinung ändern kann, als du dich am Gemächt kratzt.«
Er ging zwei Schritte auf sie zu, blieb dann jedoch erneut stehen.
»Was ist los?«, wollte sie misstrauisch wissen.
Sie stank. Das war los. Stank absolut bestialisch. Aber das würde er ihr gewiss nicht auf die Nase binden! Da fiel ihm auf, dass sie außerdem ein wenig … eigenartig aussah.
»Was ist los?«, fragte sie erneut und machte einen Schritt auf ihn zu.
Er wich zwei Schritte zurück.
Ihr Gesicht zitterte und begann zu verschwimmen. Einen Augenblick lang glaubte er, jemand anderen vor sich zu sehen. Jemanden, den er nicht kannte – und nicht kennen wollte.
Ihm fiel etwas anderes ein, das Hallevar ihm ans Herz gelegt hatte: Manchmal war wegzulaufen das Klügste, was ein unerfahrener Krieger tun konnte.
Im nächsten Moment stürzte er auf die Tür zu.
Er erreichte sie nicht. Macht brach gewaltsam durch seine inneren Barrieren. Nadeln drangen in seinen Geist ein, bildeten Widerhaken aus und gruben sich immer tiefer, wobei sie kleine Stücke seines Selbst herausrissen. Sein Körper erzitterte unter dem heftigen Tauziehen, als er versuchte, aus dem Haus zu kommen, während sie ihn immer weiter in das Zimmer zurückzog.
Hilflos spürte er, wie er umgedreht wurde – und erblickte die Hexe, die ihn gefangen hielt. Er stieß einen Schrei aus.
»Du wirst genau da hingehen, wo ich dich hinschicke«, sagte sie. »Genau das sagen, was ich dir zu sagen auftrage.«
»N-n-nein.«
Goldene Augen glitzerten in ihrem verfallenen Gesicht, und entsetzliche Schmerzen durchzuckten ihn.
»Es ist nur ein winziger Auftrag, Kleiner. Und sobald er erledigt ist, lasse ich dich frei.«
Sie hielt ihm einen kleinen Kristall entgegen, der gleich darauf durch die Luft schwebte. Seine linke Hand griff danach.
Sie beschrieb ihm genau, wo er hinzugehen habe, was er zu sagen und mit dem Zauber in dem Kristall zu tun habe. Dann wurde er wieder umgedreht, wie eine Marionette, die an ihren Fäden tanzt. Er verließ das Haus.
Ein Krieger würde das nicht tun, egal, was der Preis sein mochte. Ein Krieger würde das nicht tun.
Er versuchte, sein Messer mit der Rechten zu erreichen. Zumindest konnte er sich die Kehle aufschlitzen oder die Handgelenke, irgendetwas tun, um sich ihrer Macht zu entziehen.
Seine Hand schloss sich um den Griff.
*Sterben wird dich nicht retten, kleiner Krieger*, sagte die Hexe. *Ich bin die Dunkle Priesterin. Auf diese Weise entkommst du mir nicht.*
Leer ließ er die Hand wieder sinken.
*Nun geh!*
Palanar breitete die Flügel aus und flog so schnell wie möglich, um das zu tun, was ein Krieger niemals tun würde.
Es war nicht der Wind in seinem Gesicht, der ihm die Tränen in die Augen steigen ließ.
11 Kaeleer
Lucivar landete vor seinem Horst und rief: »Marian!« Wo im Namen der Hölle steckte die Frau?, dachte er, als er auf die Tür zuschritt. Sie hätte bereits vor Stunden im Bergfried eintreffen sollen.
Beim Betreten des Horstes fiel sein Blick auf die ordentlich gestapelten Reisetaschen. Im ersten Moment setzte sein Herzschlag aus. Als es wieder zu schlagen einsetzte, befand er sich bereits im Blutrausch. »Marian!«
Sein Horst war groß, doch Lucivar brauchte nicht lange, um ihn gründlich zu durchsuchen. Marian und Daemonar waren nicht da. Doch sie hatte gepackt. Was hatte sie also aufgehalten? War Daemonar vielleicht krank? Hatte sie ihn hinüber zu Nurians Haus gebracht, damit die Heilerin ihn sich ansehen konnte?
Da er der Kriegerprinz von Ebon Rih war, befand sich sein Heim ein wenig abseits von den übrigen Horsten, die sich an den Berg schmiegten, doch binnen zwei Minuten landete er vor Nurians Zuhause. Doch seine Füße hatten noch nicht den Boden berührt, da wusste er bereits, dass die beiden nicht dort waren.
»Lucivar!«
Lucivar wandte sich um und erblickte Hallevar, der auf ihn zugeeilt kam. Aus dem Augenwinkel sah er Falonar und Kohlvar, die aus dem Gemeinschaftshorst traten. Ein Gemeinschaftshorst war in etwa das, was in anderen Kulturen Wirtshaus oder Taverne genannt wurde. Beide Männer hielten auf Hallevar zu, als sie die Aufregung in seiner Stimme vernahmen.
»Hast du den Kleinen gesehen, Palanar?«, wollte Hallevar wissen.
Bevor Lucivar etwas erwidern konnte, fuhr Falonar dazwischen: »Hast du ihn nicht losgeschickt, um Lady Luthvian zum Bergfried zu geleiten?«
»Ja«, meinte Hallevar grimmig. »Und ich habe ihm aufgetragen, seinen Hintern danach unverzüglich wieder hierher zu bewegen.« Er sah Lucivar an. »Ich habe mich gefragt, ob er im Bergfried herumtrödelt, um sich vor seinen Aufgaben zu drücken.«
»Palanar ist nicht im Bergfried eingetroffen. Luthvian ebenfalls nicht. Und Marian und Daemon auch nicht«, fügte Lucivar betroffen hinzu.
Die anderen Männer versteiften sich.
»Ich habe ihn gleich heute Morgen losgesandt«, sagte Hallevar.
»Gibt es in deinem Horst irgendein Anzeichen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht?«, fragte Falonar mit schneidender Stimme.
»Nein«, antwortete Lucivar. »Die Taschen waren gepackt und stehen an der Tür.« Er stieß einen leisen, heftigen Fluch aus. »Wo im Namen der Hölle ist sie bloß hingegangen?«
»Sie wollte zu Lady Luthvian«, erklang eine junge weibliche Stimme.
Sämtliche Männer drehten sich um und starrten entgeistert Jillian an, Nurians jüngere Schwester.
Sie wirkte, als wolle sie sich am liebsten auf der Stelle zurück in ihren Horst flüchten.
Hallevar wies mit dem Finger auf eine Stelle, die sich knapp einen Meter von ihm entfernt befand. »Hierher, kleine Kriegerin«, sagte er streng.
Verängstigt schlich Jillian zu der Stelle und sah die gewaltigen Krieger an, die sie umringten. Dann senkte sie den Blick zu Boden.
»Erstatte Bericht«, befahl Hallevar in dem Tonfall, der zwar aufmunternd klang, aber jeden jungen Mann, der bei ihm ausgebildet worden war, Haltung annehmen ließ.
Auf Jillian hatten seine Worte die gleiche Wirkung. Sie stand aufrecht da, ihre ganze Aufmerksamkeit galt Hallevar. »Ich habe heute Morgen meinen Konditionslauf absolviert.« Sie wartete, bis Hallevar zustimmend nickte. »Und ich dachte mir, ich nehme den Weg zu Prinz Yaslanas Haus, weil ich mir dachte, na ja, dass Lady Marian vielleicht ein wenig Hilfe mit Daemonar gebrauchen könnte. Ich hätte ein wenig auf ihn aufpassen können, während sie die Hausarbeit erledigte. Es war ja nicht so, dass ich mich vor dem Rest meiner Übungen drücken wollte, denn auf Daemonar aufzupassen, ist Anstrengung genug.«
Obwohl Lucivar sich Sorgen machte, konnte er sich kaum ein Lächeln verbeißen.
»Ich hatte den Horst beinahe erreicht, da sah ich Marian an der Tür stehen und sich mit Palanar unterhalten. Er sah … krank aus. Er schwitzte stark und … ich weiß nicht recht. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so aussah. Und dann zuckte Marian zusammen, als habe jemand ihr eine Ohrfeige verpasst, dabei hatte Palanar sie nicht einmal berührt. Er meinte: ›Nimm den Jungen mit.‹ Sie ging nach drinnen und kehrte kurz darauf mit Daemonar zurück. Als Daemonar Palanar erblickte, fing er zu schreien an. Du weißt schon, in der Lautstärke, die Daemonar beherrscht, wenn ihm etwas nicht passt.«
Lucivar nickte. Auf seiner Haut bildete sich kalter Schweiß. »Palanar packte Marian am Arm. Er sagte immer wieder: ›Es tut mir Leid, es tut mir Leid.‹«
»Hat er dich gesehen?«, wollte Lucivar eine Spur zu gelassen wissen.
Jillian schüttelte den Kopf. »Aber Marian. Sie sah mich direkt an, auf ihrem Gesicht lag der gleiche elende Ausdruck wie auf Palanars, und sie sagte: ›Zu Luthvian.‹ Dann brachen sie auf.« Nachdem sie ihren Bericht beendet hatte, schwand ihr Selbstvertrauen, als sie zu den finster dreinblickenden Männern aufschaute.
»Und du hast niemanden davon unterrichtet?«, fragte Lucivar.
Kreidebleich schüttelte Jillian erneut den Kopf. »Ich … Nurian war nicht zu Hause, als ich zurückkehrte, und … ich wusste nicht, dass ich jemanden davon hätte unterrichten sollen«, beendete sie den Satz kaum hörbar.
Außerdem hatte sie gezögert, sich an einen der Krieger zu wenden, bloß um dann beiläufig abgefertigt zu werden, weil sie eine Frau war. Ein paar Monate in Kaeleer waren nicht genug, um Überlebensstrategien zu überwinden, die sie seit frühester Jugend erlernt hatte.
»Wenn ein Krieger etwas Merkwürdiges sieht, sollte er – oder sie – seine – oder ihre – Vorgesetzten davon unterrichten«, meinte Hallevar bestimmt, aber nachsichtig. »Auf diese Weise sammelt ein junger Krieger Erfahrungen.«
»Ja, Sir«, flüsterte Jillian.
»Das war ein ausgezeichneter Bericht«, stellte Hallevar fest. »Nun mach dich wieder an deine Arbeit.«
Jillian straffte die Schultern. Ihre Augen glänzten freudig. »Ja, Sir!«
Keiner sagte etwas, bis das Mädchen wieder im Horst verschwunden war.
»Klingt nach einem Zwangszauber«, sagte Falonar leise.
»Ja«, erwiderte Lucivar unheilvoll, »das tut es. Falonar, behalte die Lage hier im Auge.«
»Du reist zu Luthvian?«, wollte Hallevar rasch wissen, als Lucivar sich abwandte. »Dann komme ich mit dir.«
»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte Falonar. »Kohlvar, bring alle in die Nähe der Horste. Hallevar, du hast den größten Einfluss auf die Kleinen. Halte sie gut im Zaum.«
»Und wo wirst du sein?«, fragte Lucivar eine Spur zu sanft.
Falonar baute sich vor ihm auf und sah im direkt ins Gesicht. »Ich werde dich begleiten.«
Sie fanden Palanar auf dem Erdboden vor der Küchentür vor.
