Kapitel 2
1 Kaeleer
Lucivar Yaslana schlug die erste Seite der Liste mit den säuberlich niedergeschriebenen Namen auf und trat von dem Tisch zurück. Mit leichter Belustigung nahm er die Männer wahr, die hin- und hergerissen waren, weil sie einerseits die Listen durchsehen wollten, die auf dem Tisch lagen, sich aber andererseits davor scheuten, Lucivar zu nahe zu kommen.
Das war ein Vorteil, den er den anderen Männern gegenüber hatte, die von einem Tisch zum anderen gingen, um die Listen des Dienstbasars durchzugehen. Niemand rempelte ihn an oder beklagte sich darüber, wie lange er brauchte, um die Namen zu lesen, denn keiner wollte sich mit einem Kriegerprinzen mit schwarzgrauen Juwelen anlegen, der ein ausgebildeter eyrischer Krieger war, ein äußerst hitziges Temperament hatte und überdies den Ruf besaß, seinem leidenschaftlichen Gemüt – und seinen Fäusten – gerne freien Lauf zu lassen. Hinzu kam, dass er zu einer der stärksten Familien des Reiches gehörte und am Dunklen Hof im Schwarzen Askavi diente. Kein Wunder also, dass andere Männer ihm lieber aus dem Weg gingen.
Dennoch fühlte er sich nicht wohl auf dem Dienstbasar in Goth, der Hauptstadt von Kleinterreille. Egal, wie sie die Veranstaltung nennen mochten, für seinen Geschmack erinnerte sie ihn zu sehr an die Sklavenmärkte, die bis zum heutigen Tage in Terreille abgehalten wurden.
Während Lucivar langsam auf die Tür zuging, atmete er tief ein, wünschte sich jedoch im gleichen Augenblick, es nicht getan zu haben. Der große Saal war überfüllt, und trotz der offen stehenden Fenster stank es nach Schweiß und Erschöpfung – und der verzweifelten Angst, die von den hunderten Namen auf jenen Listen aufzusteigen schien.
Sobald er ins Freie getreten war, breitete Lucivar seine dunklen Flügel aus, bis sie ihre volle Spannweite erreicht hatten. Er wusste selbst nicht, ob er es aus Trotz für all die Male tat, als diese natürliche Bewegung ihm einen Peitschenhieb eingebracht hatte, oder ob er lediglich die Sonne und den Wind einen Augenblick auf seiner Haut spüren wollte, nachdem er sich etliche Stunden in dem Gebäude aufgehalten hatte – vielleicht rief er sich auch nur auf diese Art und Weise in Erinnerung, dass er jetzt der Käufer war und nicht länger die feilgebotene Ware.
Lucivar legte die Flügel wieder an und ging auf die hinterste Ecke des Basargeländes zu, die dem eyrischen ›Lager‹ vorbehalten war.
Er hatte einige eyrische Namen gesehen, die für ihn von Interesse waren, allerdings nicht den einen Namen – den hayllischen Namen –, welcher der Hauptgrund war, weswegen er die letzten Stunden damit verbracht hatte, jene verfluchten Listen zu durchforsten. Doch er hatte bereits die letzten fünf Jahre auf den Listen nach Daemons Namen gesucht; seitdem die Narren des Dunklen Rates entschieden hatten, dieser zweimal jährlich stattfindende ›Dienstbasar‹ sei die beste Methode, um die Leute geordnet einreisen zu lassen, die zu hunderten aus Terreille flohen und versuchten, in Kaeleer Fuß zu fassen. Jedes Mal dachte er darüber nach, warum Daemons Name nicht darunter war. Und wie jedes Mal ließ er nur eine einzige Erklärung gelten: Er suchte einfach nicht nach dem richtigen Namen.
Sehr wahrscheinlich war das allerdings nicht. Egal, unter welchem Namen Daemon Sadi nach Kaeleer gelangte, auf dem Basar würde er sich seines eigenen bedienen. Hier gab es zu viele Leute, die ihn wiedererkennen könnten. Außerdem war es verboten, bezüglich der Juwelen zu lügen, die man trug, und auf Zuwiderhandlung stand die sofortige Ausweisung aus dem Reich – man wurde entweder zurück nach Terreille oder in den endgültigen Tod geschickt. Seinen Namen zu ändern, gleichzeitig aber zuzugeben, dass er im Besitz der schwarzen Juwelen war, würde ihn wie einen Narren aussehen lassen, denn er war der einzige Mann neben dem Höllenfürsten, der jemals in der Geschichte des Blutes Schwarz getragen hatte. Die Dunkelheit wusste, dass Daemon vieles war, aber ein Narr war er nicht!
Noch während Lucivar versuchte, seine eigene Enttäuschung zu verdrängen, fragte er sich, wie er seinen Misserfolg Ladvarian erklären sollte. Der Sceltiekrieger hatte so nachdrücklich darauf bestanden, dass Lucivar die Listen diesmal ganz besonders sorgfältig durchgehen sollte. Er war sich seiner Sache so sicher gewesen. Vielleicht hätte es manch einer eigenartig gefunden, dass er sich Sorgen darum machte, einen Hund zu enttäuschen, der ihm gerade mal bis an die Knie reichte, doch wenn der beste Freund dieses Tiers eine gewaltige Raubkatze von dreihundertfünfzig Kilo war, nahm man die verletzten Gefühle des Vierbeiners besser nicht auf die leichte Schulter.
Lucivar schob diese Gedanken beiseite, sobald er das so genannte eyrische Lager erreichte: ein großer Pferch, der aus kahler, zertrampelter Erde, einer schlecht zusammengezimmerten Kaserne, einer Wasserpumpe und einem riesigen Trog bestand. Gar nicht so anders als die Sklavenhütten in Terreille. Oh, natürlich gab es bessere Unterbringungsmöglichkeiten für diejenigen, die noch genügend Gold- oder Silbermünzen besaßen, um dafür bezahlen zu können. Dort bekam man dann sogar heißes Wasser und ein Bett, das nicht nur aus einem Schlafsack auf dem Boden bestand. Doch für die meisten war es so wie hier: Es kostete sie Mühe, auch nur einigermaßen vorzeigbar auszusehen, nachdem sie tagelang gewartet, gerätselt und gehofft hatten. Selbst bei einem Volk, dem die Arroganz zur zweiten Natur geworden war, konnte er die Erschöpfung spüren, die von zu wenig Essen, zu wenig Schlaf und permanenter Anspannung herrührte. Die Verzweiflung lag beinahe greifbar in der Luft.
Er öffnete das Tor und trat ein. Die meisten Frauen hielten sich nicht weit von der Kaserne auf. Der Großteil der Männer stand in kleinen Gruppen in der Nähe des Tors. Manche warfen ihm einen Blick zu und beachteten ihn dann nicht weiter. Ein paar versteiften sich und blickten fort, womit sie ihn auf dieselbe Art abtaten, wie sie ihn damals als Jungen mit Verachtung gestraft hatten, als er noch selbst geglaubt hatte, ein Bastard zu sein.
Ein paar Männer kamen jedoch auf ihn zu, jede ihrer Bewegungen eine stumme Herausforderung.
Lucivar quittierte ihr Gebaren mit einem langsamen, arroganten Lächeln. Dann kehrte er ihnen einfach den Rücken und ging auf einen Krieger zu, dessen ganze Aufmerksamkeit zwei Jungen galt, die das Kämpfen mit der Stange übten.
Einer der Jungen bemerkte Lucivar und verschwendete von da an keinen Gedanken mehr an seinen Sparringspartner. Der andere Junge nutzte die Gelegenheit und versetzte seinem Gegner einen Schlag in die Magengrube.
»Beim Feuer der Hölle, Junge«, meinte der Krieger derart erbost, dass Lucivar grinsen musste. »Du kannst von Glück sagen, dass du bloß Magenschmerzen hast und nicht eine Delle in deinem Dickschädel! Du hast nicht aufgepasst.«
»Aber…« Der Junge begann den Arm zu heben, um auf Lucivar zu deuten.
Der Krieger versteifte sich, drehte sich jedoch nicht um. »Wenn du dir Sorgen um den Mann machst, der dich noch gar nicht erreicht hat, wird dich derjenige umbringen, mit dem du bereits kämpfst.« Dann wandte er sich langsam um und riss die Augen auf.
Lucivars Grinsen wurde breiter. »Du verweichlichst auf deine alten Tage, Hallevar. Früher hätte ich nach dem Hieb in den Bauch anschließend zur Strafe eine Ohrfeige von dir bekommen. «
»Passiert es dir seitdem etwa mitten im Kampf, dass du nicht aufpasst?«, knurrte Hallevar.
Lucivar lachte nur.
»Warum beschwerst du dich dann? Steh still, Junge, und lass dich ansehen.«
Den beiden Jungen standen die Münder offen ob der Respektlosigkeit, mit der Hallevar einen Kriegerprinzen behandelte. Die Männer, die Lucivar bemerkt hatten und mit ihm sprechen – oder kämpfen – wollten, hatten zu seiner Rechten einen Halbkreis gebildet. Doch er rührte sich nicht, während Hallevar ihn ausführlich musterte. Er reagierte nicht auf das leise, anerkennende Knurren des älteren Mannes und verbiss sich ein Lachen, als Hallevar das dichte schwarze Haar, das Lucivar bis auf die Schultern hing, mit einem missbilligenden Blick bedachte.
Mit seiner Frisur verstieß er gegen die Tradition, denn eyrische Krieger trugen ihr Haar kurz, um es einem Feind unmöglich zu machen, daran zu reißen. Nachdem er jedoch vor acht Jahren aus den Salzminen von Pruul entkommen und in Kaeleer gelandet war, anstatt zu sterben, hatte er mehr als diese eine Tradition von sich abgeschüttelt – und war auf diese Weise auf andere Bräuche gestoßen, die noch älter waren.
»Nun«, meinte Hallevar schließlich mürrisch, »du bist groß und stark geworden, und auch wenn dein Gesicht nicht mal halb so hübsch ist wie das des sadistischen Bastards, den du deinen Bruder nennst, werden sich die Ladys davon betören lassen, wenn es dir gelingt, dein Temperament lange genug im Zaum zu halten.« Er massierte sich den Nacken. »Aber dies ist der letzte Tag des Basars. Es bleibt dir nicht viel Zeit, um Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.«
»Das Gleiche gilt für dich«, entgegnete Lucivar. »Und mit diesen Welpen herumzutollen wird niemandem zeigen, was wirklich in dir steckt.«
»Wer will schon zähen Knorpel, wenn er frisches Fleisch haben kann?«, murmelte Hallevar und wandte den Blick ab.
»Hör auf, dein eigenes Grab zu schaufeln«, fuhr Lucivar ihn an. Es gefiel ihm nicht, wie erleichtert er war, als in Hallevars Augen Zorn aufflackerte. »Du bist ein erfahrener Kämpfer und geübter Waffenmeister, vor dem noch genug Jahre liegen, um ein oder zwei weitere Generationen zu tüchtigen Kämpfern auszubilden. Das hier ist bloß ein anderes Schlachtfeld, also greif zur Waffe und zeig, was in dir steckt.«
Gegen seinen Willen musste Hallevar lächeln.
Um sein Gleichgewicht wiederzufinden, richtete Lucivar seine Aufmerksamkeit auf die übrigen Männer. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie ein paar der Frauen mit Kleinkindern herüberkamen.
Entschlossen verdrängte er die Gefühle, die zu nah an der Oberfläche brodelten. Er musste seine Wahl sorgsam und bedächtig treffen. Es gab Leute, die sich an die Art, wie die Angehörigen des Blutes in Kaeleer lebten, gewöhnen und sich selbst hier ein schönes Leben einrichten konnten; doch genauso gab es solche, die rasch und gewaltsam sterben würden, weil sie sich nicht anpassen konnten oder wollten. Während der ersten beiden Basare hatte er einige Male die falsche Wahl getroffen und Vertrauen geschenkt, wo es nicht angebracht gewesen war. Seitdem lastete die Schuld für die ruinierten Leben zweier Hexen auf ihm, die brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt worden waren – und die Erinnerung an die rasende Wut und den Ekel, die er verspürt hatte, als er die beiden eyrischen Männer hinrichtete, die dafür verantwortlich gewesen waren. Danach hatte er einen Weg gefunden, um seine Entscheidungen abzusichern. Seinem eigenen Urteil hatte er nicht immer vertraut, doch Jaenelles Wort hatte er niemals angezweifelt.
»Lucivar.«
Lucivar richtete seine Aufmerksamkeit auf den Kriegerprinzen mit dem Saphir, der an die Spitze der Gruppe getreten war. »Falonar.«
»Prinz Falonar«, fauchte Falonar.
Lucivar entblößte die Zähne zu einem breiten Grinsen. »Ich dachte, es gehe hier nicht förmlich zu, da ich mir sicher bin, dass ein Aristokrat wie du ansonsten die Höflichkeit besäße, mich zuerst mit meinem Titel zu begrüßen.«
»Weshalb sollte ich dich höflich grüßen?«
»Weil ich derjenige bin, der Schwarzgrau trägt«, erwiderte Lucivar mit trügerisch sanfter Stimme, wobei er sein Gewicht gerade weit genug verlagerte, um den anderen Mann die Herausforderung sehen und seine Wahl treffen zu lassen.
»Hört sofort damit auf, alle beide«, mischte Hallevar sich ein. »Wir befinden uns hier auf unsicherem Terrain, und es nutzt niemandem, wenn man uns den Boden unter den Füßen wegzieht, bloß weil ihr beiden euch fortwährend beweisen wollt, wer den längeren Schwanz hat. Ich habe euch beide verdroschen, als ihr noch rotznäsige Bengel wart, und ich kann es immer noch tun.«
Lucivar spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel, und trat einen Schritt zurück. Hallevar wusste so gut wie er selbst, dass er den älteren Mann mit den Händen oder mithilfe mentaler Gewalt in Stücke reißen konnte, doch Hallevar war einer der wenigen Leute gewesen, die den vielversprechenden Krieger in ihm gesehen und sich nicht um seine Blutlinien gekümmert hatten – beziehungsweise um deren Fehlen.
»Das ist schon besser.« Hallevar schenkte Lucivar ein anerkennendes Nicken. »Und nun zu dir, Falonar. Man hat dir das eine oder andere Angebot unterbreitet, was mehr ist, als die meisten von uns vorzuweisen haben. Vielleicht solltest du besser eines davon in Erwägung ziehen.«
Die Muskeln in Falonars Gesicht zuckten. Er atmete tief durch. »Wahrscheinlich sollte ich das. Der Bastard lässt sich ohnehin nicht mehr blicken.«
»Welcher Bastard?«, erkundigte sich Lucivar freundlich. Mehr Frauen und einige Männer, die sich eben noch geweigert hatten, ihn anzuerkennen, waren inzwischen herangeschlendert.
Ein junger Krieger antwortete: »Der Kriegerprinz von Ebon Rih. Wir haben gehört …«
»Ihr habt gehört …?«, bohrte Lucivar nach, als der Krieger seinen Satz nicht beendete. Ihm fiel auf, dass der Mann einen Schritt auf eine Hexe zutrat, die ein süßes kleines Mädchen auf dem Arm hielt. Lucivar kniff die goldenen Augen zusammen, während er seinen Geist ein Stück weiter öffnete. Eine kleine Königin. Sein Blick wanderte zu dem Jungen, der sich mit beiden Fäusten am Rock der Frau festklammerte. Dort war Potenzial vorhanden. Lucivar konnte spüren, wie sich etwas in seinem Innern regte, Gestalt annahm. »Was habt ihr gehört? «
Der Krieger schluckte hart. »Man hat uns gesagt, er sei ein hartgesottener Bastard, aber gerecht, wenn man ihm gut dient. Und er …«
Die Angst in den Augen der Frau und die Art, wie ihre braune Haut erbleichte, reizte Lucivars Temperament. »Und er pflügt keine Frau, die ihn nicht dazu eingeladen hat?«
Ganz aus der Nähe schlug Lucivar ein Aufflackern weiblichen Zorns entgegen. Bevor er die Quelle ermitteln konnte, fielen ihm die Kinder ein, die wahrscheinlich bereits zu viele Narben mit sich herumtrugen. »Ihr habt richtig gehört. Das tut er nicht.«
Falonar bewegte sich und bot somit Lucivars Aufmerksamkeit – und seinem Groll – eine angemessenere Zielscheibe. Dann bedachte Lucivar Hallevar mit einem durchdringenden Blick und anschließend zwei weitere Männer, die er gekannt hatte, bevor Jahrhunderte der Versklavung ihn von den eyrischen Höfen und Jagdlagern entfernt hatten.
»Darauf habt ihr gewartet?« Obwohl es ihn Mühe kostete, sprach er in neutralem Tonfall.
»Würdest du das nicht auch tun?«, antwortete Hallevar. »Es mag nicht das Territorium sein, das wir aus Terreille kennen, aber sie nennen es hier ebenfalls Askavi, und vielleicht werden wir hier nicht so fremd sein.«
Lucivar biss die Zähne zusammen. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Er musste seine Wahl treffen, und er musste sie jetzt treffen. An Falonar gewandt, fragte er: »Wirst du jedes Mal daran ersticken, wenn ich dir etwas befehle?«
Falonar versteifte sich. »Weshalb sollte ich ausgerechnet von dir Befehle entgegennehmen?«
»Weil ich der Kriegerprinz von Ebon Rih bin.«
Schock. Angespanntes Schweigen. Manche der Männer – nicht gerade wenige –, die herübergewandert waren, betrachteten ihn voll Abscheu und zogen von dannen.
»Du hast bereits einen Vertrag?«, wollte Falonar wissen, dessen Augen nur mehr schmale Schlitze waren.
»Schon seit langem. Denk gut nach, Prinz Falonar. Wenn es dich Überwindung kosten sollte, mir zu dienen, solltest du lieber eines deiner anderen Angebote annehmen, denn wenn du gegen meine Regeln verstößt, werde ich dich in der Luft zerreißen. Und du – und alle, die hier gewartet haben – solltest besser daran denken, was Ebon Rih ist.«
»Es ist das Territorium des Bergfrieds«, sagte Hallevar. »Genau wie das Schwarze Tal in Terreille. Das wissen wir.«
Lucivar nickte, ohne je den Blick von Falonar abzuwenden. »Es gibt jedoch einen großen Unterschied.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich diene am Dunklen Hof des Schwarzen Askavi.«
Etliche Leute stießen ein Keuchen aus. Falonars Augen weiteten sich ungläubig. Dann betrachtete er das schwarzgraue Juwel, das von einer Goldkette an Lucivars Hals hing, doch es war ein abwägender Blick, kein beleidigender. »Es gibt dort wirklich eine Königin?«, fragte er gedehnt.
»Oh ja«, erwiderte Lucivar leise. »Es gibt dort eine Königin. Ihr solltet außerdem Folgendes wissen: Ich präsentiere ihr meine Auswahl derer, die mir in Ebon Rih dienen sollen, doch die endgültige Entscheidung liegt bei ihr. Wenn sie Nein sagt, müsst ihr gehen.« Er sah die angespannt schweigenden Leute an, die wiederum ihn beobachteten. »Es bleibt nicht viel Zeit, meine Wahl zu treffen. Ich werde am Tor warten. Jeder, der Interesse hat, kann dort mit mir sprechen.«
Als er auf das Tor zuging, konnte er die Blicke der anderen in seinem Nacken spüren. Er hielt ihnen den Rücken zugewandt und betrachtete die Pferche, die man als Wartebereiche für die anderen Völker errichtet hatte. Seinen wachsamen Augen entging nichts.
Es sollte keine Rolle mehr spielen. Er hatte hier einen Platz gefunden, eine Familie und eine Königin, die er liebte, und der zu dienen er als Ehre empfand. Man respektierte ihn aufgrund seiner Intelligenz, seines kämpferischen Geschicks und der Juwelen, die er trug. Und man mochte und liebte ihn um seiner selbst willen.
Doch siebzehnhundert Jahre lang hatte er in dem Glauben gelebt, ein Mischling und Bastard zu sein, und die Beleidigungen und Schläge, die er als Junge in den Jagdlagern hatte hinnehmen müssen, hatten dazu beigetragen, das furchtbare Temperament zu formen und zu steigern, das er von seinem Vater geerbt hatte. Die Höfe, an denen er anschließend als Sklave gedient hatte, hatten ihm den letzten grausamen Schliff verpasst.
Es sollte keine Rolle mehr spielen. Es spielte keine Rolle mehr! Er würde nicht zulassen, dass er weiter deshalb litt. Doch ihm war klar, dass viel Zeit verstreichen würde, bis der Kriegerprinz von Ebon Rih je wieder auf den Dienstbasar zurückkehrte, sollte Hallevar sich entscheiden, nach Terreille zurückzukehren oder die Krümel anzunehmen, die ihm an einem anderen Hof geboten wurden, um nur nicht einen Vertrag mit ihm unterzeichnen zu müssen.
»Prinz Yaslana.«
Der Widerwille in Falonars Stimme brachte Lucivar beinahe zum Lächeln, doch er verzog keine Miene, als er sich zu dem anderen Mann umdrehte. »Kostet es dich bereits Überwindung? « Die vorsichtige Bedachtsamkeit in Falonars Augen überraschte ihn.
