Kapitel 15

1 e9783641062019_i0122.jpg Terreille

Halbblind vor Schmerzen, die ihm im Laufe der letzten beiden Tage zugefügt worden waren, beobachtete Saetan, wie Hekatah auf ihn zukam und ihn lange und ausgiebig musterte. Sobald einer von beiden Frauen der Sinn danach gestanden hatte, hatten sie und Dorothea seinen Ring des Gehorsams eingesetzt, doch vorsichtiger als zuvor, sodass er nicht mehr vor Schmerzen das Bewusstsein verlor. Schlimmer noch war der Umstand, dass sie ihn auch bei Tageslicht an den Pfahl gekettet ließen. Nachdem die Schmerzen ihn bereits geschwächt hatten, hatte die Nachmittagssonne seine Reserven weiter angegriffen und in seinen Augen gebrannt, bis er Kopfschmerzen bekam, die so heftig waren, dass nicht einmal die Pein des Rings sie überdecken konnte.

Stück für Stück hatten die Qualen jegliche belebende Wirkung zunichte gemacht, die Jaenelles Stärkungstränke auf ihn ausgeübt hatten. Sein Körper war wieder auf den Stand zurückgefallen, den er gehabt hatte, als er ihr zum ersten Mal begegnet war – mehr dämonentot als lebendig.

Wäre er in der Lage, die Verwandlung vom Hüter zum Dämonentoten schnell zu durchlaufen, hätte er diese Möglichkeit vielleicht in Betracht gezogen – die Art Übergang von der einen Existenzform in die andere, wie Andulvar und Prothvar sie vor all den langen Jahrhunderten auf dem Schlachtfeld miterlebt hatten. Sie waren beide so sehr vom Kampfrausch gepackt gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatten, tödlich verwundet worden zu sein. Wenn er es auf diese Weise tun könnte, würde er es vielleicht in Erwägung ziehen. Es wäre ein Leichtes, sich eine Ader aufzuschlitzen und zu verbluten, und seine jetzigen Schmerzen würden auch nachlassen. Doch dann wäre er verletzlicher, und ohne die Zufuhr frischen Blutes würden ihn die Sonnenstrahlen so sehr schwächen, dass er Jaenelle eine Last wäre, anstatt an ihrer Seite kämpfen zu können, wenn sie endlich kam.

Wenn Jaenelle endlich käme. Falls Jaenelle jemals kam. Sie hätte längst reagieren müssen, hätte mittlerweile hier sein müssen – wenn sie überhaupt vorhatte, her zu kommen.

»Ich denke, es ist an der Zeit, Jaenelle ein weiteres Geschenk zu schicken«, sagte Hekatah, deren Jungmädchenstimme nun von dem verformten Kiefer beeinträchtigt und nur schwer verständlich war. »Noch ein Finger?« Sie bediente sich des gleichen Tonfalls, den eine andere Frau benutzen mochte, während sie abwog, welche Speise sie am besten zum Abendessen servieren sollte. »Vielleicht diesmal ein Zeh. Nein, zu unbedeutend. Ein Auge? Zu entstellend. Wir wollen ja nicht, dass sie meint, du seiest zu abstoßend, um gerettet zu werden. « Ihr Blick fiel auf seine Hoden – und sie lächelte. »Es ist nur noch totes Fleisch, aber hierfür ist es trotzdem nützlich.«

Er reagierte nicht, zwang sich dazu, nicht zu reagieren. Es war tatsächlich nur noch totes Fleisch – der letzte Körperteil, der neu belebt worden war, und nun der erste, der wieder abgestorben war. Er würde nicht reagieren. Und auf keinen Fall würde er an Sylvia denken. Nicht jetzt. Nie wieder.

Hekatah sah ihm tief in die Augen und trat näher auf ihn zu, immer näher. Mit einer Hand streichelte sie ihn, liebkoste ihn und umschloss ihn, um ihn für das Messer zu halten.

Da übertönte ein wütender Schrei die normalen Nachtgeräusche.

Hekatah fuhr zurück und wirbelte in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war.

Surreal stürzte in das Lager, als sei sie von einer gewaltigen Hand durch die Luft geschleudert worden. Mit den Füßen landete sie zuerst auf dem Boden, doch es gelang ihr nicht, den Schwung abzufedern und stehen zu bleiben. Sie zog die Beine an und rollte sich ab. Schließlich kniete sie auf dem Boden und starrte in die Dunkelheit jenseits des Platzes, der vom Schein der Kerzen erleuchtet war.

»Du kaltblütiger, herzloser Bastard!«, schrie Surreal. »Du feiger Hurensohn!«

Dorothea kam aus ihrer Hütte gelaufen und rief: »Wachen! Wachen!«

Von drei Seiten des Lagers kamen Wachen herbeigerannt. Aus der Dunkelheit, die sich ihnen gegenüber befand, kam niemand.

»Wachen!«, brüllte Dorothea erneut.

Aus der Dunkelheit drang eine tiefe, belustigte Stimme. »Sie werden deinem Ruf nicht folgen, Liebling. Sie sind aufgehalten worden – für immer.«

Daemon Sadi trat aus dem Dunkel und blieb am Rand des Lichtkegels stehen. Sein schwarzes Haar war ein wenig vom Wind zerzaust. Die Hände hatte er lässig in seine Hosentaschen gesteckt. Sein schwarzes Jackett stand offen, sodass man das weiße Seidenhemd sehen konnte, das bis zur Taille aufgeknöpft war. Das schwarze Juwel an seinem Hals glitzerte vor Macht. In seinen goldenen Augen lag ebenfalls ein Glitzern.

Dieses eigenartige Glitzern in Daemons Augen ließ Saetan erbeben. Etwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht!

Hekatah drehte sich halb um, das Messer an Saetans Bauch. »Ein Schritt mehr, und ich schneide ihm die Eingeweide aus dem Leib – und den Eyrier bringe ich ebenfalls um.«

»Tu dir keinen Zwang an«, meinte Daemon freundlich und betrat das Lager. »Das erspart mir die Mühe, zwei sorgfältig eingefädelte Unfälle zu arrangieren, was ich demnächst ohnehin hätte tun müssen, da der Haushofmeister und der Erste Begleiter immer … lästiger … wurden. Du tötest also die beiden, dann bringe ich euch um und kehre nach Kaeleer zurück, um einer trauernden Königin Trost zu spenden. Ja, das passt mir ausgezeichnet. Dir wird man die Schuld an ihrem Tod geben, und Jaenelle wird mich niemals ansehen und sich fragen, wieso ich als einziger Mann übrig geblieben bin, auf den sie sich noch verlassen kann.«

»Du vergisst den Hauptmann der Wache«, sagte Hekatah.

Der Anflug eines brutalen Lächelns umspielte Daemons Mund. »Nein, und Prothvar und Mephis habe ich nicht vergessen. Sie bereiten mir längst keine Sorgen mehr.«

Im ersten Augenblick hatte Saetan das Gefühl, Hekatah habe ihm tatsächlich die Eingeweide aus dem Leib gerissen. Zwar war er körperlich unversehrt, doch in seinem Innersten tobte ein unerträglicher Schmerz. »Nein!«, rief er. »Nein, das kannst du unmöglich getan haben!«

Daemon brach in Gelächter aus. »Kann ich nicht? Wo sind sie dann, alter Mann?«

Da Saetan sich bereits genau dieselbe Frage gestellt hatte, wusste er keine Antwort darauf. Dennoch verspürte er den Drang, es zu verleugnen. »Du kannst das nicht getan haben. Sie sind Teil deiner Familie!«

»Meine Familie«, meinte Daemon nachdenklich. »Wie praktisch für sie, dass sie sich just zu dem Zeitpunkt entschlossen haben, mich in ihre so genannte Familie aufzunehmen, als ich der Gefährte der stärksten Königin in der Geschichte des Blutes wurde.«

»Das ist nicht wahr.« Saetan versuchte sich nach vorne zu lehnen, obgleich Hekatah ihm noch immer das Messer an den Bauch drückte. Es war verrückt, hierüber zu streiten, doch sämtliche Instinkte bäumten sich in seinem Innern auf und warnten ihn, dass es jetzt geschehen müsse, dass es ansonsten vielleicht keine Gelegenheit mehr gäbe, etwas an jenem Blick in Daemons Augen zu ändern.

»Ist es nicht?«, stieß Daemon verbittert hervor. »Wo waren sie dann vor siebzehnhundert Jahren, als ich noch ein Kind war? Wo warst du? Wo wart ihr alle in all den Jahren? Sprich du mir nicht von Familie, Höllenfürst.«

Saetan sackte kraftlos an dem Pfahl zusammen. Mutter der Nacht, jegliche Sorge, die er bezüglich Daemons Loyalität gehegt hatte, bewahrheitete sich nun.

»Wie rührend«, meinte Hekatah höhnisch. »Erwartest du von uns, dass wir dir das abnehmen? Du bist deines Vaters Sohn.«

Daemon richtete den goldenen Blick auf Hekatah. »Es wäre richtiger zu sagen, ich bin der Mann, der mein Vater hätte sein können, wenn er den Mut dazu gehabt hätte.«

»Hör nicht auf ihn«, mischte sich auf einmal Dorothea ein. »Es ist eine Falle, nichts weiter. Er lügt.«

»Viel mehr scheint er nicht zu können«, murmelte Surreal voll Bitterkeit.

Nachdem Daemon sie mit einem kurzen, abweisenden Blick bedacht hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit Dorothea zu. »Hallo, Liebling. Du siehst wie ein hässliches altes Weib aus. Steht dir gut.«

Dorothea stieß ein wütendes Zischen aus.

»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte Daemon mit einem Seitenblick auf Surreal.

Dorothea betrachtete Surreals spitz zulaufende Ohren und feixte höhnisch. »Ich habe schon von ihr gehört. Sie ist nichts weiter als eine Hure.«

»Ja«, pflichtete Daemon ihr höflich bei, »sie ist eine erstklassige Schlampe, die ihre Beine für alles breit macht, das sie dafür bezahlt. Abgesehen davon ist sie aber auch deine Enkelin. Kartanes Kind. Das einzige, das er je zeugen wird. Die einzige Fortsetzung deiner Blutlinie.«

»Keine Schlampe ist meine Enkelin«, fauchte Dorothea.

Daemon hob eine Braue. »Also wirklich, Liebling, ich dachte, das würde euch ganz besonders miteinander verbinden. Der einzige Unterschied zwischen euch beiden besteht darin, dass sie meist unter einem Mann liegt, während du auf ihm reitest. Aber deine Beine sind genauso weit gespreizt.« Er hielt inne. »Nun, einen weiteren Unterschied gibt es doch noch. Da sie sich für ihre Dienste bezahlen lässt, war sie von jeher gezwungen, gut im Bett zu sein.«

Dorothea bebte vor Wut. »Wachen! Ergreift ihn!«

Zwanzig Männer stürmten vor, fielen jedoch im nächsten Augenblick tot zu Boden.

Daemon lächelte nur. »Vielleicht sollte ich den Rest auch gleich noch umbringen, um weiterem Ärger vorzubeugen.«

Vorsichtig ließ Hekatah das Messer sinken. »Warum bist du hier, Sadi?«

»Mit euren kleinen Intrigen kommt ihr mir in die Quere, und das ärgert mich.«

»Terreille zieht gegen Kaeleer in den Krieg. Das ist ja wohl keine kleine Intrige.«

»Tja, das kommt ganz darauf an, ob man mächtig genug ist, um zu siegen, nicht wahr?«, sagte Daemon mit honigsüßer Stimme. »Wie dem auch sei, ich bin nicht daran interessiert, über ein Reich zu herrschen, das von einem Krieg verwüstet wurde. Also habe ich entschieden, dass es höchste Zeit sei, ein wenig zu plaudern.«

Dorothea machte einen Satz nach vorn. »Hör nicht auf ihn!«

»Wie willst du ein Reich beherrschen?«, fragte Hekatah, ohne auf Dorothea zu achten.

Daemons Lächeln wurde noch kälter und grausamer. »Ich habe die Kontrolle über diejenige Hexe, die stark genug ist, jedes Lebewesen im Reich Terreille zu töten.«

»Nein!«, rief Saetan. »Du hast die Königin nicht unter Kontrolle! «

Als Daemon ihn ansah, begann der Höllenfürst erneut zu zittern.

»Habe ich das nicht?«, schnurrte Daemon. »Hast du dich gar nicht gefragt, weshalb sie nicht auf das ›Geschenk‹ reagiert hat, Höllenfürst? Oh, sie war außerordentlich betrübt. Seit dein Finger bei ihr ankam, hat sie in einem fort geweint. Doch sie ist nicht hier – und sie wird auch nicht kommen, denn sie legt größeren Wert darauf, es von mir im Bett besorgt zu bekommen, als auf dich. Als auf jeden Einzelnen von euch!« Zum ersten Mal sah Daemon zu Lucivar hinüber.

Saetan schüttelte den Kopf. »Nein. Das kannst du nicht tun, Daemon.«

»Sag du mir nicht, was ich tun kann. Du hattest deine Chance, alter Mann, und du hattest nicht den Mut, sie zu nutzen. Jetzt bin ich an der Reihe, und ich habe vor zu herrschen. «

»Noch so eine Lüge!«, keifte Dorothea. »Du hast dich nie für die Macht interessiert.«

Daemon richtete seine eiskalte Wut auf sie. »Was weißt du schon davon, was ich wollte, du Luder? Du hast mir nie die Möglichkeit gegeben, an die Macht zu gelangen. Du wolltest dich lediglich meiner Kraft bedienen, ohne mir je etwas im Gegenzug anzubieten.«

»Ich habe dir sehr wohl etwas geboten!«

»Was denn? Dich? Du hast dich bereits an mir gütlich getan, Dorothea. Wie konntest du dir einbilden, mehr davon zu ertragen, könnte so etwas wie eine Belohnung sein?«

»Du Bastard! Du …« Sie trat einen Schritt auf ihn zu, die erhobene Hand zu einer Klaue gekrümmt.

Ein von einer unsichtbaren Hand ausgeführter Schlag schleuderte sie zu Boden. Sie fiel auf Surreal, die heftig fluchte und sie von sich stieß.

Fast widerwillig ließ Saetan den Blick von Daemon zu Hekatah wandern – und musste feststellen, dass sie am ganzen Körper bebte, allerdings nicht vor Wut.

»Was willst du, Sadi?«, fragte Hekatah, der es nicht gelang, mit gefasster Stimme zu sprechen.

Erst nach einer langen Pause, die alle frösteln ließ, wandte Daemon seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu. »Ich bin gekommen, um im Namen meiner Königin mit euch zu verhandeln.«

»Ich hab es doch gesagt«, murmelte Dorothea – machte jedoch keine Anstalten aufzustehen.

»Und was wirst du deiner Königin berichten?«, erkundigte sich Hekatah.

»Dass ich zu spät gekommen bin, um auch nur einen von ihnen zu retten. Ich bin mir sicher, wenn ich ein wenig nachhelfe, wird ihre Reaktion angemessen heftig ausfallen.«

»Sie wird nicht nur uns töten, wenn sie derart viel Macht entfesselt.«

Daemon lächelte befriedigt. »Genau. Sie wird alles zerstören. Und sobald ihr erst einmal alle tot seid … Nun, ein paar Kämpfe werden noch in Kaeleer auszutragen sein, um die größten Störenfriede bei Hofe auszuschalten. Doch danach wird bestimmt bald wieder Ruhe einkehren.« Er drehte sich um und ging in Richtung der Dunkelheit.

Er wird sie niemals dazu bringen, alle in Terreille zu töten, dachte Saetan und schloss die Augen, während in ihm die Übelkeit hochstieg. Es wird ihm nie gelingen, sie derart zu pervertieren. Nicht Jaenelle!

»Warte«, meinte Hekatah.

Saetan schlug die Augen auf.

Daemon hatte beinahe den Rand des Lichtkegels erreicht. Als er sich umdrehte, hatte er eine Augenbraue fragend in die Höhe gezogen.

»War das der einzige Grund, weswegen du hergekommen bist?«, wollte Hekatah wissen.

Daemon warf erneut Lucivar einen Blick zu und lächelte. »Nein. Ich dachte, ich könnte ein paar alte Rechnungen begleichen, wo ich schon einmal hier bin.«

Hekatah erwiderte sein Lächeln. »Dann haben wir vielleicht doch etwas, worüber wir uns unterhalten könnten, Prinz. Aber nicht jetzt. Warum vergnügst du dich nicht – während Dorothea und ich darüber nachdenken, wie wir zu einer gütlichen Einigung kommen können?«

»Ich bin mir sicher, dass ich einen amüsanten Zeitvertreib finden werde«, sagte Daemon. Er trat aus dem Licht und verschwand in der Dunkelheit.

Hekatah sah Saetan an. Es war ihm in diesem Augenblick nicht möglich, seine Gefühle im Zaum zu halten und eine ausdruckslose Miene aufzusetzen.

Dorothea erhob sich und deutete auf Surreal. »Fesselt das Miststück«, befahl sie einem der Wächter barsch. Dann wandte sie sich Hekatah zu. »Du wirst Sadi doch wohl nicht glauben wollen.«

»Der Höllenfürst tut es«, meinte Hekatah leise. »Und das ist in der Tat höchst interessant.« Sie stieß ein Zischen aus, als Dorothea Einspruch erheben wollte. »Wir sprechen unter vier Augen darüber.«

Sie ging auf ihre Hütte zu. Dorothea folgte nur widerwillig.

Nachdem die Wächter Surreal an den Pfahl links von Saetan gekettet hatten, sammelten sie die Toten auf und begaben sich wieder an ihre Arbeit, wobei sie regelmäßig unbehagliche Blicke in die Dunkelheit warfen.