»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Falonar. »Geh du hinein.«
Lucivar rief sein eyrisches Kampfschwert herbei, trat die Küchentür ein und stürzte in den Raum. Der Gestank, der im Hausinnern herrschte, schnürte ihm die Kehle zu, da er ihn zu sehr an Aas erinnerte.
Jener Gedanke ließ ihn durch die übrigen Zimmer im Erdgeschoss hasten. Da sie alle leer waren, rannte er die Treppe hinauf. Er trat die Schlafzimmertür auf – und erblickte Luthvian. Nachdem er den Raum kurz mental abgetastet hatte um sicherzugehen, dass niemand auf den Augenblick wartete, in dem er nicht auf der Hut war, kniete er neben der Leiche nieder.
Zuerst glaubte er, Luthvian sei noch am Leben. Die Wunden, die sich seinem Blick boten, waren tief, aber es wäre mehr Blut sichtbar, wenn sie verblutet wäre. Als er ihr das Haar vom Hals strich, wurde ihm klar, warum es nicht viel Blut gab.
Er legte ihr eine Hand auf den Kopf. Na gut. Der Körper war tot, aber sie war stark genug, um die Verwandlung zur Dämonentoten zu absolvieren. Wenn es auch nur das geringste Anzeichen gab, dass sie noch da war, würde frisches Blut sie stärken.
Er tastete ihren Geist behutsam ab, um nicht versehentlich ihre inneren Barrieren zu zerstören und das Töten zu Ende zu führen.
Kurz vor ihren Barrieren stieß er auf einen eigenartigen Tropfen. Nachdenklich hielt er inne. Dem Tropfen haftete ein Gefühl herzlicher Wärme an, die Misstrauen in ihm erregte. Derartige Emotionen verband er nicht mit Luthvian. Doch er konnte nichts entdecken, das ihn glauben ließ, er sei in Gefahr. Also strich er leicht mit seinen magischen Sinnen über den Tropfen.
Lucivar … ich hatte Unrecht, was Marian betraf. Du hast eine gute Wahl getroffen. Ich wünsche euch viel Glück.
Tränen brannten ihm in den Augen. Er strich gegen die inneren Barrieren. Sie öffneten sich widerstandslos. Er suchte nach ihr, suchte nach dem geringsten Aufflackern ihres Geistes. Nichts.
Luthvian war in die Dunkelheit zurückgekehrt.
Eine Träne lief ihm die Wange hinab. »Beim Feuer der Hölle, Luthvian«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Warum hast du mir das erst gesagt, als du tot warst? Warum …«
»Lucivar!«
Der Kummer und die Wut in Falonars Stimme ließen ihn aufspringen. An der Tür hielt er kurz inne und warf einen Blick zurück. »Möge die Dunkelheit dich umarmen, Mutter.«
Falonar wartete in der Küche auf ihn.
»Palanar?«, wollte Lucivar wissen.
Falonar schüttelte nur den Kopf. Er musste sich nicht nach Luthvian erkundigen. »Ich habe das da entdeckt.« Er deutete auf ein gefaltetes Blatt Papier auf dem Tisch.
Lucivar starrte das Papier an, auf dem sein Name stand. Die Handschrift war ihm unbekannt, und er empfand instinktiv Widerwillen, das Blatt zu berühren. Mithilfe der Kunst faltete er es auf. Nachdem er die Botschaft gelesen hatte, stürmte er aus dem Haus.
»Lucivar!«, rief Falonar und lief ihm hinterher. »Wohin willst du?«
»Kehre zurück zu den Horsten.« Lucivar befestigte die Panzerhandschuhe an seinen Unterarmen. »Du führst diesen Befehl jetzt aus, Prinz Falonar.«
»Wohin willst du?«
Lucivar geriet in den Blutrausch und konnte spüren, wie ihn die süße, kalte Wut durchströmte. »Ich werde meine Ehefrau und meinen Sohn aus den Klauen dieser beiden Kreaturen befreien.«
12 Kaeleer
Der Angriff erfolgte in dem Augenblick, als Falonar zu den Horsten zurückkehrte. Sein Saphir-Schild schloss sich im letzten Augenblick, bevor ihn ein Pfeil in den Rücken treffen konnte. Er rief seinen Langbogen herbei, legte einen Pfeil auf die Sehne, fügte der Spitze ein wenig saphirne Kraft bei und ließ ihn durch die Luft schwirren.
Einen Moment lang nahm er sich Zeit, um die Gegend mental zu erkunden und den Feind zahlenmäßig einzuschätzen. Dann fluchte er heftig. Da draußen befand sich eine ganze Kompanie eyrischer Krieger. Keiner von ihnen trug ein Juwel, das dunkler als Grün war, von daher würde sein Saphir die zahlenmäßige Übermacht ein wenig ausgleichen, dennoch verfügte er über viel zu wenige Krieger. Jeder einzelne Mann würde im Kampfgetümmel fallen, doch die Frauen und Kinder würde das nicht retten können.
»Der Gemeinschaftshorst!«, rief Hallevar und trieb Frauen und Kinder in diese Richtung. »Bewegung! Los, Bewegung!«
Ein guter Schachzug, dachte Falonar beifällig und schoss den nächsten Pfeil ab. Der Gemeinschaftshorst war groß genug, um ihnen allen Platz zu bieten, außerdem ermöglichte er es seinen Kriegern, sich auf einen Schauplatz des Kampfes zu konzentrieren, anstatt ihre Kräfte zu zerstreuen.
Sein Schild wehrte ein Dutzend weiterer Pfeile ab. Er befand sich längst im Blutrausch, sodass die kalte Wut durch seine Adern rann, und er frei von jeglichen Gefühlen kämpfen konnte. Seine Pfeile trafen ihr Ziel!
Da stieß jemand einen Schrei aus. Links von ihm wehrte Nurian sich verzweifelt gegen einen eyrischen Krieger. Noch während er sich zu ihr umwandte und seinen Bogen zücken konnte, stürzte ein anderer Krieger mit einer klingenbewehrten Stange auf ihn zu. Falonar ließ Pfeil und Bogen verschwinden und rief seine eigene Stange herbei, um sich dem Angreifer zu stellen. Während er rückwärts tänzelte und nach einer Angriffsmöglichkeit Ausschau hielt, schrie Nurian erneut auf.
Zur Hölle mit der Ehre! Das hier war Krieg. Als sein Gegner erneut auf ihn zukam, parierte er den Schlag mit einem schmutzigen Manöver, das er neulich von Lucivar beigebracht bekommen hatte. Sein Feind hatte nicht die geringste Chance.
Er erwartete halb, dass es zu spät sei, um die Heilerin zu retten. Doch als er sich umwandte, rief Jillian: »Runter, Nurian! «
Der Klang von Jillians Stimme ließ Nurian von einer hilflosen Frau zu einer angehenden Kriegerin werden. Sie trat dem Krieger heftig in die Lendengegend und warf sich gleichzeitig mit aller Kraft nach hinten. Ihr Tritt traf nicht genau ins Schwarze, reichte aber aus, um den Mann derart zu verblüffen, dass er sie losließ. Außerdem brachte die unerwartete Bewegung ihn aus dem Gleichgewicht. Als er versuchte, seine Balance wiederzufinden, kam ein Pfeil durch die Luft geschwirrt und grub sich in seine Brust.
Jillian legte bereits den nächsten Pfeil auf die Sehne und zielte, während Nurian sich aufrappelte und geduckt weglief, um nicht in die Schusslinie zu geraten.
Gerade noch gelang es Falonar, einen Saphir-Schild vor Jillian aufzubauen, um die Pfeile aufzuhalten, die sie ansonsten getroffen hätten. »Rückzug!«, brüllte er, und ihm stand beinahe der Schaum vor dem Mund, als Jillian in aller Seelenruhe einen weiteren Pfeil abschoss. »Verflucht noch mal, Kriegerin, Rückzug habe ich gesagt!«
Das ließ sie zusammenfahren, doch erst, als Nurian nach ihr rief, rannte sie davon.
Falonar machte sich bereit, den Rückzug der anderen zu decken. Er warf einen Blick über die Schulter – und stieß jeden Fluch aus, den er kannte. Nun stand Nurian kampfbereit da, mit nichts als einer eyrischen Stange bewaffnet. Und die Stange hatte noch nicht einmal Klingen! Was im Namen der Hölle gedachte die Frau damit anzufangen? Glaubte sie, ein Krieger würde sie unbewaffnet angreifen? Närrische Törin!
Er ging rückwärts auf sie zu, immer nach dem nächsten Angreifer Ausschau haltend. »Rückzug«, fuhr er sie an – um dann feststellen zu müssen, dass Jillian nicht ganz bis zum Gemeinschaftshorst gelaufen war, sondern auf halbem Weg Stellung bezogen hatte, um an dem Rückzugsgefecht teilzunehmen. »Widersetzt euch meinen Befehlen noch ein einziges Mal, und ich peitsche euch höchstpersönlich die Haut vom Rücken. Euch beiden! Jetzt zieht euch endlich zurück!«
Sie reagierten auf die gleiche Weise, auf die jeder andere eyrische Krieger auch reagiert hätte: Sie ignorierten die Drohung und hielten ihre Stellung. Folglich zog er sich zurück und zwang die beiden auf diese Weise, es ihm gleichzutun. Dazu waren sie ohne weiteres bereit. Lucivar musste den Verstand verloren haben, als er glaubte, eine Frau würde sich einem vernünftigen Befehl beugen. Von daher war Falonar überaus dankbar, dass Surreal nicht da war. Nur die Dunkelheit wusste, wie er es hätte anstellen sollen, sie in dem Kampf zurückzuhalten.
Als sie sich nahe genug an dem Gemeinschaftshorst befanden, packte Hallevar Jillian, und Kohlvar schleuderte Nurian quasi durch die Tür ins Horstinnere. Falonar war der Letzte, der den Horst betrat. Sobald er die Schwelle überschritten hatte, verbarrikadierte er den Türrahmen mit Saphir, sodass sie gut geschützt waren, aber immer noch einen guten Ausblick hatten. Einige Männer hatten Stellung an den mit Schilden versehenen Fenstern im Erdgeschoss bezogen. Andere waren in die oberen Räume gegangen. Die Frauen und Kinder kauerten alle im Hauptraum des Horstes.
Hallevar gesellte sich zu Falonar an die Tür. »Meinst du, sie gruppieren sich neu?«
»Keine Ahnung.«
Hinter ihnen konnte er Tamnar mit einem Hauch Groll in der Stimme sagen hören: »Tja, kleine Kriegerin, sieht aus, als hättest du deinen ersten Mann getötet.«
Falonar und Hallevar drehten sich beide um und sandten die gleiche Botschaft an Tamnar. *Halt den Mund!*
Der Jüngling zuckte zusammen. Die barsche Zurechtweisung schien ihn zu schockieren. Im nächsten Augenblick stahl er sich zu dem Fenster, das Kohlvar bewachte.
Jillian starrte sie entgeistert an. Ihre ansonsten braune Haut hatte einen ungesunden Grauton angenommen. »Ich habe ihn umgebracht?«
Bevor Falonar eine vorsichtige Antwort formulieren konnte, stieß Hallevar ein verächtliches Schnauben aus. »Du hast ihm bloß einen Kratzer verpasst, damit Nurian entkommen konnte.«
Ein Teil der Anspannung fiel von dem Mädchen ab. »Oh! Das ist … Oh!«
»Du hältst dich dort hinten bereit«, meinte Hallevar und deutete zur gegenüberliegenden Ecke des Raumes.