»Wir haben einander nie gemocht, aus vielerlei Gründen. Wir müssen einander auch jetzt nicht mögen, um zusammenarbeiten zu können. Wir haben gemeinsam gegen die Jhinka gekämpft. Du weißt, wozu ich in der Lage bin.«
»Damals waren wir als Kämpfer noch grün hinter den Ohren und haben die Befehle eines anderen ausgeführt«, gab Lucivar zu bedenken. »Hier liegt die Sache anders.«
Falonar nickte ernst. »Die Sache liegt anders. Doch für die Möglichkeit, in Ebon Rih zu dienen, bin ich gewillt, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wie sieht es mit dir aus?«
Sie waren Rivalen gewesen, Konkurrenten, zwei junge Kriegerprinzen, die um die Vorherrschaft kämpften. Falonar war in den Ersten Kreis der Hohepriesterin von Askavi aufgestiegen. Er hingegen war in der Sklaverei gelandet.
»Kannst du Befehlen gehorchen?«, wollte Lucivar wissen. Es war keine törichte Frage. Kriegerprinzen setzten sich über jegliche Konventionen hinweg und taten, was ihnen beliebte. Wenn ihr Herz nicht bei der Sache war, fiel es keinem von ihnen leicht, sich Befehlen zu beugen. Und auch sonst war es nicht immer einfach.
»Ich kann Befehlen gehorchen«, antwortete Falonar entschieden und fügte dann kaum hörbar hinzu: »Wenn ich sie erträglich finde.«
»Und du bist gewillt, meine Regeln zu befolgen, selbst wenn es bedeutet, auf einige der Privilegien zu verzichten, die du gewohnt bist?«
Falonars goldene Augen verengten sich zu Schlitzen. »Und du brichst keine Regeln mehr?«
Die Frage überraschte Lucivar und entlockte ihm ein Lachen. »Oh, manchmal breche ich noch welche. Und erhalte daraufhin einen ordentlichen Tritt in den Allerwertesten.«
Falonar öffnete den Mund, um ihn gleich darauf wieder zu schließen.
»Der Haushofmeister und der Hauptmann der Wache«, sagte Lucivar trocken und beantwortete damit die Frage, die unausgesprochen geblieben war.
»Deine Juwelen sollten dir einen gewissen Einfluss gewähren. « Falonar neigte den Kopf in Richtung von Lucivars schwarzgrauem Juwel.
»Nicht bei den beiden.«
Erst wirkte Falonar verblüfft, dann grüblerisch. »Wie lange bist du schon hier?«
»Acht Jahre.«
»Dann ist die Laufzeit deines Vertrags längst vorüber.«
Lucivar schenkte Falonar ein grimmiges Lächeln. »Spar dir deinen Ehrgeiz für andere auf, Prinz. Mein Vertrag gilt ein Leben lang.«
Auf der Stelle versteifte Falonar sich. »Ich dachte, Kriegerprinzen müssten fünf Jahre lang an einem Hof dienen.«
Lucivar nickte. Gleichzeitig musste er sich Mühe geben, der Freude Herr zu werden, die in ihm aufgestiegen war, als er Hallevar auf sich zukommen sah. »So ist es.« Er lächelte schelmisch. »Die Lady hat nur drei Jahre gebraucht, bis sie merkte, dass ich um einiges länger bei ihr zu bleiben gedachte.«
Falonar zögerte. »Wie ist sie?«
»Wunderbar. Schön. Furchterregend.« Lucivar musterte Falonar abschätzend. »Kommst du mit nach Ebon Rih?«
»Ich komme mit nach Ebon Rih.« Falonar nickte Hallevar zu und trat zur Seite, um dem älteren Mann Platz zu machen.
»Ich möchte bei dir in den Dienst treten«, platzte es aus Hallevar heraus.
»Aber?«, erkundigte sich Lucivar.
Hallevar blickte über die Schulter zu den beiden Jungen, die in Hörweite hinter ihm standen. Dann wandte er sich wieder an Lucivar. »Ich habe behauptet, sie seien meine Söhne.«
»Und sind sie es?«
Hallevars Augen funkelten zornig. »Wenn es meine Söhne wären, hätte ich sie anerkannt, egal, ob die Mütter meine Vaterschaft leugnen oder nicht. Ein Kind wird nicht als Bastard betrachtet, wenn in den offiziellen Unterlagen ein Erzeuger vermerkt ist, selbst wenn dem Mann nicht die Gelegenheit gegeben wird, ein Vater zu sein.«
Die Worten trafen ins Schwarze. Prythian, die Hohepriesterin von Askavi in Terreille, und Dorothea SaDiablo hatten ihre lügnerischen Intrigen gesponnen, um ihn von seiner Mutter Luthvian zu trennen. Außerdem hatten sie die Dokumente bezüglich seiner Geburt gefälscht, da sie nicht wollten, dass irgendjemand erfuhr, wer sein Vater war. Mit Verblüffung hatte er schließlich festgestellt, dass die Bitterkeit, die er wegen jenes Betrugs empfand, nichts im Vergleich zu dem Zorn war, den Saetan darüber empfand.
»Der eine hat eine Mutter, die eine Hure in einem Haus des Roten Mondes ist«, erklärte Hallevar. »Es ist nicht verwunderlich, dass sie nicht weiß, wessen Samen sie in sich trug. Die andere Frau war bekanntermaßen die Geliebte eines aristokratischen Kriegers. Die Hexe, die er geheiratet hatte, war unfruchtbar, und wie jeder wusste, sorgte er dafür, dass seine Geliebte keine anderen Männer in ihr Bett einlud. Er wollte das Kind und hätte es auch anerkannt. Doch als es zur Welt kam, benannte sie ein Dutzend Männer bei Hofe, von denen sie behauptete, sie kämen als Erzeuger in Frage. Sie log absichtlich, weil sie sich am Vater rächen wollte, und verurteilte so das Kind.«
Lucivar nickte nur und kämpfte gegen die Wut an, die in ihm schwelte.
»Das hier ist ein fremder Ort«, bat Hallevar inständig. »Eine Chance für einen Neuanfang. Du weißt doch, wie es ist. Du solltest es besser als jeder andere verstehen. Sie sind nicht stark wie du. Keiner von beiden wird jemals dunkle Juwelen tragen. Aber es sind gute Jungen, und sie werden keine Arbeit scheuen. Außerdem sind es vollblütige Eyrier«, ergänzte er.
»Dann tragen sie also nicht den Makel, Mischlinge zu sein?«, fragte Lucivar mit einiger Selbstbeherrschung.
»Ich habe dieses Wort dir gegenüber nie benutzt«, erwiderte Hallevar leise.
»Nein, das hast du nicht. Aber es kommt einem leicht genug über die Lippen, wenn man nicht nachdenkt. Sei gewarnt, Lord Hallevar. Es ist ein Wort, das du am besten völlig aus deinem Gedächtnis streichst, denn ich wäre nicht in der Lage, dich zu retten, wenn du es im Beisein meines Vaters in den Mund nimmst.«
Entgeistert starrte Hallevar ihn an. »Dein Vater ist hier? Du kennst ihn?«
»Ich kenne ihn. Und du kannst mir glauben, dass du noch nie einen richtigen Wutausbruch erlebt hast, wenn du meinen Vater noch nicht rasend gesehen hast.«
»Ich werde es mir merken. Was ist mit den Jungen?«
»Keine falschen Versprechungen, Hallevar. Ich werde sie der Königin vorführen, und sie benötigen ihre Einwilligung, genau wie die anderen Männer.«
Offensichtlich erleichtert lächelte Hallevar. »Ich werde ihnen sagen, dass sie unsere Sachen holen sollen.« Auf einen kurzen Wink von ihm stürzten die beiden Jungen auf die Kaserne zu. Ohne Lucivar anzusehen, fragte er: »Ist er stolz auf dich?«
»Wenn er mich nicht gerade erwürgen möchte.«
Als Hallevar versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, fing er an zu keuchen. »Ich würde ihn gerne kennen lernen.«
»Das wirst du«, versprach Lucivar trocken.
Andere näherten sich ihm nun. Entweder hatten sie gewartet, um zu sehen, ob er die Ersten annähme, oder weil sie ein wenig Zeit benötigten, um ihren Mut zusammenzunehmen.
Unter ihnen war auch der junge Krieger, Endar, seine Frau Dorian, ihr Sohn Alanar und die kleine Königin Orian.
Die Frau wirkte verängstigt, der Mann angespannt. Doch das kleine Mädchen schenkte Lucivar ein bezauberndes Lächeln und streckte die Ärmchen nach ihm aus.
Lucivar nahm die Kleine, setzte sie sich auf die Hüfte und grinste. »Bilde dir ja nichts ein, Sonnenschein. Ich bin schon vergeben«, erklärte er der Kleinen, während er sie sanft kitzelte und zum Kichern brachte. Als er das Mädchen wieder seiner Mutter reichte, starrte Dorian ihn an, als sei ihm soeben ein zweiter Kopf gewachsen.
Als Nächstes kam Nurian, eine Heilerin, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte, und ihre jüngere Schwester Jillian, die kurz davor stand, vom Mädchen zur Frau zu werden.
Dann waren da noch Kohlvar, ein Waffenschmied, und Rothvar und Zaranar, zwei Krieger, an die sich Lucivar noch aus den Jagdlagern erinnern konnte.
Ein Gedanke nagte an Lucivar, als er sich mit ihnen unterhielt. Warum waren sie hier? Was die Maßstäbe der langlebigen Völker betraf, war Kohlvar noch ein Jüngling gewesen, als Lucivar das erste Mal aus Askavi fortgeschickt worden war. Selbst damals war Kohlvar für die Stärke und gute Balance seiner Waffen bekannt gewesen, obgleich er seine Lehre gerade erst beendet hatte. Es hätte ihm möglich sein sollen, in Terreille gut zu verdienen und sich von den Intrigen bei Hofe fernzuhalten, wenn er es gewünscht hätte. Rothvar und Zaranar waren erfahrene Kämpfer, die an den meisten Höfen von Askavi eine Stelle gefunden oder je nach Wunsch unabhängige Auftragsarbeit hätten annehmen können.
Und weshalb sollte ein aristokratischer Kriegerprinz wie Falonar Terreille verlassen wollen?
Das Misstrauen in ihm wuchs. War die Lage in Terreille viel schlimmer, als sie bislang angenommen hatten, oder hatten diese Männer sich aus einem anderen Grund hier eingefunden?
Er verdrängte die Gedanken wieder. Bei den Leuten, die an ihn herangetreten waren, hatte er nicht das Geringste verspürt, das ihn dazu bewegt hätte, sich gegen sie zu entscheiden. Also würde er die Frage erst einmal ruhen lassen. Janelle sollte urteilen.
Als der letzte Mann gegangen war, um seine Sachen zu holen, hatte Lucivar sich bereit erklärt, zwanzig Männer und ein Dutzend Frauen mitzunehmen.
Wie viele von ihnen würden die gesamte Laufzeit ihrer Verträge überleben?, fragte er sich, während sie mit den wenigen Habseligkeiten, die sie hatten mit sich bringen dürfen, auf ihn zugeeilt kamen. In Kaeleer lauerten fremde Gefahren auf sie, die ihre Erwartungen überstiegen. Außerdem gab es die Dämonentoten. Wenn man bedachte, wo er seine Schützlinge hinführen würde, mussten sie sich schnell daran gewöhnen, dass die Dämonentoten mitten unter ihnen wandelten.
Er holte tief Atem und ließ die Luft langsam wieder aus seinen Lungen entweichen. »Bereit?«
Mit Belustigung, aber ohne sonderlich überrascht zu sein, stellte er fest, dass Falonar den Blick über die Gruppe schweifen ließ und ihm antwortete, als habe er den Mann bereits zu seinem stellvertretenden Kommandeur ernannt.
»Wir sind bereit.«
2 Kaeleer
Daemon Sadi überkreuzte die Beine, legte die Finger aneinander und stützte das Kinn auf seine langen, schwarz gefärbten Nägel. »Was ist mit den Königinnen der anderen Territorien? «, fragte er mit seiner tiefen, kultivierten Stimme.
Lord Jorval lächelte matt. »Wie ich schon sagte, Prinz Sadi, sind die Königinnen außerhalb von Kleinterreille nicht erpicht darauf, ihre terreilleanischen Brüder und Schwestern an ihren Höfen aufzunehmen, und selbst diejenigen Einwanderer, die einen Vertrag bekommen, werden alles andere als willkommen geheißen.«
»Hast du dich erkundigt?« Daemons goldene Augen wurden leicht glasig. Ein Fremder oder flüchtiger Bekannter hätte eventuell den Eindruck gewonnen, er sei müde oder gelangweilt, doch jener schläfrige Blick hätte jeden, der ihn wirklich kannte, in Angst und Schrecken versetzt.
»Ich habe mich erkundigt«, erwiderte Jorval ein wenig gereizt. »Die Königinnen haben mir nicht geantwortet.«
Daemon warf einen Blick auf die vier Blätter, die auf dem Tisch vor ihm lagen. Im Verlauf der letzten beiden Tage hatten Jorval und er sechs Mal in diesem Zimmer gesessen. Jene vier Seiten Papier, welche die vier Königinnen auflisteten, die an seinen Diensten interessiert waren, waren ihm bereits während des ersten Treffens unterbreitet worden. Es waren die einzigen Angebote gewesen.
Seufzend faltete Jorval die Hände. »Du musst Verständnis dafür haben. Ein Kriegerprinz wird als gefährliche Kraft betrachtet, selbst wenn er ein helleres Juwel trägt und bei seinem eigenen Volk dient. Ein Mann deiner Stärke und von deinem Ruf …« Er zuckte mit den Schultern. »Mir ist klar, dass du vielleicht etwas anderes erwartet haben magst. Die Dunkelheit weiß, wie viele es gibt, die mit völlig unrealistischen Vorstellungen hierher kommen, was das Leben in Kaeleer betrifft. Doch ich kann dir versichern, Prinz, dass es ungewöhnlich ist, dass überhaupt vier Königinnen die Herausforderung annehmen und dich die nächsten fünf Jahre an ihren Höfen dienen lassen wollen – solche Gelegenheiten sollte man nicht so einfach ausschlagen.«
Daemon ließ sich nicht anmerken, dass die Warnung ihn wie ein Schlag ins Gesicht getroffen hatte. Nein, er konnte die klägliche Auswahl, die sich ihm bot, nicht ablehnen, wenn er in Kaeleer bleiben wollte. Doch er war sich nicht sicher, ob er eine dieser Frauen lange genug würde ertragen können, um das zu tun, wozu er eigentlich hergekommen war. Abgesehen davon fragte er sich unwillkürlich, wie groß das Geschenk sein mochte, das Jorval von der Königin erhielt, für die er sich letztendlich entscheiden würde.
Auf einmal war ihm alles zu viel: der Schlafentzug, der Druck, eine widerwärtige Entscheidung treffen zu müssen, seine Nerven, die aufgrund seines Vorhabens zum Zerreißen gespannt waren – und die Fragen, die in ihm aufgestiegen waren, als er die Gerüchte auf dem Dienstbasar vernommen hatte.
»Ich werde mir Gedanken darüber machen und dich meine Entscheidung wissen lassen.« Daemon bewegte sich mit einer graziösen Schnelligkeit, die an eine Raubkatze erinnerte, auf die Tür zu.
»Prinz Sadi!«, rief ihm Jorval ungehalten hinterher.
Daemon blieb an der Tür stehen und wandte sich um.
»Die letzte Glocke klingelt in weniger als einer Stunde. Wenn du bis dahin keine Wahl getroffen hast, wirst du nicht länger eine haben. Dann wirst du das erste Angebot, das man dir unterbreitet, annehmen oder Kaeleer wieder verlassen müssen.«
»Dessen bin ich mir bewusst, Lord Jorval«, erwiderte Daemon eine Spur zu sanft.
Er ließ das Gebäude hinter sich, steckte die Hände in die Hosentaschen und wanderte ziellos umher.
Lord Jorval war ihm ein Gräuel. Etwas stimmte mit der mentalen Signatur des Mannes nicht, sie wirkte unrein. Und hinter den dunklen, flachen Augen verbarg sich zu viel. Von ihrer ersten Begegnung an hatte Daemon gegen das instinktive Verlangen ankämpfen müssen, seiner Wut freien Lauf zu lassen und den schmächtigen Krieger still und heimlich in ein tiefes Grab zu befördern.
Warum hatte Lord Magstrom ihn an Jorval abgeschoben? Daemon hatte sich kurz mit dem alten Mann unterhalten, als er spät am dritten Tag des Basars in Goth eingetroffen war. Trotz seines Misstrauens war er gewillt gewesen, Magstroms Urteil zu vertrauen. Als er von seinem Wunsch gesprochen hatte, an einem Hof außerhalb von Kleinterreille zu dienen, hatten Magstroms blaue Augen vergnügt gefunkelt.
Die Königinnen außerhalb von Kleinterreille sind sehr wählerisch, hatte Magstrom gesagt. Aber für einen Mann wie dich besitzen sie einen großen Vorteil: Sie wissen, wie man mit Männern umzugehen hat, die dunkle Juwelen tragen.
Magstrom hatte versprochen, Erkundigungen einzuziehen, und sie hatten ein Treffen früh am nächsten Morgen ausgemacht. Doch als Daemon sich zu dem Treffen einfand, wartete dort Lord Jorval mit den Namen von vier Königinnen auf ihn, die sein Leben in den nächsten fünf Jahren kontrollieren wollten.
Unappetitliche Essensgerüche, die er im Vorbeigehen aufschnappte, verschlechterten seine ohnehin nicht gute Laune noch, da sie ihn daran erinnerten, dass er in den letzten zwei Tagen so gut wie nichts zu sich genommen hatte. Das Gemisch aus starken Parfums und ebenso starken Körperausdünstungen, das ihn hier überall umgab, rief ihm wieder in Erinnerung, weshalb er nichts gegessen hatte.
Doch sowohl seine Schlaflosigkeit als auch sein fehlender Hunger lagen jedoch größtenteils an den Fragen, auf die es keine Antworten gab. Jedenfalls nicht an diesem Ort.
Er hatte fünf Jahre verstreichen lassen, bis er nach dem Verlassen des Verzerrten Reiches nach Kaeleer gekommen war. Grund zur Eile hatte es nicht gegeben. Jaenelle hatte nicht auf ihn gewartet, wie sie es versprochen hatte, als sie ihm den Weg aus dem Wahnsinn gewiesen hatte. Er wusste noch immer nicht, was tatsächlich geschehen war, als er versucht hatte, Jaenelle aus dem Abgrund empor zu holen, um ihren Körper zu retten. Seine Erinnerungen an jene Nacht vor dreizehn Jahren waren unklar, und es fehlten weiterhin etliche Teile. Verschwommen konnte er sich daran erinnern, dass ihm jemand gesagt hatte, Jaenelle sei gestorben – dass der Höllenfürst einen Mann getäuscht und zu seinem Instrument gemacht habe, um ein außergewöhnliches Kind umzubringen.
Als Jaenelle also nicht auf der Insel gewesen war, auf der Surreal und Manny ihn versteckt gehalten hatten, und als Surreal ihm von dem Schatten erzählte, den Jaenelle erschaffen hatte, um ihn aus dem Verzerrten Reich zu holen …
Die letzten fünf Jahre hatte er in dem Glauben gelebt, er habe das Kind getötet, das seine Königin gewesen war; dass sie den letzten Rest ihrer Kraft aufgewandt hatte, um ihn aus dem Wahnsinn zu führen, damit er die Rechnung in ihrem Namen begleichen könne. Folglich hatte er die letzten fünf Jahre damit verbracht, seine Fähigkeiten in der Kunst zu verfeinern und seinen Geist so weit wie möglich genesen zu lassen, und das alles nur aus einem einzigen Grund: um nach Kaeleer zu kommen und den Mann zu töten, der ihn als Instrument benutzt hatte – seinen Vater, den Höllenfürsten.
Doch nun, da er hier war …
An diesem Ort kursierten Gerüchte und Spekulationen über die Hexen im Schattenreich, Gedankenströme, die sich leicht anzapfen ließen. Als er gestern auf dem Basar umherspaziert war, hatten ihn Gerüchte die Nerven verlieren lassen, die von einer eigenartigen, furchterregenden Hexe berichteten, welche die Seele eines Mannes mit einem einzigen Blick erfassen konnte. Die Gerüchte besagten, jeder, der einen Vertrag außerhalb von Kleinterreille unterschrieb, werde dieser Hexe vorgeführt, und jeder, der für unzureichend befunden wurde, lebte nicht lange genug, um darüber zornig zu werden.
Vielleicht hätte er jene Gerüchte abgetan, wenn in ihm nicht endlich die Ahnung aufgestiegen wäre, dass Jaenelle vielleicht tatsächlich auf ihn gewartet hatte, bloß eben nicht in Terreille. Er hatte seine geistigen Kräfte von der Trauer um Jaenelle beeinträchtigen lassen und sämtliche Erinnerungen verdrängt mit Ausnahme derjenigen an die wenigen schönen Monate, die ihm mit ihr vergönnt gewesen waren. Folglich hatte er nicht an die Verbindungen gedacht, die sie bereits damals mit Kaeleer geknüpft gehabt hatte.