»Dein Sohn ist ein kaltblütiger Bastard«, sagte Surreal leise.

Saetan musste an das Glitzern in Daemons Augen denken. Er dachte an den Mann, den er eigentlich gut kennen sollte – und überhaupt nicht kannte. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf an den Pfahl. »Ich habe nur noch einen Sohn – und der ist Eyrier.«



»Hallo, Mistkerl.«

Lucivar drehte den Kopf zur Seite und beobachtete, wie Daemon aus der Dunkelheit glitt und um ihn herumging, bis er direkt vor ihm stand.

Er hatte sich den Anfang des Spiels genau angesehen und auf ein Zeichen von Daemon gewartet, dass es Zeit war, zum Angriff überzugehen. Die mit einem Zauber belegten Ketten konnten ihn nicht wirklich zurückhalten, und im Gegensatz zu Saetan schwächten ihn die Schmerzen aus dem Ring des Gehorsams nicht lange – zumindest erschöpften sie ihn nicht derart, wie es beim Höllenfürsten der Fall zu sein schien. Nein, ihn hatte lediglich die Gefahr zurückgehalten, in der Marian und Daemonar schwebten. In der weiter entfernt gelegenen Baracke, die als Gefängnis diente, befand sich jederzeit eine Wache, und diese Wache hatte den Befehl erhalten, seine Ehefrau und seinen Sohn zu töten, sobald er sich befreite. Deshalb hatte er abgewartet, besonders, als sich Saetan den beiden Ludern ergeben hatte. Saetan hatte wissen müssen, dass es keinen Tauschhandel geben würde, und war dennoch gekommen, um sich gefangen nehmen zu lassen. Er musste einen guten Grund haben, das mit sich machen zu lassen.

Als Daemon erschienen war, hatte Lucivar folglich damit gerechnet, dass das Spiel nun beginnen würde. Doch jetzt, als er jenen gelangweilten, schläfrigen, furchterregenden Blick sah … Er hatte schon häufig genug mit dem Sadisten getanzt, um zu wissen, dass sie alle ziemlich in der Klemme steckten.

»Hallo, Bastard«, sagte er vorsichtig.

Daemon trat näher heran. Seine Fingerspitzen glitten Lucivars Arm empor, fuhren über seine Schulter und strichen dann über das Schlüsselbein.

»Was ist das für ein Spiel?«, fragte Lucivar leise. Dann erzitterte er, als Daemons Finger seinen Hals hinaufglitten und über seinen Kiefer strichen.

»Es ist ganz einfach«, meinte Daemon mit schmachtender Stimme, wobei er Lucivar mit dem Finger über die Unterlippe fuhr. »Ihr werdet sterben, und ich werde herrschen.« Lächelnd begegnete er Lucivars Blick. »Weißt du, wie es ist, sich im Verzerrten Reich aufzuhalten, Mistkerl? Hast du auch nur die leiseste Ahnung? Wegen dir habe ich acht Jahre lang Höllenqualen ertragen.«

»Du hast mir diese Schuld vergeben«, knurrte Lucivar leise. »Ich habe dir Gelegenheit gegeben, die Rechnung zu begleichen, und du zogst vor, mir zu vergeben.«

Sanft blieb Daemons Hand an Lucivars Hals liegen. Er beugte sich vor, bis seine Lippen beinahe Lucivars berührten. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde dir vergeben?«

Von der abseits gelegenen Baracke drang wütendes Kindergeschrei zu ihnen herüber.

Daemon trat einen Schritt zurück. Lächelnd steckte er die Hände in die Hosentaschen. »Du wirst für jene Jahre bezahlen, Mistkerl. Sie werden dich teuer zu stehen kommen.«

Lucivar schlug das Herz bis zum Hals, als Daemon auf die Baracke zuglitt, in der sich Marian und Daemonar befanden. »Bastard? Bastard, warte! Ich bin derjenige, der in deiner Schuld steht. Du kannst nicht … Daemon? Daemon!«

Daemon betrat die Hütte. Einen Augenblick später stürzte der Wächter ins Freie.

»Daemon!«

Kurz darauf hörte Lucivar seinen Sohn aufschreien.



Dorothea ballte die Hände zu Fäusten. »Ich sage dir, es ist eine Falle. Ich kenne Sadi!«

»Tatsächlich?«, fuhr Hekatah sie unwirsch an.

Es wäre richtiger zu sagen, ich bin der Mann, der mein Vater hätte sein können, wenn er den Mut dazu gehabt hätte.

Ja, ihr waren die Rücksichtslosigkeit, der Ehrgeiz und das an Grausamkeit grenzende sexuelle Verlangen an Daemon Sadi nicht entgangen. Ein wenig machte es ihr Angst, doch vor allem erregte es sie.

»Er hatte nie Interesse daran, seine Kräfte einzusetzen, um an die Macht zu gelangen. Vielmehr wehrte er sich gegen jeglichen Versuch meinerseits, ihn dazu zu bringen.«

»Das liegt daran, dass du ihn falsch behandelt hast«, versetzte Hekatah barsch. »Wenn du Sadi so abgöttisch geliebt hättest wie deinen missratenen Sohn …«

»Du hast es immer amüsant gefunden, dass ich mich im Schlafzimmer mit dem Spross des Höllenfürsten vergnügt habe. Du hast geglaubt, es würde einen Mann aus ihm machen.«

Und das hatte es. Es hatte Sadis Grausamkeit gesteigert wie auch seinen Geschmack an perversen Freuden. Auch das hatte sie an ihm gespürt. Genauso, wie ihr nicht entgangen war, dass es schwer sein würde, seinen tiefen Hass Dorothea gegenüber zu umgehen. Nun, das würde sie ihren eigenen Ambitionen gewiss nicht in die Quere kommen lassen! Außerdem war Dorothea ohnehin schwierig und unzuverlässig geworden. Nachdem sie im Krieg den Sieg errungen hätten, würde sie das Luder sowieso aus dem Weg räumen müssen.

»Ich sage dir, er führt etwas im Schilde«, meinte Dorothea beharrlich. »Und du lässt ihn einfach so im Lager umherspazieren, wo er tun und lassen kann, was er will.«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«, fuhr Hekatah sie an. »Ohne Druckmittel können wir nicht gegen Schwarz antreten und davon ausgehen, dass wir gewinnen.«

»Wir haben ein Druckmittel«, stieß Dorothea zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Hekatah ließ ein boshaftes Lachen vernehmen. »Welches Druckmittel denn? Sollte er tatsächlich Andulvar, Prothvar und Mephis den Garaus gemacht haben, wird er nicht mit der Wimper zucken, bloß weil Saetans Gedärme auf den Boden quellen.«

»Du hast dir den falschen Mann ausgesucht und die falsche Drohung«, meinte Dorothea verärgert und machte eine abwehrende Handbewegung. »Vielleicht liegt ihm nichts an Saetan, aber er hat sich bisher noch jedes Mal in die Knie zwingen lassen, wenn Lucivar bedroht wurde. Lucivar war immer die eine Kette, bei der wir davon ausgehen konnten, dass sich Sadi damit fesseln lassen würde. Wenn du ihm damit drohst …« Sie hielt inne, schnüffelte in die Luft und warf der Tür einen unbehaglichen Blick zu. »Was ist das für ein Geruch?«



»Was ist das für ein Geruch?«, murmelte Surreal. Mitternacht war längst vorbei. Brieten die Wachen im Voraus Fleisch für das morgige Essen? Möglicherweise; obgleich sie sich nicht vorstellen konnte, dass jemand etwas essen wollen würde, das derart ekelhaft roch. »Riechst du es auch?« Sie wandte den Kopf, um Saetan anzusehen – und was sie erblickte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Seit Daemon das Lager das erste Mal verlassen hatte, hatte der Höllenfürst nur vor sich hin gestarrt. Immer nur gestarrt. »Saetan?«

Langsam drehte er den Kopf. Sein Blick richtete sich auf sie – zu langsam.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass im Moment keine Wachen in der Nähe waren, lehnte sie sich so weit wie möglich zu ihm. »Saetan, es ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um die Konzentration zu verlieren. Wir müssen einen Weg finden, um von hier zu entkommen.«

»Es tut mir Leid, dass du hier bist, Surreal«, sagte er mit erschöpfter Stimme. »Es tut mir wirklich Leid.«

Und mir erst! »Lucivar verfügt über die nötige körperliche Kraft, und ich bin eine gute Kämpferin, aber du bist erfahren genug, um dir einen Plan auszudenken, sodass wir diese Kraft zu unser aller Vorteil einsetzen können.«

Er sah sie nur an. Das Lächeln, das schließlich seine Lippen umspielte, war bittersüß. »Meine Liebe … ich bin in den letzten beiden Tagen sehr alt geworden.«

Das war ihr nicht verborgen geblieben, und es jagte ihr große Angst ein. Sie zweifelte daran, dass ihnen ohne Saetans Hilfe die Flucht von hier gelingen würde.

Als eine Tür aufging, richtete Surreal sich augenblicklich auf und wandte den Blick von Saetan.

»Beim Feuer der Hölle«, erklang Dorotheas aufgebrachte Stimme. »Was ist das für ein Gestank?« Sie trat zwischen die Pfähle, an die Saetan und Surreal gekettet waren.

Surreal biss die Zähne zusammen. Sie trug ein graues Juwel, Dorothea hingegen ein rotes. Es wäre nicht schwierig, unter Dorotheas inneren Barrieren hindurchzuschlüpfen und einen Todeszauber zu weben – etwas Tückisches. In dem Geschrei und dem Durcheinander, die einsetzen würden, böte sich ihnen gewiss die Möglichkeit zur Flucht.

Behutsam begann sie mit dem Abstieg, damit es niemandem auffiel, doch bevor sie die Tiefe ihres grauen Juwels erreichen konnte, ging eine weitere Tür auf.

Der ekelhafte Gestank wurde stärker und ließ sie würgen.

Daemon Sadi schlenderte aus der Gefangenenbaracke, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er ging bis in die Mitte des erhellten Platzes. Seine glitzernden Augen waren einzig und allein auf Lucivar gerichtet, der ihn ebenfalls anstarrte.

Niemand wagte es, sich zu rühren.

Schließlich sah Daemon zu der Gefangenenbaracke zurück und meinte freundlich: »Marian, Liebling, komm heraus und zeig deinem törichten Ehemann den Preis für meine Jahre im Verzerrten Reich.«

Zwei nackte … Gestalten … schwebten aus der Hütte ins Licht. Vor einer Stunde waren es noch eine Frau und ein kleiner Junge gewesen. Jetzt …

Marians Finger und Füße fehlten. Ihr schönes langes Haar ebenfalls. Daemonar hatte keine Augen mehr, ebenso wenig wie Hände oder Füße. Die Flügel der beiden waren derart verbrannt, dass kleine Stücke davon abbrachen, während sie auf die Mitte des Platzes zuschwebten. Und ihre Haut …

Mit seinem kalten, grausamen Lächeln entließ der Sadist die beiden aus seinem Bann. Der kleine Junge schlug auf dem Boden auf und fing augenblicklich zu schreien an. Marian landete auf ihren Beinstümpfen und fiel ebenfalls zu Boden. Als sie aufschlug, platzte ihre Haut auf, und …

Es war kein Blut, stellte Surreal fest, als sie mit betäubter, angewiderter Faszination in Richtung der beiden starrte. Es war kochender Körpersaft, der aus den Rissen in der Haut hervorquoll.

Der Sadist hatte die beiden nicht nur verbrannt, er hatte sie gekocht – und sie lebten immer noch. Sie waren nicht einmal dämonentot, sondern sie lebten!

»Lucivar«, flüsterte Marian heiser und versuchte, auf ihren Mann zuzukriechen. »Lucivar.«

Lucivar schrie auf, doch der Schmerzensschrei wurde zu einem eyrischen Schlachtruf. Die Ketten rissen, als er sich aufbäumte, um im nächsten Moment direkt auf Daemon zuzustürzen. Als er die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, traf ihn ein heftiger mentaler Schlag, der ihn niederstreckte und bis zu dem Pfahl zurückrollen ließ. Er sprang wieder auf und rannte ein zweites Mal auf Daemon zu – und wurde auch diesmal zu Fall gebracht. Und wieder. Und wieder.

Als er nicht mehr in der Lage war, aufzustehen, kroch er mit gefletschten Zähnen und hasserfüllten Augen auf Daemon zu.

Sadi griff nach unten, packte Daemonars Arm und riss ihn ab, als sei es lediglich eine Hühnerkeule.

Das brachte Lucivar wieder auf die Beine. Als er diesmal auf Daemon zupreschte, prallte er gegen einen schwarzen Schild und ging in die Knie.

Daemon sah ihm lächelnd zu.

Lucivar versuchte, durch den Schild zu brechen, sich mit Gewalt einen Weg hindurchzubahnen. Er kratzte mit den Fingernägeln daran und warf sich immer wieder dagegen – letzten Endes lehnte er nur daran und weinte.

»Daemon«, flehte er. »Daemon … zeig ein wenig Mitgefühl. «

»Mitgefühl möchtest du?«, erwiderte Daemon sanft. Mit der Schnelligkeit eines Raubtiers zerschmetterte er Daemonars Kopf auf dem Boden.

Anschließend ging Daemon zu Marian hinüber, die immer noch flüsterte und zu kriechen versuchte. Selbst über Lucivars gepeinigtes Aufheulen hinweg konnten die anderen hören, wie ihr Genick brach, als Daemon ihren Kopf ruckartig drehte.

Als sei Daemonars Arm ein perverser Zeigestock, wies Sadi damit lächelnd auf die beiden Leichen, ohne Lucivar aus den Augen zu lassen. »Beide sind noch stark genug, um sich in Dämonentote zu verwandeln«, erklärte er freundlich. »Ich möchte bezweifeln, dass sich dein Balg an viel erinnern können wird, aber die letzten Gedanken deiner Frau an dich … Wie liebevoll wird sie dich in Erinnerung behalten, Mistkerl, wo sie doch weiß, dass du der Grund hierfür bist?«

»Bring es zu einem Ende«, bettelte Lucivar. »Lass sie gehen. «

»Alles hat seinen Preis, Mistkerl. Zahle den Preis, und ich werde sie gehen lassen.«

»Was willst du von mir?«, brachte Lucivar mit gebrochener Stimme hervor. »Sag mir nur, was du von mir willst.«

Daemons Lächeln wurde noch kälter und niederträchtiger. »Beweise, dass du ein artiger Junge bist. Krieche zu deinem Pfahl zurück.«

Lucivar kroch.

Zwei der Wachen, die jenseits des erleuchteten Platzes gestanden und das Geschehen beobachtet hatten, kamen auf Lucivar zu und halfen ihm auf die Beine, während zwei weitere die zerborstenen Ketten ersetzten.

Sie fassten ihn ganz behutsam an, als sie ihn wieder an den Pfahl ketteten.

Voll Trauer blickte Lucivar Daemon an. »Zufrieden?«

»Ja«, sagte Daemon mit samtweicher Stimme. »Ich bin zufrieden. «

Surreal konnte ein kurzes Aufflackern dunkler Macht spüren, dann ein zweites Mal. Sie tastete mental nach Marian. Beinahe fürchtete sie schon, doch noch eine Antwort zu erhalten. Doch da war nichts. Niemand.

Da endlich fiel ihr auf, dass sie weinte, dass sie schon die ganze Zeit über geweint hatte.

Sadi ließ Daemonars Arm fallen und säuberte sich mit einem Taschentuch ausgiebig die Hand. Anschließend trat er auf Surreal zu und wischte ihr mit demselben Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht.

Beinahe hätte sie sich auf sein Hemd übergeben.

»Verschwende deine Tränen nicht für andere, kleine Hexe«, sagte Daemon gelassen. »Du kommst als Nächste dran!«

Sie sah zu, wie er fortging und erneut in der Dunkelheit verschwand. Ich mag als Nächste drankommen, du kaltherziger Bastard, aber ich werde mich zur Wehr setzen. Gegen dich kann ich nicht gewinnen, aber ich schwöre bei allem, was ich bin, dass ich mich bis zum letzten Atemzug wehren werde.



Saetan schloss die Augen, da er den Anblick der reglosen Gestalten, die nur einen knappen Meter von ihm entfernt lagen, nicht länger ertrug.

Ich wusste, dass er gefährlich ist, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass dieser Wahnsinn in ihm steckt! Ich habe ihm geholfen, ihn ermuntert. Oh, Hexenkind, welches Ungeheuer habe ich in dein Bett gelassen, in dein Herz?



Sobald sie wieder in Hekatahs Hütte waren, ließ sich Dorothea in den nächsten Sessel fallen. Sie hatte im Laufe ihres Lebens schon viele grausame, bösartige Dinge getan, aber das …

Sie erschauderte.

Hekatah stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. »Glaubst du immer noch, er wird klein beigeben, wenn wir Lucivar bedrohen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Nein.« Dorotheas Stimme war genauso zittrig. »Ich kann überhaupt nicht mehr abschätzen, was er als Nächstes tun wird.« Seit Jahrhunderten nannten ihn die Angehörigen des Blutes in Terreille den Sadisten. Jetzt begriff sie endlich, warum.

2 e9783641062019_i0123.jpg Kaeleer

Karla beobachtete, wie Tersa mit braunen Holzbauklötzen seltsame Gebilde erschuf. Sie war dankbar für die Gesellschaft der älteren Frau und wusste, dass es Gabrielle ebenso erging.

Jaenelle hatte sich kurz nach dem Gespräch mit ihnen zurückgezogen, woraufhin die beiden Königinnen sich mit den übrigen Mitgliedern des Hexensabbats unterhalten hatten. Sie hatten ihnen jedoch nur gesagt, dass die Männer des Ersten Kreises ein paar Tage länger im Zaum gehalten werden mussten. Den anderen hatten sie nichts von Hexes Absichten erzählt, gegen Terreille in den Krieg zu ziehen – und zwar im Alleingang. Sie hatten den unausgesprochenen Befehl verstanden, als Jaenelle ihnen endlich den Traum offenbart hatte, der in der menschlichen Hülle lebte.