»In Ordnung.« Jillian klang leicht verwirrt.
Falonar drehte sich wieder um und sah durch die Türöffnung nach draußen. »Sie hat dem Mistkerl den Pfeil mitten durchs Herz geschossen«, flüsterte er.
»Es besteht kein Grund, ihr das ausgerechnet jetzt auf die Nase zu binden«, entgegnete Hallevar ebenso leise. »Belass sie in dem Glauben, dass sie ihn bloß verwundet hat. Wir können es uns nicht leisten, dass sie mitten im Kampf zusammenbricht, wenn es so weit kommen sollte.«
»Wenn es dazu kommen sollte«, sagte Falonar kaum hörbar, während er eine bequemere Stellung einnahm, um zu warten.
13 Kaeleer
Saetan schlich in den Gängen des Bergfrieds umher, zu ruhelos, um an einem Ort zu bleiben, und zu nervös, um die Gegenwart anderer ertragen zu können.
Lucivar hätte schon vor Stunden zurück sein sollen. Er wusste, dass Lucivar am späten Vormittag aus dem Bergfried geschlüpft war, um herauszufinden, was Marians und Daemonars Ankunft derart verzögerte, doch nun neigte sich bereits der Nachmittag dem Ende zu, und es gab keinerlei Spur von ihnen.
Er bezweifelte stark, dass dieser Umstand irgendwem sonst aufgefallen war. Der Hexensabbat und die Männer des Ersten Kreises hatten sich in einem der großen Salons versammelt, wie sie es jeden Tag getan hatten, seitdem Jaenelle ihnen befohlen hatte, im Bergfried zu bleiben. Sie würden also nicht mitbekommen, dass Lucivar fort war. Und Jaenelle und Daemon … Nun, es war auch nicht sehr wahrscheinlich, dass die beiden es bemerkt hatten.
Surreal war Lucivars Abwesenheit zwar nicht entgangen, doch sie hatte sie damit abgetan, dass er wahrscheinlich mit Prothvar und Mephis die Köpfe zusammensteckte. Das hatte ihn daran erinnert, dass er die beiden auch schon länger nicht mehr gesehen hatte!
Irgendwie musste er einen Weg finden, von Jaenelle angehört zu werden. Warum hielt die Angst sie alle derart im Würgegriff? Ob sie es sich nun eingestanden oder nicht, sie befanden sich im Kriegszustand. Die Königinnen und Männer des Ersten Kreises würden nicht endlos hier bleiben, während ihre Völker um ihr Leben kämpften. Etwas musste sich ändern. Jemand musste endlich handeln!
14 Kaeleer
Falonar nahm den Bierkrug entgegen, den Kohlvar ihm reichte.
»Es ergibt einfach keinen Sinn«, sagte Kohlvar kopfschüttelnd. »Keine direkten Angriffe mehr, nicht der geringste Versuch einer Belagerung, bloß ab und an ein paar Pfeile, damit wir wissen, dass sie noch irgendwo da draußen sind.«
»Wir sitzen fest«, erwiderte Falonar. »Sie sind in der Überzahl, und das wissen sie ganz genau.«
Wir können nirgendwohin, dachte Falonar. Wir können niemandem eine Botschaft zukommen lassen.
»Wo liegt der Sinn?«, wiederholte Kohlvar.
»Ich weiß es nicht. Aber ich schätze, früher oder später werden wir das schon noch herausfinden.«
Die Antwort erhielten sie, sobald die Dämmerung hereinbrach. Ein
Krieger näherte sich offen dem Gemeinschaftshorst, die Hände
seitlich von sich gestreckt.
»Ich habe eine Nachricht für euch!« Er hielt einen weißen Umschlag empor.
»Leg ihn auf den Boden!«, rief Falonar zurück.
Der Krieger legte den Brief achselzuckend auf den Boden und beschwerte ihn dann mit einem kleinen Stein, damit er nicht weggeweht würde. Anschließend ging er den Weg zurück, den er gekommen war.
Ein paar Minuten später beobachtete Falonar, wie die eyrische Kompanie die Flucht ergriff.
Er wartete eine weitere Stunde, bis er das Kuvert mithilfe der Kunst an die Tür heranholte. Ohne sich auf die andere Seite des Schildes zu bewegen, erschuf er eine Kugel Hexenfeuer, um die Schrift zu erleuchten und lesen zu können, an wen das Schreiben gerichtet war.
Da stieg Angst in ihm auf. Es war dieselbe Handschrift wie auf der Nachricht, die für Lucivar zurückgelassen worden war. Doch diese Botschaft war an den Höllenfürsten adressiert.
Er rief Kohlvar, Rothvar, Zaranar und Hallevar zu sich. »Ich werde das da zum Bergfried bringen und Bericht erstatten.«
»Es könnte eine Falle sein«, gab Hallevar zu bedenken. »Vielleicht warten sie bloß darauf, dass du den ersten Schritt tust.«
Ja, es war zweifellos eine Falle – allerdings war sie nicht für ihn bestimmt.
»Ich glaube nicht, dass sie uns weiter behelligen werden, aber bleibt wachsam. Passt gut auf! Lasst niemanden herein, ganz egal, um wen es sich handelt. Ich werde über Nacht im Bergfried bleiben. Sollte ich vor dem Morgengrauen zurückkommen … setzt alles daran, mich zu töten.«
Sie verstanden, was er meinte. Wenn er vorher zurückkehrte, sollten sie davon ausgehen, dass er von einer fremden Macht kontrolliert wurde, und dementsprechend handeln.
»Möge die Dunkelheit dich schützen«, sagte Hallevar.
Falonar schlüpfte durch den Schild. Er griff nach dem Briefumschlag und schwang sich in Richtung des Bergfrieds in die Lüfte.
15 Kaeleer
Saetan starrte auf das Blatt Papier. Zu viele Gefühle lagen in seinem Innern im Widerstreit, also zwang er sich dazu, sie zu unterdrücken.
Ich habe deinen Sohn.
Hekatah
Demnach hatte sie also auch Marian und Daemonar in ihre Gewalt gebracht, da die beiden den einzigen Köder darstellten, mit dem sich Lucivar nach Hayll locken ließe.
Und jetzt wurde Lucivar als Köder für ihn benutzt.
Er durchschaute das Spiel. Hekatah und Dorothea würden zu einem Tauschhandel bereit sein: ihn für Lucivar, Marian und Daemonar.
Selbstverständlich würden sie Lucivar nicht gehen lassen; sie konnten ihn gar nicht gehen lassen. Sobald er Marian und Daemonar in Sicherheit gebracht hatte, würde er mit all der zerstörerischen Kraft, die in ihm steckte, Hekatah und Dorothea angreifen.
Es war also von Anfang an ein unehrlicher Handel.
Er konnte nach Hayll aufbrechen und Dorothea wie auch Hekatah umbringen. Zwei Priesterinnen mit rotem Juwel hatten keine Chance gegen einen Kriegerprinzen, der Schwarz trug. Er konnte dorthin gehen, einen schwarzen Schild um Lucivar, Marian und Daemonar werfen, um sie zu beschützen, und dann seine Kräfte entfesseln – und jedes Lebewesen im Umkreis von mehreren Meilen töten.
Doch das würde den Krieg nicht aufhalten. Nicht mehr. Vielleicht hätte es das nie getan. Und es ging um den Krieg; der Krieg musste aufgehalten werden, nicht bloß die beiden Hexen, die ihn entfacht hatten.
Also würde er sich auf ihr Spiel einlassen … denn letzten Endes würde es ihn mit der Waffe versorgen, die er benötigte.
Alles hat seinen Preis.
Er legte den Anhänger mit dem schwarzen Juwel ab und legte ihn auf den Schreibtisch. Dann zog er sich den Ring des Haushofmeisters von der linken Hand – den Ring, der denselben mitternachtsschwarzen Schild beinhaltete, mit dem Jaenelle auch den Ring der Ehre ausgestattet hatte.
Selbst wenn Daemon Jaenelle beeinflusste, selbst wenn er der Grund war, weswegen sie sich gegen eine offizielle Kriegserklärung sträubte, konnte selbst er sie nicht von einer Reaktion abhalten. Nicht hierbei.
Denke nicht. Sei ein Instrument.
Indem er sehenden Auges in die Falle tappte, die Dorothea und Hekatah ihm gestellt hatten, würde er die eine Sache herbeiführen, die mit Sicherheit die aufbrausende, wilde Seite Jaenelles ans Tageslicht bringen würde: Schmerz.
Natürlich würde er nie wieder derselbe sein, wenn jene beiden Luder mit ihm fertig waren. Er würde niemals …
Er zog die Schreibtischschublade auf und strich zärtlich über den nach Lavendel duftenden Briefumschlag. »Manchmal wandelt die Pflicht auf einer Straße, auf der das Herz nicht folgen kann. Es tut mir Leid, Sylvia. Es wäre mir eine Ehre gewesen, dein Ehemann zu sein. Es tut mir so Leid.«
Er schob die Schublade wieder zu, griff nach seinem Umhang und verließ still und heimlich den Bergfried.
16 Kaeleer
Daemon glitt durch die Gänge des Bergfrieds. Die letzten Stunden hatte er damit verbracht, nach Jaenelles Rezepten für Karla einen Heiltrankvorrat herzustellen, der für Monate ausreichen würde. Als er nachgefragt und Jaenelle daran erinnert hatte, dass Heiltränke, die Blut enthielten, im Laufe der Zeit an Wirkung verloren, hatte sie ihm geantwortet, dass sie dies einkalkuliert habe, sodass die Tränke bei ihrer Einnahme genau so stark wären, wie sie gebraucht würden. Und als er wissen wollte, weshalb …
Na ja, es war nicht schwer zu erraten, dass sie völlig ausgelaugt sein würde, nachdem sie genug Macht entfesselt hatte, um Dorothea und Hekatah endgültig aufzuhalten. Doch der Gedanke, dass sie drei Monate brauchen würde, um sich zu erholen, beunruhigte ihn. Und nun, da sie so kurz davor stand zu beenden, was immer sie plante, machte er sich außerdem Sorgen, dass sich die Männer letzten Endes doch noch losreißen und ins Schlachtengetümmel stürzen könnten.
Mittlerweile waren sie ihm gegenüber zu feindselig eingestellt, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte; aber er hoffte, dass zumindest Saetan ein Einsehen haben möge. Bestimmt konnte er dem Höllenfürsten zumindest indirekt begreiflich machen, dass Jaenelles ausweichendes Verhalten einem bestimmten Zweck diente, und dass sie nur noch ein paar Tage mehr benötigen würde. Noch ein paar Tage, und die Bedrohung für Kaeleer würde ein Ende haben, zusammen mit der Bedrohung, die Dorothea und Hekatah von jeher für die Angehörigen des Blutes dargestellt hatten.
Er klopfte an Saetans Tür und betrat das Zimmer wachsam, als Surreals Stimme erklang: »Herein.«
Sie stand hinter dem kleinen Schreibtisch. Falonar war bei ihr, der erschöpft und verärgert wirkte. Surreal sah nicht erschöpft aus, dafür aber mehr als nur verärgert. »Sieh dir das an!«, meinte sie.