Wenn sie tatsächlich im Schattenreich war, hatte er fünf Jahre verloren, die er mit ihr hätte verbringen können. Er hatte nicht vor, die nächsten fünf an einem anderen Hof zu vergeuden und sich aus der Ferne nach Jaenelle zu verzehren.
Falls sie noch am Leben sein sollte.
Eine Veränderung in den mentalen Signaturen um ihn her riss ihn aus den Gedanken. Er blickte sich um und fluchte leise.
Mittlerweile befand er sich am anderen Ende des Basargeländes. Dem Himmel nach zu urteilen würde er sich beeilen müssen, um zu dem Verwaltungsgebäude zu gelangen und seine Wahl treffen zu können, bevor die Glocke ertönte, deren Läuten das Ende des letzten Tages des Basars verkündete. Selbst wenn er es noch rechtzeitig schaffte, würde er vielleicht keine Wahl mehr haben, wenn Jorval es vorzog, nicht auf ihn zu warten.
Als er sich zum Gehen wandte, fiel ihm ein rotes Banner auf, das einen Stand markierte, an dem Hofverträge ausgestellt wurden. An der Seite standen ein paar Eyrier, während andere an der Frontseite eine Warteschlange bildeten. Doch es war ein eyrischer Krieger, dessen Anblick Daemon wie angewurzelt stehen bleiben ließ.
Der Mann trug ein Lederwams und die schwarzen, hautengen Hosen, die eyrische Krieger bevorzugten. Das schwarze Haar fiel ihm bis auf die Schultern, was für einen Eyrier ungewöhnlich war. Die Art, wie er dastand, wie er sich bewegte, wirkte schmerzlich vertraut.
Wilde Freude erfüllte Daemon, obgleich sein Herz einen Schlag auszusetzen schien. Tränen brannten plötzlich in seinen goldenen Augen. Lucivar!
Natürlich war das unmöglich. Lucivar war vor acht Jahren auf seiner Flucht aus den Salzminen von Pruul gestorben.
Dann drehte der Mann sich um. Es war tatsächlich der Todgeglaubte. Einen Moment lang glaubte Daemon, die gleiche grimmige Freude in Lucivars Augen zu sehen, bevor sie von rasender Wut abgelöst wurde.
Als Daemon den Zorn gewahrte und sich entsann, dass die offen stehende Rechnung zwischen ihnen unweigerlich in einem Blutvergießen enden musste, zog er sich hinter die kalte Maske zurück, hinter der er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, und begann in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.
Er hatte erst ein paar Schritte getan, als ihn eine Hand am rechten Arm packte und ihn herumriss.
»Wie lange bist du schon hier?«, wollte Lucivar aufgebracht wissen.
Daemon versuchte, die Hand abzuschütteln, doch Lucivars Finger hatten sich ihm tief genug ins Fleisch gebohrt, um blaue Flecken zu hinterlassen. »Seit zwei Tagen«, entgegnete Daemon mit eiskalter Höflichkeit. Er konnte spüren, wie seine Maske zu zerspringen drohte, und ihm war klar, dass er von hier fort musste, bevor er die Kontrolle über seine Gefühle verlor. In diesem Augenblick war er sich selbst nicht sicher, ob er Lucivars Zorn mit Tränen oder Wut begegnen würde.
»Hast du einen Vertrag unterschrieben?« Lucivar schüttelte ihn. »Hast du?«
»Nein, und es bleibt mir nicht viel Zeit, es zu tun. Wenn du mich also entschuldigen würdest …«
Knurrend griff Lucivar noch fester zu, wobei er Daemon beinahe zu Boden riss. »Du warst nicht auf den Listen«, murmelte er, während er Daemon in Richtung des Tisches unter dem roten Banner zerrte. »Ich habe nachgesehen. Du warst auf keiner einzigen dieser verfluchten Listen.«
»Ich entschuldige mich vielmals für die Umstän – «
»Halt gefälligst den Mund, Daemon!«
Daemon biss die Zähne zusammen und ging schneller, um mit seinem Bruder Schritt zu halten. Er wusste nicht, welches Spiel Lucivar spielte, aber er würde sich verdammt noch mal nicht wie ein kleiner, widerwilliger Welpe mitschleppen lassen.
»Sieh mal, Mistkerl«, versuchte er Lucivars launisches Temperament mit vernünftigen Argumenten zu besänftigen, »ich muss …«
»Du unterzeichnest einen Vertrag beim Kriegerprinzen von Ebon Rih.«
Daemon schnaubte aufgebracht. »Meinst du nicht, dass du das erst einmal mit ihm besprechen solltest?«
Lucivar schenkte ihm einen strengen Blick. »Für gewöhnlich tue ich Dinge, ohne sie im Vorfeld mit mir selbst zu besprechen, Bastard. Bleib hier stehen.«
Da Daemon das Gefühl hatte, der Boden unter seinen Füßen habe plötzlich zu schwanken begonnen, folgte er dem Rat nur zu bereitwillig. »Wie lange bist du schon in Kaeleer?«, fragte er, wobei sich seine Knie sehr schwach anfühlten.
»Seit acht Jahren.« Lucivar zischte, als ein älterer eyrischer Krieger den Vertrag unterschrieb und von dem Tisch zurücktrat. »Beim Feuer der Hölle! Wieso braucht dieser kleine Schreiberling so lange, um eine Zeile auszufüllen?« Dann ging er auf den Tisch zu. Er drehte sich jedoch noch einmal um und sagte mit erzwungen ruhiger Stimme: »Versuch nicht wegzulaufen. Solltest du das tun, werde ich dir die Beine an so vielen Stellen brechen, dass du nicht einmal mehr in der Lage sein wirst, von hier fortzukriechen.«
Daemon machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Lucivar gab keine leere Drohungen von sich, und Daemon wusste, dass er seinen eyrischen Halbbruder in einem physischen Kampf nicht schlagen konnte. Außerdem war der Boden unter seinen Füßen noch immer nicht zur Ruhe gekommen, sodass er jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
Der Kriegerprinz von Ebon Rih. Lucivar war der Kriegerprinz des Territoriums, das zum Schwarzen Askavi gehörte, dem Schwarzen Berg, der auch der Bergfried genannt wurde – und der noch dazu die heilige Stätte von Hexe war.
Das hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Das Land existierte, ob nun ein Kriegerprinz darüber wachte oder nicht – oder ob dort eine Königin herrschte oder nicht.
Doch allein die Tatsache, dass Lucivar noch lebte, nährte die Hoffnung in Daemon, dass er sich bezüglich Jaenelles Tod ebenfalls getäuscht haben könnte. Hatte sie Lucivar zu dem Dienstbasar geschickt, um nach ihm Ausschau zu halten? Waren ihr Lord Magstroms Erkundigungen doch zu Ohren gekommen? War sie …
Daemon schüttelte den Kopf. Zu viele Fragen – und dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um sie zu stellen. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass süße Hoffnung in ihm keimte.
Als Lucivar sich dem Tisch näherte, rief jemand: »Prinz Yaslana, hier sind noch zwei mehr, die du unter Vertrag nehmen solltest.«
Als Daemon sich in Richtung der Stimme wandte, hatte er erneut das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Zwei Männer, ein Kriegerprinz mit rotem Juwel und ein Krieger, der Saphir trug, zogen zwei Frauen auf den Tisch zu. Ein Mann mit braunem Haar und einer schwarzen Augenklappe, der deutlich hinkte, folgte ihnen.
Die eine Frau wirkte verängstigt. Sie hatte dunkles Haar, helle Haut und blaue Augen. Es war dreizehn Jahre her, seitdem er Wilhelmina Benedict, Jaenelles Halbschwester, das letzte Mal gesehen hatte. Sie war zu einer schönen Frau herangewachsen, war jedoch immer noch voll der Angst, die ihr schon als Jugendliche eine Aura von Zerbrechlichkeit verliehen hatte. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn sah, doch sie sagte nichts.
Die andere Frau wirkte wütend. Sie hatte langes schwarzes Haar, leicht goldbraune Haut, zierliche spitze Ohren und zornig funkelnde goldgrüne Augen. Es war Surreal. Vor vier Monaten hatte sie die Insel mit der lapidaren Erklärung verlassen, etwas erledigen zu müssen.
Zuerst wusste er nicht, wer der hinkende Mann war. Als er jedoch das Wiedererkennen in den blauen Augen des Mannes aufflackern sah, spürte er ein schmerzhaftes Stechen unter dem Herzen. Andrew, der Stalljunge, der ihm geholfen hatte, den hayllischen Wachen zu entkommen, nachdem Jaenelle zurück nach Briarwood gebracht worden war.
»Lord Khardeen, Prinz Aaron«, grüßte Lucivar den Krieger und den Kriegerprinzen förmlich.
»Prinz Yaslana, diese Damen hier sollten ebenfalls einen Vertrag bekommen«, sagte Prinz Aaron respektvoll.
Lucivar musterte beide Frauen mit einem durchdringenden Blick, der ihnen bis ins Mark zu gehen schien. Dann sah er zu Khardeen und Aaron hinüber. »In Ordnung.«
Wilhelmina zitterte sichtlich, doch Surreal strich sich das Haar hinter die spitzen Ohren und sah Lucivar mit zusammengekniffenen Augen an. »Sieh mal, Süßer …«
»Surreal«, sagte Daemon leise. Er schüttelte den Kopf. Ein Streit zwischen Surreal und Lucivar war das Letzte, was sie in diesem Moment brauchen konnten.
Surreal stieß ein wütendes Zischen aus. Als sie versuchte, Prinz Aarons Hand abzuschütteln, ließ er sie los, stellte sich dann aber so auf, dass sie nicht an ihm vorbeikonnte, um wegzulaufen. Sie trat neben Daemon, wobei sie Lucivar argwöhnisch beäugte, ohne einen Hehl aus ihrer Abneigung ihm gegenüber zu machen. »Ist das da dein Bruder?«, wollte sie leise wissen. »Der Bruder, der angeblich tot sein soll?«
Daemon nickte.
Sie beobachtete Lucivar vielleicht eine Minute lang. »Ist er tot?«
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Kaeleer lächelte Daemon. »Die Dämonentoten vertragen kein Tageslicht – jedenfalls heißt es so in den Legenden –, von daher würde ich annehmen, dass Lucivar ziemlich lebendig ist.«
»Na, kannst du dann nicht vernünftig mit ihm reden? Ich habe eine Passiermünze und einen Besucherpass für drei Monate. Ich bin nicht hergekommen, um einen Dienstvertrag an irgendeinem Hof zu unterzeichnen. Der Tag, an dem ich springe, wenn dieser Hurensohn mit den Fingern schnippt, ist der Tag, an dem die Sonne in der Hölle scheint.«
»Unterschätze Lucivar nicht«, murmelte Daemon, während er zusah, wie sein Bruder das Mitglied des Dunklen Rates beobachtete, das die Verträge ausstellte.
Bevor Surreal etwas erwidern konnte, hatte Wilhelmina sich zu ihnen gestohlen. »Prinz Sadi«, brachte sie mit ängstlich bebender Stimme hervor. »Lady.«
»Lady Benedict«, erwiderte Daemon formell, während Surreal bestätigend nickte.
Wilhelmina warf Lucivar, der sich nun mit dem älteren eyrischen Krieger unterhielt, einen furchtsamen Blick zu. »Er ist unheimlich«, flüsterte sie.
Mit einem boshaften Lächeln erhob Surreal die Stimme: »Wenn ein Mann derart enge Hosen trägt, schlägt ihm der darin herrschende Platzmangel selbstverständlich aufs Gemüt. «
Aaron, der ganz in ihrer Nähe stand, erlitt einen Hustenanfall, als er versuchte, sein Lachen zu ersticken.
Mit einem Seufzen beobachtete Daemon, wie Lucivar sein Gespräch beendete und auf sie zukam. Warum kannte er keinen Zauber, der Surreal die nächsten Stunden ihrer Stimme beraubte?
Einen Schritt vor ihnen blieb Lucivar stehen, ohne darauf zu achten, dass Wilhelmina vor ihm zurückwich. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Surreal. Er lächelte das träge, arrogante Lächeln, das normalerweise die einzige Vorwarnung war, dass sich ein Kampf anbahnte.
Surreal ließ die rechte Hand sinken, sodass ihr Arm locker an ihrer Seite baumelte.
Da es sich dabei um ihr Warnsignal handelte, ließ Daemon die Hände aus den Hosentaschen gleiten und verlagerte leicht sein Gewicht. Er war darauf gefasst, sie aufzuhalten, sollte sie töricht genug sein, Lucivar gegenüber ein Messer zücken zu wollen.
»Du bist Titians Tochter, nicht wahr?«, erkundigte sich Lucivar.
»Was geht das dich an?«, versetzte sie fauchend.
Einen Augenblick lang musterte Lucivar sie. Dann schüttelte er den Kopf und murmelte: »Du wirst uns nichts als Ärger bereiten.«
»Dann solltest du mich vielleicht besser gehen lassen«, sagte Surreal süßlich.
Lucivar stieß ein tiefes, boshaftes Lachen aus. »Du täuscht dich gewaltig, kleine Hexe, wenn du glaubst, ich werde einer Harpyienkönigin erklären, warum ihre Tochter an einem anderen Hof gelandet ist, obwohl ich hier war.«
Surreal entblößte die Zähne. »Meine Mutter ist keine Harpyie. Und ich bin keine kleine Hexe. Abgesehen davon werde ich keinen Vertrag unterschreiben, der dir die Kontrolle über mich gibt, verflucht noch mal!«
»Das werden wir ja sehen«, meinte Lucivar.
Daemons Hand legte sich um Surreals rechten Unterarm, Aaron umklammerte ihren linken.
Die Glocke, die das Ende des Dienstbasars einläutete, erklang dreimal.
Surreal fluchte zornentbrannt, wohingegen Lucivar einfach nur lächelte.
Da drehten sie sich alle zu der lautstark protestierenden Männerstimme um, die von dem Tisch zu ihnen herüberdrang.
Daemons Blick fiel auf den pedantisch gekleideten Mann am Tisch, der eifrig dabei war, Papiere glatt zu streichen, wobei er den aufgebrachten jungen Eyrier vor sich ignorierte.
Mit gefletschten Zähnen schritt Lucivar auf den Tisch zu, glitt durch die Warteschlange und blieb neben dem Mann stehen, der immer noch tat, als bemerke er die Leute nicht.
»Gibt es ein Problem, Lord Friall?«, fragte Lucivar freundlich.
Friall schüttelte die Rüschen an seinen Handgelenken zurück und fuhr fort, die Papiere einzusammeln. »Die Glocke, die den Basar beendet, hat geläutet. Sollten diese Leute immer noch verfügbar sein, wenn du morgen zum Angebotstag kommst, kannst du sie laut der Regel des ersten Angebots unter Vertrag nehmen.«
Daemon versteifte sich. Lord Jorval hatte ihm die Regel des ersten Angebots, die auf dem Basar herrschte, mehrfach erklärt. Im Laufe des Basars hatten die Einwanderer das Recht, ein Angebot, an einem bestimmten Hof zu dienen, abzulehnen. Sie konnten abwarten, ob noch ein Angebot von einem anderen Hof kam, oder um eine bessere Position feilschen. Doch der Tag nach dem Dienstbasar war der so genannte Angebotstag. Es gab nur eine Wahl. Die Einwanderer konnten entweder annehmen, was der erste Hof, der einen Angebotsschein für sie ausfüllte, zu bieten hatte – und Jorval hatte angedeutet, dass Positionen, die am Angebotstag unterbreitet wurden, für gewöhnlich erniedrigend waren –, oder sie konnten nach Terreille zurückreisen und versuchen, zum nächsten Basar wieder hier zu sein. Daemon hatte zwei Millionen Goldstücke für Bestechungsgelder ausgegeben, um auf die Einwanderungsliste für diesen Dienstbasar gesetzt zu werden. Er verfügte über die nötigen Mittel, um es erneut zu tun, wenn er es wagte, nach Terreille zurückzukehren. Doch die meisten hatten alles, was sie besaßen, für diese eine Chance auf ein hoffentlich besseres Leben ausgegeben. Sie würden einen Vertrag unterschreiben, um vor einer Königin kriechen zu dürfen, wenn dies die einzige Möglichkeit war, um in Kaeleer zu bleiben.
»Nun, Lord Friall.« Lucivar klang immer noch freundlich. »Du weißt so gut wie ich, dass jemand vor dem letzten Glockenschlag angenommen werden muss, dass aber noch eine Stunde nach dem Läuten Zeit ist, um die Verträge aufzusetzen und zu unterschreiben.«
»Wenn du die Verträge für diejenigen unterzeichnen möchtest, die bereits eingetragen sind, kannst du die Leute mitnehmen. Die anderen werden bis morgen warten müssen«, meinte Friall beharrlich.
Lucivar hob die rechte Hand und kratzte sich am Kinn.
Der Rest geschah so schnell, dass Daemon die Bewegung nicht einmal sah. Im einen Moment kratzte Lucivar sich am Kinn, im nächsten ruhte die Klinge seines eyrischen Kampfschwertes gefährlich auf Frialls linkem Handgelenk.
»So«, meinte Lucivar höflich, »nun kannst du entweder die Verträge fertig schreiben, oder ich schlage dir die linke Hand ab. Die Wahl liegt bei dir.«
»Mist«, murmelte Surreal, während sie näher an Daemon heranrückte.
»Das kannst du nicht tun!«, winselte Friall.
Lucivars Hand schien sich nicht zu bewegen, aber ein dünnes Rinnsal Blut begann von Frialls Handgelenk zu tropfen.
»Ich werde den Rat informieren«, jammerte Friall. »Das wird Konsequenzen haben!«
»Vielleicht«, erwiderte Lucivar. »Aber du läufst dann ohne linke Hand herum. Wenn du Glück hast, ist das alles, was du verlierst. Wenn nicht …«
Eine eilige Bewegung ließ Daemon nach links blicken. Lord Magstrom, das Mitglied des Dunklen Rates, mit dem er zuerst gesprochen hatte, blieb am anderen Ende des Tisches stehen.
»Dürfte ich vielleicht behilflich sein, Prinz Yaslana?«, fragte der alte Mann atemlos.
Lucivar sah auf, und Magstrom erstarrte. Sämtliche Farbe wich ihm aus dem Gesicht.
»Mutter der Nacht!«, murmelte Aaron. »Er ist im Blutrausch. «
Daemon rührte sich nicht. Alle anderen bewegten sich ebenfalls nicht. Ein Kriegerprinz, der in den Zustand geraten war, den man Blutrausch nannte, war gewalttätig und unkontrollierbar. Zwar trug Daemon Schwarz, das einzige Juwel, das dunkler als Lucivars schwarzgraues war, doch sollte er versuchen, seinen Bruder zurückzuhalten, würde das nur den letzten Rest an Selbstbeherrschung hinwegfegen, den Lucivar in seiner mörderischen Wut noch besaß. Wenn es gut lief, würde nur Friall sterben, lief es schlecht, gab es ein Blutbad.
»Lord Friall sagt, die Verträge können nach dem letzten Läuten der Glocke nicht zu Ende ausgefüllt werden«, erklärte Lucivar mit täuschender Freundlichkeit.
»Ich bin mir sicher, dass er da etwas falsch verstanden haben muss«, entgegnete Magstrom rasch. »Nach dem letzten Glockenschlag gibt es eine Stunde der Nachsicht, damit die Papiere fertig gemacht werden können.« Als Lucivar nichts erwiderte, holte Magstrom vorsichtig Luft. »Lord Friall scheint mir unpässlich zu sein. Mit deiner Erlaubnis werde ich die Verträge zu Ende schreiben.«
Mittlerweile war der weiße Rüschenbesatz um Frialls linkes Handgelenk von sattem Rot durchtränkt. Die Nase des Mannes tropfte, während er lautlos vor sich hin weinte.
Auf Lucivars leichtes Nicken hin zog Magstrom die Papiere von der kleine Blutlache auf dem Tisch weg und griff nach dem Füllfederhalter, der daneben lag. Dann begab sich Magstrom an das andere Tischende, wo er sich auf einem Stuhl niederließ.
Lucivar hob die linke Hand und deutete auf Daemon. »Er zuerst.«
Magstrom füllte den Kopf des Vertrags aus und sah Daemon dann erwartungsvoll an. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Beweg dich, verflucht noch mal, beweg dich! Einen schrecklichen Augenblick lang weigerte sich Daemons Körper, ihm zu gehorchen. Als seine Beine ihm endlich wieder Folge leisteten, hatte er das furchteinflößende Gefühl, auf dünnem, brüchigem Eis zu gehen, auf dem jeder weitere Schritt in einer Katastrophe enden konnte.
»Daemon Sadi«, sagte Magstrom leise und schrieb den Namen säuberlich nieder. »Aus Hayll, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Daemon. Er hatte den Eindruck, dass seine Stimme heiser und hohl klang. Magstrom war nicht anzumerken, ob es ihm ebenfalls auffiel.