Also hatte sich der niedergedrückte, aber doch vereinte Hexensabbat die Männer vorgeknöpft, bevor einer von ihnen ausscheren konnte. Es war nicht leicht gewesen, und die Feindseligkeit der Männer gegenüber dem, was sie als Verrat betrachteten, war so heftig gewesen, dass Karla sich fragte, wie viele der Ehen im Ersten Kreis diese Zerreißprobe überleben würden. Manche der Ehen wären vielleicht auf der Stelle in die Brüche gegangen, wenn Tersa nicht erschienen wäre und die Männer wegen deren mangelnder Höflichkeit gescholten hätte. Da die Männer nicht gewillt waren, sie anzugreifen, hatten sie wohl oder übel nachgegeben.

Beinahe vierundzwanzig Stunden erzwungenen Beisammenseins hatten die Stimmung nicht gerade verbessert, aber anders ließ sich nicht gewährleisten, dass die Männer sich nicht doch heimlich davonmachten. Selbst gemessen an den Maßstäben des Bergfrieds war der Salon, den der Hexensabbat als Gefängnis ausgewählt hatte, mit seinen zahlreichen Sitzecken und viel Raum zum Auf- und Abgehen ein gewaltiges Zimmer – doch er war nicht groß genug. Die Hexen saßen hauptsächlich in Sesseln und auf Sofas, um zu vermeiden, von einem Mann angefaucht zu werden, der im Zimmer auf-und abging. Und wenn die Männer nicht auf- und abgingen, standen sie dicht zusammengedrängt da und unterhielten sich leise murmelnd.

»Wie viele Tage müssen wir das noch ertragen?«, flüsterte Karla vor sich hin.

»So viele, wie nötig sind«, erwiderte Tersa gelassen. Sie betrachtete ihr neuestes Werk eine Minute lang und brachte es dann zum Einsturz.

Die Holzklötze fielen laut polternd auf den langen Tisch vor dem Sofa, doch diesmal fuhr niemand zusammen, da sich mittlerweile alle an das Geräusch gewöhnt hatten. Auch Tersas eigenartigen Gebilden schenkte keiner die geringste Aufmerksamkeit. Anfangs hatten die Männer unter Beweis stellen wollen, dass sie durchaus in der Lage waren, höflich zu sein. Sie hatten die ersten … Bauten … bewundert und sich danach erkundigt, doch als Tersas Antworten immer verwirrter wurden, hatten sie sich schließlich zurückgezogen und sie nicht weiter behelligt.

Karla wäre sogar jede Wette eingegangen, dass sie nichts in dem Zimmer sonderlich viel Aufmerksamkeit schenkten – bis sich Ladvarian hereinschlich und auf sie zugetrottet kam.

Der Sceltie wirkte unsäglich müde, und in seinen braunen Augen lag eine tiefe Traurigkeit – und ein leiser Vorwurf.

*Karla?*, fragte Ladvarian.

»Kleiner Bruder«, erwiderte sie.

Zwei Schüsseln erschienen auf dem Tisch neben Karlas Sessel. Eine war voll von …

Karla nahm behutsam eines der Dinge in die Hand, um es zu begutachten.

… Wassertropfen, die von Schutzschilden umgeben waren. In der anderen Schüssel befand sich eine rote Blase.

*Ich benötige von jedem von euch einen Tropfen Blut*, meinte Ladvarian.

»Wofür?«, wollte Karla wissen, wobei sie die Blase betrachtete. Sie war äußerst geschickt mithilfe der Kunst geschaffen worden.

*Für Jaenelle.*

Das bewegte Chaosti dazu, sich einzumischen. »Wenn Jaenelle etwas von uns will, kann sie uns selbst darum bitten.«

»Chaosti«, zischte Gabrielle.

Chaosti knurrte sie wütend an.

Ladvarian wand sich unter dem Zorn, der in dem Zimmer herrschte, doch er wandte die ganze Zeit über nicht den Blick von Karla.

»Warum?«, fragte Karla.

»Warum, warum, warum«, meinte Tersa aufgebracht und warf die Bauklötze um. »Die Menschen können sich nicht einmal eine kleine Gabe abringen, ohne warum, warum, warum zu fragen! Es ist für eure Königin. Was mehr braucht ihr zu wissen?« Dann türmte sie die Klötze erneut auf, als hätte es ihren Gefühlsausbruch nie gegeben.

Karla blickte Ladvarian an, wobei sie ein leichtes Zittern befiel. Es gab zwei Möglichkeiten, »für Jaenelle« zu interpretieren. Entweder war der Hund nur der Bote, der Jaenelle die Blutstropfen bringen sollte, die sie für irgendetwas benötigte … oder Ladvarian wollte sie für Jaenelle. Doch wie sollte sie die richtigen Fragen stellen, um mehr als eine ausweichende Antwort zu erhalten? Ladvarian würde gewiss ausweichend reagieren, wenn sie ihn zu sehr bedrängte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir einen Tropfen meines Blutes geben kann, kleiner Bruder«, sagte Karla bedächtig. »Mein Blut ist immer noch von dem Gift verunreinigt.«

»Das wird hierfür keinen Unterschied machen«, sagte Tersa geistesabwesend, während sie sich der Kunst bediente, um die Holzklötze in der Luft schweben zu lassen. »Aber was in deinem Herzen verborgen liegt … Ja, das wird in der Tat einen großen Unterschied machen.«

»Warum?«, fragte Karla – und zuckte gleich darauf zusammen, als Tersa sie nun ansah. Karla wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Ladvarian zu. »Das ist also alles, was wir tun müssen? Bloß einen Blutstropfen in jede der Blasen geben?«

*Wenn ihr das Blut spendet, müsst ihr an Jaenelle denken. Gute Gedanken*, fügte er mit einem Seitenblick auf die Männer knurrend hinzu.

Karla schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum …«

»Weil das Blut zum Blut singen wird«, antwortete Tersa leise. »Weil das Blut der Fluss der Erinnerung ist.«

Entnervt blickte Karla in Tersas Richtung, doch es war deren Bauklotzgebilde, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Eine Spirale. Eine glänzend schwarze Spirale.

Dann purzelten die braunen Holzklötze wieder krachend auf den Tisch.

*Karla*, meinte Gabrielle sanft.

*Ich habe es gesehen.* Sie sah Tersa an, die ihr mit einem beängstigend klaren Blick begegnete. Sie weiß es. Mutter der Nacht, was immer passieren wird… Tersa weiß es. Und Ladvarian ebenso!

Sobald ihr das klar geworden war, bestand kein Grund mehr, weiter nach dem Warum zu fragen.

Nachdem sie Ladvarian mit einem Blick um Erlaubnis gebeten hatte, sandte Karla einen mentalen Faden aus, der so zart wie nur möglich war, und berührte leicht die rote Blase.

Ladvarian als kleiner Welpe, wie er von Jaenelle beigebracht bekam, durch die Luft zu laufen. Wie er gebürstet und gekrault wurde. Wie sie ihn lehrte …

Sie zog sich zurück. Jene Erinnerungen waren privater Natur. Es war das Beste, was er aufzubieten vermochte.

Als sie hart schluckte, hatte sie den salzigen Geschmack von Tränen im Mund. »Was Jaenelle zu tun versucht … Ist es gefährlich?«

*Ja*, antwortete Ladvarian.

»Haben andere verwandte Wesen ihr diese Gabe überreicht? «

*Alle verwandten Wesen, die sie kennen.*

Und ich wette, keiner von ihnen hat warum, warum, warum gefragt! Karla sah den Rest des Ersten Kreises an. Keine Spur von Wut. Nicht mehr. Sie würden über Jaenelles Handlungsweise im Laufe der letzten Wochen nachdenken und zum richtigen Schluss kommen.

»Na gut, kleiner Bruder«, sagte Karla. Bevor sie sich einen Finger mit dem Daumennagel aufritzen konnte, berührte Gabrielle sie an der Schulter.

»Ich glaube …« Gabrielle zögerte, um tief durchzuatmen. »Ich glaube, wir sollten dies in Form eines Rituals durchführen.«

»Ja, du hast Recht.« Karla nickte entschieden.

»Ich werde holen, was wir brauchen«, bot Gabrielle an.

»Ich komme mit dir«, sagte Morghann.

Als Gabrielle und Morghann an den Männern vorübergingen, streckten Chaosti und Khary die Hände aus und berührten jeweils sanft ihre Ehefrau, um sich auf diese Weise zu entschuldigen, bevor sie wieder zurücktraten.

Ladvarian stieß ein erschöpftes Seufzen aus, als er aus dem Weg ging und sich hinlegte.

Da erhob sich Tersa.

»Tersa?«, meinte Karla. »Wirst du nicht auch deine Gabe bereitstellen? «

Der klare Blick drang bis in ihr Innerstes. Dann sagte Tersa mit einem Lächeln: »Das habe ich bereits.« Sie verließ das Zimmer.

Nun wusste Karla, wer den verwandten Wesen gezeigt hatte, wie man mithilfe der Kunst diese phantastischen kleinen Tropfengebilde erschuf.

Als Karla beobachtete, wie die Männer umhergingen und ihre gewohnten Beschützerposen einnahmen, traten ihr die Tränen in die Augen. Vergeblich wünschte sie sich, Morton wäre in ihrer Mitte.

Wir werden das schon durchstehen, dachte sie, als Aaron die Arme um Kalush schlang. Die schroffen Worte werden in Vergessenheit geraten, und wir werden das schon durchstehen.

Doch was war mit Jaenelle?

3 e9783641062019_i0124.jpg Terreille

Du bist an der Reihe, kleines Miststück«, sagte Daemon und machte die Kette von dem Pfahl los.

Surreal starrte ihn an. Es war nach Mitternacht – es war über vierundzwanzig Stunden her, dass er Marian und Daemonar umgebracht hatte. Der Tag war ereignislos verlaufen. Sadi war im Lager umhergeschlichen, hatte alle um sich her nervös gemacht, und Dorothea und Hekatah hatten Verstecken gespielt.

»Was wirst du mit dem Luder anstellen?«, erkundigte Dorothea sich, während sie auf die Pfähle zugeschritten kam.

Bis jetzt.

Lächelnd blickte Daemon Dorothea an. »Nun, Liebling, ich werde sie dazu benutzen, dir das zu verschaffen, was du dir schon immer gewünscht hast.«

»Und das wäre?«, wollte Dorothea ängstlich wissen.

»Folgendes«, meinte Daemon schnurrend. »Ich werde diese Schlampe, die deine Enkeltochter ist, zerbrechen. Und dann besteige ich sie, bis sie meinen Samen in sich trägt. Sie ist reif. Meine Saat wird Wurzeln schlagen. Und ich werde sicherstellen, dass sie den Antrieb dazu hat, die Schwangerschaft nicht gewaltsam zu beenden. Deine Blutlinie und meine, Dorothea. Genau, was du immer von mir wolltest. Und du wirst bloß darüber hinwegsehen müssen, dass das Endergebnis spitze Ohren haben wird.«

Lachend zerrte er Surreal in dieselbe Baracke, in der Marian und Daemonar gefangen gehalten worden waren.

Sie wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie ihren Dolch herbeirief und sich auf Daemon stürzte. Er wirbelte herum und hob einen Arm, um das Messer abzublocken. Sie wand sich und zielte mit dem Messer unter seinem Arm hindurch, wollte es ihm möglichst bis zum Griff in die Rippen rammen. Stattdessen prallte das Messer an einem Schild ab, glitt an ihm vorbei und grub sich in die Tür.

Als sie versuchte, das Messer aus dem Holz zu ziehen, packte Daemon sie und stieß sie zurück in die Mitte des kleinen Zimmers. Schreiend warf sie sich erneut auf ihn. Er griff nach ihren Händen und schob Surreal weiter gewaltsam zurück, bis sie mit den Kniekehlen gegen das schmale Bett stieß. Sie fiel rückwärts auf das Bett, und er kam auf ihr zu liegen.

Er rollte sofort von ihr und sprang auf. »Schluss damit.«

Sie erhob sich blitzschnell von dem Bett und warf ihm jeden Fluch an den Kopf, den sie kannte, bevor sie sich ein weiteres Mal auf ihn stürzte.

Heftig fluchend stieß er sie von sich. »Verdammt noch mal, Surreal, Schluss damit!«

»Wenn du glaubst, ich würde die Beine für dich breit machen, hast du dich getäuscht, Sadist!«

»Halt den Mund, Surreal«, meinte Daemon leise, aber bestimmt.

Sie konnte spüren, wie sich die Schilde um die Hütte legten. Nicht nur ein schwarzer Schutzschild, sondern auch ein schwarzer Hörschutz. Folglich konnte niemand hören, was sich im Innern abspielte.

Er atmete tief ein und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Nun«, sagte er trocken, »diese kleine Vorstellung eben sollte die beiden Luder davon überzeugt haben, dass hier drinnen etwas passiert.«

Sie hatte sich darauf vorbereitet, sich auf ihn zu stürzen, das nächste Mal seine Lendengegend zum Angriffsziel zu nehmen, aber dieser Tonfall und diese Worte klangen so nach … Daemon … dass sie zögerte. Da entsann sie sich Karlas Warnung vor einem Freund, der zum Feind werden würde, um ein Freund zu bleiben.

Er musterte sie argwöhnisch und näherte sich ihr dann wachsam. »Lass mich deine Handgelenke sehen.«

Sie hielt ihm die Hände entgegengestreckt und beobachtete ihn misstrauisch – wobei sie den Zorn in seinen Augen lodern sehen konnte, als er ihr die Handfesseln abnahm und die aufgescheuerte Haut darunter untersuchte.

Surreal schnaubte aufgebracht. »Verdammt noch mal, Sadi, was ist das für ein Spiel, das du hier abziehst?«

»Ein scheußliches«, erwiderte er und rief eine lederbezogene Schachtel herbei. Er suchte darin herum, zog ein Gefäß heraus und reichte es ihr. »Trag das auf deine Handgelenke auf.«

Sie öffnete das Gefäß und roch daran. Eine Heilsalbe. Während sie sich die Salbe einmassierte, rief er eine weitere Schachtel herbei. In papiernen Nestern befanden sich etliche Lehmkugeln. Zwei der Nester waren leer.

»Hast du immer noch den Proviant, den du mitgebracht hast?«

»Ja, ich hatte bisher keine Gelegenheit, etwas davon zu verspeisen«, versetzte sie spitz.

»Dann iss jetzt etwas.« Er betrachtete immer noch suchend den Inhalt der Schachtel. »Ich würde dir etwas von meinen Vorräten abgeben, aber das meiste hat Marian bekommen.«

Surreal lief ein kalter Schauder den Rücken hinunter. In ihrem Kopf erhob sich ein eigenartiges Summen. »Marian?«

»Erinnerst du dich an die Hütte, in der wir eine Rast eingelegt haben, als wir nach Hayll kamen?«

»Ja.« Natürlich erinnerte sie sich daran! Die Hütte befand sich zwei Meilen von dem Lager entfernt. Dort hatte Daemon sich in den Sadisten verwandelt. Zuerst hatte er ihr noch sorgfältig von den Wachposten und den Umgrenzungspfosten berichtet, welche die Wachen alarmieren würden, und im nächsten Augenblick war sie gefesselt gewesen und er hatte ihr Drohungen ins Ohr gesäuselt und ihr gesagt, sie hätte weiter unter Falonar liegen bleiben und ihm nicht in die Quere kommen sollen. Er hatte ihr Angst eingejagt, und zwar große Angst. Und dieser Umstand ließ sie nun wütend werden. »Du hättest mich einweihen können, du Hurensohn!«

Er blickte auf. »Wärst du dann genauso überzeugend gewesen? «

Sie kochte vor Wut und fühlte sich aufs Tiefste gekränkt. »Da kannst du verflucht noch mal drauf wetten.«

»Nun, wir werden Gelegenheit haben, das herauszufinden. Du hast gesagt, dass du helfen willst, Surreal. Dass du gewillt seiest, die anderen abzulenken.«

Das hatte sie tatsächlich gesagt, allerdings war sie davon ausgegangen, dass sie es wüsste, wenn sie als Ablenkung diente. »Und?«

»Und jetzt kommst du zum Einsatz.« Er kam auf sie zu, einen kleinen goldenen Ring in der Hand. »Hör mir gut zu. Das hier wird den Eindruck erwecken, dass du zerbrochen bist.« Er ließ den Ring durch eines der Glieder ihrer Halskette gleiten, an der ihr graues Juwel hing. »Niemand wird merken, dass du immer noch Grau trägst, solange du dein Juwel nicht benutzt. Solltest du es verwenden müssen, dann zögere nicht. Ich werde mir schon etwas einfallen lassen, um die Lage hier im Griff zu behalten.«

»Der Höllenfürst wird merken, dass ich nicht zerbrochen bin.«

Daemon schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Schachtel zu, um noch etwas darin zu suchen. »Man muss Juwelen tragen, die dunkler als Schwarz sind, um den Zauber zu erkennen.«

Dunkler als Schwarz? Sadi konnte keinen derartigen Zauber erschaffen. Demzufolge …

Mutter der Nacht!

»Dies« – Daemon hielt ein winziges Kristallfläschchen empor, bevor er es an ihrer Kette befestigte – »wird jeden, der es überprüfen möchte, davon überzeugen, dass du nicht nur fruchtbar, sondern mittlerweile sogar schwanger bist. Eine Heilerin würde vierundzwanzig Stunden brauchen, um den Zauber zu durchschauen«, fügte er hinzu und beantwortete damit ihre unausgesprochene Frage.