Selbst von seinem Standpunkt aus konnte er den Anhänger und den Ring des Haushofmeisters erkennen. Er ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten und ging um den Schreibtisch herum. Den Stich, den es ihm versetzte, als Surreal vor ihm zurückwich, ließ er sich nicht anmerken. Als er die Botschaft las, lief ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken.
»Werdet ihr vielleicht jetzt endlich etwas unternehmen?«, wollte Surreal wissen und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie bringen nicht mehr bloß Fremde um. Es ist nicht länger möglich, so zu tun, als würde uns die ganze Sache nicht betreffen. Diese Miststücke haben deinen Vater und deinen Bruder!«
Es kostete ihn große Mühe, doch schließlich gelang es ihm, den gelangweilten Ton in seine Stimme zu legen, den sie von jeher gehasst hatte. »Lucivar und Saetan haben selbst entschieden, dieses Risiko einzugehen, als sie sich den Befehlen widersetzten. Es ändert nichts an der Lage.« Durfte nichts ändern. Nicht, wenn Jaenelle Kaeleer retten sollte.
»Sie haben auch Marian und Daemonar in ihrer Gewalt.« Selbstverständlich hatten sie das. Er war beunruhigt wegen Marian, machte sich aber keine echten Sorgen. Wenn man Marian vergewaltigt oder ihr irgendein anderes Leid zugefügt haben sollte, könnte nicht einmal der Ring des Gehorsams Lucivar davon abhalten, ein gewaltiges Blutbad anzurichten. Von daher war er nicht wirklich besorgt um Marian, doch allein schon der Gedanke, dass sich Daemonar auch nur eine Stunde in den Klauen jener Kreaturen befand … »Es wird gewiss eine Lösegeldforderung geben«, meinte er abwehrend. »Wir werden sehen, inwieweit wir ihnen entgegenkommen können. «
»Entgegenkommen?«, sagte Surreal. »Entgegenkommen? Ja, weißt du denn nicht, was Dorothea und Hekatah ihnen antun werden?«
Natürlich wusste er das, weitaus besser als sie.
In Surreals Stimme lag jetzt ein giftiger Unterton. »Wirst du zumindest Jaenelle davon erzählen?«
»Ja, ich fürchte, man wird die Lady von dieser Unannehmlichkeit in Kenntnis setzen müssen.« Er verließ das Zimmer, während Surreal immer noch laut vor sich hin fluchte.
Er wünschte, sie hätte geweint. Er wünschte, sie hätte geschrien,
gebrüllt, getobt, geflucht und bittere Tränen vergossen. Was sollte
er mit dieser stillen Frau tun, die er die letzte Stunde auf seinem
Schoß gewiegt hatte?
Die Neuigkeiten hatte er ihr so schonend wie möglich beigebracht. Sie hatte nichts gesagt, nur den Kopf auf seine Schulter gelegt und sich nach innen gewandt, war so tief in den Abgrund hinabgestiegen, dass er sie nicht einmal mehr ertasten konnte.
Also hielt er sie in den Armen. Manchmal streichelten und liebkosten seine Hände sie – nicht um sie zu erregen, sondern um sie zu beruhigen. Er hätte sie durchaus mit Sex zurücklocken können, doch das hätte ihr Vertrauen in ihn verletzt – und das würde er gewiss nicht riskieren. Wenn seine Hand auf ihrer Brust zu liegen kam, dann nur, um sich zu vergewissern, dass ihr Herz noch schlug. Jeder warme Atemzug, der an seiner Kehle entlangstrich, war ein unausgesprochenes Versprechen, dass sie zu ihm zurückkehren würde.
Nachdem zwei Stunden vergangen waren, rührte sie sich endlich. »Was wird jetzt deiner Meinung nach geschehen?«, fragte sie, als sei zwischen der Bekanntgabe der Neuigkeiten und ihrer Frage keinerlei Zeit verstrichen.
»Selbst auf den schwarzen Winden hätte Saetan zwei Stunden benötigt, um nach Hayll zu gelangen. Wir wissen nicht, wann er aufbrach …«
»Aber mittlerweile müsste er dort angekommen sein.«
»Ja.« Er hielt inne und dachte noch einmal darüber nach. »Lucivar und Saetan sind nicht der Preis. Sie sind die Köder. Und Köder verlieren an Wert, wenn man sie beschädigt. Von daher glaube ich, dass sie im Moment in relativer Sicherheit sind.«
»Dorothea und Hekatah erwarten von mir, dass ich ihnen Kaeleer übergebe, um Lucivar und Papa zurückzubekommen, nicht wahr?« Als er ihr die Antwort schuldig blieb, hob Jaenelle den Kopf und musterte ihn eingehend. »Nein. Das wäre nicht genug, was? Um Kaeleer halten zu können, müssen sie mich kontrollieren und meine Kraft benutzen können, um es zu beherrschen.«
»Ja. Lucivar und Saetan sind die Köder. Du bist der Preis.« Daemon strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Wie nah stehst du davor, deinen … Zauber fertig zu stellen?« Er wusste, dass es weit mehr als ein Zauber war, aber das Wort war so gut wie jedes andere.
»Noch ein paar Stunden.« Sie bewegte sich ein wenig mehr. »Ich sollte mich wieder daranmachen.«
Er hielt sie fester umschlungen. »Noch nicht. Bleib noch ein wenig länger bei mir sitzen. Bitte.«
Sie entspannte sich in seinen Armen. »Wir werden sie zurückholen, Daemon.«
Vater. Bruder. Er schloss die Augen und drückte seine Wange an ihren Kopf, da er die Wärme und den Körperkontakt so dringend brauchte wie die Luft in seinen Lungen. »Ja«, murmelte er, »wir werden sie zurückholen.«
17 Kaeleer
Ladvarian betrachtete die Kammer, die eine Zeit lang Hexe beherbergen würde. Auf dem Steinboden lag ein alter Teppich, den er in der Burg besorgt hatte. Außerdem hatte er zwei Kerzenleuchter mitgenommen sowie viele Duftkerzen. Das schmale Bett, das Tersa ihm gegeben hatte, stand in der Mitte der Kammer. Der Schrankkoffer befand sich daneben. Er war angefüllt mit Kleidung, ein paar Büchern, die Jaenelle gerne las, wenn sie sich ins Bett kuscheln und einen Tag lang ausruhen musste, ihre Lieblingsmusikkristalle und Gegenstände, die sie zum Striegeln benötigte. Bilder hatte er keine mitgebracht, weil drei Wände und die Decke der Kammer von etlichen Schichten heilender Netze verhüllt waren. Im rückwärtigen Teil der Kammer befanden sich all die Verworrenen Netze aus Träumen und Visionen, die den lebenden Mythos geformt hatten, Fleisch gewordene Träume, Hexe.
*Ist es fertig?*, fragte er respektvoll die gewaltige goldene Spinne, die Traumweberin.
*Netz fertig ist*, erwiderte die arachnianische Königin und strich behutsam mit einem Bein über einen der Blutstropfen.
*Jetzt ich Erinnerungen hinzufüge. Aber … brauche menschliche Erinnerungen.*
Ladvarians Nackenhaare sträubten sich. *Unser Traum war sie mehr als der ihre!*
*Aber auch der ihre. Brauche verwandte und menschliche Erinnerungen für diese Hexe.*
Ladvarian verließ sämtlicher Mut. Es war leicht gewesen, an die Erinnerungen der verwandten Wesen zu gelangen. Er hatte ihnen lediglich gesagt, was er benötigte, und dass es für die Lady sei. Mehr hatten die verwandten Wesen nicht wissen müssen. Doch Menschen würden wissen wollen, warum, warum, warum. Es würde dauern, bis er sie überredet hatte – und Zeit war gerade jetzt kostbar.
*Die Seltsame dir helfen wird *, sagte die Spinne.
*Aber die Lady kennt ganze Menschenrudel, ganze Herden! Wie …*
*Der Erste Kreis über starke Erinnerungen verfügt. Das reichen wird. Bitte die graue Schwarze Witwe um Hilfe. Eine gute Weberin sie ist – für einen Menschen.*
Sie meinte Karla. Ja. Wenn es ihm gelänge, Karla zu überreden …
*Den richtigen Zeitpunkt warte ab, um zu fragen. Nachdem Hexe ist gegangen zu eigenem Netz. Die Menschen dann werden dir besser zuhören.*
*Ich werde jetzt zum Bergfried aufbrechen und dort abwarten. * Ladvarian sah sich ein letztes Mal um. Es gab nichts mehr zu tun. Die Kammer war fertig. Das Verworrene Netz war fertig. Die verwandten Wesen, die dem Hof der Lady angehörten, hatten sich auf der Insel der Arachnianen eingefunden, um ihre Kräfte in das Netz der Weberin einfließen zu lassen, sobald der Zeitpunkt gekommen war.
*Noch etwas*, sagte die Spinne. *Grauer Hund. Du diesen Hund kennst?*
In Ladvarians Geist erschien ein Bild. *Das ist Graufang. Er ist ein Wolf.*
*Schick ihn zu mir. Er muss lernen etwas.*
18 Terreille
Es war ein Kriegslager, nicht unbedingt der Ort, an dem er Hekatah oder Dorothea vermutet hätte. In einem weiten Bogen um das Lager hatte man alle paar Meter Metallpfosten in die Erde gerammt. In die Pfosten waren jeweils zwei Kristalle an gegenüberliegenden Seiten angebracht, sodass alles, was zwischen zwei Pfosten hindurchging, den Kontakt zu den Kristallen im Nachbarpfosten unterbrechen und auf diese Weise die Wachen alarmieren würde. Das Lager selbst bestand aus Gruppen von Zelten für die Wachen, ein paar kleinen Holzhütten, die dicht nebeneinander nahe der Lagermitte errichtet worden waren, und zwei Holzbaracken mit massiven Gitterfenstern und etlichen Lagen an Bewachungszaubern. Vor den Hütten ragten sechs Holzpfähle empor, an denen schwere Ketten befestigt waren. Für Gefangene. Für Köder.
Sobald er die Metallpfosten am Lagerrand passiert hatte, wussten sie, dass er kam. Auf dem Weg hierher hatte er erneut darüber nachgedacht, was er tun würde. Er könnte Hekatah und Dorothea umbringen. Er könnte die Kraft seiner schwarzen Juwelen entfesseln, jeden töten, der sich in dem Lager befand, und Lucivar, Marian und Daemonar nach Hause bringen. Doch das würde nicht den Krieg beenden. Terreille musste sich einer Macht gegenübersehen, die den Leuten genug Schrecken einjagte, auf dass sie es nicht wagen würden, dagegen anzukämpfen. Folglich blieb immer nur das eine: Jaenelle musste derart provoziert werden, dass sie die Kraft ihrer mitternachtsschwarzen Juwelen auf Terreille losließ und die dortigen Bewohner mit einem Grund versah, in ihrem eigenen Reich zu bleiben.
Auf seinem Weg zur Lagermitte folgten ihm Wachen. Niemand näherte sich ihm oder versuchte, ihn anzufassen.