»Bei unserer letzten Begegnung hast du gesagt, dass du ein dunkles Juwel trägst, wenn ich mich recht entsinne, aber ich weiß nicht mehr, welches.«
Als er Magstrom getroffen hatte, hatte er gesagt, dass sein Geburtsjuwel Rot sei, doch er hatte vermieden, seinen tatsächlichen Juwelenrang zu erwähnen. »Schwarz.«
Magstrom blickte auf, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. »Und du hast zwei Dienstleute mitgebracht?«
»Manny ist eine Hexe, die weiße Juwelen trägt. Jazen ist ein purpurner Krieger.«
Magstrom notierte die Informationen und drehte dann den Vertrag herum. »Unterschreibe einfach hier und setze anschließend deine Initialen in die Lücken für die anderen beiden Unterschriften. Somit übernimmst du die Verantwortung für deine Bediensteten.« Als Daemon sich hinunterbeugte, um den Vertrag zu unterzeichnen, flüsterte Magstrom: »Dieser Hof wäre auch meine Wahl für dich gewesen. Du gehörst dorthin.«
Ohne etwas zu sagen, trat Daemon von dem Tisch zurück, um Surreal Platz zu machen. Er warf Lucivar einen kurzen Blick zu. Der Eyrier starrte ihn nur mit glasigen goldenen Augen an.
»Name?«, fragte Magstrom.
»Surreal.«
Als sie nicht weitersprach, meinte Magstrom nachsichtig: »Obwohl der Familienname in Kaeleer nicht oft benutzt wird, ist es doch üblich, ihn offiziell zu verzeichnen.«
Surreal sah ihn unverwandt an. Dann lächelte sie heimtückisch. »SaDiablo.«
Magstrom keuchte, und Khardeen und Aaron starrten Surreal einen Moment lang mit offenem Mund an, bevor sie sich von dem Tisch abwandten.
Daemon schloss die Augen und hörte nicht auf die Erwiderungen. Da sie die uneheliche Tochter Kartane SaDiablos war, war ihre Aussage vermutlich gegen dessen Mutter Dorothea gerichtet gewesen. Es bestand kein Grund, weshalb sie wissen sollte, dass der Name den Einwohnern in Kaeleer etwas sagte.
»Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben!«, erklang es von zwei Stimmen im Gleichklang.
Daemon schlug die Augen auf. Aaron und Khardeen standen vor ihm und sahen zu, wie sich Surreal von dem Tisch entfernte.
Aaron sah ihn an. »Ist das wirklich ihr Familienname?«
Zuerst zögerte Daemon. Er wusste nicht, inwieweit es in Kaeleer als Schande betrachtet wurde, als Bastard auf die Welt gekommen zu sein, und er stand zu sehr in Surreals Schuld, als dass er etwas für sie Unvorteilhaftes preisgeben wollte. »Ihr Erzeuger trägt diesen Namen«, erwiderte er vorsichtig.
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, wandte Aaron sich an Khardeen.
»Eintrittskarten verkaufen«, entgegnete Khardeen prompt. »Und dann einen sicheren Ort finden, von dem aus wir uns die Explosion in Ruhe ansehen können.«
Die Witze der beiden versetzten Daemon in Rage. »Gibt es ein Problem?«
»Das kannst du laut sagen«, meinte Khardeen schadenfroh. Dann setzte er eine ernsthafte Miene auf. »Weißt du, Surreal ahnt ja noch nicht, dass sie, indem sie sich eben öffentlich als Mitglied der Familie SaDiablo zu erkennen gab, Lucivar als Cousin dazu gewonnen hat.«
»Und wenn du denkst, dass Lucivar herrisch mit anderen Männern umspringt, solltest du erst einmal sehen, wie er mit den Frauen in seiner Familie umgeht«, fügte Aaron hinzu.
Mit Jaenelle auch?
Er stellte die Frage nicht, denn er wollte nicht in ihre ratlosen Mienen blicken, sollte ihnen der Name nichts sagen – allerdings wusste er auch nicht, was er tun würde, sollten sie ihn wiedererkennen. Am besten fragte er Lucivar danach – unter vier Augen. Und die Fragen an Lucivar, die ihm jetzt bezüglich Frauen und Familie auf der Zunge brannten … Auch die würde er später stellen.
»Und wir versuchen uns lieber gar nicht erst vorzustellen, was passiert, wenn sie sich auf eine Auseinandersetzung mit den Männern der Dea-al-Mon-Seite ihrer Familie einlässt«, sagte Khardeen.
»Weshalb sollten die überhaupt mit von der Partie sein?«, erkundigte sich Daemon.
»Weil sie Titians Tochter ist, die endlich nach Hause gekommen ist«, erklärte Aaron. Dann grinste er. »Lady Surreal wird sehr bald feststellen, dass sie auf einmal männliche Verwandte auf beiden Seiten ihrer Blutlinien hat, die sich in ihre Angelegenheiten einmischen werden – und bei etlichen dieser Männer handelt es sich um Kriegerprinzen.«
Mutter der Nacht! »Das wird sie sich niemals gefallen lassen«, sagte Daemon.
»Tja, ihr wird nicht viel anderes übrig bleiben«, entgegnete Khardeen.
»Die Angehörigen des Blutes folgen dem Matriarchat. Ist das in Kaeleer etwa anders?«
»Selbstverständlich ist es hier genauso«, antwortete Aaron fröhlich. »Aber Männer besitzen Rechte und Privilegien, und wir hier nutzen diesen Umstand voll aus.« Er musterte Daemon einen Augenblick lang. »Wieso versuchst du nicht, Surreal zu besänftigen, während wir Lucivar im Auge behalten? Wenn niemand ihn reizt, sollte er in der Lage sein, sein Temperament im Zaum zu halten.«
»Kennt ihr ihn so gut?«, fragte Daemon.
Da entdeckte er das Wissen in ihren Augen, das sie bisher sorgsam versteckt gehalten hatten. Sie wussten, dass er Lucivars Bruder war. Und sie wussten …
»Wir dienen alle am selben Hof, Prinz Sadi«, sagte Aaron leise. »Wir alle dienen im Ersten Kreis der Lady.«
Dann ließen sie ihn stehen und zogen von dannen.
Genauso gut hätten sie es von den Dächern rufen können. Sie lebte!
Freude und beklemmende Angst kämpften in seiner Brust, sodass sein Herz wild hämmerte und ihm das Blut zu schnell durch die Adern rauschte. Sie lebte!
Doch was hielt sie von ihm? Was empfand sie für ihn?
Keine Antworten. Nicht hier. Noch nicht.
Übertrieben vorsichtig ging Daemon zu Surreal hinüber. Sobald er
stehen blieb, schwankte er wie eine Weide in einem heftigen
Sturm.
Surreal umschlang seinen linken Arm und stemmte sich gegen den Boden, um ihm Halt zu geben.
»Was ist los?«, wollte sie mit leiser, eindringlicher Stimme wissen. »Bist du krank?«
Besser als jeder andere war sie in der Lage, zu erraten, was los war, doch er war nicht bereit, es zuzugeben. Nicht jetzt. »In den letzten paar Tagen habe ich fast nicht geschlafen und nur sehr wenig gegessen«, sagte er.
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, aber sie nahm die Wahrheit hin, bei der es sich gleichzeitig um eine Lüge handelte. »Das verstehe ich nur zu gut. Der Ort hier verursacht mir eine Gänsehaut.«
Daemon zapfte das Kraftreservoir seines schwarzen Juwels an. Als die Energien durch seinen Körper flossen, hatte er zum ersten Mal, seitdem er Lucivar erblickt hatte, das Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben.
Surreal spürte die Veränderung, die in seinem Innern stattgefunden hatte. Sie lockerte ihren Griff und hakte sich freundschaftlich mit einem Arm bei ihm unter. »Warum glaubst du, war der alte Krieger, der die Verträge ausstellt, so schockiert, als ich meinte, mein Familienname sei SaDiablo? Ist dieses Miststück Dorothea hier derart bekannt?«
»Ich weiß nicht«, gab Daemon ausweichend zurück. »Aber ich habe mir sagen lassen, dass der Kriegerprinz von Dhemlan ebenfalls SaDiablo heißt.« Es war nicht der richtige Zeitpunkt, ihr zu eröffnen, dass der Kriegerprinz von Dhemlan außerdem der Höllenfürst – und sein und Lucivars Vater war.
»Mist«, murmelte Surreal. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Na ja, es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass wir einander über den Weg laufen, und sollte jemand nachfragen, kann ich einfach nur sagen, dass wir eventuell entfernt miteinander verwandt sein könnten. Sehr entfernt.«
Daemon musste an die Kommentare von Khardeen und Aaron denken und gab ein Geräusch von sich, das nach einem tiefen Seufzen klang.
»Bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?« Surreal betrachtete ihn argwöhnisch.
»Mir geht es gut.« Richtig gut. Einfach phänomenal! Er würde es glauben und standhaft darauf beharren, bis es der Wahrheit entsprach. »Tu mir einen Gefallen. Erkundige dich bei Khardeen oder Aaron, ob wir per Kutsche durch das Netz reisen, und gib dann Manny Bescheid, damit sie und Jazen uns dort treffen können.«
Sie fragte nicht, weshalb er das nicht selbst erledigte, und er war ihr dankbar dafür
Endlich hatte der letzte Eyrier den Vertrag unterschrieben und war von dem Tisch zurückgetreten. Lucivar, der sich nicht bewegt und kein Wort gesagt hatte, seitdem Lord Magstrom mit dem Ausstellen der Verträge begonnen hatte, rief ein sauberes Tuch herbei, wischte das Blut von der Klinge seines Kampfschwerts, ließ beides verschwinden und ging um den Tisch herum, um die Verträge zu unterschreiben.
Friall hielt sein blutendes Handgelenk an die Brust gepresst und wischte sich an seinem sauberen Ärmel die Nase ab. »Du musst Kopien anfertigen«, sagte er mit näselnder Stimme. »Er kann die Verträge erst haben, wenn dir die Abschriften vorliegen. «
Langsam richtete Lucivar sich auf und wandte sich Friall zu.
Eine Männerstimme fluchte leise.
Magstrom bedachte Friall mit einem scharfen Blick und erklärte rasch: »Ich werde Prinz Yaslana Blankoverträge mitgeben. Der Haushofmeister kann die Abschriften anfertigen und sie den Schreibern des Dunklen Rates für ihre Unterlagen zukommen lassen.« Als Friall allem Anschein nach Protest einlegen und damit seinen sicheren Tod herbeiführen wollte, setzte Magstrom hinzu: »Ich habe schon etliche Male miterlebt, wie Lord Jorval auf diese Weise verfahren ist. Er versicherte, den Haushofmeistern sei zu vertrauen, dass sie eine genaue Kopie der Dokumente erstellten, außerdem sei es die einzige Möglichkeit, wie sich die Einwanderer so schnell wie möglich in ihrer neuen Heimat einleben könnten.«
Lucivar rief eine dünne Ledermappe herbei, steckte die Verträge hinein und ließ anschließend alles verschwinden. Er nickte Magstrom höflich zu, wandte sich zu den wartenden Einwanderern um und knurrte: »Gehen wir.«
Daemon drehte sich geschmeidig um, als Lucivar auf ihn zukam, und lief dann neben dem Eyrier her.
Schon früher war es vorgekommen, dass sie Seite an Seite gegangen waren. Allerdings nicht oft, denn die terreilleanischen Angehörigen des Blutes, die Daemon und seinen Halbbruder schon fürchteten, wenn sie allein auftraten, wurden in Angst und Schrecken versetzt, sobald die beiden zusammen waren. Selbst der Ring des Gehorsams hatte nicht ausgereicht, um die Zerstörung zu verhindern, die sie an terreilleanischen Höfen angerichtet hatten.
Als sie auf die Kutschen zuschritten, die erbaut worden waren, um mit den Winden zu reisen, fragte Daemon sich, wie lange sie ihre offen stehende Rechnung noch aufschieben konnten.
Es war beinahe schon dunkel, als sie die beiden gewaltigen, mit schwarzgrauem Schutz versehenen Kutschen am anderen Ende der Landezone erreichten.
Lucivar ließ die schwarzgrauen Schutzschilde sinken, öffnete die Tür der ersten Kutsche und sagte mit einem Blick auf Daemon: »Steig ein.«
Daemon sah sich um. »Meine Bediensteten sind noch nicht hier.«
»Darum kümmere ich mich. Steig ein.«
Lucivars Augen waren immer noch glasig, außerdem glaubte Daemon eine angespannte, dringliche Note in der mentalen Signatur seines Bruders zu entdecken. Er zog es vor, Lucivars Aufforderung Folge zu leisten.
Surreal, Wilhelmina und Andrew stiegen eilig hinter ihm ein, gefolgt von mehreren Eyriern. Eine Minute später konnte Daemon erleichtert aufatmen, als Jazen Manny in das Gefährt half. Nachdem zwei weitere Eyrier eingestiegen waren, legte sich erneut ein schwarzgrauer Schild um die Kutsche, der im Grunde alle außer Daemon darin einsperrte, da er der Einzige war, der ein dunkleres Juwel als Lucivar trug.
In einer Netzkutsche dieser Größenordnung war normalerweise genug Platz für dreißig Leute, doch Eyrier benötigten aufgrund ihrer Flügel mehr Raum. Daemon fiel auf, dass es keine Sitze gab, und er fragte sich, ob in der Kutsche normalerweise keine Menschen fuhren, oder ob Lucivar die Sitze entfernt hatte, weil er darin Eyrier transportieren wollte. An den Wänden standen lediglich ein paar robuste Holzkisten, die sich mithilfe von Kissen zu halbwegs bequemen Sitzen umfunktionieren ließen. Die Kisten waren nach vorne offen, sodass sich darin Gepäck unterbringen ließ.
Die Leute drängten sich an den Wänden, um einen schmalen Gang in der Mitte frei zu lassen. Daemon musterte die Fahrgäste, richtete seine Aufmerksamkeit jedoch bald auf das Innere der Kutsche. Vorne befand sich eine Tür, die in das Abteil des Fahrers führte. Vielleicht konnte sich jemand zu ihm setzen, damit der Rest ein wenig mehr Platz zum Atmen hatte. Vorsichtig bahnte Daemon sich einen Weg zu dem kurzen, engen Gang am rückwärtigen Teil des Gefährts. Links war ein kleiner privater Raum mit einem kleinen Schreibtisch, einem Stuhl mit gerader Lehne, einem Sessel und einem Kniekissen sowie einem schmalen Bett. Auf der rechten Seite befand sich eine Kammer mit einem Waschbecken und einer Toilette.
In dem Augenblick, als Daemon in das Hauptabteil der Kutsche zurückkehren wollte, drang Lucivars Stimme von der offenen Kutschentür bis zu ihm.
»Es ist mir verdammt noch mal egal, was diese winselnde kleine Made von einem Schreiberling sagt«, knurrte Lucivar.
»Lord Frialls Verhalten steht hier nicht zur Debatte«, hörte Daemon eine Stimme, die er als Lord Jorvals erkannte. »Dies wird vor den Dunklen Rat gebracht werden, und ich kann dir versichern, wir werden uns nicht einschüchtern lassen und dein verwerfliches Verhalten einfach so übergehen.«
»Wenn ihr ein Problem mit mir habt, dann wendet euch gefälligst an den Haushofmeister, den Hauptmann der Wache oder meine Königin.«
»Deine Königin hat Angst vor dir«, kam Jorvals höhnische Antwort. »Das weiß doch jeder. Sie ist nicht in der Lage, dich richtig zu kontrollieren, und der Haushofmeister und der Hauptmann der Wache werden dein Temperament gewiss nicht zügeln, da es ihnen so zweckdienlich ist.«
Lucivar senkte die Stimme zu einem boshaften Zischen. »Vergiss nicht, Lord Jorval: Während du und Friall dem Rat etwas vorjammert, werde ich die Territoriumsköniginnen darüber aufklären, dass es so manches Ratsmitglied gibt, das sich nicht im Geringsten an eure eigenen Regeln bezüglich des Dienstbasars hält.«
»Das ist eine unverschämte Lüge!«
»Dann ist Friall eben völlig inkompetent und sollte nicht mit der Aufgabe betraut werden.«
»Friall ist eines der hervorragendsten Mitglieder des Rates!«
»War er in dem Fall vielleicht bloß wütend, weil er seinen Anteil an den Bestechungsgeldern erwartete und nur noch nicht wusste, dass du sie schon längst eingeheimst hattest?«
»Wie kannst du es wagen?« Es folgte eine lange Pause. »Es mag sein, dass Lord Friall teilweise die Verantwortung für diesen unglückseligen Vorfall trägt, aber bezüglich der anderen Angelegenheit wird der Rat auf keinen Fall nachgeben.«
»Und um welche Angelegenheit handelt es sich da?«, fragte Lucivar unschuldig.
»Wir können nicht zulassen, dass du der Dienstherr eines Mannes bist, der dunklere Juwelen als du trägt.«
»Die Königinnen in Kleinterreille tun das dauernd.«
»Es sind Königinnen. Sie wissen, wie man mit Männern umzugehen hat, um sie im Zaum zu halten.«
»Ich auch.«
»Der Rat verbietet es aber.«
»Der Rat soll von mir aus in den Eingeweiden der Hölle verrecken. «
Auf einmal füllte Lucivars Gestalt den Türrahmen der Kutsche.
»Das kannst du nicht tun!«, schrie Jorval hinter ihm her.
Lucivar drehte sich um und schenkte Jorval ein träges, arrogantes Lächeln. »Ich bin ein schwarzgrauer Kriegerprinz und kann verdammt noch mal tun, was mir gefällt.« Mit diesen Worten schlug er Jorval die Tür vor der Nase zu und blickte nach vorne in Richtung des Kutscherabteils, wobei er einen mentalen Befehl aussandte. Sofort erhob sich die Kutsche in die Luft.
Als Daemon einen Schritt auf das Hauptabteil der Kutsche zumachte, schob sich Lucivar vor ihn und verstellte auf diese Weise den Ausgang des Gangs. Daemon akzeptierte die unausgesprochene Aufforderung, ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten und lehnte sich an die Wand.
Als er sicher war, dass Lucivar damit fertig war, den Fahrern der beiden Gefährte stillschweigend Anweisungen zu erteilen, bediente er sich eines schwarzgrauen Speerfadens, um zu fragen: *Wird dir das hier Ärger einbringen?*
*Nein*, erwiderte Lucivar. Er musterte die Einwanderer. Jeder Einzelne sah rasch fort, um seinem Blick auszuweichen.
*Wird der Rat nicht eine Aufforderung senden, dir eine Disziplinarstrafe zu erteilen?*
*Das wird er. Der Haushofmeister wird das Schreiben lesen, es wahrscheinlich dem Hauptmann der Wache zeigen, und dann werden sie es gemeinsam ignorieren.*
Daemon war sich bewusst, dass sein Atem zu schnell und zu flach ging, doch er konnte nichts daran ändern. Stattdessen zwang er sich dazu, die nächste Frage zu stellen. *Werden sie es deiner Königin zeigen?*
*Nein*, meinte Lucivar langsam. *Wenn es sich vermeiden lässt, werden sie der Königin gegenüber nichts erwähnen. Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, werden sie versuchen, die Sache herunterzuspielen, ohne direkt lügen zu müssen.*
*Warum?*
*Weil der Dunkle Rat sie früher schon gereizt hat, und das Ergebnis hat jeden in Angst und Schrecken versetzt.* Lucivar trat beiseite. »Wir haben Goth verlassen«, verkündete er allgemein hörbar. »Macht es euch so bequem wie möglich. Es wird zwei Stunden dauern, bis wir unser Ziel erreicht haben.«
»Fahren wir nicht nach Ebon Rih?«, fragte jemand.
»Noch nicht.« Lucivar trat in den schmalen Gang, sodass Daemon gezwungen war, weiter zurückzuweichen. Der Eyrier ließ die Tür zu dem Privatgemach aufgleiten und meinte: »Rein mit dir.« Dann schob er sich seitlich durch den Türrahmen, um nicht mit den Flügeln anzustoßen.
Widerwillig folgte Daemon ihm und ließ die Tür hinter sich zugleiten.
Lucivar hatte am anderen Ende des Raums Stellung bezogen. Daemon blieb an der Tür stehen.
Nachdem Lucivar tief durchgeatmet hatte, meinte er: »Es tut mir Leid, dass ich meine Wut an dir ausgelassen habe. Ich war nicht zornig auf dich. Ich … ach, verdammt, Daemon, ich bin jede erdenkliche Liste durchgegangen, und irgendwie muss ich deinen Namen übersehen haben. Wenn wir nicht solches Glück gehabt hätten, wärst du an irgendeinem anderen Hof gelandet, und vielleicht hätte es keine Möglichkeit gegeben, dich aus dem Vertragsverhältnis zu befreien.«
Daemon spürte, wie eine Schicht der Anspannung von ihm abfiel. Er zwang sich, seine Lippen zu einem Lächeln zu verziehen. »Tja, diesmal hatten wir Glück.« Dann sah er Lucivar an, sah ihn richtig an, und das Lächeln wurde aufrichtig. »Du lebst.«
Lucivar erwiderte das Lächeln. »Und du bist nicht mehr wahnsinnig.«
Ein Zittern durchlief Daemons Körper, und er gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen. In seinen Augen brannten Tränen. »Lucivar«, sagte er leise.