Surreal hob die Kette ein Stück und betrachtete das Fläschchen. »Du hast Jaenelle gebeten, einen Zauber zu schaffen, der die Illusion erzeugt, ich sei schwanger von dir?«

Seine Gesichtszüge spannten sich an.

Ja, er hatte Jaenelle darum gebeten. Und es war ihm nicht leichtgefallen, danach zu fragen.

Um das Thema zu wechseln, deutete sie auf die Lehmkugeln. »Was ist das?«

»Rohe Zauber, um Schatten zu erzeugen.«

Schatten. Illusionen, die man erschaffen konnte, und die jemanden glauben ließen, dass eine bestimmte Person wirklich da sei.

»Marian und Daemonar«, stieß sie schwach hervor, wobei sie die beiden leeren Papiernester anstarrte.

»Ja«, erwiderte er scharf.

Sie stieß ein erbostes Zischen aus. »Du hast es mir, einer Hure, nicht zugetraut, eine überzeugende Vorstellung abzuziehen, aber du warst dir sicher, dass Lucivar glaubhaft …« Ihre Stimme versagte. »Er weiß nichts davon, nicht wahr?«, meinte sie schließlich.

»Nein«, erwiderte Daemon leise. »Er weiß nichts.«

Ihre Beine gaben so plötzlich unter ihr nach, dass sie zu Boden plumpste und dort sitzen blieb. »Möge die Dunkelheit Erbarmen haben!«

»Ich weiß.« Daemon hielt zögernd inne. »Ich bin dabei, Zeit zu schinden, Surreal. Ich muss ausreichend Zeit schinden und währenddessen alle von hier befreien. Damit Dorothea und Hekatah mir abnehmen würden, Marian und Daemonar seien tatsächlich tot, musste Lucivar es ebenfalls glauben.«

»Mutter der Nacht.« Surreal lehnte die Stirn gegen ihre Knie. »Was ist es wert, dass man dafür einen derart hohen Preis zahlt?«

»Meine Königin braucht die Zeit, um Kaeleer zu retten.«

»Oh, verflucht, Sadi!« Sie blickte zu ihm empor. »Sag mir nur eines. Obgleich du wusstest, dass es sich bloß um eine Illusion handelt, möchte ich wissen, wie du in der Lage warst, dich anschließend nicht zu übergeben!«

Er musste hart schlucken. »Ich war dazu nicht in der Lage.«

»Du bist wahnsinnig«, murmelte sie und stand mühsam auf.

»Ich diene meiner Königin«, versetzte er schroff.

Manchmal lief das für einen Mann auf dasselbe hinaus.

»Na gut.« Sie steckte sich das Haar hinter die spitz zulaufenden Ohren. »Was soll ich also tun?«

Er zögerte und meinte dann ausweichend: »Es ist gefährlich. «

»Daemon«, sagte sie ungeduldig, »was soll ich tun?« Als er ihr die Antwort immer noch schuldig blieb, versuchte sie zu erraten, was er von ihr wollte. »Du möchtest, dass ich wimmernd im Lager umherschleiche und wie eine Frau aussehe, die brutal vergewaltigt wurde und jetzt panische Angst davor hat, was mit ihr geschieht, wenn sie eine Fehlgeburt erleidet und nicht das Kind austrägt, das aus der Vergewaltigung hervorgegangen ist. Richtig?«

»Ja«, entgegnete er matt.

»Und dann?«

»Marian und Daemonar befinden sich in jener Hütte. Schleich morgen aus dem Lager, hol sie ab und bring die beiden zum Bergfried. Reist auf dem schnellsten Weg dorthin und geht nirgendwo anders hin. Ihr müsst den Bergfried erreichen. Allerdings werdet ihr den roten Wind nehmen müssen, denn die dunkleren Winde werden unbeständig sein.«

»Und … Egal. Das will ich lieber erst gar nicht wissen.« Sie grübelte nach. Ja, sie konnte eine überzeugende Vorstellung liefern. Eine derart zerbrochene Frau würde sich meist vor den Blicken der anderen Leute verbergen, sodass sie sich nur ein paar Mal im Laufe des Tages zeigen musste – was auch bedeutete, dass ihr Verschwinden nicht sofort auffallen würde.

Daemon griff nach einer der Lehmkugeln.

»Wozu ist die gut?«, fragte Surreal.

»Du hättest so lange wie möglich gegen mich angekämpft«, sagte Daemon, ohne sie anzusehen. »Du würdest aussehen, als hättest du dich zur Wehr gesetzt. Nachdem ich den Schatten erschaffen habe, kannst du …«

»Nein.« Surreal schlüpfte aus ihrer Jacke und machte sich daran, ihr Hemd aufzuknöpfen. »Du kannst das nicht alles mithilfe von Illusionszaubern nachstellen. Nicht, wenn du Dorothea und Hekatah lange genug überzeugen möchtest, um Jaenelle die Zeit zu verschaffen, die sie benötigt.«

Ein harter Ausdruck trat in seine Augen. »Ich bin bereit, viel hierfür aufzugeben, Surreal, aber meinen Treueschwur werde ich nicht brechen.«

»Das weiß ich«, entgegnete sie leise. »Das habe ich nicht gemeint.«

»Was hast du dann gemeint?«, fuhr Daemon sie an.

Sie holte tief Luft, um ruhig zu werden. »Du wirst mir echte Blutergüsse verpassen müssen.«

4 e9783641062019_i0125.jpg Kaeleer

Nachdem Ladvarian die Schüssel herbeigerufen hatte, stellte er sie vorsichtig auf dem Boden der Kammer ab und beobachtete, wie die arachnianische Königin behutsam die kleinen Tropfen berührte, die jetzt mit Blut und Erinnerungen angefüllt waren.

*Gut*, meinte die Spinne beifällig. *Gute Erinnerungen. Starke Erinnerungen. So stark wie von den verwandten Wesen. *

Ladvarian blickte zu der Schüssel hinüber, die sich vor dem gewaltigen Verworrenen Netz befand. Es waren immer noch viele der Gaben der verwandten Wesen in dem Gefäß. Woran die Weberin arbeitete, ließ sich offensichtlich nicht schnell bewerkstelligen.

*Du dich ausruhen musst *, sagte die Spinne, während sie ein Kügelchen von den Gaben der Menschen auswählte und damit zu einem Faden des Netzes emporschwebte. *Alle verwandten Wesen ruhen müssen. Sie stark sein müssen, wenn die Zeit kommt, den Traum zu verankern im Fleisch.*

*Wirst du genug Zeit haben, um sämtliche Erinnerungen einzufügen?*, erkundigte Ladvarian sich respektvoll.

Die Traumweberin blieb ihm lange eine Antwort schuldig. Dann sagte sie schließlich: *Genug Zeit. Gerade genug.*

5 e9783641062019_i0126.jpg Terreille

Das Wimmern war nicht nur gespielt.

Beim Feuer der Hölle, sie hatte nicht damit gerechnet, Daemon derart aufstacheln zu müssen, bis er sich endlich daran machte zu tun, was er tun musste. Sie hatte zwar verstanden, dass die Wut, mit der er seine Zähne und Fäuste einsetzte, daher rührte, dass er eine Frau, bei der es sich nicht um Jaenelle handelte, an gewissen intimen Stellen berühren musste. Doch, verdammt noch mal, hatte er sie wirklich so fest in die Brust beißen müssen?

Andererseits war er bei der Art der Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, äußerst sorgfältig vorgegangen. Den Blicken nach zu urteilen, die sie von den anderen Leuten geerntet hatte, mussten die Blutergüsse beeindruckend sein, doch keine der Verletzungen betraf einen ihrer Muskelstränge oder würde ihr zu schaffen machen, sollte sie zu einem Kampf gezwungen sein.

Der Hass in Saetans Augen war jedoch am schwersten zu ertragen gewesen. Am liebsten hätte sie ihm die Wahrheit gesagt. Oh, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, etwas zu sagen, um diesen Blick aus seinen Augen verschwinden zu lassen! Vielleicht hätte sie ihm auch etwas gesagt, wenn Daemon nicht just in jenem Moment an ihnen vorübergeglitten wäre, um eine schrecklich bissige Bemerkung loszulassen. Von da an hatte sie sich den restlichen Vormittag über vom Höllenfürsten ferngehalten – und hatte es nicht gewagt, sich auch nur in Lucivars Nähe zu begeben.

Doch sie hatte dafür gesorgt, dass Dorothea sie zu Gesicht bekam. Sie hatte gespürt, wie das Luder versuchte, sie mental zu ertasten und herauszufinden, ob sie tatsächlich zerbrochen und schwanger war. Anscheinend hatten die Illusionszauber gewirkt, denn Dorothea hatte ihr freundlich vorgeschlagen, sich hinzulegen und eine Weile auszuruhen. Dem Miststück lief bei der Vorstellung, ein von Sadi gezeugtes Kind in die Finger zu bekommen, beinahe der Geifer vom Kinn.

Nun würde Surreal sich zurückziehen und sich eine Weile verstecken. Bei Sonnenuntergang würde sie sich erneut zeigen, um sich auch von Hekatah beschnüffeln zu lassen. Anschließend musste sie nur an den Wachposten und den Umgrenzungspfosten vorbeischlüpfen, Marian und Daemonar abholen und sie nach Hause bringen. Das war alles, was … Mist!

Sie hatte nicht aufgepasst, wo genau sie hinging – und nun starrte sie keinem anderen als Lucivar direkt in die Augen!



Den ganzen Morgen über hatte er sie beobachtet, wann immer sie auftauchte. Es wirkte überzeugend, aber etwas stimmte nicht. Oh, gewiss hatten Dorothea und Hekatah und etliche der Wachen schon zerbrochene Hexen gesehen, doch er bezweifelte, dass sie den Frauen auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hatten, nachdem sie zerbrochen worden waren. Er hingegen hatte sich an zahlreichen Höfen um solche Frauen gekümmert. Er war nicht in der Lage gewesen, das Zerbrechen zu verhindern, doch er hatte sich der Opfer im Nachhinein angenommen. Und sie alle hatten eine Sache gemein gehabt: Ein oder zwei Tage, nachdem sie zerbrochen worden waren, hatten sie gefroren. Sie kauerten in Schals und Decken gewickelt da und hielten sich, wenn es irgendwie möglich war, in der Nähe einer Wärmequelle auf.

Doch hier war Surreal, die durch das Lager geisterte und nur ein Hemd trug, das an strategisch besonders günstigen Stellen eingerissen zu sein schien, um einige beeindruckende Blutergüsse zu präsentieren. Das ließ ihn ins Grübeln geraten.

»Du solltest dir eine Jacke überziehen, Liebes«, sagte er sanft.

»Eine Jacke?«, meinte Surreal schwach, wobei sie versuchte, einige Risse in ihrem Hemd mit den Händen zu bedecken.

»Eine Jacke. Dir ist kalt.«

»Oh, nein, mir ist …«

»Kalt.«

Da durchlief sie ein Zittern, das jedoch nicht temperaturbedingt war, sondern ihre Nervosität verriet.

»Du musst das Kind dieses Bastards nicht austragen«, flüsterte Lucivar. »Du kannst die Schwangerschaft beenden. Auch eine zerbrochene Hexe verfügt noch über so viel Macht. Und sobald du nicht mehr fruchtbar bist, werden sie das Interesse an dir verlieren.«

»Das geht nicht«, erwiderte Surreal ängstlich. »Ich kann das nicht tun. Er würde so wütend werden und …« Sie blickte zu der Stelle, an der Marian und Daemonar gestorben waren.

Er fragte sich, ob er sich vielleicht irrte. War ihr Geist am Ende so zerrissen, dass sie die Kälte nur noch nicht spürte? Wenn dem so war, konnte er die Angst in ihrer Stimme gut begreifen. Sie fürchtete, der Sadist würde ihr das Gleiche antun, was er Marian und Daemonar angetan hatte.

Doch als sie ihn wieder ansah, spiegelte sich in ihren Augen keine Furcht wider, sondern Zorn und Enttäuschung.

Das Blut in seinen Adern, das so träge dahingeflossen war, seitdem er zurück an den Pfahl gekrochen war, wurde mit einem Mal aufgepeitscht und schoss mit jäher Gewalt durch seinen Körper.

»Surreal …« Er sah Daemon, der an der anderen Seite des kahlen Platzes auftauchte, einen Augenblick, bevor sie es tat.

Mit einem beinahe überzeugenden Angstschrei lief Surreal davon.

Lucivar starrte Daemon an. Über die Entfernung hinweg erwiderte Daemon den Blick.

»Du Bastard«, flüsterte Lucivar. Zwar konnte Daemon die Worte nicht vernommen haben, doch das machte nichts. Sadi würde wissen, was er gesagt hatte.

Daemon entfernte sich wieder.

Lucivar lehnte den Kopf an den Pfahl zurück und schloss die Augen.

Wenn Surreal nicht zerbrochen war, wenn dies alles bloß ein Spiel sein sollte, dann waren Marian und Daemonar …

Diesen einen Umstand hätte er beim Sadisten nicht vergessen dürfen. Besser als jeder andere wusste Lucivar, wie tückisch und wild Daemon sein konnte, doch der Sadist hatte niemals Unschuldigen ein Leid zugefügt oder einem Kind wehgetan.

Er hatte auf das Zeichen gewartet, doch das Spiel hatte bereits begonnen, bevor Daemon das Lager betreten hatte. Lucivar hatte seinen Part dennoch gut gespielt – und würde es auch weiterhin tun.

Denn zu verstehen, bedeutete nicht automatisch zu vergeben.

6 e9783641062019_i0127.jpg Terreille

Saetan döste in einem schmerzerfüllten Halbschlaf vor sich hin, als er den Becher an seinen Lippen spürte. Der erste Schluck war ein Reflex, den zweiten trank er aus Gier. Während sich der Geschmack frischen Blutes in seinem Mund ausbreitete, floss die schwarze Macht darin durch seinen Körper und gab ihm Kraft.

*Halte durch*, flüsterte eine tiefe Stimme in seinem Geist. *Du musst durchhalten. Bitte!*

Er konnte die Erschöpfung aus der Stimme heraushören. Das an den Vater gerichtete Flehen eines Sohnes. Er reagierte darauf. Als der Mann, der er war, konnte er gar nicht anders. Also kämpfte er sich durch den Dunstschleier aus Schmerzen.

Als er die Augen aufschlug, sah er nichts außer dem schwindenden Tageslicht. Hatte er das Flehen nur geträumt, das er gerade in Daemons Stimme gehört hatte?

Doch er konnte noch immer das dunkle, gesättigte, frische Blut schmecken.

Er schloss erneut die Augen und ließ seinen Geist wandern.



Er stand in einer gewaltigen Höhle irgendwo im Herzen des Schwarzen Askavi. In den Boden war ein riesenhaftes silbernes Netz geritzt. In der Mitte, wo sich sämtliche Haltelinien trafen, befand sich ein schillerndes Juwel, das so groß wie seine Hand war und die Farben aller Juwelen in sich vereinte. Am äußeren Ende jeder silbernen Haltelinie saß ein schillernder Juwelensplitter von der Größe seines Daumennagels.

Er war schon einmal an diesem Ort gewesen; in der Nacht, als er sich mit Daemon zusammengetan hatte, um Jaenelle dazu zu bewegen, in ihren Körper zurückzukehren.

Doch jetzt befand sich noch etwas anderes in der Höhle.

Über dem silbernen Netz erstreckten sich drei gewaltige, miteinander verbundene Verworrene Netze, die etwa dreißig Zentimeter über dem Boden anfingen und bis zu einer Höhe von über vier Metern anwuchsen. In der Mitte eines jeden Netzes befand sich ein mitternachtsschwarzes Juwel.

In ein schwarzes Gewand aus Spinnenseide gekleidet, stand Hexe vor den Netzen. Sie hielt ein Zepter in der Hand, in das zwei mitternachtsschwarze Juwelen eingelassen waren, und das zum Teil aus dem spiralförmig gewundenen Horn bestand, welches Kaetien ihr hinterlassen hatte, als er vor fünf Jahren gestorben war.

Jenseits der Netze standen einige Dutzend Dämonentote. Einer nach dem anderen näherte sich den Netzen, lächelte und verblasste. Sobald die jeweilige Person verschwunden war, erblühte ein kleiner Stern in dem mittleren Netz, der von derselben Farbe war wie das Juwel, das die Person getragen hatte.

Verwirrt trat er näher, um sich die Verworrenen Netze besser ansehen zu können.

Das erste Netz erfüllte ihn mit Abscheu. Die Fäden sahen geschwollen, schimmelig und schmutzig aus. Am äußeren Ende jeder Haltelinie war ein mitternachtsschwarzer Juwelensplitter angebracht.

Das mittlere Netz hingegen war wunderschön. Es wies tausende jener kleinen bunten Sterne sowie etliche darüber verstreute schwarze und mitternachtsschwarze Splitter auf.

Das letzte Netz war einfach gehalten, perfekt in seiner Symmetrie und aus grauen, schwarzgrauen und schwarzen Fäden angefertigt. Auch an diesem Netz befanden sich schwarze und mitternachtsschwarze Juwelensplitter, die mit äußerster Sorgfalt so auf den Fäden angeordnet waren, dass sie eine Spirale bildeten.

Er warf Hexe einen Blick zu. Deren ganze Aufmerksamkeit gehörte jedoch ihrer Aufgabe, sodass er wieder zurücktrat, um das Geschehen zu beobachten.

Da sah er, wie Char, der Anführer der kindelîn tôt, sich den Netzen näherte. Der Junge grinste ihm zu, winkte zum Abschied unbekümmert und verblasste, um zu einem weiteren farbenfrohen Stern zu werden.