Runde Kerzen auf hohen Metallstangen erhellten den blutbesudelten, kahlen Boden, der sich genau in der Mitte des Lagers befand. Lucivar war an den letzten Pfahl gekettet. Die Peitschenwunden auf seiner Brust und seinen Oberschenkeln waren schorfig und wirkten nicht tief genug, als dass sie ihm ernsthaften Schaden hätten zufügen können. Sein Gesicht war von Blutergüssen überzogen, doch auch sie würden keinen bleibenden Schaden hinterlassen.
Saetan blieb am Rand des Lichtkegels stehen. Er hatte Hekatah seit zehn Jahren nicht mehr gesehen – kaum mehr als ein Augenblick für jemanden, der so lange wie er gelebt hatte. Und er hatte sie den Großteil dieser vielen Jahre gekannt. Doch sie war derart verwelkt, derart verwest, dass er sich, obgleich Dorothea neben ihr stand, nicht sicher war, ob sie es tatsächlich war, bis sie zu sprechen anhob.
»Saetan.«
»Hekatah.« Er ging auf die Mitte des kahlen Platzes zu.
»Du bist gekommen, um zu verhandeln?«, erkundigte Hekatah sich höflich.
Er nickte. »Ein Leben für ein Leben.«
Sie lächelte. »Für mehrere Leben. Das Luder und ihren Balg gibt es noch obendrein. Wir haben im Grunde keinerlei Verwendung für sie.«
Dachte sie, er wusste nicht, dass sie Daemonar niemals hergeben würden? Viele Jahrhunderte hatten sie sich bemüht, Lucivar oder Daemon dazu zu bringen, ein Kind zu zeugen, das sie kontrollieren und sich fortpflanzen lassen konnten, um eine dunklere Blutlinie unter ihre Kontrolle zu bringen.
»Mein Leben für das ihrige«, sagte er. Alles hat seinen Preis.
»Nein!«, rief Lucivar und stemmte sich gegen die magisch verstärkten Ketten, die ihn hielten. »Bring sie um!«
Ohne auf Lucivar zu achten, blickte er Hekatah an. »Sind wir im Geschäft?«
»Damit ich eine Gelegenheit bekomme, den Höllenfürsten erniedrigt zu sehen?«, meinte Hekatah frohlockend. »Oh ja, wir sind im Geschäft. Sobald du gefesselt bist, werde ich die anderen freilassen. Das schwöre ich bei meiner Ehre.«
Sie befahlen ihm, sich auszuziehen – und er tat es.
Er legte den Ring mit dem schwarzen Juwel ab und warf ihn zu Boden. Allerdings umgab er ihn zuvor mit einem festen Schutzschild, sodass niemand ihn berühren konnte. Wenn er ihn zu sich zurückrufen musste, wollte er nicht, dass die Verderbnis der anderen von dem Gold aufgesogen worden wäre.
Als zwei Wachen ihn an den Pfahl in der Mitte ketteten, schob Hekatah ihm einen Ring des Gehorsams über den Penis.
»Du siehst gut aus für dein Alter.« Sie trat einen Schritt zurück, um eingehend seinen nackten Körper zu mustern.
Er lächelte freundlich. »Leider kann ich nicht dasselbe über dich sagen, meine Teure.«
Boshaftigkeit ließ Hekatahs Gesicht zu einer Fratze werden. »Es ist an der Zeit, dass du eine Lektion erteilt bekommst, Höllenfürst.« Sie streckte zum gleichen Zeitpunkt ihre Hand empor, in dem auch Dorothea, der perverse Schadenfreude ins Gesicht geschrieben stand, die ihre erhob.
Lucivar hatte einmal versucht, dem ersten Kreis zu erklären, warum ein Ring des Gehorsams in der Lage war, selbst einen mächtigen Mann dazu zu bringen, sich zu unterwerfen. Aufgrund dessen ging Saetan davon aus, dass er auf die Wirkung des Rings vorbereitet war.
Nichts hätte ihn auf die Schmerzen vorbereiten können, die sein Glied und seine Hoden durchzuckten, bevor sie sich in seinem ganzen Körper ausbreiteten. Seine Nerven standen in Flammen, während in seinen Beinen unerträgliche Schmerzen tobten. Er konnte nicht dagegen ankämpfen, ja, war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Seine Söhne hatten es ausgehalten, hatten sich gegen Dorotheas Kontrolle aufgelehnt, obgleich sie wussten, dass sie nach jedem Akt des Widerstandes dies erwartete! Über Jahrhunderte hatten sie es ertragen. Wie konnte es einem Mann gelingen, hiervon nicht völlig pervertiert zu werden? Wie …
Er schrie – und schrie immer weiter, bis er das Bewusstsein verlor.
19 Kaeleer
Surreal ging unruhig in Karlas Wohnzimmer auf und ab. Ihr Ärger wuchs von Minute zu Minute. Sie wusste selbst nicht recht, warum sie darauf verfallen war, ihrem Ärger bei Karla Luft zu machen. Vielleicht, weil Karla bisher sämtlichen Geschehnissen gegenüber so verflucht teilnahmslos gegenübergestanden hatte.
Na schön, das war ungerecht! Die Frau trauerte um ihren Cousin Morton, ganz zu schweigen von dem Umstand, dass sie sich erst allmählich von einer schweren Vergiftung erholte. Trotzdem …
»Der Bastard klang, als handele es sich um eine lästige Störung, die ihm bei seiner Maniküre in die Quere kam!«, schrie Surreal Karla aufgebracht an. »›Wir werden sehen, inwieweit wir ihnen entgegenkommen können.‹ Beim Feuer der Hölle, es handelt sich um seinen Vater und seinen Bruder!«
»Du weißt doch gar nicht, was er vorhat«, meinte Karla ungerührt.
Diese Gleichgültigkeit steigerte Surreals Zorn noch. »Überhaupt nichts hat er vor!«
»Woher willst du das wissen?«
Wild fluchend ging Surreal weiter auf und ab. »Es ist fast so, als wollten er und Jaenelle, dass wir den Krieg verlieren.«
Zum ersten Mal war ein Anflug von Ärger aus Karlas Stimme herauszuhören. »Sei keine Närrin.«
»Jetzt hör mal zu, Süße …«
»Nein, hör du zu!«, fuhr Karla sie an. »Es ist höchste Zeit, dass ihr alle einmal zuhört, nachdenkt und euch ein paar Dinge ins Gedächtnis zurückruft. Die Männer würden sich am liebsten ins Schlachtgetümmel stürzen. Diesen Instinkt können sie genauso wenig ändern wie die Tatsache, dass sie eben Männer sind. Und der Hexensabbat besteht aus Königinnen, deren Instinkte sie dazu drängen, ihr Volk zu beschützen.«
»Und genau das sollten sie auch tun!«, rief Surreal. »Allerdings scheinst du dieses Problem nicht zu haben«, fügte sie boshaft hinzu. Dann warf sie einen Blick auf Karlas zugedeckte Beine und bereute ihre Worte schon wieder.
»Als Jaenelle fünfzehn war«, sagte Karla, »versuchte der Dunkle Rat, Saetan als ihren gesetzlichen Vormund auszuschalten. Sie entschieden, jemand anderen zu ihrem Vormund zu ernennen. Und Jaenelle hat ihnen geantwortet, beim nächsten Sonnenaufgang könnten sie das tun. Weißt du, was passierte? «
Surreal, die endlich stehen geblieben war, schüttelte den Kopf.
»Die Sonne ging drei Tage lang nicht auf«, erklärte Karla sanft. »Sie ging erst wieder auf, als der Rat das Urteil aufgehoben hatte.«
Surreal sank zu Boden. »Mutter der Nacht«, murmelte sie.
»Jaenelle wollte keinen Hof, sie wollte nicht herrschen. Sie wurde nur die Königin des Schwarzen Askavi, um die Terreilleaner, die in die Territorien der verwandten Wesen strömten, davon abzuhalten, die Tiere abzuschlachten. Meinst du wirklich, eine Frau, die diese Dinge tun würde, hat die letzten drei Wochen damit verbracht, verzweifelt die Hände zu ringen und zu hoffen, dass sich alles von alleine geben würde? Ich für meinen Teil glaube das nicht. Sie braucht uns aus einem ganz bestimmten Grund hier – und sie wird ihn uns eröffnen, sobald die Zeit reif ist.« Sie hielt kurz inne. »Und ich sage dir noch etwas, und zwar ganz unter uns: Manchmal muss ein Freund zum Feind werden, um ein Freund zu bleiben.«
Karla sprach von Daemon. Surreal dachte einen Augenblick über das Gesagte nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wie er sich verhalten hat …«
»Daemon Sadi hat sich Hexe mit Haut und Haaren verschrieben. Was immer er tut, tut er für sie.«
»Das weißt du nicht.«
»Ach nein?«
Schwarze Witwe. Die Worten hallten in Surreals Geist wider, bis nichts anderes mehr Raum darin hatte. Schwarze Witwe. Vielleicht stand Karla den Geschehnissen gar nicht teilnahmslos gegenüber! Vielleicht hatte sie etwas in einem Verworrenen Netz gesehen. »Bist du dir sicher in Bezug auf Sadi?«
»Nein«, gab Karla zur Antwort. »Aber ich bin gewillt, zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sich seine Worte in der Öffentlichkeit stark von dem unterscheiden, was er hinter verschlossenen Türen sagt.«
Surreal fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Na, also beim Feuer der Hölle, wenn Daemon und Jaenelle tatsächlich etwas im Schilde führen, könnten sie doch zumindest den Hof davon in Kenntnis setzen!«
»Ich wurde von einem Mitglied meines Hofstaats vergiftet«, flüsterte Karla. »Und vergessen wir nicht Jaenelles Großmutter. Sag mir also, Surreal, wenn du versuchtest, einen Weg zu finden, um jene beiden Luder endgültig zu zerstören, wem würdest du vertrauen?«
»Dem Höllenfürsten hätte sie vertrauen können.«
»Und wo befindet er sich in diesem Moment?«, fragte Karla.
Surreal schwieg, da sie beide die Antwort kannten.
20 Terreille
Ich denke, es ist an der Zeit, Jaenelle wissen zu lassen, dass du dich hier bei uns befindest«, meinte Hekatah und ging um Saetan herum, bis sie in seinem Rücken stand. »Wir sollten ihr ein kleines Geschenk senden.«
Er konnte spüren, wie sie nach dem kleinen Finger seiner linken Hand griff. Im nächsten Moment schnitt ein Messer durch seine Haut und den Knochen. Wut stieg in ihm empor, als Hekatah in die Knie ging und die Wunde mit ihren Lippen bedeckte, um sein Blut zu trinken. Das Blut eines Hüters.
Er nahm all seine Kraft zusammen und schickte eine Hitzewelle durch seinen Arm, um die Wunde auszubrennen.
Schreiend wich Hekatah zurück.
Während sich ihm die Gelegenheit bot, reinigte er die Wunde mithilfe der Heilkunst und verschloss das Fleisch weit genug, um einer Entzündung vorzubeugen.
Hekatah hörte nicht zu schreien auf. Da stürzte Dorothea aus ihrer Hütte. Aus allen Richtungen kamen Wachen herbeigelaufen.
Schließlich verstummte das Geschrei. Er hörte, wie Hekatah auf dem Boden nach etwas suchte, dann stand sie langsam auf. Als sie um ihn herumging, konnte er sehen, was sein Machtblitz bei ihr angerichtet hatte. Da ihr Mund die Wunde fest umschlossen gehabt hatte, war das Feuer auf sie übergesprungen, nachdem es die Blutgefäße ausgebrannt hatte. Es hatte einen Teil ihres Kiefers zum Schmelzen gebracht und ihr Gesicht auf groteske Weise verformt.