Er wusste nicht, wer von ihnen beiden sich zuerst bewegte. Während sie in dem kleinen Raum erst so weit wie möglich voneinander entfernt gestanden hatten, umarmten sie sich im nächsten Augenblick und hielten einander fest, als hinge ihr Leben davon ab.
»Lucivar«, flüsterte Daemon erneut und drückte das Gesicht an den Hals des Bruders. »Ich dachte, du seiest tot.«
»Beim Feuer der Hölle, Daemon«, sagte Lucivar leise und mit heiserer Stimme. »Wir konnten dich nirgends finden. Wir wussten nicht, was mit dir geschehen war. Wir haben nach dir gesucht, ich schwöre dir, wir haben so sehr nach dir gesucht.«
»Ist schon gut.« Daemon streichelte Lucivar über den Kopf. »Ist schon gut.«
Lucivar schlang die Arme so fest um ihn, dass Daemons Rippen schmerzten.
Daemons Hand in Lucivars Haaren wurde zur Faust. »Lucivar … Ich weiß, dass es Dinge zwischen uns gibt, die wir regeln müssen. Aber können wir sie aufschieben, nur für kurze Zeit?«
»Wir können sie aufschieben«, entgegnete Lucivar ruhig.
Daemon trat einen Schritt zurück. Mit den Daumen strich er Lucivar zärtlich die Tränen aus dem Gesicht. »Am besten gesellen wir uns wieder zu den anderen.« Er wandte sich um und ging zur Tür.
Da stand Lucivar hinter ihm und packte ihn mit der linken Hand am linken Arm. Einen Augenblick lang legte Daemon seine rechte Hand darüber. Als seine Finger wieder von Lucivars glitten, blickte er hinab, und in diesem Moment traf ihn die Bedeutung dessen, was er zuvor schon gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen hatte.
»Daemon«, meinte Lucivar eindringlich. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss. Ich denke, du weißt es vielleicht bereits, aber du musst es trotzdem hören.«
Sie lebt! Erneut durchlief ein Zittern Daemons Körper. »Nein«, entgegnete er. »Nicht jetzt.« Er schob die Tür auf und taumelte auf den Gang hinaus. Er hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als er in die Toilette ging und die Tür mithilfe der Kunst verschloss. Er bebte am ganzen Körper. Sein Magen verkrampfte sich. Während er sich über das Waschbecken beugte, kämpfte er gegen ein starkes Schwindelgefühl an.
Zu spät.
Hätte er vor fünf Jahren versucht, sie zu finden, gleich als er aus dem Verzerrten Reich zurückgekehrt war, wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. Wenn er nach dem Höllenfürsten gesucht und zumindest versucht hätte, herauszufinden, was wirklich in jener Nacht an Cassandras Altar passiert war …
Zu spät.
Er konnte sich zusammenreißen. Er würde sich zusammenreißen. Sein Geist war viel zerbrechlicher, als er irgendjemandem gegenüber zugeben wollte. Oh, seine geistigen Kräfte waren unversehrt. Er hatte ein paar Erinnerungen eingebüßt, ein paar kleine Splitter des Kristallkelches, aber Daemon war ganz, und er war geistig gesund. Doch der Heilungsprozess würde nie vollständig sein, weil er die eine Person verloren hatte, die er dazu brauchte. Es war gleichgültig gewesen, als er lediglich lange genug in einem Stück hatte bleiben wollen, um den Höllenfürsten zu töten. Auch jetzt machte es keinen wirklichen Unterschied. Er konnte lange genug überleben, um sie zu sehen, nur ein einziges Mal.
Es gab nichts, was er sonst tun konnte. Wenn es irgendein anderer Mann wäre, hätte er alles, was er war, und alles, was er wusste, eingesetzt, um dennoch ihr Geliebter zu werden. Wenn es irgendein anderer Mann wäre. Aber nicht Lucivar. Niemals würde er der Rivale seines Bruders werden.
Deshalb konnte er nicht zulassen, dass Lucivar ihm erzählte, was er unbedingt hören wollte. Nicht, weil er nicht mit Sicherheit wissen wollte, dass Jaenelle am Leben war, sondern weil er nicht hören wollte, was der goldene Ehering an Lucivars linker Hand zu bedeuten hatte.
3 Kaeleer
Surreal schob die letzten freien gepolsterten Kisten an der Kutschwand zusammen. »Setz dich, Manny«, sagte sie zu der älteren Frau und deutete auf die improvisierte Bank.
»Das wäre nicht richtig«, erwiderte Manny. »Eine Bedienstete sollte nicht sitzen.«
Surreal bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Sei kein Dummkopf. Du bist bloß eine ›Dienerin‹, weil das die einzige Möglichkeit für Sadi war, dich mitzunehmen, verdammt noch mal!«
Missbilligend presste Manny die Lippen zusammen. »Es besteht kein Grund, dich einer derartigen Ausdrucksweise zu befleißigen, zumal Kinder anwesend sind. Außerdem war ich viele Jahre lang Bedienstete. Es ist ein ehrbarer Beruf und nichts, wofür ich mich zu schämen bräuchte.«
Im Gegensatz zu mir?, fragte Surreal sich. Sie hatte nie geleugnet, dass sie jahrhundertelang eine erfolgreiche Hure gewesen war, bevor sie vor dreizehn Jahren das horizontale Gewerbe aufgegeben hatte, da sie die Schlafzimmerspielchen nicht länger ertrug. Jene Nacht an Cassandras Altar hatte bei ihnen allen ihre Spuren hinterlassen.
Mannys Haltung gegenüber Frauen, die in Häusern des Roten Mondes arbeiteten, war bestenfalls zwiespältig. Was würde sie denken, wenn sie noch dazu von Surreals anderem Beruf erfahren würde? Wie hätte sich die ältere Frauen gefühlt, wenn sie gewusst hätte, dass Surreal außerdem die ganze Zeit über eine sehr erfolgreiche Attentäterin gewesen war – und noch immer war?
Egal. Im Laufe der beiden Jahre, nachdem Daemon aus dem Verzerrten Reich entkommen war, hatten sich die beiden Frauen angefreundet. Sobald seine geistige Gesundheit jedoch wiederhergestellt war, hatte sich Mannys Einstellung geändert; sie hatte sie beide mit der häuslichen Fürsorge behandelt, die eine Dienstbotin, die fast schon zur Familie gehörte, einem aristokratischen Kind angedeihen ließ. Daemon war an diesem Verhalten nichts aufgefallen. Vielleicht hatte Manny ihn schon immer so behandelt. Surreal hingegen, die im harten Alltag auf der Straße aufgewachsen war, hatte diese Behandlung geärgert. Obendrein war sie auf diese Weise auch häufig mit Mannys vorgefassten Meinungen konfrontiert gewesen.
»Sieh mal«, flüsterte sie sehr leise. »Lady Benedicts Diener wirkt nicht, als könne er zwei Stunden lang stehen, ohne dabei Schmerzen zu haben. Wenn du dich hinsetzt, kannst du ihn so lange bearbeiten, bis er es ebenfalls tut.«
Ein paar Minuten später saßen Manny, Andrew, Wilhelmina Benedict und Surreal auf der behelfsmäßigen Bank.
Surreal warf einen Blick auf den freien Platz zu ihrer Rechten. Wo zur Hölle steckte Sadi? Er war mental nicht so stabil, wie er vorgab, und auf Lucivar zu treffen, musste ein Schock für ihn gewesen sein. Doch was mochte erst der Eyrier davon gehalten haben, seinen Halbbruder wiederzusehen? Als Jaenelle vor dreizehn Jahren verschwunden war, war Daemon nach Pruul gereist, um Lucivar aus den Salzminen zu befreien. Aus irgendeinem Grund hatte Lucivar sich geweigert, mit ihm zu gehen. Daemons Schweigen diesbezüglich hatte Surreal so gedeutet, dass sie eine schreckliche Auseinandersetzung gehabt hatten und eine tiefe Kluft zwischen ihnen entstanden war. Sie hatte immer den Verdacht gehegt, dass der Grund für jenen Bruch, wie so viele andere Dinge, seinen Ursprung an Cassandras Altar hatte.
Die Tür zu dem Kutscherabteil glitt auf. Lord Khardeen trat hindurch und betrachtete die Eyrier, die auf sein Erscheinen nervös reagierten. Ohne etwas zu sagen, ließ er sich neben Surreal nieder.
Direkt gegenüber von ihnen befand sich die Frau mit den beiden kleinen Kindern. Sie hatten die braune Haut, die goldenen Augen und das schwarze Haar, die charakteristisch für die langlebigen Völker waren, aber das Haar des Mädchens war leicht gelockt. Surreal fragte sich, ob die Blutlinie eines Elternteils nicht rein eyrisch war, ob jene Locken ein Geheimnis verraten hatten, und dies der Grund war, weswegen diese Leute ihr Heimatterritorium verlassen hatten.
Der Junge, der älter als seine Schwester war, hielt sich dicht an seine Mutter, aber das kleine Mädchen lächelte Khardeen an und trippelte zwei Schritte auf ihn zu.
»Wuffwuff«, sagte sie fröhlich und streckte ihm ein abgenutztes Stofftier entgegen.
Khardeen beugte sich mit einem Lächeln vor. »Ja, genau. Und wie heißt der Wuffwuff?«
»Wuffwuff.« Sie schloss das Spielzeug in die Arme. »Meins.«
»Da hast du Recht.«
Die Frau beobachtete Khardeen besorgt und griff schließlich nach dem kleinen Mädchen. »Orian, stör den Krieger nicht.«
»Sie stört mich ganz und gar nicht«, versicherte Khardeen freundlich.
Die Frau zog das Mädchen an sich und versuchte zu lächeln. »Sie mag Tiere. Die Mutter meines Ehemannes machte ihr vor unserer Abreise eine Puppe, aber Orian wollte unbedingt den Hund mitnehmen.«
Und wo war deine eigene Mutter, während dir jenes Miststück Vorhaltungen machte?, fragte sich Surreal, der die Schatten nicht entgingen, die sich in den Augen der Frau zusammenbrauten. Außerdem nahm Surreal einen Hauch von Scham in der mentalen Signatur der Frau wahr. Nun, das erklärte, welche Seite der Verwandtschaft des Mädchens fragwürdig war.
Der Krieger, der Einspruch erhoben hatte, als Friall sich weigerte, die Verträge fertig zu stellen, wandte sich von seinem Gespräch mit zwei eyrischen Männern ab und warf Khardeen einen scharfen Blick zu. Dann rückte er beschützend näher zu der Frau und den Kindern.
Khardeen lehnte sich zurück und erwiderte den scharfen Blick mit einem Lächeln.
Da Surreal dicht neben ihm saß, konnte sie seine innere Anspannung – war es gar Zorn? – spüren, doch nach außen ließ er sich nicht das Geringste anmerken. Als er sie ansah, war seine Miene ernst, doch in seinen blauen Augen blitzte der Schalk.
»Wie wohl die Mutter der kleinen Königin reagieren wird, wenn sie erst einmal die Wuffwuffs sieht, die ihre Tochter demnächst in die Arme schließen wird?«, sagte er leise.
»Werden die Hunde sie beißen?«, fragte Surreal.
»Das Mädchen? Nein. Die Mutter?« Khardeen zuckte mit den Schultern.
Surreal hörte den warnenden Unterton aus den Worten heraus und erbebte innerlich. Da kam Daemon auf sie zu, und sie sog scharf die Luft ein.
Er bewegte sich vorsichtig, wie ein Mann, dem man eine tödliche Wunde zugefügt hatte, und der stillschweigend verblutete.
Khardeen erhob sich und deutete auf den frei gewordenen Platz. »Warum setzt du dich nicht? Ich muss mich ohnehin um ein paar Dinge kümmern.«
Sobald Daemon saß, zog er die Knie an und schlang die Arme darum.
Diese Schutz suchende Geste hatte sie schon zuvor an ihm gesehen, wenn er bei seinen Übungen in der Kunst zu weit gegangen war oder ihn des Nachts Albträume heimgesucht hatten.
Khardeen warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste seine Besorgnis zu schätzen, doch es gab nichts, was man in diesen Augenblicken für Daemon tun konnte – außer ihm zu gestatten, sich in sich selbst zurückzuziehen, bis er sich wieder stark genug fühlte, um der Welt die Stirn zu bieten.
Eine Minute später kam Lucivar aus dem Privatabteil, seine Miene war bewusst ausdruckslos.
Die restliche Fahrt saß Daemon mit geschlossenen Augen neben ihr, während Lucivar am hinteren Ende des Gefährts stand und sich leise mit den eyrischen Männern unterhielt, die sich zögerlich an ihn wandten.
Bis ans Ende der Reise fragte Surreal sich, was in dem Privatabteil vorgefallen war. Sie machte sich große Sorgen.
4 Kaeleer
Lord Jorval kauerte in dem Sessel und sah zu, wie die Dunkle Priesterin unruhig in dem äußersten Raum der Zimmerflucht umherging, die er für ihr Treffen angemietet hatte.
Bis vor vier Jahren hatte es in Kaeleer keine Häuser des Roten Mondes gegeben – und es gab sie bisher auch nur in Kleinterreille. Doch gewisse einflussreiche Ratsmitglieder, er eingeschlossen, hatten zu bedenken gegeben, dass die stärkeren Männer unter den Einwanderern, die kaum Aussichten hatten, eine in Kaeleer geborene Frau als Geliebte zu bekommen, eine Möglichkeit benötigten, ihre sexuellen Spannungen abzubauen. Die Königinnen in Kleinterreille hatten nur anfangs pro forma Einspruch erhoben, denn schon bald erkannten sie den Nutzen derartiger Etablissements. Mittlerweile war ein Besuch in einem Haus des Roten Mondes zu einer Belohnung für Männer geworden, die sich an den Höfen der Königinnen besonders gut benahmen. Auf diese Weise konnten die Männer ihre Frustrationen und Aggressionen an Frauen abreagieren, die sich ihnen weder verweigern noch auf Höflichkeit und Gehorsam bestehen konnten. Und niemandem fiel auf – genauer gesagt kümmerte es niemanden, dem es auffiel – , dass sämtliche Frauen in jenen Häusern Immigrantinnen waren, denen man am Tag nach dem Dienstbasar nur dieses eine Angebot unterbreitet hatte.
Und manche Männer, so auch er selbst, hatten gelernt, wie schön es sein konnte, eine furchtsame und erschreckte Frau zum Gehorsam zu zwingen.
Seine Wahl war auf dieses Haus des Roten Mondes am Rand des Elendsviertels neben dem Basargelände gefallen, weil die Betreiber keine Fragen stellen würden. Den beiden Männern, denen der Laden gehörte, war es gleichgültig, ob eine Frau körperlichen oder seelischen Schaden nahm, solange sie angemessen für den Verlust entschädigt wurden. Und auch der Jüngling würde ihnen egal sein, der gefesselt und geknebelt im Nebenzimmer lag – das Opfer, das er in der Hoffnung mitgebracht hatte, es würde den Zorn der Dunklen Priesterin mildern.
Hekatah schleuderte den Umhang von sich, der ihr Gesicht und ihren Körper verhüllt hatte.
Jorval musste hart schlucken. Einmal hatte er sich bei dem Anblick ihres vermodernden, dämonentoten Körpers heftig übergeben. Die Bestrafung, die sie ihm für jenen Mangel an Selbstbeherrschung hatte angedeihen lassen, hatte ihm monatelang Albträume beschert.
Es gab Zeiten, da wünschte er sich verzweifelt, Hekatah nie begegnet und niemals in ihr Intrigenspiel verstrickt worden zu sein. Doch sie hatte hinter seinem Aufstieg im Dunklen Rat gestanden, und er hatte im Grunde ihr gehört, noch bevor ihm auch nur bewusst gewesen war, dass er eingewilligt hatte, ihr zu dienen.
»Es gab vier Königinnen, die für unsere Zwecke passend gewesen wären«, fauchte sie ihn an. »Vier! Und trotzdem hast du es nicht fertig gebracht, ihn an eine davon zu ketten, bis wir eine Möglichkeit gefunden haben, uns seiner zu bedienen.«
»Ich habe es versucht, Priesterin«, entgegnete Jorval mit zitternder Stimme. »Ich habe die Erkundigungen blockiert, die Sadi außerhalb Kleinterreilles einholen wollte. Dies waren die einzigen Namen, die ich ihm anbot.«
»Warum ist er dann bei keiner von ihnen gelandet?«
»Nach unserem letzten Treffen ging er nach draußen!«, rief Jorval. »Ich erfuhr erst, dass er einen anderen Vertrag unterzeichnet hatte, als Friall es mir sagte.«
»Er unterzeichnete einen anderen Vertrag«, säuselte Hekatah, »bei seinem Bruder!«
Jorvals Brust hob sich ruckartig, während er nach Luft rang. »Ich habe versucht, es zu verhindern! Ich habe es versucht…« Die Stimme versagte ihm, als Hekatah langsam auf ihn zukam.
»Du bist falsch mit ihm umgesprungen.« Ihre mädchenhafte Stimme nahm eine gefährlich freundliche Färbung an. »Deshalb ist er jetzt eine Verbindung mit eben dem Hof eingegangen, der nichts von seiner Anwesenheit in Kaeleer erfahren sollte. Außerdem haben wir keine Möglichkeit, die Kraft seiner schwarzen Juwelen für unsere Ziele einzusetzen.«
Jorval versuchte aufzustehen. Angst schnürte ihm die Kehle zu, als er merkte, dass Hekatah ihn mithilfe der Kunst in den Sessel zurückdrückte.
Graziös ließ sie sich auf seinem Schoß nieder und schlang ihm einen Arm um den Hals. Als ihre langen Nägel über seine Wange strichen, fragte er sich, ob er ein Auge verlieren würde. Vielleicht wäre es am besten so. Blind würde er sie zumindest nicht sehen können. Doch wenn er es sich recht überlegte, war auch das keine Lösung. Sie trug dunklere Juwelen als er. Ohne weiteres könnte sie sich gewaltsam Zutritt zu seinem Geist verschaffen und dort ein Bild hinterlassen, dass hundertmal schlimmer wäre als ihr tatsächliches Äußeres.
Er winselte, als sein Magen zu rebellieren begann.
»Genauso wie Erfolge belohnt werden, muss Versagen eine Strafe nach sich ziehen«, meinte Hekatah und streichelte ihm über das Gesicht.
Er wusste, was sie von ihm erwartete, und flüsterte: »Ja, Priesterin.«
»Und du hast versagt, mein Liebling, nicht wahr?«
»J-ja, Priesterin.«
Die Überreste ihrer Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Mithilfe der Kunst rief sie eine mit einem Stöpsel verschlossene Kristallflasche und einen kleinen Silberbecher herbei. Die Gegenstände schwebten in der Luft, während Hekatah den Stöpsel entfernte und die dunkle, dickliche Flüssigkeit in den Becher goss. Dann verschloss sie die Flasche wieder und ließ sie verschwinden. Sie hielt Jorval den Becher an die Lippen.
»Ich habe dir ein Opfer als kleine Erfrischung mitgebracht«, sagte er matt.
»Ich habe ihn gesehen. So ein hübscher Junge, voll des heißen, süßen Weins.« Sie drückte den Becher an seine Unterlippe. »Ich kümmere mich gleich um ihn.«
Da Jorval keine andere Wahl blieb, öffnete er den Mund. Die Flüssigkeit glitt wie eine lange, warme Schnecke über seine Zunge. Er musste würgen, brachte es jedoch fertig, das Getränk hinunterzuschlucken.
»Ist es Gift?«, fragte er.
Hekatah ließ den Becher verschwinden und lehnte sich mit überrascht aufgerissenen Augen zurück. »Glaubst du wirklich, ich würde einen Mann vergiften, der mir gegenüber loyal ist? Und du bist doch loyal, Schatz, oder?« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Nein, mein Schatz, das hier ist nur ein kleines Aphrodisiakum.«
»S-Safframate?« Gift hätte er vorgezogen.
»Gerade genug, um den Abend interessant zu gestalten«, erwiderte Hekatah.
Hilflos saß er da, während sie über seine Haut streichelte, die nun bei jeder noch so leichten Berührung erzitterte. Stöhnend schlang er die Arme um sie. Mittlerweile fiel ihm der Verwesungsgestank nicht mehr auf, und es kam ihm nur noch darauf an, den weiblichen Körper, der auf seinem Schoß saß, für seine Zwecke benutzen zu können.
Als er versuchte, mit der Zunge in ihren Mund einzudringen, lehnte sie sich mit einem zufriedenen Lachen zurück.