Titian trat auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. »Ich bin stolz, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, Höllenfürst.« Sie ging zu den Netzen hinüber und verblasste.

Während er sie beobachtete, begann etwas an ihm zu nagen. Etwas, das mit der Struktur jener Netze zu tun hatte. Doch bevor er darauf kommen konnte, kam Dujae auf ihn zu, der Künstler, der dem Hexensabbat Zeichenunterricht erteilt hatte.

»Danke, Höllenfürst«, sagte der Hüne. »Danke, dass es mir vergönnt war, die Ladys kennen zu lernen. Alle Porträts, die ich von ihnen angefertigt habe, befinden sich nun auf der Burg in Kaeleer. Das ist mein Geschenk an dich.«

»Danke, Dujae«, erwiderte er verwirrt.

Als Dujae fortging, trat Prothvar auf ihn zu. »Es ist eine andere Art von Schlachtfeld, aber es ist eine gute Art zu kämpfen. Pass gut auf das Gör auf, Saetan.« Prothvar umarmte ihn.

Als Nächstes kam Cassandra. Cassandra, die er seit der ersten Feier nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, als sie alle die Bekanntschaft des Hexensabbats gemacht hatten.

Sie lächelte ihn an. Es war ein trauriges Lächeln. Dann legte sie ihm die Hand auf die Wange. »Ich wünschte, ich wäre dir eine bessere Freundin gewesen. Möge die Dunkelheit dich umarmen, Saetan.« Sie küsste ihn. Als sie verblasste, glänzte ein herrlicher schwarzer Stern in der Mitte des Netzes.

»Mephis«, sagte er, als sein ältester Sohn herankam. »Mephis, was …«

Mephis umarmte ihn mit einem Lächeln. »Ich war stolz, dich zum Vater zu haben, und als Mann fühlte ich mich immer geehrt, dich zu kennen. Ich weiß nicht, ob ich dir das je gesagt habe, aber nun sollst du es wissen. Leb wohl, Vater. Ich liebe dich.«

»Und ich liebe dich, Mephis«, antwortete er und hielt seinen Sohn fest umschlungen, während er spürte, wie die Trauer in ihm immer mehr wuchs.

Als Mephis in das Netz verschwunden war, war von den Dämonentoten nur noch Andulvar übrig.

»Andulvar, was ist hier los?«

»Und das Blut soll zum Blut singen«, erwiderte Andulvar. »Gleiches zu Gleichem.« Er sah zu den Netzen hinüber. »Sie hat eine Möglichkeit gefunden, die Verdorbenen von denjenigen zu unterscheiden, welche die Gesetze des Blutes immer noch in Ehren halten. Doch sie benötigte Hilfe, damit jene, die den alten Gesetzen folgen, nicht mit fortgespült werden, sobald sie ihre Kräfte entfesselt. Das werden wir Dämonentoten für sie tun. Unsere Kraft wird den Lebenden ein Anker sein. Es wird unsere Energien erschöpfen, aber wie Prothvar sagte, ist es eine gute Art zu kämpfen.«

Andulvar bedachte ihn mit einem Lächeln. »Pass auf dich auf, SaDiablo. Und kümmere dich um deine beiden Jungs. Um beide. Denk immer daran, dass dein Spiegel wirklich dein Spiegel ist. Du musst nur hineinsehen, um die Wahrheit zu erkennen. « Andulvar umarmte ihn. »Kein Mann hätte sich einen besseren Freund oder einen besseren Bruder wünschen können. Halte durch. Kämpfe. Du trägst die schwerste Bürde von uns allen, aber deine Söhne werden dir dabei helfen, damit fertig zu werden.«

Andulvar ging auf die Netze zu. Er breitete die dunklen Flügel aus, erhob die Arme … und verblasste.

Saetan musste die Tränen zurückblinzeln. Da trat Jaenelle auf ihn zu. Er schlang die Arme um sie. »Hexenkind …«

Sie schüttelte den Kopf und gab ihm lächelnd einen Kuss. Doch in ihren Augen standen Tränen.

»Danke, dass du mein Vater warst. Es war wunderbar, Saetan. « Dann beugte sie sich ganz nah zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Kümmere dich bitte um Daemon. Er wird dich brauchen. «

Sie ging nicht in dem Netz auf, sondern verschwand einfach so.

Nachdem er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, ging er zu den Netzen und betrachtete sie aufmerksam.

Das erste Netz, das schimmelige, waren die Angehörigen des Blutes, die Dorotheas und Hekatahs Makel trugen. Das zweite Netz mit all seinen Juwelensternen waren die Angehörigen des Blutes, welche die alten Gesetze immer noch in Ehren hielten. Das dritte Netz, das Netz mit der Spirale, war Hexe.

Er musterte weiterhin die Netze und schüttelte den Kopf, erst langsam, dann immer schneller und schneller. »Nein, nein, nein, Hexenkind«, murmelte er vor sich hin. »So kannst du sie nicht miteinander verbinden. Wenn du deine ganze Kraft freisetzt…«

Ihre Macht würde das gewaltige, mitternachtsschwarze Juwel in der Mitte des ersten Netzes durchschlagen, durch sämtliche Fäden wandern und jeden einzelnen Geist erreichen, in dem jene Fäden widerhallten. Dann würden die entfesselten Energien auf die mitternachtsschwarzen Juwelensplitter und somit einen kleinen Teil ihrer selbst treffen, was einen verheerenden Zusammenstoß zur Folge hätte, der jeden vernichten würde, der darin gefangen war. Daraufhin würden die Kräfte das nächste Netz erreichen, ohne viel von ihrer Energie eingebüßt zu haben.

Das mittlere Netz mit all jenen tausenden Perlen der Macht würde ihrer Kraft enormen Widerstand leisten. Die Dämonentoten, die einen Schild und einen Anker für die Lebenden darstellten, würden einen Teil ihrer Energie in sich aufnehmen, während sie über sie hinwegströmte, doch auch all jene tausenden Perlen der Macht würden nicht ausreichen. Die freigesetzte Macht würde auf das dritte Netz übergreifen und …

Die Macht würde jenes perfekt symmetrische Gebilde entlang fließen und jeden einzelnen Juwelensplitter zerstören, während sie der Spirale folgte. Und sobald der letzte Juwelensplitter zerborsten war, bliebe nur noch eines übrig, um den Rest der Kraft in sich aufzunehmen …

»Nein, Hexenkind!«, rief er. Auf der Suche nach ihr drehte er sich mehrmals im Kreis. »Nein! Es wird dich in Stücke reißen! Jaenelle!«

Er wandte sich wieder den Netzen zu. Wenn es ihm gelingen würde, sich irgendwie an das Netz von Hexe anzuschließen und jeden Tropfen Kraft aus seinen roten Geburtsjuwelen und Schwarz zu saugen … Vielleicht könnte er sie so weit abschirmen, um sie zu beschützen, wenn die Rückkoppelung ihrer eigenen Kraft mit aller Gewalt über sie hereinbrach.

Er tat einen Schritt nach vorn …

… und alles verblasste vor seinen Augen.



Saetan öffnete die Augen. Tiefste Dämmerung. Beinahe Nacht.

Ein Traum? Nur ein Traum? Nein. Er war schon zu lange Schwarze Witwe, um einen Traum nicht von einer Vision unterscheiden zu können. Doch sie wurde immer schwächer. Er konnte sich nicht mehr deutlich daran erinnern, dabei war etwas an jener Vision, das er auf keinen Fall vergessen durfte.

Da bemerkte er Daemon, der knapp einen Meter vor ihm stand und ihn mit beängstigend intensivem Blick musterte.

Denk immer daran, dass dein Spiegel wirklich dein Spiegel ist. Du musst nur hineinsehen, um die Wahrheit zu erkennen.

Andulvars Worte. Andulvars Warnung.

Also sah er mit tränenverschleiertem Blick in den Spiegel, betrachtete seinen Namensvetter, seinen Sohn und wahren Erben. Und er erkannte die Wahrheit.

Daemon griff in seine Jackentasche, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Seine Hand kam als lose Faust wieder daraus hervor. Er öffnete die Finger und drehte die Hand nach unten.

Winzige bunte Ringe von der Art, die Frauen als Schmuck an ihren Kleidern trugen, fielen zu Boden.

Saetan starrte sie an. Sie jagten ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken, doch er vermochte nicht zu sagen, weshalb.

Und als er den Blick wieder zu Daemon erhob … Beinahe konnte er das unausgesprochene Flehen hören: zu denken, zu wissen, nicht zu vergessen. Doch sein Geist war noch zu sehr angefüllt mit der anderen Vision, die immer schwerer fassbar wurde.

Daemon drehte sich um und ging von dannen.

Saetan schloss die Augen. Ringe und Netze. Wenn er in der Lage wäre, die Verbindung zu erkennen, würde er auch die Antworten finden.

7 e9783641062019_i0128.jpg Terreille

Surreal fluchte insgeheim, als sie die Umgrenzungspfosten anstarrte. Es musste einen Trick geben, wie man sich daran vorbeimogeln konnte. Beim Feuer der Hölle! Daemon hatte sie beide in das Lager geschmuggelt, ohne dass es jemand gemerkt hatte, doch sie war immer noch zu verblüfft von seiner plötzlichen Verwandlung in den Sadisten gewesen, um aufzupassen. Noch dazu war es ihm gelungen, Marian und Daemonar nach draußen zu bringen, ohne dass es einem der Wächter aufgefallen wäre.

»Was hast du hier zu suchen?«, wollte eine Stimme wissen.

Mist.

Sie drehte sich zu dem Wächter um, der auf sie zukam. Niemand würde ihr abnehmen, dass sie nur eine zerbrochene Hexe war, die ziellos umherwanderte. Dafür hatte sie sich zu weit vom Lager entfernt. Doch sie musste versuchen, diesen Mistkerl zu überzeugen! Andernfalls würde sie ihn heimlich und leise umbringen müssen. Wenn sie sich auf einen Kampf einließ und gezwungen wäre, ihr graues Juwel zu benutzen, würde Daemon wissen, dass sie in Schwierigkeiten geraten war, und seine restlichen Pläne ändern. Und das würde den beiden Ludern offenbaren, dass man sie getäuscht hatte, und sie würden in den Krieg ziehen.

»Die Hütte hat sich verlaufen.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung.

Er kam näher, den Blick voll argwöhnischem Zweifel. »Antworte mir gefälligst, Miststück! Was treibst du hier draußen?«

»Die Hütte hat sich verlaufen«, wiederholte sie und gab sich Mühe, Tersas geistesabwesende Art nachzuahmen. Sie wies in das Dunkel. »Sie sollte bei dem verschwommenen Pfosten sein, aber sie ist fortgelaufen.«

Der Wachposten blickte in die Richtung, in die sie deutete. »Das ist ein Baum, du dummes Luder. Jetzt …« Er hielt inne und ließ den Blick lüstern über ihren Körper schweifen. Dann lächelte er. Nachdem er sich umgesehen hatte, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war, streckte er die Hand nach Surreal aus.

Sie wich kopfschüttelnd einen Schritt zurück und legte sich schützend eine Hand auf den Unterleib. »Kann keinen anderen Mann berühren. Er wird wütend auf mich werden, wenn ich einen anderen Mann berühre.«

Der Wächter schenkte ihr ein boshaftes Grinsen. »Nun, er muss es ja nie erfahren, oder?«

Surreal zögerte. Das würde sie natürlich nahe genug an ihn herankommen lassen, um ihm ein Messer zwischen die Rippen zu rammen, doch es würde sie auch kostbare Zeit kosten, die sie nicht hatte. Also musste sie die Kraft des grauen Juwels nutzen, um ihn schnell umzubringen – und möge die Dunkelheit Sadi helfen, bei dem, was immer danach im Lager geschehen würde.

*Runter, Surreal!*

Sie konnte spüren, wie Hinterläufe an ihrem Rücken vorbeistrichen, als sie sich duckte.

Einen Augenblick später lag der Wächter mit zerfetzter Kehle tot vor ihr.

Ein Sichtschutz ließ nach und gab den Blick auf den blutverschmierten Wolf frei.

»Graufang?«, flüsterte Surreal. Sie berührte das Juwel, das unter ihrem Hemd baumelte. Weil es seine Bestimmung ist, Grau zu fangen … Der Höllenfürst hatte Recht gehabt.

Sie ging um den toten Wachposten herum und streckte die Hand nach dem Wolf aus.

*Warte*, meinte Graufang.

Da erst erblickte sie die kleine goldene Erhebung zwischen seinen Ohren. Ein Wesen erhob sich, schwebte zu dem nächsten Umgrenzungspfosten und streckte sich, bis acht Beine sichtbar wurden.

Entgeistert starrte Surreal die kleine goldene Spinne an, die eifrig ein einfaches Verworrenes Netz zwischen zwei der Pfosten spann. Als sie es fertig gestellt hatte, ertastete sie ihren Weg zur Netzmitte.

Der Wächter verschwand. Auf dem Boden war keine einzige Blutspur mehr zu sehen.

*Jetzt werden sie ihn nicht finden*, erklärte Graufang. *Sie können nur sehen, was das Netz sie sehen lässt.* Behutsam schloss er die Zähne um Surreals Arm und begann an ihr zu zerren.

»Was ist mit der Spinne?«

*Sie wird bleiben und das Netz bewachen. Beeil dich, Surreal.*

Sie schüttelte ihn ab. Es würde leichter sein, Schritt mit ihm zu halten, wenn sie nicht geduckt laufen musste. Bei ihrer nächsten Frage bediente sie sich eines Kommunikationsfadens. * Was machst du hier? Wie bist du an den Umgrenzungspfosten vorbeigekommen?*

*Menschen sind dumm. Der Wildwechsel ist unbewacht. Auf dem Wechsel sind zu viele Beine unterwegs. Die Menschen sind es leid geworden, jedes Mal die Zähne zu fletschen, weil es sich immer nur um Fleisch handelte.*

*Wie hast du von dem Wildwechsel erfahren? Wie ist es dir gelungen, mich zu finden?*

*Die Traumweberin riet mir, die Signatur der zweibeinigen Katze wittern zu lernen und seinen Spuren zu folgen. Er ist ein guter Jäger*, fügte Graufang beifällig hinzu. *Er hat wirklich viel Katzenhaftes an sich. Kaelas sagt das.*

Sadi mit seiner katzenhaften Geschmeidigkeit, die selbst den verwandten Wesen auffiel. Graufang war Sadi gefolgt. *Wer ist diese Weberin?* Sie erhielt kurzzeitig das Bild einer gewaltigen goldenen Spinne – und strauchelte.

Dieser verfluchte, närrische Wolf! Es war schlimm genug, dass er Arachna besucht und eine kleine Spinne von dort mitgebracht hatte. Doch mit der Königin zu verhandeln …

*Sie hat mich darum gebeten, Surreal*, meinte Graufang kleinlaut, als sie ihn anfauchte. *Es ist nicht gut, der Weberin einen Wunsch abzuschlagen.*

Surreal biss die Zähne zusammen und lief schneller. *Darüber unterhalten wir uns später.*

Sobald sie den Wildwechsel erblickte, erkannte sie den Ort wieder. An dieser Stelle hatte Daemon sie in das Lager geschmuggelt. *Alleine hätte ich diesen Ort niemals wiedergefunden. *

*Du hast eine kleine Schnauze*, sagte der Wolf nachsichtig. *Du kannst Fährten nicht einfach so wittern.*

Surreal blickte Graufang an – den Fänger von Grau – und lächelte.

»Gehen wir«, flüsterte sie. »Kennst du den Weg zu der Hütte?«

*Ich kenne ihn.*

Eine Stunde später reisten Marian, Daemonar, Graufang und sie mit dem roten Wind in Richtung des Bergfrieds.

8 e9783641062019_i0129.jpg Terreille

Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir uns ein bisschen unterhalten«, sagte Hekatah und gab sich Mühe, Daemon neckisch-verschämt anzulächeln.

»Tatsächlich?«

Oh, diese Arroganz, diese Selbstzufriedenheit, der gemeine Unterton in seiner Stimme! Wenn sein Vater auch nur ein Mann vom halben Format des Sohnes gewesen wäre …

»Es dauert so lange, bis sich ein Reich wieder von einem Krieg erholt, und es wäre töricht, tatsächlich in den Krieg zu ziehen, wenn es sich vermeiden ließe.« Sie streckte die Hand empor, um sein Gesicht zu streicheln, während sie einen mentalen Verführungsfaden um ihn wob.

Er trat einen Schritt zurück. »Fass mich niemals ohne meine Erlaubnis an«, stieß er leise knurrend hervor. »Nicht einmal Jaenelle darf mich ohne meine Erlaubnis anfassen.«

»Und das lässt sie sich gefallen?«

Er setzte sein kaltes, brutales Lächeln auf. »Sie lässt sich sehr viel gefallen – und bettelt anschließend um mehr.«

Hekatah blickte in seine glasigen Augen und erbebte vor Erregung. In der Luft hing der erdige Geruch nach Sex. Sie hatte ihn. Er wusste es nur noch nicht. »Eine Partnerschaft würde uns beiden von Nutzen sein.«

»Aber du hast bereits eine Partnerin, Hekatah – und zwar eine, mit der ich unter keinen Umständen zu verhandeln bereit bin.«

Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Die wird keine Probleme bereiten.« Nach kurzem Überlegen fuhr sie fort: »Die liebe Dorothea hat in letzter Zeit nicht gut geschlafen. Am besten werde ich ihr wohl eine Tasse von irgendeinem Gebräu geben, das ihr helfen wird.«

Er starrte sie mit einem glasigen Blick an; ein Mann der so erregt war, dass sie es beinahe angsteinflößend fand – und unglaublich aufregend.

»In dem Fall …« Daemon nahm ihr Gesicht in die Hände. Seine Lippen strichen über die ihren.