In einer Hand hielt sie seinen kleinen Finger, in der anderen das Messer. »Dafür wirst du bezahlen«, sagte sie undeutlich.
»Nein!« Dorothea trat vor. »Du hast selbst gesagt, dass wir den Schaden auf ein Minimum reduzieren müssen, bis sich Jaenelle in unserer Gewalt befindet.«
Hekatah drehte sich zu Dorothea um. Saetan war sich sicher, dass der Ekel, der sich auf Dorotheas Gesicht widerspiegelte, Hekatah rasend machen und verhindern würde, dass sie auch nur einen klaren Gedanken fasste.
»Bis sich Jaenelle in unserer Gewalt befindet«, brachte Hekatah mit Mühe hervor. »Aber … das bedeutet nicht … dass er überhaupt nicht dafür zahlen kann.« Sie wandte sich wieder ihm zu und hob eine Hand empor.
Zum zweiten Mal durchzuckten ihn die mörderischen Qualen, die der Ring des Gehorsams auslöste. Das war verheerend genug. Als er jedoch Lucivars schmerzerfüllten, aber trotzdem wütenden Schlachtruf vernahm, als Hekatah auch den Sohn für die Taten des Vaters bestrafte, rief dies einen Schmerz in ihm hervor, der viel tiefer ging als die eigene körperliche Qual.
21 Kaeleer
Daemon wünschte sich, Surreal wäre nicht dabei gewesen, als Geoffrey die kleine, mit Holzschnitzereien verzierte Schachtel gebracht hatte, die im Bergfried von Terreille eingetroffen war. Zwar hatte er angedeutet, dass Surreals Gegenwart nicht unbedingt nötig sei, da die mündlich überbrachte Botschaft gelautet hatte, es handele sich um ein ›Geschenk‹ für Jaenelle. Doch Surreal hatte gekontert, dass sie eine Angehörige der Familie sei und das gleiche Anrecht habe zu erfahren, was los sei, wie er oder Jaenelle. Unglücklicherweise stimmte das.
»Möchtest du, dass ich sie aufmache?«, fragte er Jaenelle, als sie minutenlang nur dastand und die Schachtel gebannt ansah.
»Nein«, erwiderte sie gelassen. Mithilfe der Kunst entfernte sie den Deckel von der Schatulle.
Alle drei starrten den kleinen Finger an, der auf einem seidenen Polster lag – ein kleiner Finger mit einem langen, schwarz gefärbten Nagel.
»Tja, Süße, ich würde mal sagen, diese Botschaft ist kurz, aber deutlich«, meinte Surreal, wobei sie Jaenelle nicht aus den Augen ließ. »In wie vielen Einzelteilen willst du ihn geliefert bekommen, bevor du endlich etwas unternimmst? Uns läuft die Zeit davon!«
»Ja«, sagte Jaenelle. »Es ist an der Zeit.«
Sie steht unter Schock, dachte Daemon. Dann blickte er ihr in die Augen – und konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Sie sahen aus wie saphirblaues Eis. Doch hinter dem Eis verbarg sich eine Königin, die man weit über das hinausgetrieben hatte, was die kalte Wut eines Mannes je entfesseln könnte. Weil er danach suchte, weil er tief genug in den Abgrund hinabsteigen konnte, um es spüren zu können, dämmerte ihm, dass Hekatahs kleines Präsent die wilde, die tödliche Seite von Hexe voll und ganz zum Leben erweckt hatte. Sie war nicht länger eine junge Frau, die den Finger ihres Vaters geschickt bekommen hatte, um zur Unterwerfung gezwungen zu werden. Sie war ein Raubtier, das abwägend den Köder betrachtete, den ein Feind ausgelegt hatte.
Dorothea und Hekatah hatten nur die junge Frau zu Gesicht bekommen. Sie hatten nicht die geringste Vorstellung davon, mit wem sie es wirklich zu tun hatten.
»Komm mit.« Jaenelle berührte ihn leicht am Arm, bevor sie das Zimmer verließ.
Ihre Hand fühlte sich selbst durch sein Hemd und Jackett so kalt an, dass die Berührung auf seiner Haut brannte.
Darum bemüht, Augen und Miene ausdruckslos zu halten, warf er Surreal einen Blick zu – und registrierte mit einer gewissen Bestürzung den Zorn, der ihm von ihr entgegenschlug. Da fiel ihm auf, dass die Wärme unverändert war, obwohl er bis ins Knochenmark fror.
Jaenelle hatte sich nach außen hin weder die Wut anmerken lassen, die unter der Oberfläche tobte, noch die Kräfte, die sich zum nächsten Schlag in ihrem Innern sammelten. Nichts.
Er blickte noch einmal auf den Finger, woraufhin sich seine Eingeweide zusammenzogen. Dann ging er aus dem Zimmer.
Zur Hölle mit den beiden!, dachte Surreal,
während sie auf den Finger in der Schachtel starrte. Oh, über Sadis
Gesicht war kurzzeitig ein Anflug von Erschrecken gehuscht, als er
ihn zum ersten Mal gesehen hatte, aber der war schnell genug
wieder verschwunden gewesen. Und bei Jaenelle? Nichts. Beim Feuer
der Hölle! Jaenelle hatte mehr Wut und Sorge an den Tag gelegt, als
sich Vania an Aaron herangemacht hatte! Zumindest hatte es damals
jene wilde, furchterregende Wut gegeben. Doch die Frau bekommt
ein Stück ihres Vaters geschickt und …
nichts. Nicht die geringste verfluchte Reaktion. Überhaupt
nichts!
Na schön! Wenn die beiden das Spiel auf diese Weise spielen wollten, sollte ihr das recht sein. Sie trug immerhin ein graues Juwel und war obendrein eine erfahrene Attentäterin! Nichts hinderte sie daran, heimlich nach Terreille zu reisen, und jenen beiden Ludern Lucivar und den Höllenfürsten zu entreißen – und Marian und Daemonar!
Surreal biss sich auf die Unterlippe. Na ja, alle unversehrt von dort zu retten, dürfte sie vielleicht doch vor ein Problem stellen.
Also gut, sie würde ein wenig darüber nachdenken und versuchen, einen Plan zu schmieden. Aber zumindest würde sie etwas unternehmen!
Und vielleicht würde sie, während sie an ihrem Plan feilte, Karla gegenüber diesen kleinen Vorfall erwähnen, um zu sehen, ob die Schwarze Witwe immer noch dachte, dass sich bei Jaenelle mehr regte als … nichts.
Als Daemon Jaenelles Arbeitsraum erreichte, war das Eis in
Jaenelles Augen längst zu rasiermesserscharfen Scherben
zersplittert, und er konnte etwas darin erkennen, das ihn in Angst
und Schrecken versetzte: kalten, unverwässerten Hass.
»Was wird jetzt deiner Meinung nach geschehen?«, wollte Jaenelle eine Spur zu ruhig wissen.
Daemon ließ die Hände in seine Hosentaschen gleiten, um zu verbergen, wie sehr er zitterte. Leise räusperte er sich. »Ich bezweifle, dass in nächster Zeit auch nur das Geringste passieren wird. Erst einmal muss der Bote nach Hayll zurückkehren und über das Abliefern der Schachtel Bericht erstatten. Es ist jetzt beinahe später Vormittag. Sie werden nicht von dir erwarten, dass du auf der Stelle in der Lage bist, eine Entscheidung zu treffen. Wir haben also ein paar Stunden. Vielleicht ein wenig mehr.«
Langsam ging Jaenelle in dem Zimmer auf und ab. Sie schien mit sich selbst im Widerstreit zu liegen. Schließlich seufzte sie – als habe sie bei der Auseinandersetzung den Kürzeren gezogen – und sah ihn an. »Die Traumweberin hat mir eine Nachricht geschickt. Sie sagte, das Dreieck müsse zusammenbleiben, um zu überleben. Die anderen beiden Seiten seien ohne den Spiegel nicht stark genug – doch der Spiegel könne sie alle beschützen.«
»Der Spiegel?«, fragte Daemon argwöhnisch.
»Du bist deines Vaters Spiegel, Daemon. Du bist eine Seite des Dreiecks.«
Blitzartig stieg die Erinnerung in ihm auf, wie Tersa vor Jahren ein Dreieck auf seiner Handfläche nachgefahren hatte, immer und immer wieder, während sie ihm das Geheimnis des vierseitigen Blutdreiecks erklärt hatte.
»Vater, Bruder, Geliebter«, murmelte er. Drei Seiten. Und die vierte Seite war die Mitte des Dreiecks und beherrschte alle übrigen.
»Genau«, erwiderte Jaenelle.
»Du möchtest, dass ich nach Hayll aufbreche.«
»Ja.«
Langsam nickte er. Er hatte das Gefühl, auf einer sehr dünnen, wackeligen Brücke zu stehen. Ein falscher Schritt, und er würde in einen Abgrund stürzen, aus dem es kein Entkommen gab. »Wenn ich dorthin ginge, um einen weiteren Gefangenenaustausch zu versuchen, würde uns das ein paar Stunden mehr verschaffen.«
»Ich habe nie gesagt, dass du dich ihnen ausliefern sollst!«, fuhr Jaenelle ihn an. Ihr Antlitz war blass gewesen, seitdem sie Saetans Finger erblickt hatte. Jetzt war es totenbleich. »Daemon, ich brauche zweiundsiebzig Stunden.«
»Zweiund … Aber alles ist doch fertig. Du musst nur noch deine Kräfte sammeln und sie auf die Reiche loslassen.«
»Ich benötige zweiundsiebzig Stunden.«
Er starrte sie an, und allmählich dämmerte ihm, was sie ihm zu sagen versuchte. Bei einem kontrollierten Absprung in die Tiefe konnte er in wenigen Minuten bis zur Ebene der schwarzen Juwelen hinabsteigen und all seine Kräfte sammeln. Sie hingegen würde zweiundsiebzig Stunden brauchen, um das Gleiche zu tun.
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben!
Aber es würde ihm niemals gelingen …
Er konnte das Wissen in ihren Augen ablesen – und kämpfte gegen die Scham an, die es in ihm auslöste. Wie hatte er glauben können, in der Lage zu sein, den Sadisten vor Hexe zu verbergen? Endlich begriff er, um was sie ihn bat.
Da er ihrem Blick nicht länger standhielt, wandte er sich von ihr ab und begann nun selbst, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Es war lediglich ein Spiel. Ein schmutziges, böses Spiel – die Art von Spiel, die der Sadist immer so gut gespielt hatte. Als er diesem Teil seines Ich freien Lauf ließ, nahm der Plan wie von selbst Gestalt an.
Aber… Alles hat seinen Preis. Wenn er schon die Freundschaft von fast jedem verlieren würde, der ihm jemals etwas bedeutet hatte, würde die Belohnung die Kosten rechtfertigen müssen.