»Jetzt, Liebling«, sagte sie, wobei sie ihn weiterhin liebkoste, »wirst du eine der Huren heraufholen.«
Die Lust, die ihn umnebelte, hob sich einen Moment lang, und er fragte bebend: »Hier herauf?«
»Wir müssen uns doch immer noch um deine Bestrafung kümmern«, sagte Hekatah sanft, aber boshaft. »Hol eine, die goldenes Haar und blaue Augen hat.«
Seine Lust kehrte wild, beinahe schmerzhaft zurück. »Wie Jaenelle Angelline.«
»Genau. Stell es dir als eine kleine Probe für den Tag vor, wenn das blasse Luder sich mir unterwerfen muss.« Sie küsste seine Schläfe, leckte über seinen hämmernden Puls. »Wird es dich erregen, wenn ich ein wenig von deinem Blut trinke, sobald du in sie eingedrungen bist?«
Erregt und verängstigt zugleich blickte Jorval sie an.
»Von ihr werde ich auch trinken. Bis dahin wird es dir ohnehin egal sein, ob du es mit einer Leiche treibst, aber das werde ich dir nicht antun, mein Schatz. Das hier ist schließlich nur eine Probe für die Nacht, wenn du Jaenelle unter dir haben wirst.«
»Ja«, flüsterte Jorval. »Ja.«
»Ja«, wiederholte Hekatah zufrieden. Sie erhob sich und ging langsam auf die Schlafzimmertür zu. »Mach dir keine Sorgen, dass die Hure irgendjemandem etwas von unserem kleinen Spielchen erzählen könnte. Ich werde dem kleinen Luder den Geist vernebeln, sodass sie sich später an nichts mehr erinnern kann, außer, dass man sie gut behandelt hat.«
Jorval stand auf und wankte auf die Tür zu. Er war sich schmerzhaft bewusst, dass Hekatah ihn beobachtete.
»Der hübsche Knabe wird der Aperitif und die Nachspeise sein«, erklärte Hekatah. »Angst verleiht Blut so eine wunderbar pikante Note, und am Ende des Abends wird er voll ausgereift sein. Verschwende also nicht zu viel Zeit bei deiner Auswahl. Es dauert nicht lange, einen Aperitif zu sich zu nehmen, und wenn ich ungeduldig werde, könnte es sein, dass wir deine Bestrafung dementsprechend abändern müssen. Und das möchtest du doch sicher nicht, oder?«
Er wartete, bis sich die Schlafzimmertür hinter ihr geschlossen hatte. Erst dann flüsterte er: »Nein, das möchte ich nicht.«
5 Kaeleer
Eine warme Hand drückte sanft seine Schulter.
»Daemon«, sagte Lucivar leise. »Komm schon, altes Haus. Wir sind da.«
Widerwillig schlug Daemon die Augen auf. Er wollte sich vor der Welt flüchten, in den Abgrund versinken und einfach spurlos verschwinden. Bald, versprach er sich selbst. Bald. »Mir geht es gut, Mistkerl«, erwiderte er erschöpft. Es war eine Lüge, darüber waren sie sich beide im Klaren.
Steif erhob sich Daemon und ließ die Schultern kreisen. Seine Muskeln knirschten vor Anspannung, während sich heftiger Kopfschmerz hinter seinen Augen breit machte. »Wo sind wir?«
Ohne etwas zu sagen, geleitete Lucivar ihn aus der Kutsche.
Surreal stand gleich neben der Tür im Freien und starrte das gewaltige graue Steingebäude empor. »Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht! Was ist das hier?«
Prinz Aaron grinste sie an. »Burg SaDiablo.«
»Verfluchter Mist!«
Der Boden unter Daemons Füßen begann zu wanken. Er streckte einen Arm vor sich aus. Lucivar griff danach und half seinem Bruder, das Gleichgewicht wiederzufinden. »Ich kann nicht«, flüsterte er. »Lucivar, ich kann nicht.«
»Doch, du kannst.« Lucivar hielt ihn weiter am Arm fest und führte ihn auf die Flügeltür am Eingang zu. »Es wird einfacher sein, als du denkst. Außerdem wartet Ladvarian sehnsüchtig darauf, deine Bekanntschaft zu machen.«
Daemon hatte nicht die Kraft, um sich zu fragen, weshalb dieser Ladvarian ihn kennen lernen wollte; nicht wenn er mit dem nächsten Schritt vielleicht erneut dem Höllenfürsten gegenübertreten würde – oder Jaenelle.
Lucivar stieß die Tür auf, und Daemon folgte ihm in die große Eingangshalle. Die übrigen Einwanderer drängten hinter ihnen in die Burg. Sie hatten erst ein paar Schritte getan, als Lucivar auf einmal stehen blieb und leise vor sich hin fluchte.
Daemon sah sich um und versuchte, den Grund für die plötzliche Wachsamkeit zu begreifen, die er in Lucivars Verhalten spürte. Am anderen Ende der Eingangshalle kniete ein Dienstmädchen unter einem der kristallenen Kronleuchter und wischte den Boden. Ein paar Meter von ihnen entfernt stand ein hünenhafter Krieger, der ein rotes Juwel trug und in die Livree eines Butlers gekleidet war.
Misstrauisch beäugte Lucivar den Butler und meinte vorsichtig: »Beale.«
»Prinz Yaslana«, erwiderte Beale steif und förmlich.
Lucivar zuckte zusammen. »Was …«
Jemand kicherte. Alle blickten empor.
Hoch über ihnen balancierte ein nackter eyrischer Junge, der kaum dem Krabbelalter entwachsen war, unsicher auf dem nächsten Kronleuchter.
Seufzend warf Lucivar dem Butler einen Blick zu und machte dann zwei Schritte nach vorne. »Was treibst du da oben, Junge?«
»Flieg’n!«, jauchzte der Knirps.
»Dreimal darfst du raten«, meinte das Dienstmädchen grollend, ließ den Lappen in den Eimer fallen und erhob sich.
»Du bist deinen Aufpassern entwischt, was?«, murmelte Lucivar.
Der Junge kicherte erneut und streckte ihm die Zunge heraus.
»Komm da runter, Daemonar«, sagte Lucivar streng.
»Nein!«
Tränen brannten Daemon in den Augen, während er den Jungen anstarrte. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
Lucivar trat einen weiteren Schritt vor und öffnete langsam die dunklen Flügel. »Wenn du nicht herunterkommst, komme ich hoch und hole dich.«
Daemonar entfaltete seine kleinen Flügel. »Nein!«
Lucivar schoss in die Luft. Als er an dem Kronleuchter vorbeiflog, griff er nach Daemonar, der sich jedoch duckte und nach unten fallen ließ. Der Kleine flog wie eine betrunkene Hummel, die versuchte, einem Falken zu entkommen. Es gelang ihm jedoch, seinem Verfolger auszuweichen.
»Der Knabe hat Talent«, meinte Hallevar anerkennend und bahnte sich in der Menge einen Weg nach vorne.
Surreal warf dem älteren eyrischen Krieger einen Blick zu. »Gegen Yaslana scheint er allemal anzukommen.«
Hallevar stieß ein Schnauben aus, als Lucivar an Daemonar vorbeiflog und ihn am Fuß kitzelte, woraufhin der Junge aufkreischte und rasch zur Seite auswich. »Er hätte ihn schon beim ersten Mal fangen können. Der Kleine wird sich letzten Endes geschlagen geben müssen, aber er wird nicht vergessen, dass er sich wacker geschlagen hat. Nein, Lucivar weiß ganz genau, wie man einen eyrischen Krieger ausbildet.«
Daemon hörte sie kaum. Beim Feuer der Hölle! Sah Lucivar denn nicht, dass der Junge langsam ermüdete? Würde er ihn reizen, bis das Kleinkind zu Boden stürzte?
Als der Junge auf ihn zugeflogen kam, trat Daemon vor, griff nach oben und packte ein rundliches Beinchen.
Daemonar kreischte wutbrannt auf und schlug mit den kleinen Flügeln um sich.
Sanft zog Daemon ihn zu sich herunter, schlang auch noch den anderen Arm um den Jungen und zog ihn an seine Brust.
Da traf ihn eine kleine Faust am Kinn. Die andere kleine Hand zog so heftig an einer Haarsträhne, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Ein spitzer Schrei drang ihm ins Ohr und ließ sein Herz vibrieren.
Lucivar landete und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ganz gelang es ihm nicht, das Lächeln auf diese Weise zu überdecken. Er legte den linken Arm um die Taille des Jungen und stemmte vorsichtig die kleine Faust auf. »Lass deinen Onkel Daemon los. Wir wollen doch, dass er dich mag.« Rasch wich er zurück und hielt die Füße des Jungen mit einer Hand umfasst. »Da trittst du deinen Vater besser nicht hin«, knurrte er.
Das Kind gluckste.
Lucivar blickte auf den sich windenden Jungen und meinte reumütig: »Damals schienst du uns eine gute Idee zu sein.«
»Jaaa!« Da bemerkte Daemonar die Frau, die ein kleines Mädchen hielt. »Baby!«, rief er und wand sich weiter, um sich aus dem Griff seines Vaters zu befreien. »Meins!«
»Mutter der Nacht«, murmelte Lucivar und drehte sich um, wobei er Daemonar die Sicht versperrte.
Zwei nasse Frauen mit zerzaustem Haar betraten die Eingangshalle. Eine der beiden hielt ein großes Handtuch empor. »Wir nehmen ihn, Prinz Yaslana.«
»Der Dunkelheit sei Dank.« Es kostete Lucivar und die beiden Frauen einige Mühe, Daemonar in das Handtuch zu wickeln, doch schließlich wurde der Junge aus der Eingangshalle getragen.
Daemon zerriss es schier das Herz, als er sie beobachtete. Der Junge sah aus wie Lucivar. Er wusste nicht zu sagen, ob er es bedauerte oder als Erleichterung empfand, dass in den goldenen Kinderaugen nicht der geringste Hauch von Saphir zu sehen war. Das schwarze Haar und die braune Haut waren ebenfalls nicht heller als gewöhnlich. An dem Kleinen war keine Spur der exotischen Schönheit seiner Mutter zu entdecken.
Lucivar wandte sich rasch wieder um.
»Sobald die Gäste in ihren Gemächern untergebracht sind, wird das Abendessen im offiziellen Speisezimmer serviert«, verkündete Beale.
»Danke, Beale«, erwiderte Lucivar ein wenig kläglich.
»Gibt es etwas, worauf das Personal besonders achten sollte?«
Lucivar winkte den jungen Krieger zu sich, der sich in der Nähe der Frau mit den beiden kleinen Kindern aufgehalten hatte. »Dies ist Lord Endar, Lady Dorians Ehemann.«
Endar versteifte sich unter Beales musterndem Blick.
Prinz Aaron griff nach Surreals Arm und zog sie nach vorne. »Ich bringe Lady SaDiablo und Lady Benedict auf ihre Zimmer.«
»Lady SaDiablo?«, meinte Beale verblüfft.
Aaron grinste.
Surreal stieß ein wütendes Zischen aus.
»Ich bin mir sicher, dass der Höllenfürst erfreut sein wird, die Lady willkommen zu heißen«, sagte Beale mit einem verdächtigen Glitzern in den Augen.
Bevor Surreal Aaron aufhalten konnte, hatte er ihr die Haare nach hinten gestrichen, sodass ein leicht spitz zulaufendes Ohr sichtbar wurde. »Prinz Chaosti ebenso.«
Beales Lippen zuckten. Dann setzte er wieder die stoische Miene des erfahrenen Butlers auf und sagte zu den restlichen Einwanderern: »Wer als Dienstbote hier ist, folgt bitte Holt.« Er wies auf einen Lakaien, der in der Eingangshalle wartete. »Die Übrigen bitte mir nach.«
Sobald Manny, Jazen und Andrew sowie alle Eyrier außer Prinz Falonar die große Eingangshalle verlassen hatten, wandte sich Surreal an Lucivar. »Hättest du nicht anordnen sollen, die Kinder bei ihren Eltern zu belassen? Ich möchte bezweifeln, dass sie sich an diesem fremden Ort alleine wohl fühlen werden.«
Prinz Aaron räusperte sich heftig.
Lord Khardeen legte den Kopf in den Nacken und musterte die Decke.
Einen Moment lang starrte Lucivar Surreal nur an, bevor er gedehnt sagte: »Wenn du Beale oder Helene vorschreiben möchtest, wie sie den Haushalt zu führen haben, dann nur zu, versuch es. Aber gib mir Zeit, mich aus der Schusslinie zu bringen, bevor du damit anfängst.«
»Komm schon, Lady Surreal«, meinte Aaron. »Lass uns dir dein Gemach zeigen, bevor du die gesamte Burg niederreißt.«
Lucivar wartete, bis Aaron und Khardeen Surreal und Wilhelmina aus der Eingangshalle geführt hatten. Dann erst wandte er sich an Falonar. »Was gibt es?«
Falonar straffte die Schultern. »Wieso hast du Endar besonders herausgehoben?«
»Da der Haushalt nun weiß, dass Endar Dorians Ehemann ist, wird niemand Anstoß daran nehmen, dass er sich das Bett mit ihr teilt. Und glaub mir, hier gibt es Männer, die nicht eine Sekunde lang zögern würden, ihn in Stücke zu reißen, wenn man sie nicht rechtzeitig darauf aufmerksam macht, dass er nicht gegen ihren Willen bei ihr liegt.« Er atmete tief ein und stieß die Luft dann langsam wieder aus. »Ich werde euch die Regeln morgen erklären. Sag den Männern heute Abend einfach, sie sollen sich zunächst von sämtlichen Frauen fern halten.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Gewöhnt euch besser hier ein. Wir werden ein paar Tage auf der Burg bleiben.«
Nachdem Falonar gegangen war, sagte Lucivar zu Daemon: »Komm, beeilen wir uns, damit wir beide etwas zu essen und etwas Schlaf bekommen.«
Daemon folgte Lucivar die Treppe im Familiensalon hinauf und durch ein Labyrinth aus Gängen. Nach ein paar Minuten des Schweigens, meinte er: »Du hast ihn Daemonar genannt.«
»Das war so ähnlich, wie es ging, ohne dem Namen seine eyrische Note zu nehmen.« Lucivars Stimme klang leicht belegt.
»Ich fühle mich geschmeichelt.«
Lucivar schnaubte verächtlich. »Tja, das hättest du tatsächlich auch sein können, als er noch ein Baby war. Sobald er ins Krabbelalter kam, verwandelte er sich in ein kleines Ungeheuer. « Er fuhr sich mit der Hand durch das schulterlange Haar. »Und es ist nicht allein meine Schuld. Ich habe das nicht im Alleingang zustande gebracht, aber daran scheint sich niemand mehr erinnern zu können.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum«, sagte Daemon trocken und beobachtete, wie Lucivar vor Empörung einen roten Kopf bekam.
»Wenn er etwas Entzückendes macht, ist er stets der Sohn seiner Mutter. Verhält er sich klug, ist er der Enkel des Höllenfürsten. Doch wenn er sich wie ein verflixtes kleines Ungeheuer aufführt, ist er mein Sohn.« Lucivar massierte sich die Brust. »Manchmal könnte ich schwören, dass er Dinge anstellt, bloß um zu sehen, ob mein Herz stehen bleibt.«
»Wie heute Abend?«
Lucivar winkte ab. »Nein, das war nur … nur … Übermut. Was soll ich dir sagen? Er ist ein kleines Monster.«
Sie bogen um eine Ecke und stießen beinahe mit einer hübschen Eyrierin zusammen. Sie trug ein langes, praktisches Nachthemd und hielt ein dickes Buch umklammert.
»Dein Sohn«, sagte sie, jedes einzelne Wort betonend, »ist kein Monster!«
»Wie dem auch sei«, sagte Lucivar, dessen Augen sich zu Schlitzen verengten. »Wieso bist du nicht im Bett, Marian? Du solltest dich heute ausruhen.«
Marian schnaubte verärgert. »Ich habe fast den ganzen Vormittag vor mich hin gedöst. Nachmittags habe ich ein wenig mit Daemonar gespielt, und dann haben wir beide ein Mittagsschläfchen gehalten. Ich bin nur aufgestanden, um mir ein Buch auszuleihen. Bis mir Beale eine Tasse heiße Schokolade und einen Teller mit Keksen bringt, liege ich längst wieder in den Federn.«
Lucivars Augen wurden noch schmaler. »Marian! Hast du heute etwa nichts gegessen?«
Verwundert starrte Daemon Lucivar an. Selbst ein Narr – oder ein eyrischer Mann – sollte abschätzen können, dass die Frau innerlich vor Wut kochte.
»Onkel Andulvar kam vorbei, um sich zu vergewissern, ob ich auch reichlich gefrühstückt hätte. Prothvar brachte mir am Vormittag einen Imbiss. Zu Mittag habe ich mit Daemonar gegessen. Allerdings war Mephis sicher, dass ich am Verhungern sei, und servierte mir am Nachmittag noch eine Kleinigkeit. Und dein Vater hat sich bereits bei mir erkundigt, was ich zu Abend gegessen habe. Es ist bereits genug Wirbel um mich gemacht worden, vielen Dank!«
»Ich mache keinen Wirbel«, knurrte Lucivar, um dann leise hinzuzufügen: »Dazu hatte ich gar keine Gelegenheit.«
Marian warf Daemon einen bedeutsamen Blick zu. »Solltest du dich nicht lieber um deinen Gast kümmern?«
»Er ist kein Gast, sondern mein Bruder.«
Mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen streckte Marian die Hand aus. »Dann musst du Daemon sein. Oh, ich bin so froh, dass du endlich hier bist! Jetzt habe ich noch einen Bruder.«
Bruder? Daemon sah Lucivar fragend an, während er nach ihrer Hand griff.
Besitzergreifend strich Lucivar über Marians Haar, das ihr bis zur Taille reichte. »Marian hat mir die Ehre erwiesen, meine Frau zu werden.«
Und Daemonars Mutter! Der Boden gab kurz unter Daemons Füßen nach und war kurz darauf wieder an der gewohnten Stelle.
Marian drückte seine Hand, die Augen voll Sorge. Lucivars Blick war schärfer.
In Daemons Innern prallten Gefühle aufeinander und hämmerten gegen seinen zerbrechlichen Geist. Da es keine Sicherheiten gab, an denen er sich hätte festhalten können, wich er einen Schritt zurück und machte sich ein weiteres Mal daran, mühevoll die Kontrolle über seine Gefühle wiederzuerlangen.
Lucivar zog an dem Buch, das Marian umklammert hielt, um den Titel lesen zu können. Vielleicht spürte er, dass Daemon Zeit brauchte.
»Ist das wieder so ein tränenreiches Buch?«, wollte Lucivar misstrauisch wissen.
Marian breitete die Flügel aus und schloss sie mit einem lauten Geräusch wieder. »Ein was?«
»Du weißt schon, eines dieser Bücher, die Frauen gerne lesen und bei deren Lektüre sie permanent weinen müssen. Das letzte Mal, als du so eines gelesen hast, warst du so aufgebracht, als ich ins Zimmer kam, um herauszufinden, was los war, dass du mit dem Buch nach mir geworfen hast.«
Marian kochte nun nicht länger nur innerlich vor Wut. »Ich war nicht wegen des Buches aufgebracht! Du bist mit gezückter Waffe ins Zimmer gestürmt und hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt!«
»Du hast geweint. Ich dachte, jemand hätte dir etwas angetan. Sieh mal, ich möchte doch bloß im Vorhinein wissen, ob du wegen des Romans in Tränen ausbrechen wirst.«
»Als Jaenelle es gelesen hat, bist du bestimmt nicht in ihr Zimmer gestürmt, wenn sie in Tränen aufgelöst war.«
Lucivar beäugte das Buch, als seien dem Einband soeben Reißzähne gewachsen »Oh, das Buch!« Beschützend legte er sich den Arm vor den Bauch. »Ich bin durchaus in ihr Zimmer gestürmt. Sie war um einiges treffsicherer als du.«
Marians Fauchen verwandelte sich in ein Lachen. »Armer Lucivar! Du gibst dir so viel Mühe, die Frauen in deiner Familie zu beschützen, und wir wissen es einfach nicht zu schätzen, was?«
Lucivar grinste. »Na ja, wenn es in der Geschichte interessante Liebesszenen gibt, dann merk sie dir. In ein paar Tagen wirst du mich dann sehr wohl zu schätzen wissen.«
Marian warf Daemon einen liebevollen Blick zu und errötete.
Nachdem Lucivar sie zärtlich geküsst hatte, trat er zur Seite, um ihr den Weg frei zu machen. »Jetzt aber ab ins Bett mit dir!«
»Bis morgen also, Daemon«, sagte Marian ein wenig scheu.
»Gute Nacht, Lady Marian«, war alles, was Daemon hervorbrachte.
Die beiden Männer sahen ihr nach, bis sie in ihrer und Lucivars Zimmerflucht verschwunden war. Dann streckte Lucivar die Hand aus, doch Daemon erstarrte und verweigerte sich der Berührung.