Seine Sanftheit stellte eine Enttäuschung für sie dar – bis er sie richtig küsste. Gemein, herrisch, unversöhnlich, fordernd und auf schmerzhafte Weise erregend.

Doch sie war dämonentot! Ihr Körper konnte gar nicht auf diese Weise reagieren, konnte nicht …

Sie ertrank in dem Kuss, und Gefühle, die sie seit Jahrhunderten nicht mehr verspürt hatte, ließen sie ins Taumeln geraten.

Schließlich hob er wieder den Kopf.

Sie starrte ihn an. »Wie … Es ist unmöglich.«

»Ich denke, wir haben soeben bewiesen, dass das eine glatte Lüge ist«, säuselte Daemon verführerisch. »Ich bestrafe Frauen, die mich anlügen.«

»Tatsächlich?«, flüsterte Hekatah berauscht. Sie konnte den Blick nicht von dem grausamen Vergnügen in seinen Augen abwenden. »Ich kümmere mich um Dorothea.«

Er küsste sie erneut. Diesmal konnte sie die spöttische Note spüren, die seiner Zärtlichkeit anhaftete. An ihm war nichts Sanftes. Gar nichts.

»Ich kümmere mich um Dorothea«, wiederholte sie. »Und dann werden wir Partner sein.«

»Und ich verspreche dir eines, Liebling«, schnurrte Daemon, »du wirst genau das bekommen, was du verdienst.«

9 e9783641062019_i0130.jpg Terreille

Als Dorothea am späten Vormittag erwachte, ließen ihre Magenschmerzen sie laut aufstöhnen. Es fühlte sich an, als hätten sich sämtliche Schmerzen, die sie im Laufe eines Jahres während ihrer Mondzeiten erlitt, auf einmal in ihrem Unterleib eingenistet. Sie durfte jetzt nicht krank werden. Auf keinen Fall! Vielleicht eine Tasse Kräutertee oder etwas Brühe. Beim Feuer der Hölle, wie sie fror! Warum war ihr nur so verflucht kalt?

Zitternd schleppte sie sich aus dem Bett – und stürzte.

Nach dem ersten Schock packte sie Angst, als sie sich an den Trank erinnerte, den Hekatah ihr am vergangenen Abend gebraut hatte. Angeblich sollte er ihr beim Einschlafen helfen. Was hatte sie sich dabei gedacht, etwas, das von Hekatah kam, nicht zu überprüfen?

Sie hatte sich nichts gedacht. Hatte gar nicht …

Dieses Luder! Dieses herumwandelnde Aas musste sie mit einem Zwangzauber belegt haben, um sie dazu zu bringen, das Gebräu zu trinken – und dann zu vergessen, dass ihr befohlen worden war, es zu trinken.

Ihre Muskeln verkrampften sich schmerzhaft.

Sie war nicht krank, sondern vergiftet.

Sie benötigte Hilfe. Sie brauchte …

Die Tür ihrer Hütte öffnete sich und schloss sich wieder.

Vor Anstrengung keuchend rollte sie auf die Seite und starrte Daemon Sadi an.

»Daemon«, winselte sie und versuchte, ihm eine Hand entgegenzustrecken. »Daemon … hilf …«

Er stand nur da und betrachtete sie eingehend. Dann verzog er die Lippen zu einem breiten Lächeln. »Sieht aus, als wäre in dem reizenden kleinen Trank gestern auch ein Schluck Hexenblut gewesen«, meinte er freundlich.

Sie war nicht in der Lage, frei durchzuatmen. »Du hast das getan. Du hast das getan!«

»Du hast angefangen, Probleme zu bereiten, Liebling. Es ist nichts Persönliches.«

Der Schmerz der Beleidigung traf sie noch härter als die körperlichen Qualen. »Hekatah …«

»Ja«, sagte Daemon mit kühlem Spott in der Stimme, »Hekatah. Aber nun mach dir mal keine Sorgen, Liebling. Ich habe deine Hütte mit einem Hörschutz und einem Schutzschild umgeben, damit du den restlichen Tag über völlig ungestört bist.«

Er verließ die Hütte.

Sie versuchte, zur Tür zu kriechen und um Hilfe zu rufen, doch ihr gelang weder das eine noch das andere.

Es dauerte nicht lange, bis ihre Welt nur noch aus Schmerzen bestand.

Daemon schloss die Tür der Gefängnisbaracke, die er immer dann aufgesucht hatte, wenn er ein wenig allein sein musste. Er griff in seine Jacketttasche und zog die Juwelen hervor, denen sein Besuch in Dorotheas Hütte gegolten hatte – Saetans schwarzer Ring, Lucivars Anhänger, sein Ring und der Ring der Ehre. Er kannte Dorothea gut und hatte genau gewusst, wo er mental nach einem Versteck hatte suchen müssen. Es hatte lediglich eine Minute gedauert, um an ihren Bewachungszaubern vorbeizuschlüpfen und die Juwelen an sich zu nehmen, während er dort stand und mit ihr redete.

Er betrachtete die Juwelen und seufzte vor Erleichterung. Beide Männer hatten ihre Juwelen mit starken Schutzzaubern umgeben, bevor sie die Steine den beiden Miststücken ausgehändigt hatten. Von daher war es unmöglich, dass man an den Schmuckstücken herumgepfuscht oder sie beschmutzt hatte. Dennoch …

Er legte die Juwelen in das Waschbecken und ließ Wasser darüber laufen, fügte dem Ganzen reinigende Kräuter bei und ließ den Schmuck einweichen.

Dies war der letzte Tag, die letzte Nacht. So lange würde er es noch aushalten. Musste er es aushalten.

Er schloss die Augen. Bald, meine Geliebte. Noch ein paar Stunden, und ich befinde mich auf dem Heimweg, dem Rückweg zu dir. Und dann werden wir für immer zusammen gehören.

Bei der Vorstellung, wie Jaenelle ihm den einfachen goldenen Ehering über den Finger streifte, musste er lächeln.

Da fiel ihm wieder der Verführungszauber ein, mit dem Hekatah ihn belegt hatte. Oh, er hatte ihn bemerkt und hätte ihn ohne weiteres brechen können – doch er hatte zugelassen, dass sein Körper darauf reagierte, während er Hekatah berührte; sie küsste; sie hasste.

Nur ein Spiel. Ein böses, niederträchtiges Spiel.

Er schaffte es kaum bis zu dem Nachttopf, bevor er sich leise, aber gründlich übergab.

10 e9783641062019_i0131.jpg Terreille

Du bist an der Reihe, Mistkerl.«

Da Lucivar danach Ausschau hielt, da er wusste, wonach er Ausschau halten musste, entging ihm die angewiderte Verzweiflung in Daemons Augen nicht.

Folglich leistete er keine Gegenwehr, als Daemon ihn loskettete und in die andere Gefangenenbaracke führte. Und er unternahm nichts, während Daemon fieberhaft das schmale Bett zerwühlte.

Dann stieß er einen gequälten eyrischen Schlachtruf aus, der Daemon derart erschreckte, dass er auf das Bett fiel.

»Beim Feuer der Hölle, Mistkerl«, murmelte Daemon, als er sich wieder erhob.

»Überzeugend genug?«, wollte Lucivar höflich wissen.

Daemon erstarrte.

Sämtliche Masken fielen, und Lucivar erblickte einen Mann, der körperlich und emotional vollkommen am Ende war, einen Mann, dem es kaum gelang, sich auf den Beinen zu halten.

»Warum?«, fragte er gelassen.

»Ich musste Jaenelle Zeit verschaffen. Dein Hass war nötig für das Gelingen meiner Mission.«

So einfach. So schmerzvoll. Daemon würde es bereuen, er würde es zutiefst bereuen, doch er würde nicht zögern, seinem Bruder das Herz aus dem Leib zu reißen, sollte Jaenelle es benötigen. Und genau das hatte er getan.

»Du bist mit Jaenelles Erlaubnis hier.« Lucivar brauchte die Bestätigung.

»Ich bin auf ihren Befehl hin hier.«

»Um dieses Spiel zu inszenieren.«

»Um dieses Spiel zu inszenieren«, stimmte Daemon ihm leise zu.

Lucivar nickte und stieß ein verbittertes Lachen aus. »Nun, Bastard, du hast deine Sache gut gemacht.« Nach einer kurzen Pause fügte er kalt hinzu: »Wo sind Marian und Daemonar?«

Daemons Hand zitterte leicht, als er sich damit durch das Haar fuhr. »Da Surreal ihr graues Juwel nicht einsetzen musste, um von hier wegzukommen, muss ich davon ausgehen, dass sie sicher das Versteck erreicht hat, wo ich die beiden zurückgelassen hatte. Mittlerweile müssten sie alle im Bergfried sein.«

Lucivar ließ die Worte auf sich wirken. Für einen Augenblick schlug eine gewaltige Woge der Erleichterung über ihm zusammen. »Und was passiert jetzt?«

»Jetzt erschaffe ich einen Schatten von dir, und du begibst dich auf den Weg zum Bergfried. Halte dich auf dem roten Wind. Die dunkleren sind unbeständig.«

Schatten. Daemon war nie in der Lage gewesen, Schatten zu erschaffen. Und Jaenelle … Da Jaenelle Andulvar und Prothvar von Kindesbeinen gekannt hatte, hätte sie von einem eyrischen Krieger erwartet, dass er in der Lage war, den Schmerz des Schlachtfelds zu ertragen; ganz egal, wie jenes Schlachtfeld aussehen mochte.

»Was brauchst du?«, fragte Lucivar.

Daemon zögerte.

»Etwas Haar, Haut und Blut.«

»Dann lass uns das Spiel zu Ende spielen.«

Schweigsam arbeiteten sie zusammen. Das einzige Geräusch war Lucivars Seufzer der Erleichterung, als Daemon ihm wieder den Ring der Ehre über den Penis schob und mit seiner Hilfe den Ring des Gehorsams entfernte, ohne dass es auffallen würde.

Während Lucivar seine schwarzgrauen Juwelen anlegte, die Daemon ihm zurückgegeben hatte, beobachtete er die letzten Vorbereitungen des Zaubers, mit dessen Hilfe Daemon einen Schatten von ihm erschaffen würde. Lucivar erschauderte, als er die grausam gepeinigte Kreatur erblickte, deren Lippen im Tode zu einem gequälten Grinsen verzerrt waren.

»Beim Feuer der Hölle, Bastard«, meinte Lucivar, dem übel geworden war. »Was genau hast du mit mir angestellt, dass ich danach so aussehe?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Daemon erschöpft. »Aber ich gehe einmal davon aus, dass Hekatah schon etwas einfallen wird.« Er hielt inne und musste hart schlucken. »Sieh mal, Mistkerl, mach dieses eine Mal in deinem Leben das, was man von dir verlangt. Begib dich zum Bergfried. Alle, die dir wirklich etwas bedeuten, warten dort auf dich.«

»Nicht alle«, sagte Lucivar sanft.

»Ich werde den Höllenfürsten befreien.« Daemon wartete.

Lucivar wusste, worauf Daemon wartete, worauf er entgegen aller Wahrscheinlichkeit hoffte. Er wollte hören, dass Saetan nicht der Einzige hier im Lager war, der ihm etwas bedeutete.

Doch Lucivar schwieg.

Daemon senkte den Blick und sagte matt: »Gehen wir. Die letzte Runde des Spiels hat begonnen.«

11 e9783641062019_i0132.jpg Terreille

Saetan starrte die Ringe an, die auf dem Boden lagen. Warum hatte Daemon so viel Aufhebens darum gemacht? Und weshalb jagten sie ihm einen derart kalten Schauder über den Rücken?

Entnervt stieß er ein Zischen aus. Der Zischlaut ließ ihn jäh zusammenfahren.

»Das … sss … möchtest du begreifen?«, hatte Draca damals gefragt.

Ringe, die in einem Aquarium voll Wasser trieben. Draca hielt einen eiförmigen Stein, der an einer dünnen Seidenschnur hing. »Eine Spirale.«

Der Stein bewegte sich im Kreis und beschrieb einen spiralförmigen Abstieg, bis sich das ganze Wasser mit ihm bewegte und auch die Ringe in der Spirale gefangen waren.

»Ein Strudel«, hatte Geoffrey gesagt.

»Nein«, hatte Draca entgegnet. »Ein Mahlstrom … Sie wird fast immer in einer Spirale hinabsteigen … Ihre Natur lässt … sss … sich nicht ändern. Doch der Mahlstrom … Beschütze sie, Saetan. Beschütze sie … sss … mit all deiner Kraft und Liebe, und vielleicht wird es … sss … niemals geschehen.«

»Und wenn doch?«, hatte er gefragt.

»Dann wird es … sss … mit dem Blut vorbei sein.«

Mit dem Blut vorbei sein.

Vorbei …

Jene Ringe waren keine Botschaft von Daemon, sondern eine Warnung von Draca! Jaenelle war dabei, in einer Spirale zu ihrer ganzen Kraft hinabzusteigen, um den Mahlstrom zu entfesseln. Hatte sie deshalb darauf bestanden, dass der Erste Kreis im Bergfried blieb? Weil es der einzige Ort war, der jener zerstörerischen Gewalt widerstehen könnte? Nein. Jaenelle tötete nur sehr widerwillig. Sie würde nicht das gesamte Blut zerstören, wenn sie …

Verdammt. Verdammt! Es musste ihm gelingen, sich die Vision ins Gedächtnis zurückzurufen. Er musste jene Netze noch einmal sehen, um sich an die eine wichtige Sache zu erinnern, die sich seinem Gedächtnis entzog. Sich ihm absichtlich entzog. Die Vision war mit einem Schleier belegt worden, um ihn daran zu hindern, sich an diese eine Sache zu erinnern, bis es zu spät war.

Doch wenn sie tatsächlich den Mahlstrom entfesselte, was im Namen der Hölle trieb dann Daemon hier?

Verzögern. Zeit schinden. Dorothea und Hekatah ablenken. Ein Spiel spielen um … Marian und Daemonar …. Dann Surreal. Lucivar hatte er vor ein paar Stunden aufschreien hören, doch seitdem hatte es keinerlei Lebenszeichen mehr von ihm gegeben. Demnach blieb nur noch …

Ein Schatten fiel über die Ringe.

Er blickte in Daemons glasige Augen empor.

»Es ist Zeit, zu tanzen«, sagte Daemon mit honigsüßer Stimme.

Vielleicht hätte Saetan etwas gesagt, doch er konnte Hekatah ganz in der Nähe wittern. Also ließ er sich von Daemon in die Gefangenenbaracke führen und sagte nichts, als dieser ihn an das Bett fesselte.

Als Daemon sich neben ihn legte, flüsterte der Höllenfürst: »Wann ist das Spiel zu Ende?«

Daemon fuhr zusammen und musste hart schlucken. »Um Mitternacht.« Er legte Saetan zärtlich eine Hand auf die Brust. »Dir wird nichts passieren …«

Beide hörten, wie etwas an der Tür vorüberstrich, und sie wussten, wer dort lauschte.

Saetan schüttelte den Kopf. Alles hat seinen Preis. »Mach es überzeugend, Daemon«, flüsterte er.

Er konnte die gequälte Resignation und das Flehen um Vergebung in Daemons Augen sehen, bevor sein Sohn sich zu ihm beugte und ihn küsste.

Und er erfuhr, warum die Angehörigen des Blutes Daemon den Sadisten nannten.



Saetan lag auf der Seite und starrte an die Wand.

Im Grunde hatte Daemon sehr wenig getan. Sehr wenig. Doch es war ihm gelungen, das Miststück, das sich draußen vor der Tür herumgetrieben hatte, davon zu überzeugen, dass ein Sohn seinen eigenen Vater vergewaltigte – ohne dabei etwas zu tun, das verhindern würde, dass die beiden einander in Zukunft in die Augen sehen konnten. Eine wahrlich beeindruckende Leistung.

Und es war sehr kurz gewesen. Das hatte ihm Sorge bereitet, doch als Daemon die Hütte verlassen hatte, hatte Saetan gehört, wie sein Sohn draußen etwas gemurmelt hatte, und Hekatah ein entzücktes, schroffes Lachen ausstieß.

Während also Daemon weiter im Lager umherschlich und alle nervös machte, hatte er Zeit, sich auszuruhen, Kräfte zu sammeln und nachzudenken.

Das Spiel würde um Mitternacht vorbei sein. Was war Bedeutendes an Mitternacht? Nun, man nannte Mitternacht die Hexenstunde, jenen Augenblick zwischen dem einen Tag und dem nächsten. Und dann wären zweiundsiebzig Stunden vergangen, seitdem Daemon im Lager aufgetaucht war.

Saetan schoss empor und saß kerzengerade im Bett. Zweiundsiebzig Stunden!

Unruhig war er in einem Wohnzimmer des Bergfrieds auf und ab gegangen. »Ein Opfer findet zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang statt.«

»Das mag beim Prinzen der Dunkelheit so gewesen sein«, hatte Tersa geantwortet und die Teile ihres Puzzles umhergeschoben. »Aber bei der Königin?«

Als Jaenelle der Dunkelheit ihr Opfer dargebracht hatte, hatte es drei Tage lang gedauert. Zweiundsiebzig Stunden.

»Mutter der Nacht«, flüsterte er, immer noch sitzend.

Da ging die Tür auf. Daemon stürmte in die Hütte und ließ ein Kleiderbündel auf das Bett fallen.

Bevor Saetan etwas sagen konnte, hatte Daemon ihn im Genick gepackt und hielt ihm eine Tasse an die Lippen. Im nächsten Augenblick lief ihm eine warme Flüssigkeit die Kehle hinab. Er hatte die Wahl, entweder zu schlucken oder zu ersticken. Saetan schluckte. Gleich darauf wünschte er sich, er wäre erstickt.