»Ich kann es schaffen«, sagte er mit samtweicher Stimme, während er sie langsam umkreiste. »Ich kann Dorothea und Hekatah derart aus dem Gleichgewicht bringen, dass den anderen nichts geschieht, und diese beiden Ladys abgehalten werden, den Befehl zu erteilen, terreilleanische Heere in Kaeleer einmarschieren zu lassen. Ich kann dir zweiundsiebzig Stunden erkaufen, Jaenelle. Aber es wird mich teuer zu stehen kommen, weil ich Dinge tun werde, die man mir vielleicht niemals verzeihen wird. Deshalb möchte ich eine Entschädigung.«
Er konnte ihre leichte Verblüffung spüren, bevor sie sagte: »In Ordnung.«
»Ich möchte nicht länger einen Ring der Hingabe tragen.«
Schmerz trat in ihre Augen, der rasch unterdrückt wurde. »In Ordnung.«
»Stattdessen möchte ich einen Ehering.«
Strahlende Freude zeigte sich auf ihrem Gesicht, die sofort von tiefem Kummer verdrängt wurde. Sie lächelte ihn an, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Das wäre wunderbar. «
Sie sagte es nicht nur, sondern meinte es auch so. Warum also der Kummer, die quälende Pein? Damit würde er sich bei seiner Rückkehr auseinander setzen müssen.
Sein Temperament ging bereits mit ihm durch, machte ihn nervös und gefährlich. »Ich nehme das mal als ein Ja. Es gibt ein paar Dinge, die ich brauchen werde, die ich selbst aber nicht gut genug für dieses Spiel herstellen kann.«
»Sag mir einfach, was du brauchst, Daemon.«
Er wollte es nicht tun, wollte nicht zu jenem früheren Leben zurückkehren, nicht einmal für zweiundsiebzig Stunden. Er würde das Leben verstümmeln, das er sich hier aufzubauen begonnen hatte, und der Hexensabbat und der übrige Erste Kreis würden niemals …
»Vertraust du mir?«, fuhr er sie jäh an.
»Ja.«
Kein Zögern, keinerlei Zweifel.
Endlich blieb er stehen und wandte sich ihr zu. »Weißt du eigentlich, wie verzweifelt ich dich liebe?«
Ihre Stimme bebte, als sie ihm antwortete. »So sehr, wie ich dich liebe?«
Er hielt sie fest umschlungen. Sie war seine Rettungsleine, sein Anker. Es würde gut werden. Solange er sie hatte, würde es gut werden.
Schließlich gab er sie widerwillig frei. »Komm schon, wir haben noch viel Arbeit vor uns.«
»Das wär’s«, meinte Jaenelle etliche Stunden später. Sorgsam packte
sie die Schachtel, die all die Mittel und Zauber enthielt, die sie
für ihn erschaffen hatte. »Jedenfalls fast.«
Daemon schlürfte von dem Kaffee, den er so stark gekocht hatte, dass man ihn beinahe beißen konnte. Körperlich war er völlig ausgelaugt. Geistig war ihm schwindelig zumute. Während Jaenelle all die Zauber erschaffen hatte, um die er sie gebeten hatte, hatte er lernen müssen, wie man sie anwandte – sie hatte ihm also den Ablauf erklärt, während sie einen Zauber schuf, und ihn dann daran üben lassen, während sie sich an die Erstellung derjenigen machte, die er mit sich nehmen würde. Nachdem sie seinen Anstrengungen zugesehen hatte, hatte sie ihm weitere Anweisungen gegeben, wie sich die jeweilige Wirkung verfeinern ließe. Dass sie kein einziges Mal gefragt hatte, was er mit den Zaubern zu tun gedachte, erfüllte ihn mit Dankbarkeit. Andererseits wusste er natürlich auch nicht genau, was sie in seiner Abwesenheit tun würde. Es gab gewisse Dinge, die sich Schwarze Witwen gegenseitig nicht fragten.
Jaenelle hielt ein Fläschchen empor, das etwa die Größe ihres Zeigefingers besaß und mit dunklem Pulver gefüllt war. »Dies ist ein stimulierendes Mittel, und zwar ein starkes. Eine Dosis wird dich etwa sechs Stunden auf den Beinen halten. Du kannst es mit jeder Art Flüssigkeit mischen – « Sie beäugte den Kaffee. » – aber wenn du es mit solch einem Gebräu vermischst, dürfte es eine noch anregendere Wirkung entfalten.«
»Und das da ist eine Dosis?«, wollte Daemon wissen. Im nächsten Moment musste er sich auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen. Er wünschte sich, ein Bild von ihrem Gesichtsausdruck zu besitzen.
»Hier drin befinden sich genug Dosen für die nächsten drei Tage und mehr!«, meinte sie trocken.
»Nun, ich sollte besser herausfinden, was es mit mir anstellt. « Daemon streckte ihr die Kaffeetasse entgegen.
Sie öffnete das Fläschchen und ließ etwas Pulver in die Tasse rieseln. Es löste sich auf der Stelle auf.
Er trank einen Schluck. Ein wenig nussig, ein Hauch Schärfe. Eigentlich ganz …
Er musste keuchen. Auf einmal war sein Körper angespannt, als befände er sich mitten auf dem Schlachtfeld, und Daemon verspürte das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen. Sein Geist war nicht länger wie benebelt vor Müdigkeit. Nach den ersten paar Augenblicken konnte er spüren, wie er sich wieder ein wenig entspannte, doch die Wachsamkeit blieb ihm erhalten.
Nachdem er die Tasse ausgetrunken hatte, wartete er ein paar Sekunden. Keine körperlichen Veränderungen, lediglich das Gefühl, dass seine Energiereserven erfreulich anwuchsen.
Behutsam legte Jaenelle das Fläschchen in die Schachtel. »Alles hat seinen Preis, Daemon«, meinte sie bestimmt.
Das ernüchterte ihn wieder. »Es macht süchtig?«
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, hätte einen Mann entzweischneiden können. »Nein, macht es nicht. Ich selbst benutze es manchmal – was du allerdings keinem aus der Familie auf die Nase binden wirst. Sie würden einen riesigen Aufstand machen, wenn sie es wüssten. Das hier wird dich aufrecht erhalten, auch wenn du weder Nahrung noch Schlaf bekommst. Doch wenn du die Dosis nicht alle sechs Stunden einnimmst, wirst du auf der Stelle zusammenbrechen und solltest besser damit rechnen, einen Tag lang durchzuschlafen.«
»Mit anderen Worten, wenn ich eine Dosis vergesse, werde ich es nicht schaffen, mich wach zu peitschen; ganz egal, was um mich her geschehen mag.«
Sie nickte.
»Na gut, ich denke daran.«
Sie hielt ein weiteres Fläschchen in die Höhe, in dem sich eine dunkle Flüssigkeit befand. »Dies ist ein Stärkungstrank für Saetan. Da ich davon ausgehe, dass er körperlich geschwächt sein wird, habe ich ihn stark gemacht. Wenn er ihn zu sich nimmt, wird ihm Hören und Sehen vergehen. Einfach zu gleichen Teilen mit Flüssigkeit mischen – mit Wein oder mit frischem Blut.«
»Wenn ich das Stimulans benutze, kann ich dann trotzdem mein Blut für den Stärketrank hernehmen?«
»Ja.« Es gelang Jaenelle nicht ganz, sich ein Grinsen zu verkneifen. »Aber solltest du tatsächlich dein Blut verwenden, dann gieß es ihm in den Rachen, bevor du ihm sagst, um was es sich handelt, denn dann wird ihm von der Mischung nicht bloß Hören und Sehen vergehen – und die ersten zwei Minuten wird er dir alles andere als dankbar sein!«
»Alles klar.« Er hoffte nur, Saetans derzeitige Verfassung würde ihm tatsächlich erlauben, sich lautstark darüber aufzuregen, unter Drogen gesetzt worden zu sein.
Jaenelle holte tief Luft und ließ sie langsam wieder aus den Lungen entweichen. »Das wäre alles.«
Daemon stellte die Tasse auf dem Arbeitstisch ab. »Ich möchte überwachen, wie mein Proviantvorrat gepackt wird. Es wird nicht lange dauern. Wartest du auf mich?«
Ihr Lächeln konnte nicht den gehetzten Blick in ihren Saphiraugen verscheuchen. »Ich warte auf dich.«
»Prinz … sss … Sadi.«
Daemon zögerte, dann wandte er sich zu der Stimme um. »Draca.«
Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die sie zu einer losen Faust geballt hatte. Gehorsam hielt er seine Hand unter die ihre. Als sie ihre Hand öffnete, fielen winzige bunte Ringe in die seine – von der Art, die Frauen als Schmuck an ihren Kleidern trugen, damit sie im Licht glitzerten.
Verblüfft starrte er erst die Ringe, dann Draca an.
»Wenn der … sss … Zeitpunkt gekommen ist, gib sie … sss … Saetan. Er wird schon begreifen.«
Sie weiß es, dachte Daemon. Sie weiß es, aber … Nein, Draca würde den anderen nichts sagen. Die Seneschallin des Schwarzen Askavi würde ihr Wissen aus ganz persönlichen Gründen für sich behalten.
Als er weiterging, ließ er die Ringe in seine Jacketttasche gleiten.
Surreal fuhr zusammen, als ihre Zimmertür aufgerissen wurde.
»Was, im Namen der Hölle, glaubst du zu tun?«, wollte Daemon wissen und knallte die Tür hinter sich zu.
»Nach was sieht es denn aus?«, fuhr Surreal ihn an. Innerlich fluchte sie. Nur noch ein paar Minuten, und sie hätte es geschafft, sich unbemerkt davonzuschleichen.
»Es sieht danach aus, dass du etliche Stunden genauester Planung ruinieren möchtest«, versetzte Daemon barsch.
Das ließ sie innehalten. »Welche Planung?«, fragte sie misstrauisch.
Die Flüche, die folgten, waren so kreativ, dass sie selbst Surreal in Erstaunen versetzten. »Was, meinst du, habe ich getan, seitdem wir heute Morgen jenes Geschenk erhalten haben? Und was dachtest du überhaupt, im Alleingang ausrichten zu können?«
»Ich habe viele Jahre lang als Kopfgeldjägerin gearbeitet, Sadi. Zum Beispiel könnte ich …«
»Du hast jeweils einen einzigen Gegner ausgeschaltet«, knurrte er. »Damit wirst du in einem Heerlager nicht weit kommen. Und wenn du die Kräfte von Grau freisetzt, um dich der Wachen zu entledigen, kannst du mit Sicherheit davon ausgehen, dass die vier Leute, für die du die ganze Aktion überhaupt durchziehst, tot sein werden, wenn du schließlich bis zu ihnen vorgedrungen bist.«
»Du weißt nicht …«
»Ich weiß es sehr wohl!«, brüllte Daemon. »Ich bin im Würgegriff dieses Luders aufgewachsen. Ich weiß, wovon ich spreche!«
Ihre Wut konnte der seinen nicht standhalten, zumal er den Finger auf sämtliche Zweifel gelegt hatte, die sie selbst am Gelingen ihres Unternehmens gehegt hatte. »Du hast einen besseren Einfall?«
»Ja, Surreal, ich habe einen besseren Einfall«, entgegnete Daemon kalt.