Lucivar ließ die Hand wieder sinken. »Die Zimmerflucht des Höllenfürsten liegt hier den Korridor entlang. Er wird dich sehen wollen.«
Daemon war nicht in der Lage, sich zu bewegen. »Ich dachte, du hättest Jaenelle geheiratet.«
»Wie kommst du darauf, ich könnte Jaenelle geheiratet haben?«
Die Überraschung in Lucivars Stimme ärgerte Daemon. »Du warst hier«, versetzte er grimmig. »Warum solltest du sie nicht heiraten wollen?«
Eine ganze Minute lang sagte Lucivar nichts. »Das war immer dein Traum, Daemon, nicht der meine«, flüsterte er schließlich. Er wandte sich um und ging den Gang entlang. »Komm schon.«
Daemon folgte ihm langsam. Als Lucivar stehen blieb und an eine Tür klopfte, ging Daemon weiter, da ihn eine starke dunkle, weibliche Signatur anzog, die aus einem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors drang.
»Daemon?«
Lucivars Stimme ging in einer mächtigen Gefühlswoge unter.
Daemon öffnete die Tür und betrat ein Wohnzimmer. An einer Wand befanden sich Einbauregale über einer Reihe hüfthoher Holzvitrinen. Ein Sofa, zwei dreieckige Beistelltischchen und zwei Sessel umrahmten einen langen, tiefen Tisch. Neben einem Sessel war ein großer Korb voll Wollknäuel und Seide sowie einer teilweise fertig gestellten Handarbeit. Vor der gläsernen Doppeltür, die auf den Balkon führte, stand ein Schreibtisch. Auf einem Stufengestell in einer Ecke befanden sich zahlreiche Pflanzen.
Die mentale Signatur strömte durch ihn hindurch. Oh, wie gut er sich an diese Signatur erinnern konnte! Doch etwas hatte sich daran geändert; eine zarte, köstlich moschusartige Note war hinzugekommen.
Noch bevor ihm die Bedeutung dieser Veränderung ihrer Signatur völlig bewusst war, spannte sich sein Körper an und all seine Sinne fokussierten sich. Dann fielen ihm die blauen Hausschuhe neben einem der Sessel auf. Die Schuhe einer Frau.
Entgegen jeglicher Vernunft, trotz seines Begehrens, und obwohl er geglaubte hatte, Lucivar sei mit ihr verheiratet, war ihm nicht wirklich klar gewesen, dass sie nicht länger das Kind war, das er einst gekannt hatte. Sie war erwachsen geworden.
Die Zimmerwände verblassten, bis sie grau waren, dann verdunkelten sie sich und fingen an, einen Tunnel um ihn her zu bilden.
»Daemon.«
An jene tiefe Stimme konnte er sich auch erinnern. Er hatte sie belustigt gehört, wütend und voll ungezügelter Macht. Er hatte sie schon heiser und ermattet vernommen, und er hatte gehört, wie sie ihn anflehte, nach oben zu greifen und die Hilfe und Kraft anzunehmen, die ihm angeboten wurden.
Langsam drehte er sich um und starrte Saetan an. Der Prinz der Dunkelheit. Der Höllenfürst. Sein Vater.
Saetan streckte ihm die Hand mit den schlanken Fingern und den langen, schwarz gefärbten Nägeln entgegen. »Daemon … Jaenelle lebt«, sagte er leise.
Das Zimmer schrumpfte. Der Tunnel wurde immer schmaler. Die Hand wartete auf ihn, bot ihm Kraft, Sicherheit und Trost – all die Dinge, denen er sich verweigert hatte, als er im Verzerrten Reich gewesen war.
»Daemon.«
Daemon machte einen Schritt vorwärts. Er hob seine Hand mit den schlanken Fingern und den langen, schwarz gefärbten Nägeln. Diesmal fürchtete er seine eigene Zerbrechlichkeit. Er würde die Versprechen, die Saetan ihm bot, kein zweites Mal ausschlagen.
Er tat einen weiteren Schritt auf die Hand zu, die ein Spiegelbild der seinen war.
Kurz bevor ihre Finger sich berühren konnten, verschwamm das Zimmer um ihn her und er stürzte ins Dunkel. »Lass den Kopf unten, Junge. Atme langsam und ruhig. So ist es gut.«
Die Hand, die ihm über Kopf, Nacken und Wirbelsäule strich, strahlte gelassene Kraft und Wärme aus.
Von der Anstrengung wurde ihm übel, doch nach kurzer Zeit hatte Daemon das Gefühl, dass sein Gehirn und sein Körper wieder einigermaßen zusammenarbeiteten, und er schlug die Augen auf. Er starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen – erdbraun mit Wirbeln in frischem Grün und Rostrot. Offensichtlich konnte der Teppich sich nicht recht entscheiden, ob er Frühling oder Herbst repräsentierte.
»Möchtest du einen Brandy oder einen Eimer?«, wollte Lucivar wissen.
Weshalb sollte er einen Eimer wollen?
Eine Welle der Übelkeit schlug über ihm zusammen. Vorsichtig schluckte er. »Brandy.« Er biss die Zähne zusammen und hoffte, nicht die falsche Wahl getroffen zu haben.
Als Lucivar zurückkehrte, wurde Daemon ein großzügig gefülltes Glas in die Hand gedrückt, außerdem bekam er zusätzlich einen Eimer zwischen die Füße geschoben.
Die Hand, die seinen Nacken massierte, verharrte. »Lucivar«, sagte Saetan, dessen Stimme halb belustigt, halb ärgerlich klang.
»Helene wird nicht gerade erbaut davon sein, wenn er sich auf den Teppich übergibt.«
Daemon kannte den Ausdruck nicht, den Saetan benutzte, aber er klang unschön. Es war kleinlich, aber er empfand eine kindische Freude darüber, dass sein Vater Partei für ihn ergriff.
»Zur Hölle mit dir«, meinte er, wobei er sich aufsetzte und einen Schluck Brandy trank.
»Wenigstens bin ich nicht derjenige, der eben noch beinahe auf die Schnauze gefallen wäre«, versetzte Lucivar launig, dessen Flügel unruhig hin und her schlugen.
»Kinder«, mahnte Saetan.
Da sein Magen den Brandy nicht sofort wieder von sich gab, nahm Daemon einen weiteren Schluck – und machte sich daran, endlich die Fragen zu stellen, die dringend einer Antwortet bedurften. »Sie lebt wirklich?«
»Sie lebt wirklich«, erwiderte Saetan sanft.
»Sie hat hier gelebt, seit …« Er brachte es nicht über sich, es auszusprechen.
»Ja.«
Daemon wandte den Kopf, da er die Antwort nicht nur hören, sondern auch in Saetans Augen sehen musste. »Und sie ist geheilt?«
»Ja.«
Doch ihm entging der zögerliche Ausdruck in den goldenen Augen nicht.
Während er erneut von dem Brandy trank, dämmerte ihm allmählich, dass das Zimmer zwar von Jaenelles dunkler mentaler Signatur durchtränkt war, dass die Spuren jedoch nicht frisch waren. »Wo ist sie?«
»Sie macht ihre Herbstreise durch die verwandten Territorien«, gab Saetan Auskunft. »Wir versuchen gemeinhin, sie in dieser Zeit nicht zu stören, aber ich könnte …«
»Nein.« Daemon schloss die Augen. Er benötigte Zeit, sein Gleichgewicht wiederzufinden, bevor er ihr erneut gegenübertrat. »Es kann warten.« Es hatte schon dreizehn Jahre lang gewartet. Ein paar Tage mehr würden keinen Unterschied machen.
Zögernd warf Saetan Lucivar einen Blick zu, woraufhin dieser nickte. »Es gibt da etwas, über das du dir Gedanken machen solltest, bevor sie zurückkommt.« Er rief eine kleine Schmuckschatulle herbei und schob dann den Deckel mit dem Daumen zurück.
Daemon sah gebannt auf den Rubin, der in den Goldring eingelassen war. Ein Ring der Hingabe. Der Ring, den der Gefährte einer Königin trug. Er hatte den Ring im Verzerrten Reich gesehen, wo er um den Stiel eines Kristallkelches gelegen hatte, der zersplittert und anschließend wieder sorgsam zusammengesetzt worden war. Jaenelles Kelch. Jaenelles Versprechen.
»Es liegt nicht bei dir, ihn anzubieten«, sagte Daemon. Er hielt das Brandyglas fest umklammert, um nicht nach dem Ring zu greifen.
»Ich bin es nicht, der ihn anbietet, Prinz. Als Haushofmeister des Dunklen Hofes ist er mir zur Aufbewahrung anvertraut worden.«
Nervös leckte sich Daemon über die Lippen. »Ist er je getragen worden?« Jaenelle war mittlerweile fünfundzwanzig. Es bestand kein Grund, zu glauben – zu hoffen –, er habe nie zuvor den Finger eines anderen Mannes geziert.
In Saetans Augen lag eine Mischung aus Erleichterung und Trauer. »Nein.« Er machte die Schatulle wieder zu und hielt sie ihm entgegen.
Daemons Hand schloss sich krampfartig darum.
»Komm schon, Junge«, meinte Saetan, wobei er das Brandyglas an Lucivar weiterreichte und Daemon aufhalf. »Ich zeige dir dein Zimmer. In ein paar Minuten wird Beale dir ein Tablett hochbringen. Versuch etwas zu essen und zu schlafen. Morgen können wir uns weiter unterhalten.«
Daemon öffnete die Glastür und trat auf den Balkon. Der seidene
Morgenmantel war zu dünn und konnte nicht verhindern, dass die
Nachtluft ihm die Wärme raubte, die ihm ein langes Bad geschenkt
hatte. Doch er musste einen Augenblick im Freien sein und dem
Gesang des Wassers lauschen, das unten in dem natürlich wirkenden
Brunnen in der Mitte des Gartens über den Stein plätscherte. Nur in
zwei Zimmern, die auf den Garten hinausgingen, war weicher
Lichtschein zu sehen. Handelte es sich um Gästezimmer? Oder
bewohnten Aaron und Khardeen jene Gemächer?
Saetan hatte gesagt, dass bisher kein Mann den Ring der Hingabe getragen habe, aber …
Daemon atmete tief und langsam durch. Sie war eine Königin, und eine Königin hatte ein Anrecht auf jegliches Vergnügen, das die Männer an ihrem Hof ihr bieten konnten.
Und nun war er hier.
Zitternd kehrte er in das Zimmer zurück, schloss die Glastür und zog die Vorhänge vor. Dann schlüpfte er aus dem Morgenmantel, stieg in sein Bett und zog sich die Decke über den nackten Körper. Er legte sich auf die Seite und starrte etliche Minuten lang die Schmuckschatulle an, die auf dem Nachttisch stand.
Er war nun hier. Jetzt hatte er die Wahl.
Er holte den Ring der Hingabe aus der Schatulle und steckte ihn sich an den Ringfinger seiner linken Hand.
6 Kaeleer
Während Surreal damit beschäftigt war, ihre Toilettenartikel in den Badezimmerschrank zu räumen, hielt sie inne und lauschte. Ja, jemand hatte ihr Schlafzimmer betreten. War das Dienstmädchen zu einer weiteren höflichen Auseinandersetzung zurückgekehrt? Sie hatte der Frau doch deutlich gesagt, dass sie keine Hilfe beim Auspacken benötigte – und hatte sich über den leisen Kommentar gewundert, den sie geerntet hatte: Keine Frage, du bist eine SaDiablo.
Vielleicht war sie tatsächlich ein wenig voreilig gewesen. Schließlich hatte sie keine Lust, ihre Wäsche während ihres gesamten Aufenthalts auf der Burg – wie lange der auch sein mochte – selbst zu waschen.
Auf dem Weg zur Badezimmertür durchforstete sie das Schlafzimmer vorsorglich mithilfe der Kunst. Sie fletschte die Zähne. Es war nicht das Dienstmädchen. Stattdessen war soeben ein Mann dabei, es sich in ihrem Zimmer bequem zu machen! Sie hielt inne. Die mentale Signatur war zweifellos männlich – aber irgendetwas stimmte damit nicht.
Sie rief ihren Lieblingsdolch herbei und legte einen Sichtschutz darum. Aufgrund der Art, wie sie die Arme herabhängen ließ, die rechte Hand locker um den Dolchgriff gelegt, hätte niemand vermutet, dass sie eine Waffe gezückt hielt – außer die betreffende Person wusste, wer und was sie war. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um einen Mann, der von ihrem früheren Beruf gehört hatte und sich dachte, sie würde ihn nur allzu gerne verwöhnen – wie jene feigen Mistkerle auf dem Dienstbasar, die sie bedrängt hatten, einen Vertrag zu unterschreiben und in einem ›aristokratischen‹ Haus des Roten Mondes zu arbeiten.
Nun, wenn dieser Mann erwartete, sich mit ihr zu vergnügen, würde sie ihn einfach darüber aufklären, dass er zuerst mit dem Haushofmeister über die Entschädigung zu sprechen habe. Außer, es handelte sich um den Haushofmeister. Glaubte er wirklich, sie würde sich aus einem Vertrag freikaufen, den sie überhaupt nicht hatte unterschreiben wollen?
Innerlich vor Wut schäumend, betrat Surreal das Schlafzimmer – und blieb wie angewurzelt stehen, nicht sicher, ob sie losschreien oder lachen sollte.
Ein riesiger grauer Hund hatte den Kopf in ihrem offenen Schrankkoffer vergraben. Die Spitze seines Schwanzes schlug wie ein Metronom hin und her, während er an ihren Kleidungsstücken schnupperte.
»Irgendetwas Interessantes entdeckt?«, wollte Surreal wissen.
Der Hund machte einen Satz von dem Koffer weg und lief auf die Tür zu. Dann blieb er jedoch stehen. Ein nervöses Zittern durchlief seinen Körper, wobei er sie aus braunen Augen anstarrte. Sein Schwanz gab zwei hoffnungsvolle Tock-Tocks von sich, bevor er sich zwischen den Hundebeinen einrollte.
Surreal ließ den Dolch verschwinden. Ohne den Hund ganz aus den Augen zu lassen, überprüfte sie den Inhalt des Schrankkoffers. Als sie sah, dass er nichts anderes getan hatte, als daran zu schnüffeln, entspannte sie sich und wandte sich zu dem Tier um.
»Du bist groß«, sagte sie freundlich. »Darfst du überhaupt in die Burg?«
»Wuff.«
»Du hast Recht. Wenn man bedenkt, wie groß die Burg ist, war das eine dumme Frage.« Sie streckte ihm ihre zu einer losen Faust geballte Hand entgegen.
Er nahm die Einladung an und beschnupperte ihre Hand, ihre Füße, ihre Knie, ihre …
»Nimm sofort deine Schnauze aus meinem Schritt«, knurrte Surreal.
Er wich einige Schritte zurück und musste niesen.
»Tja, das ist deine Meinung.«
Sein Mund verzog sich zu einem Hundegrinsen. »Wuff.«
Lachend räumte Surreal ihre Kleidungsstücke in den hohen Schrank und die mit einem Spiegel versehene Frisierkommode. Nachdem sie das letzte Stück weggehangen hatte, schloss sie den Koffer.
Sobald der Hund sah, dass ihre Aufmerksamkeit nun wieder ihm galt, setzte er sich und streckte ihr eine Pfote entgegen.
Na ja, im Grunde wirkte er gutmütig.
Sie schüttelte ihm die Pfote. Anschließend fuhr sie ihm mit den Händen durch das Fell, kratzte ihn hinter den Ohren und kraulte ihm den Kopf, bis er glückselig die Augen schloss. »Du bist ein hübsches Kerlchen, nicht wahr? Ein großer Bursche mit dickem Pelz.«
Er gab ihr zwei leidenschaftliche, wenn auch schlabberige Küsse aufs Kinn.
Surreal richtete sich auf und streckte sich. »Jetzt muss ich aber los, Junge. Irgendwo hier auf der Burg wartet mein Abendessen auf mich, und ich habe vor, es zu finden.«
»Wuff.« Mit wedelndem Schwanz sprang der Hund auf die Tür zu.
Sie beäugte ihn. »Na, ich schätze mal, du wirst wissen, wo es etwas zu essen gibt. Gib mir nur schnell Zeit, mich fertig zu machen, dann gehen wir auf die Jagd nach dem versteckten Abendessen.«
»Wuff.«
Beim Feuer der Hölle, dachte Surreal, während sie sich die Hände wusch und die Haare kämmte. Sie musste erschöpfter sein, als sie gedacht hatte, wenn sie sich einbildete, einen gewissen Tonfall aus dem Hundegebell herauszuhören. Es klang fast so, als würde der Hund ihr tatsächlich antworten! Und sie hätte schwören können, dass das letzte Wuff amüsiert geklungen hatte. Ebenso wie sie hätte schwören können, dass jemand versuchte, sie auf einem mentalen Kommunikationsfaden zu erreichen, wobei die Verbindung jedoch auf ihrer Seite nicht richtig zustande kam.
Die Stimmung des Hundes hatte sich verändert, als sie in das Schlafzimmer zurückkehrte. Nachdem sie die Tür in den Gang geöffnet hatte, bedachte er sie mit einem traurigen Blick und stahl sich hinaus.
Prinz Aaron lehnte an der gegenüberliegenden Korridorwand.
Er war ein gut aussehender Mann mit schwarzem Haar, grauen Augen und von einer Größe und Statur, die zweifellos bei den Frauen gut ankamen. Gegen Sadi würde er zwar den Kürzeren ziehen – aber wer würde das nicht? Sie konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass Aaron je verlegen um Einladungen vonseiten der Damenwelt gewesen war.
Vielleicht erklärte das die Wachsamkeit, die unter dem arroganten Selbstbewusstsein verborgen lag, das er zur Schau trug.
»Da ihr euch hier noch nicht auskennt, wollte ich dich und Lady Benedict zum Esszimmer begleiten«, sagte Aaron, und sah dabei aus, als könne er sich kaum ein Lächeln verkneifen. »Aber wie ich sehe, hast du bereits einen Begleiter.«
Der Hund spitzte die Ohren. Sein Schwanz machte Tock-Tock .
Der Gang füllte sich mit lästigen männlichen mentalen Strömungen. Kurzzeitig war Surreal versucht, einem der beiden einen festen Klaps zu verpassen, um zu unterbinden, was auch immer da im Gange sein mochte. Doch wenn sie es sich mit ihren Begleitern verscherzte, würde sie versuchen müssen, das Esszimmer auf eigene Faust zu finden.
Glücklicherweise trat Wilhelmina Benedict just in diesem Augenblick aus ihrem Zimmer, welches an Surreals Schlafgemach grenzte. Nachdem Aaron auch Wilhelmina erklärt hatte, dass er ihr Begleiter sei, bot er beiden Frauen je einen Arm, und die drei begannen den langen Weg durch die Burg. Der Hund folgte ihnen dicht auf den Fersen.
»Die Dienstboten müssen abends völlig erschöpft sein«, stöhnte Surreal, als sie in einen weiteren Korridor bogen.
»Nicht wirklich«, erwiderte Aaron. »Das Personal arbeitet im Wechsel in einem Flügel der Burg nach dem anderen. Auf diese Weise erhält jeder die Gelegenheit, im Familienflügel und den Flügeln zu arbeiten, in denen der Hof residiert, wenn er auf der Burg weilt.«
»Willst du damit sagen, dass ich genau die gleiche Auseinandersetzung von vorhin mit noch einem Dienstmädchen haben werde?«, jammerte Surreal.
Aaron warf ihr einen belustigten Blick zu. »Hast du dir etwa dein Bad selbst eingelassen?«
»Ich habe mir nicht die Mühe gegeben, zu baden«, fuhr Surreal ihn an. »Setz dich beim Essen einfach nicht in meine Nähe.«
Klugscheißerin.
Er brauchte es nicht laut zu sagen. Seine Miene verriet alles.
Surreal sah zu ihrem pelzigen Begleiter zurück. Nun, Tiere sollten sich als Gesprächsthema für unverbindliches Geplauder eignen. »Er wird hier drin geduldet, ja?«
»Oh ja«, antwortete Aaron. »Obwohl ich überrascht war, ihn zu sehen. Normalerweise bleibt das Rudel in den nördlichen Wäldern, wenn sich Fremde auf der Burg aufhalten.«
»Das Rudel? Was für eine Hunderasse ist es denn?«
»Er ist kein Hund, sondern ein Wolf. Und er ist ein verwandtes Wesen.«
Wilhelmina zuckte zusammen und sah den Wolf ängstlich an. »Aber … sind Wölfe denn nicht wilde Tiere?«
»Außerdem ist er ein Krieger«, erklärte Aaron, ohne auf Wilhelminas Frage einzugehen.
Surreal beschlich ein leichtes Unbehagen. Von den verwandten Wesen hatte sie schon gehört. Angeblich verfügten sie über ein gewisses Maß an eigener Magie. Aber ihn als Krieger zu bezeichnen … »Willst du damit sagen, dass er ein Angehöriger des Blutes ist?«
»Selbstverständlich.«
»Wieso ist er hierher auf die Burg gekommen?«
»Tja, auf Anhieb würde ich sagen, dass er nach einer Freundin gesucht hat.«
Möge die Dunkelheit Erbarmen haben, dachte Surreal. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? »Dann gehe ich einmal davon aus, dass er nicht wirklich ein wildes Tier ist. Wenn er sich hier im Haus aufhält, muss er zahm sein.«
Aaron schenkte ihr ein grimmiges Lächeln. »Wenn du mit ›zahm‹ meinst, dass er stubenrein ist, dann ist er zahm. So betrachtet, bin ich es ebenfalls.«
Surreal biss die Zähne zusammen. Zur Hölle mit unverbindlichem Geplauder! An diesem Ort wurde jedes noch so unverfängliche Thema allzu leicht zu verbalem Treibsand.