»Beim Feuer der Hölle, was hast du mir da eingeflößt?«, stieß er keuchend hervor, wobei er sich vorbeugte und die Stirn gegen die Knie presste.

»Einen Stärkungstrank.« Daemon massierte ihm kraftvoll den Rücken.

»Hör auf damit«, fuhr Saetan ihn an. Er drehte den Kopf gerade so weit, dass er Daemon einen zornigen Blick zuwerfen konnte. »Wessen Stärkungstrank?«

»Jaenelles … mit meinem Blut gemischt.«

Saetan fluchte leise, boshaft und von ganzem Herzen.

Daemon zuckte zusammen. »Sie meinte, dir würde davon Hören und Sehen vergehen – und mehr«, murmelte er.

»Nur jemand, der selbst noch nie einen dieser entzückenden kleinen Tränke zu sich nehmen musste, würde die Wirkung so zurückhaltend beschreiben.«

Daemon sank vor Saetan in die Knie und machte sich daran, die Ketten zu lösen, die seinen Vater hielten. »Ich konnte nicht nach deinen Kleidern suchen, also habe ich dir diese hier gebracht. Sie sollten ganz gut passen.«

Saetan knirschte mit den Zähnen, während Daemon ihm Beine und Füße massierte. »Wo hast du sie her?«

»Von einem Wächter. Er hat keine Verwendung mehr dafür.«

»Die verfluchten Dinger sind vermutlich voller Läuse.«

»Du wirst es überleben«, knurrte Daemon. Er nahm eine Lehmkugel aus seiner Jackentasche und rollte sie in einen dickwandigen Zylinder. Anschließend öffnete er den Ring des Gehorsams mit sanfter Gewalt so weit, dass er sich von Saetans Penis entfernen ließ. Der Ring legte sich mit derselben Heftigkeit um den Lehm, mit dem er das menschliche Fleisch umschlossen gehalten hatte.

Nachdem Daemon den Zylinder auf das Bett gelegt hatte, warf er Saetans Glied einen genaueren Blick zu und sog scharf die Luft ein.

»Das macht nichts«, sagte Saetan leise. »Ich bin ein Hüter. Jenen Teil meines Lebens habe ich hinter mir gelassen.«

»Aber …« Daemon presste die Lippen zusammen. »Zieh die hier an.« Er half Saetan in die Hosen und kniete sich dann erneut hin, um sich um die Strümpfe und Stiefel zu kümmern. »Es ist beinahe Mitternacht. Wir sind ein bisschen knapp dran, weil wir ein gutes Stück vom nächsten Strang der Winde entfernt sind, aber in ein paar Stunden werden wir im Bergfried sein. Dann sind wir wieder zu Hause.«

Die verzweifelte Sehnsucht in Daemons Augen riss den Schleier von der Vision.

Zwei Netze. Eines verschimmelt und beschmutzt. Das andere schön und voll glänzender Perlen der Macht.

Sie hatte einen Weg gefunden, diejenigen, die nach den Gesetzen des Blutes lebten, von denen zu trennen, die von Hekatahs und Dorotheas Makel gezeichnet waren.

Doch das dritte Netz …

Sie war eine Königin, und eine Königin verlangte von anderen nicht, was sie selbst nicht zu geben bereit war. Vielleicht war es das einzig Egoistische, das sie jemals getan hatte. Indem sie sich selbst opferte, würde sie nicht die Bürde all der Leben tragen müssen, die sie zerstören würde. Doch …

Er weiß es nicht. Du hast es ihm nicht gesagt. Er kam hierher in der Annahme, dass du bei seiner Rückkehr auf ihn warten würdest. Oh, Hexenkind!

Deshalb hatte sie ihn gebeten, sich um Daemon zu kümmern. Sie hatte gewusst, dass es nötig sein würde.

Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht gab es noch eine Möglichkeit, es aufzuhalten, sie aufzuhalten.

»Gehen wir«, meinte er jäh.

Daemon belegte sie beide mit einem Sichtschutz, und sie schlüpften aus dem Lager.

Als sie den Ort erreicht hatten, von dem aus sie auf die Winde aufspringen konnten, hatten ein kalter, scharfer Wind eingesetzt.

Saetan blieb stehen, um tief durch den Mund einzuatmen und die Luft zu schmecken.

»Es ist nur der Wind«, sagte Daemon.

»Nein«, erwiderte Saetan grimmig, » das ist es nicht. Komm schon.«

12 e9783641062019_i0133.jpg Terreille

Zwei Stunden später stürzte Hekatah in Dorotheas Hütte und wedelte mit einem schweren Lehmzylinder in der Luft herum. »Man hat uns hereingelegt. Sie sind alle weg! Das Ding in der Gefangenenbaracke ist gar nicht Lucivar, sondern irgendein Illusionszauber. Und Saetan …« Sie schleuderte den Zylinder durch das Zimmer. »Sadi, dieser Bastard, hat uns angelogen

Dorothea, die schon den ganzen Tag auf dem Boden gelegen hatte, starrte Hekatah von unten an. In dem Augenblick, in dem ihre Eingeweide noch mehr rote Ruhr von sich gaben, fing sie zu lachen an.

13 e9783641062019_i0134.jpg Terreille

Die ganze Nacht über hatte sich ein Gewittersturm zusammengebraut – Donner, Blitze, Wind. Jetzt, da der Morgen zu dämmern begann, war der Wind heftig geworden und hörte sich beinahe an, als habe er eine Stimme.

»Komm schon«, meinte Tersa, die Karla zu dem Sofa hinüberhalf. »Du musst dich jetzt hinlegen. Morghann, komm her und leg dich auf den Boden.«

»Was ist los?«, wollte Khardeen wissen, als Morghann sich gehorsam neben dem Sofa auf den Boden legte. Er griff nach einem Kissen und schob es seiner Ehefrau unter den Kopf.

»Es wäre besser, wenn ihr euch alle auf den Boden setzt. Dieser Sturm wird selbst den Bergfried erschüttern.«

Die Mitglieder des Ersten Kreises warfen einander unbehagliche Blicke zu, gehorchten aber.

»Was ist los?«, fragte Karla, als Tersa beschützend einen Arm über sie legte, und sich mit der anderen Hand auf Morghanns Schulter abstützte.

»Der Tag ist angebrochen, an dem die Rechnungen beglichen werden, und die Angehörigen des Blutes dafür einstehen müssen, was aus ihnen geworden ist.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Karla. »Was hat der Sturm zu bedeuten?«

Blitze zuckten durch den Himmel. Der Wind heulte um den Bergfried.

Tersa schloss die Augen – und lächelte. »Sie kommt.«

14 e9783641062019_i0135.jpg Terreille

Er hatte es zu knapp bemessen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Reise mit den Winden derart stürmisch sein würde, oder dass Saetans Kräfte ihn so schnell verlassen würden – oder seine eigenen. Sie hatten vom roten Wind auf den saphirnen wechseln müssen und schließlich, für den letzten Teil der Reise, auf den grünen.

Sie konnten nicht direkt vor dem Bergfried landen. Der Ort war von allen Seiten von eigenartigen Schilden umgeben. Also hatte er sich Lucivars schwarzgraues Juwel herausgegriffen – und die einzige kleine Stelle in den Schilden, die Lucivar mithilfe der Kraft seiner Juwelen offen hielt – und ließ sie so nahe wie möglich von den Winden abspringen. Es war nicht nahe genug gewesen; nicht für zwei erschöpfte Männer, die versuchten, einen steilen Pfad durch das Gebirge empor zu klettern.

Nun, da das Tor in Sicht war, und Lucivar sie mental zur Eile drängte, trug Daemon Saetan halb den Hang hinauf, wobei er bei jedem Schritt gegen den heftigen, heulenden Wind ankämpfen musste.

Beinahe da. Beinahe. Beinahe.

Der Himmel lichtete sich allmählich. Jeden Moment würde die Sonne über dem Horizont aufgehen.

Schneller. Schneller.

»Saetan! Sae-Tan!«

Daemon blickte nach hinten. Hekatah kletterte den Hang herauf. Das Miststück musste die ganze Strecke über mit dem roten Wind gereist sein, um so kurz nach ihnen anzukommen.

Statt seinen Atem mit Fluchen zu verschwenden, beschleunigte er das Tempo, so gut es ging, und zerrte Saetan mit sich.

»Sadi!«, kreischte Hekatah. »Du verdammter Heuchler!«

»Nun macht schon!«, rief Lucivar. Er bediente sich der Kunst, um das Tor offen zu halten. Körperlich und mental kostete es ihn große Mühe zu verhindern, dass es sich schloss.

Ein Stück näher. Beinahe dort. Beinahe.

Daemon griff nach den Gitterstäben des Tors und benutzte die Kraft seines schwarzen Juwels, um es aufzuhalten. »Bring ihn hinein«, meinte er und schob Saetan Lucivar in die Arme. Dann drehte er sich um und wartete.

Hekatah kam den Hang herauf und blieb einen knappen Meter von ihm entfernt stehen. »Du verlogener Bastard!«

Daemon lächelte. »Ich habe dich nicht belogen, Liebling. Ich habe dir gesagt, du würdest genau das bekommen, was du verdienst.« Er ließ das Tor los. Es fiel krachend zu, und der letzte Schild legte sich darüber.

Als er sich umwandte und über den offenen Innenhof rannte, konnte er Hekatahs Geschrei hören. Außerdem vernahm er ein wildes Heulen, ein Geräusch voll Freude und Schmerz, Wut und Triumph.

Er überschritt die Türschwelle und betrat die Sicherheit des Bergfrieds in dem Augenblick, in dem Jaenelle den Mahlstrom entfesselte.



*Du musst … sss … aufwachen*, erklang eine tiefe, zischelnde Stimme. *Du musst … sss aufwachen.*

Daemon schlug die Augen auf. Im ersten Moment begriff er nicht, weshalb alles ein wenig … eigenartig … aussah. Nachdem er sich daran gewöhnt hatte, überprüfte er, dass er immer noch mit seinem Körper verbunden war – und dass sein Körper immer noch an der Stelle auf dem kalten Steinfußboden des Bergfrieds war, an der Lucivar, Saetan und er zusammengebrochen waren, als Jaenelle ihre ganze Kraft freigesetzt hatte.

*Ihr seid das Dreieck, dass … sss … geholfen hat, das Netz der Träume zu formen. Jetzt … sss … müsst ihr den Traum festhalten. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.*

Stöhnend setzte er sich auf und blickte sich um. Und war auf der Stelle hellwach.

Mutter der Nacht, wo sind wir?

Er griff über Saetans am Boden ausgestreckten Körper hinweg und schüttelte Lucivar.

*Beim Feuer der Hölle, Bastard*, meinte Lucivar. Er hob den Kopf. *Verflucht!*

Beide berührten Saetan und rüttelten ihn wach.

*Vater, wach auf! Wir stecken in Schwierigkeiten*, sagte Daemon.

*Was ist los?*, knurrte Saetan. Er stützte sich auf den Ellbogen auf. Seine Augen weiteten sich. *Mutter der Nacht!*

*Und möge die Dunkelheit Erbarmen haben*, fügte Lucivar hinzu. * Wo sind wir?*

*Irgendwo im Abgrund, glaub ich.*

Sie erhoben sich behutsam und blickten sich um.

Sie standen am Rand einer tiefen, weiten Kluft. Über die Schlucht war ein opalenes Netz gespannt. Unter ihnen befanden sich Netze von den Farben der dunkleren Juwelen. Über ihnen waren Netze von den Farben der helleren Juwelen.

*Was machen wir hier?*, wollte Lucivar wissen.

*Wir sind das Dreieck, das geholfen hat, den Traum zu formen *, sagte Daemon. *Wir sollen den Traum festhalten.*

*Sprich gefälligst nicht in Rätseln, Bastard*, versetzte Lucivar schroff.

Daemon fauchte ihn an.

Saetan hob eine Hand. Beide schwiegen.

*Wer hat dir das gesagt?*, fragte Saetan.

*Eine zischelnde Stimme.* Daemon hielt inne. *Sie klang wie Draca, war aber männlich.*

Saetan nickte. *Lorn.* Er blickte sich abermals um.

Weit, weit, weit über ihnen blitzte es.

*Warum hat Jaenelle dich darum gebeten, nach Hayll zu reisen?*

*Sie meinte, das Dreieck müsse zusammenbleiben, um zu überleben. Dass der Spiegel die Kraft besäße, die anderen beiden zu retten.*

*Das hatte sie in einem Verworrenen Netz gesehen?*

*Nein. Die Traumweberin hat es ihr gesagt.*

Lucivar begann, wilde Flüche auszustoßen.

Saetans Blick war scharf, durchdringend und nachdenklich.

Das Blitzgewitter kam ein wenig näher.

*Vater, Bruder, Geliebter*, meinte Saetan leise.

Daemon nickte und musste an das Dreieck denken, das Tersa auf seiner Handfläche nachgezeichnet hatte. *Der Vater war zuerst da. Der Bruder steht dazwischen.* Als beide ihn ansahen, trat er unbehaglich von einem Bein auf das andere. *Das hat Tersa einmal gesagt.*

*Warnungen von Tersa, der arachnianischen Königin und Lorn*, sagte Saetan. *Ein Mann mag auf eigene Gefahr eine Warnung ignorieren, aber alle drei?* Langsam schüttelte er den Kopf. *Besser nicht.*

Das Blitzgewitter leuchtete ein Stück näher von ihnen auf.

*Das ist alles schön und gut*, meinte Lucivar mürrisch, *aber ein klarer Befehl wäre mir lieber.*

*Diese … sss … Netze sind die beste Magie, die ich euch zur Verfügung … sss … stellen kann*, erklang Lorns verärgerte Stimme. *Benutzt sie, um den Traum festzuhalten. Wenn sie …sss … durch … sss … alle hindurchbricht, wird … sss … sie in die Dunkelheit zurückkehren. Dann verliert ihr … sss … sie.*

Lucivar atmete hörbar aus. *Das war deutlich. Wo also …* Er blickte empor, als erneut Blitze durch die Luft zuckten. * Was ist das?*

Sie alle blickten nach oben und warteten auf den nächsten Blitz – und sahen einen kleinen dunklen Fleck, der auf die Netze zustürzte.

*Jaenelle*, flüsterte Daemon.

*Sie wird geradewegs durch die Netze hindurchfallen*, sagte Saetan. *Wir müssen unsere Kräfte einsetzen und versuchen, sie abzubremsen.*

*Also gut*, meinte Lucivar. *Wie stellen wir das an?*

Saetan blickte erst Daemon, dann Lucivar an. *Vater, Bruder, Geliebter.* Eine Antwort wartete er nicht ab. Stattdessen schnellte er empor, um zu versuchen, Hexe aufzufangen, bevor sie das weiße Netz erreichte.

Lucivar sah ihm einen Moment lang nach, dann wandte er sich wieder den Netzen zu, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. * Wenn sie in der Mitte auf die Netze trifft, wird sie durchbrechen. Also müssen wir sie zur Seite rollen.* Er packte Daemon an der Schulter und deutete mit der Hand nach oben. *Nicht so nahe an die Kante, dass ihr Gefahr lauft, gegen die Wände zu prallen, aber fort von der Mitte. Du musst dich drehen, während du deine Kräfte einsetzt, um sie abzubremsen.*

Daemon betrachtete die Netze. *Was soll das bewirken?*

*Zum einen sollte die Gegenkraft ihre Geschwindigkeit verlangsamen. Und wenn sie sich in den Netzen verwickelt …*

*Bilden wir einen Kokon aus Macht.*

Lucivar nickte. *Ich werde mich hinauf zu Rose begeben. Keine Ahnung, wie viel Energie noch in Saetan steckt. Wenn er immer noch stark genug ist, um sie festzuhalten, kann ich ihm dabei helfen. Wenn nicht …*

*Wo soll ich mich postieren?* Daemon war bereit, sich Lucivars Können und Kampferfahrung zu fügen.

*Bei Grün. So weit sollte ich sie festhalten können.* Lucivar zögerte. *Viel Glück, Bastard.*

*Dir auch, Mistkerl.*

Lucivar schwang sich in die Lüfte.

Im nächsten Augenblick erklang Saetans trotziger Kampfschrei, als das weiße Netz zerbarst. In dem Blitzgewitter konnte Daemon zwei kleine Gestalten erkennen, die immer weiter fielen.

Er schwebte zu dem grünen Netz hinab.

Das gelbe Netz zerriss. Dann Tigerauge.

Er vernahm Lucivars Schlachtruf.

Als das Netz bei Rose zerriss, war ein Farbenwirbel zu sehen, als Lucivar sich zur Seite rollte und gegen die Sturzgeschwindigkeit ankämpfte.

Sie prallten auf Aquamarin. Lucivar hielt die Beine von Hexe umklammert und rollte sich in die entgegengesetzte Richtung, sodass sie den größten Teil des Netzes mit sich rissen, als sie schließlich hindurchfielen.

Purpur. Opal.

Daemon wartete auf halbem Wege zwischen Opal und Grün auf sie.

*Lass los, Mistkerl, sonst zerstörst du noch dein schwarzgraues Juwel.*

Mit einem Schrei, der teils Trotz war, teils Schmerz und teils Angst, ließ Lucivar los.

Wut erfüllte Daemon. Angetrieben wurde er jedoch von Liebe. Hexe und er trafen auf das grüne Netz. Er rollte sich ab, doch er besaß nicht Lucivars Geschick. Sie brachen in der Nähe der Netzmitte durch. Da er weiterrollte, prallten sie knapp neben dem Rand auf das Saphirnetz. Er rollte sich in die andere Richtung und wickelte Jaenelle in die Macht des Netzes ein.