Surreal fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und atmete bedächtig ein. »Ich könnte dir helfen … könnte sie ablenken oder so. Beim Feuer der Hölle, Daemon, diese vier Menschen sind auch für mich Familie; die einzige Familie, die ich je hatte. Sie bedeuten mir etwas. Lass mich dir helfen!«
Etwas Eigenartiges trat in seine Augen, als er sie anstarrte. »Ja«, ertönte seine seidenweiche Stimme. »Du könntest sehr hilfreich sein.« Seine Stimme veränderte sich und klang verärgert, dabei aber rational, als er die Nahrungsvorräte begutachtete, die sich auf ihrem Bett türmten. »Zumindest warst du vernünftig genug zu wissen, dass du dein eigenes Essen und Trinken mitnehmen musst, da du besser nichts verzehrst, was von dort stammt.« Er ging auf die Tür zu. »Ich brauche noch zwei Stunden. Dann brechen wir auf.«
»Aber …« Der Blick, mit dem er sie bestrafte, ließ sie verstummen. »Zwei Stunden«, stimmte sie ihm zu.
Erst als er fort war, begann sie sich zu fragen, auf was genau sie sich eingelassen hatte.
Kleine Närrin, dachte Daemon, als er zurück
zu Jaenelles Arbeitsraum stürmte. Wenn die Küchenangestellten nicht
erwähnt hätten, Surreal habe ein ähnliches Vorratspaket bestellt,
hätte er keine Ahnung gehabt, dass sie vorhatte, nach Hayll zu
reisen, und wäre dementsprechend nicht auf ihre Anwesenheit dort
vorbereitet gewesen. Oh, er konnte ihre Hilfe in diesem Spiel
durchaus gebrauchen! Schon nach einer Minute war ihm klar gewesen,
auf wie viele verschiedene Arten sie ihm hilfreich sein konnte.
Aber, verdammt noch mal, wenn sie dort eingefallen wäre und alle
aufgescheucht hätte, bevor er eintraf … Er musste Jaenelle
zweiundsiebzig Stunden verschaffen. Mit einem offenen, sauberen
Kampf ließen sich die anderen befreien, aber das ließe sich damit nicht erreichen.
Also würde er sein Spielchen spielen – und Surreal würde Gelegenheit bekommen, mit dem Sadisten zu tanzen.
Er betrat den Arbeitsraum und meinte schroff zu Jaenelle: »Ich brauche noch ein paar Dinge.«
Sie riss die Augen auf, als er ihr erklärte, was er benötigte, sagte jedoch nichts außer: »Ich glaube, ich gebe dir besser einen Ring, der einen Schild enthält, den niemand durchdringen kann.«
Da er davon ausging, dass sowohl Lucivar als auch Surreal ihm in ein paar Stunden das Herz aus dem Leib reißen wollen würden, hielt er dies für eine ausgezeichnete Idee.
Alle drei standen vor dem Raum, in dem sich der Dunkle Altar des
Bergfrieds befand.
Jaenelle umarmte Surreal. »Pass auf dich auf, Schwester. Auf dich und auf die anderen.«
»Wir werden sie zurückholen«, meinte Surreal und erwiderte die Umarmung. »Darauf kannst du dich verlassen.« Mit einem Blick auf Daemon betrat sie den Altarraum und schloss geräuschlos die Tür hinter sich.
Daemon sah Jaenelle nur an. Sein Herz war zu voll, als dass er seine Gefühle in Worte hätte fassen können. Außerdem schienen Worte in diesem Augenblick so unangemessen. Er strich ihr mit dem Daumen über die Wange und küsste sie zärtlich. Dann holte er tief Luft. »Das Spiel beginnt um Mitternacht. «
»Und Mitternacht zweiundsiebzig Stunden später wirst du mit den Winden zurück zum Bergfried in Terreille reisen. Keine Pausen, keine Verzögerungen.« Sie hielt inne und wartete, bis er genickt hatte. Dann erst fügte sie hinzu: »Reist nicht mit Winden, die dunkler als rot sind. Die anderen werden unbeständig sein.«
Nur mit Mühe gelang es ihm, nicht ungläubig den Mund aufzureißen. Ein starker Hexensturm konnte einen Teil des Wegesystems durch die Dunkelheit destabilisieren und sogar Reisende aus dem Netz schleudern, sodass sie sich in der Dunkelheit verloren, aber unbeständig klang viel, viel schlimmer.
»Na gut«, sagte er schließlich. »Wir bleiben bei Rot.«
»Daemon«, meinte Jaenelle leise, »ich möchte, dass du mir etwas versprichst.«
»Alles.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. »Vor dreizehn Jahren hast du alles gegeben, was du hattest, um mir zu helfen.«
»Und ich würde wieder alles für dich hingeben«, erwiderte er ebenso leise.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, keine weiteren Opfer, Daemon. Nicht von dir! Das ist es, was du mir versprechen sollst.« Sie schluckte hart. »Der Bergfried wird der einzige sichere Ort sein. Ich will dein Versprechen, dass du dich zu besagtem Zeitpunkt auf dem Weg dorthin befindest. Ganz egal, wem du den Rücken zukehren, gleichgültig, wen du zurücklassen musst, du musst vor dem Morgengrauen den Bergfried erreichen! Versprich es mir, Daemon.« Sie ergriff seinen Arm so fest, dass es schmerzte. »Ich muss wissen, dass du in Sicherheit sein wirst. Versprich es mir!«
Behutsam hob er ihre Hand an seine Lippen, um die Handfläche zu küssen. Er lächelte. »Ich werde doch nichts tun, was dazu führen könnte, dass ich zu spät zu meiner eigenen Hochzeit komme.«
Ein gequälter Ausdruck huschte über ihr Antlitz, und er fragte sich, ob sie ihn wirklich heiraten wollte. Nein. Er würde nicht anfangen, daran zu zweifeln. Er konnte es sich einfach nicht leisten, jetzt Zweifel aufkommen zu lassen. »Ich werde zu dir zurückkehren«, sagte er. »Das schwöre ich.«
Sie gab ihm einen kurzen, leidenschaftlichen Kuss. »Halte dich gefälligst daran.«
Jaenelle sah blass und erschöpft aus. Unter ihren Augen waren tiefe Schatten. Doch er hatte sie noch nie schöner gefunden.
»Bis in ein paar Tagen also.«
»Möge dich die Dunkelheit umarmen, Daemon. Ich liebe dich.«
Auf seinem Weg zu dem Dunklen Altar, der ein Tor zwischen den Reichen darstellte, kamen ihm Jaenelles letzte Worte nicht sehr beruhigend vor.
22 Kaeleer
Karla ließ sich vorsichtig in einem Sessel in Jaenelles Wohnzimmer nieder. Mithilfe der Kunst war sie in der Lage, von einem Ort zum anderen zu schweben. Es gelang ihr mittlerweile sogar, eine Zeit lang allein aufrecht zu stehen, wobei sie jedoch auf die Hilfe zweier Stöcke angewiesen war. Doch es ermüdete sie rasch, Energien durch ihren Körper zu leiten, und das Stehen tat ihr in den Beinen weh. Die tägliche Tasse mit dem Heiltrank, den Jaenelle ihr regelmäßig braute, tat aber ohne Zweifel ihre Wirkung. Allerdings hatte Karla das unbehagliche Gefühl beschlichen, dass Jaenelle ihre Kräfte sehr bald für etwas anderes als das Herstellen von Tränken brauchen würde.
Es war ihre erste Begegnung mit Jaenelle, seitdem diese sich geweigert hatte, Kaeleer in den Krieg ziehen zu lassen. Doch obgleich Jaenelle es gewesen war, die Gabrielle und Karla zu sich gerufen hatte, hatte die Königin des Schwarzen Askavi ihnen den Rücken zugewandt und starrte aus dem Fenster.
»Ihr beide müsst die Männer noch drei Tage länger im Zaum halten«, sagte Jaenelle leise. »Es wird nicht leicht sein, aber es ist notwendig.«
»Warum?«, wollte Gabrielle wissen. »Beim Feuer der Hölle, Jaenelle, wir müssen Heere zusammenziehen und kämpfen! Verstreut, wie wir im Moment sind, können wir uns kaum behaupten ; dabei kämpfen wir noch nicht einmal gegen die Heere, die zweifellos aus Terreille strömen werden, sondern bisher erst gegen diejenigen Terreilleaner, die sich bereits in Kaeleer befinden. Diese Mistkerle! Es ist an der Zeit, in den Krieg zu ziehen. Wir müssen es tun! Sonst werden nicht nur unsere Leute sterben; das Land wird ebenfalls zerstört.«
»Die Königinnen können das Land wieder heilen«, erwiderte Jaenelle, die sich noch immer nicht zu ihnen umgedreht hatte. »Das ist die besondere Gabe der Königinnen. Und von unseren Leuten sind bei weitem nicht so viele umgekommen, wie ihr zu glauben scheint.«
»Nein«, sagte Gabrielle verbittert, »sie sterben lediglich vor Scham, weil ihnen befohlen wurde, ihr Land im Stich zu lassen. «
»Ein wenig Scham fügt ihnen keinen Schaden zu.«
Karla legte Gabrielle beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Sie bemühte sich, vernünftig zu klingen, als sie sagte: »Ich bezweifle, dass uns eine andere Wahl bleibt, Jaenelle. Wenn wir nicht aufhören, uns zurückzuziehen, und endlich beginnen, unsere Feinde anzugreifen, werden wir letzten Endes keinen Ort haben, um Gegenwehr zu leisten, wenn die terreilleanischen Heere hier eintreffen.«
»Sie werden in den nächsten Tagen nicht den Befehl erhalten, in Kaeleer einzufallen. Danach wird es keinen Unterschied mehr machen.«
»Weil wir dann gezwungen sein werden, uns zu ergeben«, versetzte Gabrielle ungehalten.
Karlas Hand legte sich fester um Gabrielles Arm. Sie war nicht sehr kräftig, doch die Geste reichte aus, um den Zorn der anderen Königin im Zaum zu halten – zumindest im Moment.
»Wird Kaeleer überhaupt in den Krieg gegen Terreille ziehen? «, fragte sie.
»Nein«, antwortete Jaenelle. »Kaeleer wird nicht in den Krieg gegen Terreille ziehen.«
Die eigenartige Betonung ließ Karla das Blut in den Adern gefrieren. Die Art, wie Gabrielles Arm sich unter ihrer Hand anspannte, verriet ihr, dass die andere Frau es auch wahrgenommen hatte.
»Wer wird dann gegen Terreille in den Krieg ziehen?«
Janelle drehte sich zu ihnen um.
Gabrielle sog scharf die Luft ein.
Zum ersten Mal erblickten sie den Traum unter dem Fleisch.
Karla starrte auf die spitz zulaufenden Ohren, die von den Dea al Mon stammten; die Hände mit den einziehbaren Krallen, ein Erbe der Tigerlaner; die Hufe, die unter dem schwarzen Kleid hervorlugten, mochten von den Zentauren oder den Einhörnern herrühren. Ganz besonders starrte sie jedoch auf das winzige, spiralförmige Horn.
Der lebende Mythos. Fleisch gewordene Träume. Doch hatte sich jemals einer von ihnen wirklich Gedanken darüber gemacht, wer die Träumer gewesen sein mochten?
Kein Wunder, dass die verwandten Wesen sie lieben. Kein Wunder, dass wir alle sie lieben!
Karla räusperte sich leise, um ihre Frage zu wiederholen, obwohl sie auf einmal hoffte, dass sie nicht beantwortet würde. »Wer wird dann gegen Terreille in den Krieg ziehen?«
»Ich«, sagte Hexe.