Sie fiel in Wilhelminas Seufzer der Erleichterung ein, als sie eine Treppe erreichten. Hoffentlich war das Esszimmer nicht mehr fern, und sie konnte sich ein wenig von ihrem Begleiter distanzieren. Ihren Begleitern. Wie auch immer.
Mist.
Vielleicht würde Khardeen im Esszimmer sein. Er war ein Krieger, und befand sich damit in der Bluthierarchie in derselben Kaste wie sie. Doch ihre grauen Juwelen waren ranghöher als sein Saphir, sodass sie im Vorteil war. In diesem Augenblick sehnte sie sich nach jeglichem Vorteil den Männern gegenüber, denn sie hatte das dumpfe Gefühl, dass von ihren beiden Begleitern derjenige mit den eindrucksvolleren Zähnen in Wirklichkeit der weniger gefährliche war.
Surreal starrte die geschlossene Holztür an und wünschte sich, sie
hätte die Angelegenheit vor dem Essen erledigt. Der dicke
Gemüseeintopf mit Rindfleisch war köstlich gewesen, ebenso wie das
Brot, der Käse und die leicht säuerlichen Äpfel. Sie hatte alles
mit Begeisterung verspeist, und nun verarbeitete ihr Magen das
ganze Essen, und sie fühlte sich schwer und unbeholfen.
Mit einem leisen Knurren hob sie die Faust, um anzuklopfen. Beim Feuer der Hölle, es handelte sich bloß um ein notwendiges Treffen mit dem Haushofmeister … der jetzt die Befugnis hatte, ihr Leben zu kontrollieren … der abgesehen davon der Kriegerprinz von Dhemlan war … und der Höllenfürst … und der Saetan Daemon SaDiablo hieß.
»Wuff?«
Surreal blickte über ihre Schulter. Der Wolf legte den Kopf schief.
»Ich denke, da hältst du dich besser raus«, meinte sie und klopfte einmal fest an. Als eine tiefe Stimme »Herein« rief, schlüpfte sie in das Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich, bevor der Wolf ihr folgen konnte.
Das Zimmer hatte die Form eines umgekehrten L. Die Längsseite des Raums wies eine bequeme Sitzgruppe mit Tischen, Sesseln und einem schwarzen Ledersofa auf. An den Wänden hingen verschiedene Bilder, von dramatischen Ölgemälden bis hin zu drolligen Kohleskizzen. Fasziniert von der Auswahl wandte sie sich schließlich der Schmalseite des Zimmers zu.
In dieser Nische waren die Seitenwände mit dunkelrotem Samt verhangen. In die Rückwand waren Bücherregale eingelassen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die Mitte des Raums füllte ein Ebenholzschreibtisch aus. Zwei Kerzen erhellten die Tischplatte und den Mann, der hinter der Arbeitsplatte saß.
Im ersten Moment dachte Surreal, Daemon spiele ihr einen Streich. Dann sah sie genauer hin.
Zwar ähnelte sein Gesicht Daemons, doch waren die Züge eher als gutaussehend denn als schön zu bezeichnen. Ihr Gegenüber war ohne Frage älter, und sein dichtes schwarzes Haar wies an den Schläfen zahlreiche silbergraue Strähnen auf. Er trug eine halbmondförmige Brille, die ihn wie einen wohlwollenden Buchhalter wirken ließ. Doch die eleganten Hände waren wie Daemons mit langen, schwarz gefärbten Fingernägeln bewehrt. An der linken Hand trug er den Ring des Haushofmeisters. An der Rechten prangte ein Ring mit schwarzem Juwel.
»Warum setzt du dich nicht?«, sagte er und fuhr fort, auf das Papier zu schreiben, das vor ihm lag. »Das hier wird noch eine Minute in Anspruch nehmen.«
Surreal stahl sich zu dem Sessel vor dem Schreibtisch und ließ sich vorsichtig nieder. Seine Stimme hatte das gleiche tiefe Timbre wie Daemons, das einer Frau durch und durch ging und sie nervös werden ließ. Wenigstens war das sinnliche Feuer, das Daemon selbst dann noch verströmte, wenn er es fest unter Kontrolle hielt, im Fall des Höllenfürsten abgemildert. Vielleicht war das aber auch nur eine Frage des Alters.
Dann steckte der Höllenfürst den Füller in seinen Halter, legte die Brille auf den Schreibtisch, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, um sich mit dem Kinn darauf abzustützen.
Ihr stockte der Atem. Genau so hatte sie Daemon dasitzen sehen, wenn eine Unterhaltung ›förmlich‹ war. Mutter der Nacht, in welchem Verhältnis zueinander standen Sadi und der Höllenfürst genau?
»So, so«, sagte er gelassen. »Du bist also Surreal, Titians Tochter.«
Sie erbebte. »Du kanntest meine Mutter?«
Er lächelte trocken. »Ich kenne sie immer noch. Und da ich mit ihrer Sippe verwandt bin, betrachtet sie mich gewissermaßen als Freund, obgleich ich ein Mann bin.«
Da platzten die Worte aus ihr heraus, die schon die ganze Fahrt hierher in ihrem Innern geschwelt hatten. »Meine Mutter ist keine Harpyie!«
Saetan musterte sie eingehend. »Eine Harpyie ist eine Hexe, die gewaltsam von einem Mann getötet worden ist. Ich würde sagen, dass beschreibt Titian ganz treffend, meinst du nicht? Außerdem«, fügte er hinzu, »ist es alles andere als eine Beleidigung, die Königin der Harpyien zu sein.«
»Oh.« Surreal strich sich die Haare hinter die Ohren. Er ließ seine Worte betont sachlich klingen. Außerdem war der respektvolle Unterton in seiner Stimme nicht zu überhören.
»Möchtest du sie sehen?«, fragte Saetan.
»Aber … wenn sie dämonentot ist …«
»Hier auf der Burg ließe sich durchaus ein Treffen arrangieren. Ich könnte sie fragen, ob sie einverstanden ist.«
»Da du der Höllenfürst bist, überrascht es mich, dass du ihr nicht einfach befiehlst, herzukommen«, meinte Surreal mit einem leicht scharfen Unterton.
Saetan lachte in sich hinein. »Schätzchen, ich mag der Höllenfürst sein, aber abgesehen davon bin ich immer noch ein Mann. Ich habe nicht vor, einer Schwarzen Witwe und Königin ohne triftigen Grund Befehle zu erteilen.«
Surreal verengte die Augen zu Schlitzen. »Unterwürfig kann ich mir dich gar nicht vorstellen.«
»Ich bin nicht unterwürfig, aber ich diene. Es wäre klug von dir, diese beiden Dinge nicht miteinander zu verwechseln, solange du es mit den Männern an diesem Hof zu tun hast.«
Na, wunderbar!
»Besonders, da du öffentlich erklärt hast, ein Mitglied dieser Familie zu sein«, setzte Saetan hinzu.
Beim Feuer der Hölle! »Sieh mal«, sagte Surreal, indem sie sich vorbeugte. »Ich wusste nicht, dass es hier Leute gibt, die diesen Namen führen.« Und ich rechnete bestimmt nicht damit, ihnen zu begegnen.
»Im Grunde hast du ebenso viel Recht, diesen Namen zu tragen wie Kartane SaDiablo«, meinte er rätselhaft. »Und da du diesen Familiennamen offiziell hast eintragen lassen, wirst du fortan damit leben müssen.«
»Und das bedeutet?«, wollte Surreal argwöhnisch wissen.
Saetan lächelte. »Kurz gesagt bin ich als der Patriarch der Familie ab jetzt für dich verantwortlich, und du hast mir gegenüber Rechenschaft abzulegen.«
»An dem Tag, an dem die Sonne in der Hölle scheint«, gab Surreal freundlich zurück.
»Gib Acht, wie deine Bedingungen lauten, kleine Hexe«, sagte er sanft. »Jaenelle hat eine unheimliche – und manchmal geradezu verstörende – Art, Bedingungen zu erfüllen.«
Surreal musste hart schlucken. »Sie ist tatsächlich in Kaeleer?«
Saetan hielt die Passiermünze empor, die auf dem Schreibtisch gelegen hatte. »Bist du nicht deswegen hergekommen?«
Sie nickte. »Ich wollte herausfinden, was mit Jaenelle geschehen ist.«
»Warum hebst du dir derlei Fragen nicht für sie persönlich auf? Sie wird in ein paar Tagen wieder zu Hause sein.«
»Sie lebt hier?«
»Es ist nicht ihr einziger Wohnsitz, aber ja, sie lebt hier.«
»Weiß Daemon davon?«, erkundigte sie sich. »Er ist nicht zum Abendessen erschienen.«
»Er weiß es«, erwiderte Saetan freundlich. »Er ist ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten.«
»Das ist eine Untertreibung«, murmelte sie. Dann kam ihr etwas anderes in den Sinn, etwas, das nun schon seit dreizehn Jahren an ihr nagte. Wenn jemand in den Reichen die Antwort wusste, musste es ihrer Meinung nach der Höllenfürst sein. »Hast du je vom Hohepriester des Stundenglases gehört?«
Sein Lächeln bekam eine grimmige Note. »Durchaus. Ich bin dieser Hohepriester.«
»Oh, verflucht!«
Sein Lachen klang warmherzig und volltönend. »Du hast nicht das Geringste dagegen, mich anzufauchen, obgleich ich der Höllenfürst, der Haushofmeister und der Familienpatriarch bin; aber dass ich der Priester bin, setzt dir dann doch zu?«
Surreal starrte ihn wutentbrannt an. So betrachtet, klang es natürlich dumm. Es war aber dennoch beunruhigend herauszufinden, dass der gefährliche Mann, dessen mentale Signatur sie zumindest teilweise in jener Nacht an Cassandras Altar aufgeschnappt hatte, derselbe Kerl war, der ihr jetzt belustigt an diesem Schreibtisch gegenübersaß. »Dann kannst du Daemon erzählen, was in jener Nacht vorgefallen ist. Du kannst ihm all das sagen, woran er selbst sich nicht mehr erinnern kann.«
Saetan schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Ich kann bestätigen, was passierte, während eine Verbindung zwischen uns bestand, und ich kann ihm berichten, was danach geschah. Doch es gibt nur eine einzige Person, die ihm erzählen kann, was sich im Abgrund ereignet hat.«
Surreal stieß einen Seufzer aus. »Ich habe beinahe Angst davor, was er herausfinden wird.«
»Ich würde mir an deiner Stelle nicht allzu große Sorgen machen. Als Jaenelle öffentlich ihren Hof einberief, wurde der Ring der Hingabe auf ihre Verfügung hin für Daemon reserviert. Was sich auch immer zwischen den beiden zugetragen haben mag, kann nicht allzu bedrückend gewesen sein. Zumindest nicht für Jaenelle«, fügte er ernst hinzu. Er stand auf und kam um den Schreibtisch herum. »Ich muss mich heute Abend noch mit etlichen Eyriern treffen und mir von Aaron, Khardeen und Lucivar Bericht erstatten lassen. Solltest du je Hilfe dabei benötigen, die Angehörigen des Blutes hier zu verstehen, wende dich bitte an mich.«
Surreal begriff, dass ihre Anwesenheit nicht länger erwünscht war, und erhob sich ebenfalls. Sie warf einen Blick auf die Tür. »Eine Sache wäre da noch.«
Saetan musterte die geschlossene Tür. »Wie ich sehe, hast du bereits die Bekanntschaft von Lord Graufang gemacht.«
Beinahe wäre Surreal in Gelächter ausgebrochen.
»Ich weiß, ihre Namen klingen in unseren Ohren eigenartig, wie unsere in den ihren. Obgleich sie vielleicht mehr Grund haben, so zu urteilen. Wenn verwandte Wesen auf die Welt kommen, begibt sich eine Schwarze Witwe in das Reich der Träume und Visionen. Manchmal sieht sie nichts. Manchmal tauft sie eines der Jungen nach diesen Visionen.«
»Nun«, meinte Surreal mit einem Lächeln, »Graufang ist grau, und Fänge hat er auch. Aaron meinte, er sei auf der Suche nach einer Freundin hierher gekommen.«
Saetan schenkte ihr einen seltsamen Blick. »Das ist wohl richtig. Die verwandten Hunde und Pferde haben einen engen Bezug zu den menschlichen Angehörigen des Blutes, da sie schon so lange mitten unter ihnen gelebt haben, wenn auch bis vor acht Jahren heimlich. Die übrigen verwandten Wesen halten sich für gewöhnlich eher von den meisten Menschen fern. Doch wann immer sie einem Menschen begegnen, der zu ihnen passt, versuchen sie, eine Verbindung zu knüpfen, um uns besser verstehen zu lernen.«
»Warum ich?«, fragte Surreal neugierig.
»Die Königinnen hier haben starke Höfe, und die Männer im Ersten Kreis haben Vorrang, was deren Zeit und Aufmerksamkeit betrifft. Als Jungtier muss Graufang warten, bis er an der Reihe ist, und diese Zeit dann mit anderen, ranggleichen jungen Männchen teilen. Doch du bist eine Hexe mit grauem Juwel, auf die sonst noch keine Männer Anspruch erheben.«
»Abgesehen von den Männern in meiner Familie«, erwiderte Surreal verstimmt.
»Abgesehen von den Männern in deiner Familie«, stimmte Saetan ihr zu. »Auf beiden Seiten.«
Sie zischte vor Wut.
»Aber diese Art Anspruch ist nicht ganz das Gleiche. Du bist keine Königin, deren Hof bereits nach dem Protokoll gegliedert ist. Wenn du Graufang also akzeptierst, bevor die anderen Männer merken, dass du hier bist, wird er allen anderen Männern außer deinem Partner gegenüber eine Vormachtstellung innehaben, selbst wenn ein anderer Mann dunklere Juwelen tragen sollte. Da er nicht alt genug ist, der Dunkelheit sein Opfer darzubringen, und immer noch sein purpurnes Geburtsjuwel trägt, ist es mehr als wahrscheinlich, dass ein Mann mit dunkleren Juwelen Interesse an dir zeigen wird.«
»Was aber immer noch nicht erklärt, wieso er es ausgerechnet auf mich abgesehen hat.«
Langsam streckte Saetan die Hand aus. Mit dem linken Zeigefinger griff er nach der Goldkette an ihrem Hals und zog sie aus ihrem Hemd hervor, bis das graue Juwel zwischen ihnen baumelte.
Zuerst deutete sie seine leichte Berührung als subtile Art der Verführung. Dann erkannte sie jedoch, dass die Geste überhaupt nicht verführerisch gemeint gewesen war. Es war einfach etwas, das für ihn so natürlich war wie das Atmen.
Ein Umstand, der ihrer geistigen Verfassung nicht unbedingt gut bekam.
»Denk einmal darüber nach«, meinte er. »Vielleicht wurde ihm sein Name nicht gegeben, weil er grau ist und Fänge besitzt, sondern weil es seine Bestimmung ist, Grau zu fangen. «
»Mutter der Nacht.« Surreal blickte auf ihr Juwel hinab.
Er ließ den Stein sinken, bis er ihre Brüste berührte. »Die Entscheidung, was ihn betrifft, liegt bei dir, und ich werde jegliche Entscheidung billigen, die du triffst. Aber denk gut darüber nach, Surreal. Die Visionen einer Schwarzen Witwe sollten nicht voreilig abgetan werden.«
Sie nickte. Es war ein wohliges Gefühl, seine Hand an ihrem Rücken zu spüren, während er sie zur Tür geleitete. Als er nach dem Türknauf griff, legte sie die Hand an die Tür, um sie geschlossen zu halten. »Was ist deine Verbindung zu Daemon?«
»Er und Lucivar sind meine Söhne.«
Das erklärte einiges.
»Daemon hat dein Aussehen geerbt«, stellte sie fest.
»Und ebenfalls mein Temperament.«
Als sie den warnenden Unterton in seiner Stimme hörte, fiel ihr dieselbe Wachsamkeit in seinen goldenen Augen auf, die sie schon bei Aaron entdeckt hatte. Beim Feuer der Hölle, sie musste unbedingt bald jemanden finden, der ihr die Regeln über den Umgang zwischen Männern und Frauen in Kaeleer erklären konnte. Wenn man ihr gegenüber in ihrer Rolle als Kopfgeldjägerin wachsam war, war das eine Sache. Doch im Umgang mit ihr wachsam zu sein, weil sie eine Frau war … Das gefiel ihr nicht. Nicht, wenn es von ihm kam. Es gefiel ihr überhaupt nicht.
»Ich würde meine Mutter gerne treffen«, erklärte sie schroff.
Saetan nickte. »Heute Abend reist der Hof an, und ich kann nicht fort, bis die Königin die Neuankömmlinge formell bestätigt hat. Ich werde jedoch dafür sorgen, dass Titian benachrichtigt wird.«
»Danke.« Verflucht noch mal, hör auf, das Ende eures Gespräches hinauszuzögern! Verschwinde endlich von hier. Sobald er die Tür geöffnet hatte, stürzte sie aus dem Zimmer.
Während Graufang nervös neben ihr hertrottete, hatte sie weiterhin das eigenartige Gefühl, dass etwas an ihren inneren Barrieren vorbeistrich.
Zweimal hätte sie sich ohne die Hilfe des Wolfes verlaufen, obgleich ihr auffiel, dass sich in allen Hauptkorridoren Lakaien befanden. Jeder der Männer erhob sich von seinem Stuhl, warf Graufang einen Blick zu und lächelte Surreal an, ohne etwas zu sagen. Also folgte sie dem Wolf, bis sie mit einem erleichterten Seufzer ihr Zimmer erreichte.
Als Graufang sie eine Minute später verließ, um sich seinen eigenen nächtlichen Unternehmungen zu widmen, entkleidete sie sich rasch und zog einen Pyjama an. Eigentlich zog sie noch immer seidene Nachthemden vor, aber es gab Zeiten – wie heute Abend –, zu denen sie etwas tragen wollte, das schlicht und bequem war.
Sie schleuderte ihre Schmutzwäsche in einen Korb im Badezimmer und erledigte in aller Eile ihr allabendliches Ritual. Dann schlüpfte sie ins Bett und blies die Kerze auf ihrem Nachttisch aus.
Jemand hatte ihr Bettzeug mit einem Wärmezauber belegt. Wahrscheinlich das Dienstmädchen. Insgeheim war Surreal der Frau dankbar, als sie sich unter die Decke kuschelte.
Kurz bevor sie ganz eingedöst war, glitt eine Gestalt durch die Glastür. Surreal versteifte sich und wartete, bis etwas auf ihrem Bett landete, drei Kreise beschrieb und sich dann mit einem zufriedenen Seufzer neben sie legte.
Sie drehte den Oberkörper leicht herum und blickte Graufang an. Erneut konnte sie jenes eigenartige mentale Kitzeln spüren. Diesmal ließ sie sich davon leiten. Sie war ohnehin viel zu müde, um darüber nachzudenken, was sie tat. Viel größere Sorge bereitete ihr die Frage, ob sie am nächsten Morgen mit Flöhen aufwachen würde.
*Keine Flöhe*, erklang eine schläfrige Stimme auf einem mentalen Faden. *Verwandte Wesen kennen Zauber gegen Flöhe und andere juckende Plagen.*
Mit einem Schrei setzte Surreal sich jäh auf.
Graufang sprang ebenfalls auf, die Zähne gefletscht und die Rückenhaare aufgestellt. *Wo ist die Gefahr?*, wollte er wissen. *Ich wittere nichts.*
»Du kannst sprechen!«
Langsam legten sich Graufangs Haare wieder. Die Lefzen zogen sich wieder über die Fänge hinab. *Ich bin ein verwandtes Wesen. Wir wollen uns nicht immer mit Menschen unterhalten, aber wir können es natürlich.*
Mutter der Nacht, Mutter der Nacht, Mutter der Nacht!
Mit wedelndem Schwanz beugte er sich vor und leckte ihr die Wange. *Du hast mich gehört!*, sagte er glücklich. *Niemand hat es dir gezeigt, und du kannst trotzdem schon verwandte Wesen hören!* Er hob den Kopf und jaulte.
Surreal packte ihn an der Schnauze. »Pssst! Du weckst noch alle auf.«
*Ladvarian wird sich freuen.*
»Na prima, ich bin entzückt.« Wer zur Hölle ist Ladvarian? »Lass uns jetzt einfach schlafen gehen, einverstanden?« Doch da sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie die mentale Verbindung zustande gebracht hatte, wusste sie nun nicht, wie sie den Kontakt abbrechen sollte, um ihre Gedanken wieder ganz für sich zu haben.
Sie fühlte einen sanften mentalen Stoß, dann war da wieder jenes seltsame Kitzeln.
»Wuff.«
»Danke«, meinte Surreal matt. Morgen früh, dachte sie, während sie sich in ihr Bettzeug kuschelte und spürte, wie Graufang sich an ihren Rücken schmiegte. Die Sache hat Zeit bis morgen …