Sie brachen durch Saphir, doch ihr Sturz war nicht mehr ganz so schnell. Auf diese Weise hatte er ein wenig mehr Zeit sich vorzubereiten, zu planen und die Kraft seiner schwarzen Juwelen in den Kampf gegen den Sturz fließen zu lassen.

Sie trafen auf Rot, rollten und hielten sich kurzzeitig daran fest, bis sie weiter auf Grau zufielen. Nur die Hälfte der grauen Stränge zerrissen auf der Stelle. Er hielt Jaenelle zurück, so weit es in seiner Macht stand. Als die andere Hälfte riss, rollte er sie nach oben, während das Netz sie abwärts in Richtung von Schwarzgrau schwingen ließ. Er leistete Widerstand gegen die Abwärtsbewegung, sodass ihr Fall langsamer und langsamer wurde.

Nachdem alle Stränge von Grau gerissen waren, segelten sie auf Schwarzgrau zu. Das Netz senkte sich ein wenig in der Mitte, als sie darauf landeten, dehnte sich dann noch ein Stück weiter, bis die Stränge schließlich zu reißen anfingen.

Die Kraft seiner schwarzen Juwelen war beinahe erschöpft, doch er ließ nicht los, hielt sie fest, während sie auf das schwarze Netz fielen.

Und es passierte nichts.

Daemon zitterte am ganzen Leib, als er das schwarze Netz anstarrte. Er wagte kaum, seinen Augen zu trauen.

Es dauerte eine Minute, bis er es geschafft hatte, seinen Griff zu lösen. Als es ihm schließlich gelang, sie loszulassen, schwebte er vorsichtig über dem Netz. Bei ihrer Schulter bemerkte er zwei winzige zerrissene Stränge. Behutsam strich er die schwarzen Stränge über den anderen Farben glatt, in die sie eingewickelt war.

Er konnte sie kaum erkennen. Es war gerade genug von ihr sichtbar, um das winzige spiralförmige Horn zu erahnen. Doch das reichte ihm.

*Wir haben es geschafft*, flüsterte er mit Tränen in den Augen. *Wir haben es geschafft.*

*Ja … sss …*, erklang sehr leise Lorns Stimme. *Gut gemacht. *

Daemon blickte empor und sah sich um. Als er seine Aufmerksamkeit erneut auf Hexe richtete, begann sie vor seinen Augen zu verschwimmen.

Dann verblasste alles um ihn her.

15 e9783641062019_i0136.jpg Terreille

Saetan öffnete die Augen und versuchte, sich zu bewegen. Allerdings musste er feststellen, dass er zwischen zwei warmen Körpern eingeklemmt war, die sich an ihn schmiegten. Seine beiden Söhne.

Oh, Hexenkind! Ich hoffe, es war den Preis wert.

Wieder versuchte er sich zu rühren. Er stieß ein wütendes Knurren aus, als es ihm nicht gelang, und rammte schließlich Lucivar den Ellbogen in die Seite.

Lucivar knurrte nur zurück und rückte noch näher.

Er versetzte Lucivar einen weiteren Stoß, denn er brachte es nicht über sich, Daemon auf diese Weise zu behandeln – nicht jetzt.

Lucivars Knurren nahm einen wütenderen Ton an, doch schließlich rührte er sich. Das ließ Daemon erwachen.

»Ich bin hocherfreut, dass ihr mich für solch ein bequemes Kissen zu halten scheint«, meinte Saetan trocken, »aber ein Mann in meinem Alter zieht es vor, nicht auf dem kalten Steinfußboden zu schlafen.«

»Ein Mann meines Alters ebenfalls«, erwiderte Lucivar mürrisch und erhob sich. Er ließ die Schultern kreisen und reckte sich.

Mit einem Stöhnen setzte Daemon sich auf.

Saetan sah, wie ein freudiges, erwartungsvolles Leuchten in Daemons Augen trat. Es brach ihm das Herz.

Er ließ sich von Daemon aufhelfen – und bemerkte, wie kühl Lucivar mit seinem Bruder umging. Das würde sich ändern. Es würde sich ändern müssen. Doch Lucivar würde erst ansprechbar sein, nachdem er Marian und Daemonar gesehen hatte. Von daher bestand im Moment kein Anlass, seinen eyrischen Zorn zu entfachen. Außerdem war er verdammt noch mal zu müde, um es in diesem Augenblick mit Lucivar aufzunehmen.

Als er auf die Doppeltür zuging, schritten seine Söhne zu beiden Seiten neben ihm her.

Dämmerung. Der gesamte Tag war vergangen.

Sie überquerten den offenen Innenhof. Lucivar machte das Tor auf.

Etwas flatterte in einem Windstoß und zog Saetans Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Fetzen von einem Kleid. Hekatahs Kleid.

Er erwähnte es nicht.

»Ich bin im Augenblick nicht stark genug«, sagte er leise. »Könntet ihr beiden …«

Lucivar blickte gen Süden, Daemon gen Norden. Eine Minute später lag auf ihren Gesichtern der gleiche ernste, dabei aber gewollt gelassene Ausdruck.

»Es gibt nur noch wenige Angehörige des Blutes«, meinte Daemon langsam. »Nicht viele.«

»Dort ebenfalls«, sagte Lucivar.

Wenige. Nur wenige. Süße Dunkelheit, hoffentlich würden sie in Kaeleer eine andere Antwort erhalten. »Lasst uns nach Hause zurückkehren!«



Er konnte den Unterschied spüren, sobald er durch das Tor zwischen den Reichen trat. Als sie den Altarraum verließen, blickten sowohl Daemon als auch Lucivar in die Richtung, in der sie den Ersten Kreis – und die anderen – wussten.

Saetan wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, da er noch nicht so weit war, sich dem Folgenden zu stellen. »Kommt mit.« Widerwillig gehorchten sie.

Er führte sie auf eine Terrasse, die von einer niedrigen Mauer umgeben war und auf Riada hinausging, das nächste Dorf der Angehörigen des Blutes.

Daemon blickte auf das Dorf hinab. Lucivar hingegen sah in die Richtung, in der die Eyrier lebten.

In Daemons Seufzer lag Erleichterung. »Ich weiß nicht, wie viele Leute gestern dort lebten, aber es gibt immer noch viele Angehörige des Blutes.«

»Falonar!«, rief Lucivar. Er grinste sie an. »Die ganze Gemeinschaft ist noch da. Es geht ihnen so weit gut, sie sind nur sehr durcheinander, ansonsten aber unversehrt.«

»Der Dunkelheit sei Dank«, flüsterte Saetan. Die Tränen kamen, aus Stolz genauso wie aus Trauer. Prothvar hatte gesagt, es sei eine andere Art von Schlachtfeld, doch eine gute Art zu kämpfen. Er hatte Recht gehabt. Es war ein ehrenwertes Schlachtfeld. Anstatt zuzusehen, wie mehr Freunde zu Dämonentoten wurden, hatten sie sich in dem Wissen geopfert, dass diese Freunde leben würden. Char, Dujae, Morton, Titian, Cassandra, Prothvar, Mephis, Andulvar. Er würde sie vermissen. Mutter der Nacht, wie sehr er sie vermissen würde! »Und das Blut soll zum Blut singen. Ihr habt gut gesungen, meine Freunde. Ihr habt gut gesungen.«

Er würde auch Lucivar und Daemon – und Surreal – davon erzählen müssen. Doch nicht jetzt. Noch nicht.

Innerlich fürchtete er sich davor, doch er wusste, dass er keinen von beiden viel länger aufhalten können würde. »Kommt schon, Jungs. Der Hexensabbat wird gewiss das eine oder andere hierüber zu sagen haben.«



Es war schlimmer, als er erwartet hatte.

Der Hexensabbat und die Männer des ersten Kreises fielen geradezu über Lucivar her, der Marian und Daemonar fest umschlungen hielt. Daemon begrüßten sie kühl und zurückhaltend ; mit Ausnahme von Karla, die »Küsschen« gesagt und ihn dann tatsächlich geküsst hatte! Surreal hatte Daemon mit einem abschätzenden Blick bedacht und dann gemeint : »Du siehst furchtbar aus, Sadi.« Saetan hätte sie geharnischt zurechtgewiesen, wenn Daemon nicht trocken bemerkt hätte, dass ihre Komplimente wie immer zu schmeichelhaft seien – und wenn sie ihn daraufhin nicht angegrinst hätte.

Tersa hatte das Gesicht ihres Sohnes in beiden Händen gehalten und ihm in die Augen geblickt. »Es wird alles gut werden, Daemon«, sagte sie zärtlich. »Vertraue einer, die es gesehen hat. Alles wird gut werden.«

Saetan war sich nicht sicher, ob Daemon die Kühle überhaupt spürte, die ihm von den meisten Anwesenden entgegengebracht wurde. Bemerkte sein Sohn überhaupt, wer ihn begrüßt hatte und wer nicht? Sein Blick wanderte pausenlos auf der Suche nach jemandem durch das Zimmer, der nicht da war – und der nicht kommen würde.

Noch während der Höllenfürst versuchte, sich einen annehmbaren Vorwand einfallen zu lassen, um Daemon von den anderen fortzuschaffen, erschien Geoffrey an der Tür. »Man bittet euch um eure Anwesenheit vor dem Dunklen Thron. Draca möchte mit euch sprechen.«

Als sie der Reihe nach das Zimmer verließen, trat Saetan an Lucivars Seite. »Halte dich dicht an deinen Bruder«, sagte er leise.

»Ich denke, es wäre besser …«

»Denke nicht, Prinz, sondern befolge deine Befehle.«

Lucivar musterte ihn eingehend und ging dann schneller, um Daemon einzuholen.

Surreal hakte sich bei Saetan ein. »Ist Lucivar sauer?«

»So könnte man es auch ausdrücken«, erwiderte Saetan trocken.

»Wenn du meinst, dass es helfen würde, könnte ich ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern geben. Obgleich ich davon ausgehe, dass Marian sich der Sache ohnehin annehmen wird, sobald ihr aufgeht, weswegen er wütend ist.«

Saetan ließ ein gequältes Lachen hören. »Das dürfte höchst interessant werden.« Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Mit dir hat Daemon das gleiche Spiel getrieben.«

»Ja, aber manchmal führt man einen Feind am besten hinters Licht, indem man einen Freund überzeugt.«

»Einmal hat deine Mutter etwas ganz Ähnliches zu mir gesagt – nachdem sie mich tätlich angegriffen hatte.«

»Wirklich?« Surreal musste grinsen. »Das muss bei uns in der Familie liegen.«

Er entschied sich dagegen, sie um eine nähere Erläuterung zu bitten.



Verwirrt wartete Daemon auf die Ansprache, die Draca halten würde. Nicht, dass es von Bedeutung gewesen wäre. Im Laufe der nächsten Tage würde er sich nach Amdarh stehlen müssen, um mit dem Juwelier Barnard über den Entwurf eines Eherings für Jaenelle zu sprechen. Er hatte ihr dort ein Paar Ohrringe zu Winsol gekauft, und ihm hatten die Arbeiten des Mannes gefallen, die er dort gesehen hatte.

Ihr Geburtstag war nicht mehr fern. Würde es ihr etwas ausmachen, an ihrem Geburtstag zu heiraten? Nun, vielleicht war es ihm selbst nicht recht. Er wollte die Feier ihrer Hochzeit mit nichts anderem teilen müssen. Doch sie konnten bald danach heiraten. Sie würde immer noch erschöpft sein und sich von diesem Zauber erholen müssen, aber sie konnten sich einen ruhigen Ort für ihre Hochzeitsreise aussuchen. Es war auch ganz gleichgültig, wo sie ihre Flitterwochen verbrachten.

Wo war sie? Vielleicht war sie bereits auf ihrem Zimmer und erholte sich. Vielleicht war es das, was Draca ihnen sagen würde – dass Jaenelle den Krieg verhindert hatte, und Kaeleer nun in Sicherheit war. Sobald diese Ansprache vorüber war, würde er sich in Jaenelles Zimmer schleichen und sich an sie kuscheln. Na ja, zuerst einmal würde er baden. Im Augenblick duftete er nicht gerade nach Rosenwasser.

Wo war sie?

Da fiel sein Blick auf Lorn, und er spürte ein leichtes Unbehagen in sich aufsteigen.

Nein. Sie hatten sie gerettet. Das Dreieck hatte sie gerettet. Sie hatte derart viel Kraft verbraucht und war so weit aus sich selbst emporgestiegen, dass sie anschließend zurück in die Tiefe gestürzt war, doch sie hatten sie aufgefangen. Sie hatten sie aufgefangen!

Lucivar trat so dicht neben ihn, dass sich ihre Schultern berührten. Saetan trat an seine andere Seite, und Surreal stand ebenfalls ganz in der Nähe.

Draca hob etwas von der Sitzfläche des Throns auf, zögerte kurz und drehte sich dann zu ihnen um.

Daemon erstarrte.

Sie hielt Jaenelles Zepter in der Hand. Doch das Metall war völlig verbogen, und die beiden mitternachtsschwarzen Juwelen waren zerborsten. Nicht nur verformt und ihrer Kraftreserven entledigt, sondern zersplittert. Das Gleiche galt für das spiralförmig gewundene Horn.

»Die Königin des … sss … Schwarzen Askavi ist nicht mehr«, meinte Draca leise. »Der Dunkle Hof existiert … sss … nicht länger.«

Jemand begann zu schreien. Ein Schrei voll panischer Angst, ablehnender Wut und Schmerz.

Erst als Lucivar und Saetan ihn packten und zurückhielten, merkte er, dass er selbst es war, der schrie.

16 e9783641062019_i0137.jpg Kaeleer

Was hatte es für einen Sinn?«, wollte Gabrielle wutentbrannt wissen, während ihr die Tränen über das Gesicht strömten. »Welchen Sinn hatte es, unsere Erinnerungen zur Verfügung zu stellen, wenn sie ihr sowieso nicht helfen konnten?«

Surreal fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich nicht sehr hilfreich wäre, wenn sie jemandem eine Ohrfeige verpasste. Andererseits würde wenigstens sie sich anschließend besser fühlen! Der Dunkelheit sei Dank, dass es dem Höllenfürsten und ihr gelungen war, Daemon schwere Beruhigungsmittel zu geben. Er hätte all das hier nicht ertragen.

Sie hätte gerne mehr über die gesammelten Erinnerungen herausgefunden, doch im Moment faszinierte sie vor allem der Umstand, dass Tersa zu gelassen und unberührt wirkte – ja sogar ein wenig verärgert. Jemand musste schon sehr falsch liegen, um Tersa zu erzürnen.

»Ja, Tersa«, sagte Karla gereizt, »warum das Ganze?«

»Das Blut ist der Fluss der Erinnerung. Und das Blut soll zum Blut singen«, entgegnete Tersa.

Gabrielle gab einen knappen, aber umso derberen Fluch von sich.

»Halt den Mund, Gabrielle«, fuhr Surreal sie an.

Tersa saß auf dem länglichen Tisch, der vor dem Sofa stand, einen Stapel hölzerner Bauklötze neben sich. Surreal kauerte sich neben ihr nieder. »Wozu dienten die Erinnerungen? «, fragte sie leise.

Tersa strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. »Um das Netz der Träume zu nähren. Es war nicht länger vollständig. «

»Aber sie ist gestorben!«, schrie Morghann.

»Die Königin ist gestorben«, erwiderte Tersa mit einem Hauch von Zorn. »Ist das alles, was sie für euch war?«

»Nein«, sagte Karla. »Sie war Jaenelle. Das war genug.«

»Genau«, meinte Tersa. »Und es ist immer noch genug.«

Surreal sprang auf. Sie wagte es kaum, Hoffnung zu schöpfen. Behutsam berührte sie Tersas Hand und wartete, bis sie sich sicher war, die Aufmerksamkeit der anderen Frau zu besitzen. »Die Königin ist gestorben, aber Jaenelle nicht?«

Tersa zögerte. »Es ist noch zu früh, um es zu wissen. Doch das Dreieck hat den Traum davor bewahrt, in die Dunkelheit zurückzukehren, und nun kämpfen die verwandten Wesen darum, den Traum im Fleisch festzuhalten.«

Das löste bei Gabrielle und Karla Prosteste aus.

»Moment mal«, sagte Gabrielle, die Karla einen Seitenblick zuwarf und ein Nicken erntete. »Wenn Jaenelle verletzt ist und eine Heilerin benötigt, sollten wir bei ihr sein.«

»Nein!« Endlich brach sich Tersas Wut Bahn. »Ihr solltet nicht bei ihr sein. Ihr wärt nicht in der Lage, das zu sehen, was dem Fleisch angetan wurde, und dennoch zu glauben, dass es überleben kann. Doch die verwandten Wesen hegen keine Zweifel. Die verwandten Wesen glauben unerschütterlich an den Traum. Deshalb sind nur sie diejenigen, die es schaffen können, falls es überhaupt zu schaffen ist.« Sie sprang auf und lief aus dem Zimmer.

Einen Augenblick später folgte Surreal ihr. Draußen stieß sie nicht auf Tersa, dafür aber auf Graufang, der sich in der Nähe der Tür herumtrieb und besorgt winselte.

Sie musterte den Wolf. Verwandte Wesen hegten keinerlei Zweifel. Sie würden sich daran machen und mit Fängen und Klauen für ihren Traum kämpfen, ohne ihn jemals aufzugeben. Nun, eine Schnauze, mit der man Spuren wittern konnte, würde sie nie haben, aber sie konnte sehr wohl lernen, so verflucht stur wie ein Wolf zu sein. Sie würde felsenfest daran glauben, dass Jaenelle sich nur irgendwo im Stillen von einem ausgesprochen schwierigen Zauber erholte. Sie würde sich an diesem Glauben festbeißen und ihn nicht mehr loslassen.

Um Jaenelles willen.

Um Daemons willen.

Und um ihrer selbst willen.