Kapitel 3
1 Kaeleer
Daemon richtete sich sorgfältig die Manschetten seines Hemdes und das Jackett. Heute Morgen fühlte er sich ruhiger und in besserer Verfassung. Sein Schlaf war von verschwommenen Träumen und Erinnerungsfetzen unterbrochen worden, und immer wieder war er in dem Wissen aufgewacht, dass ihn nur eine Tür von Jaenelles Schlafzimmer trennte. Außerdem war da noch sein erregter, ruheloser Körper gewesen, der ganz genau wusste, wonach er sich sehnte.
Als er die Hände in seine Hosentaschen steckte, fiel ihm wieder der Ring der Hingabe an seiner Linken auf – als wäre er sich dessen nicht von dem Augenblick an bewusst gewesen, als er am Morgen erwacht war. Es war nicht nur das ungewohnte Gefühl, einen Ring an dieser Hand zu tragen, sondern auch die Pflichten und die Verantwortung, die das Tragen dieses Ringes mit sich brachte, und denen er unbehaglich entgegenblickte. Oh, sein Körper würde seine Pflichten nur allzu gerne erfüllen. Zumindest glaubte er das. Und darum ging es doch, oder etwa nicht? Er wusste wirklich nicht, wie er reagieren würde, sobald er Jaenelle erneut begegnete. Ebenso wenig wusste er, wie sie auf ihn reagieren würde.
Ihm fiel auf, dass Jazen, sein Kammerdiener, beim Verrichten seiner morgendlichen Aufgaben trödelte. Daemon musterte den Mann.
»Hast du dich gestern Abend gut hier eingelebt?«, erkundigte sich Daemon.
Jazen bemühte sich um ein Lächeln, sah ihn dabei jedoch nicht an. »Die Unterkünfte der Dienstboten hier sind sehr großzügig.«
»Und die Dienstboten?«
»Sie sind … höflich.«
Daemon fühlte, wie kalter Ärger in ihm aufstieg, doch er unterdrückte ihn gewaltsam. Jazen hatte schon genug ertragen. Er würde dafür sorgen, dass seinem Diener nicht noch das Leben von Leuten erschwert wurde, die keine Ahnung von der Brutalität hatten, mit der Männer in den terreilleanischen Territorien zu kämpfen hatten, über die Dorothea herrschte. Und wenn er die Burg in ihren Grundfesten erschüttern musste …
»Ich weiß nicht genau, was man heute von mir erwartet.«
Jazen nickte. »Die anderen Kammerdiener deuteten an, dass man sich heute leger kleiden würde, da der Erste Kreis die Neuankömmlinge beurteilen wird. Wer mit dem Höllenfürsten tafelt, zieht sich zum Abendessen um. Keine formelle Kleidung«, fügte er hinzu, als Daemon eine Augenbraue hob. »Doch soviel ich mitbekommen habe, sind die Ladys untertags sehr unkonventionell gekleidet.«
Das eben Gehörte beschäftigte Daemon auf seinem Weg durch die Korridore zum Esszimmer. Aus seiner Erfahrung an den Höfen in Terreille bedeutete legere Kleidung lediglich, dass die betreffenden Kleider aus Stoffen bestanden, die nicht ganz so kostbar waren wie diejenigen, die man zum Abendessen trug.
Im nächsten Moment bog er um eine Ecke und bemerkte eine hellhäutige, rothaarige Hexe, die auf ihn zukam. Sie trug abgewetzte dunkelbraune Hosen und einen langen, ausgeleierten Pullover in Heidegrün, der etliche dekorative Flicken aufwies. Sie ließ den Blick rasch über seinen Körper schweifen und in ihren grünen Augen spiegelte sich Anerkennung wider, doch kein akutes Interesse. »Prinz«, sagte sie höflich, als sie an ihm vorüberging.
»Lady«, erwiderte er mit der gleichen Höflichkeit. Allerdings fragte er sich, wie Beale, den er für einen Pedanten hielt, einer Bediensteten erlauben konnte, sich derart nachlässig zu kleiden. Als er einen Hauch ihrer mentalen Signatur aufschnappte, wirbelte er herum und starrte ihr hinterher, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war.
Eine Königin. Diese Frau war eine Königin!
Erst als sein Magen knurrte, setzte Daemon seinen Weg weiter fort.
Eine Königin. Nun, wenn das die Vorstellung der hiesigen Damenwelt von unkonventioneller Kleidung war, konnte er es nur von Herzen gutheißen, wenn der Höllenfürst darauf bestand, dass man sich zum Abendessen umzog – allerdings hatte er das unbestimmte Gefühl, dass er diese Meinung tunlichst für sich behalten sollte.
Kurz vor dem Esszimmer traf er auf Saetan.
»Prinz Sadi, es gibt da etwas, das ich mit dir besprechen müsste«, sagte Saetan sanft, doch seine Miene wirkte unheilvoll.
Dass Saetan seinen offiziellen Titel verwandte, jagte Daemon einen kalten Schauder über den Rücken.
»Sollen wir es dann am besten gleich hinter uns bringen?«, erwiderte Daemon und folgte Saetan in das offizielle Arbeitszimmer des Höllenfürsten. Er entspannte sich ein wenig, als Saetan sich an die Vorderseite des Ebenholzschreibtisches lehnte, anstatt dahinter Platz zu nehmen.
»Bist du dir im Klaren darüber, dass dein Kammerdiener völlig rasiert ist?«, fragte Saetan sanft, wobei sein Unterton jedoch nichts Gutes ahnen ließ.
»Ich weiß, dass er ein Eunuch ist«, antwortete Daemon ebenso sanft.
»Es gibt nur sehr wenige Vergehen, die diese Bestrafung rechtfertigen. Alle sind sexueller Natur.«
»Jazen hat kein Verbrechen begangen. Er war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort«, gab Daemon wütend zurück. »Dorothea hat ihm das angetan, um ihren Hexensabbat zu unterhalten.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ich war dort, Höllenfürst. Allerdings konnte ich nicht das Geringste für ihn tun, außer die Drogen zu blockieren, die man ihm verabreicht hatte, um ihn bei Bewusstsein zu halten, und ihn ohnmächtig werden lassen. Eine Zeit lang kümmerte sich seine Familie um ihn, aber viele von ihnen sind selbst als Dienstboten tätig. Sobald die Sache bekannt geworden wäre – und dafür sorgt Dorothea jedes Mal –, wäre Jazens Ruf ruiniert gewesen, denn selbstverständlich wäre ihm Derartiges nicht angetan worden, wenn er es nicht verdient hätte. Wäre er bei seiner Familie geblieben, hätten sie ebenfalls ihre Anstellungen verloren. Er ist ein guter Mann und loyal. Er hat ein viel besseres Schicksal verdient, als ihm widerfahren ist.«
»Ich verstehe«, meinte Saetan leise. Er richtete sich auf. »Ich werde Beale die Situation erklären. Er wird sich der Sache annehmen. «
»Wie viel wirst du ihm sagen müssen?«, fragte Daemon misstrauisch.
»Nichts weiter, als dass die Verstümmelung ungerechtfertigt war.«
Daemon lächelte verbittert. »Meinst du wirklich, das wird etwas an der Meinung der anderen Dienstboten ändern? Denkst du, dass sie es glauben werden?«
»Nein, es wird sie lediglich daran hindern, ihr Urteil vor der Ankunft der Lady zu fällen.« Saetan wirkte ernst. »Aber du musst eines begreifen, Prinz. Sollte Jaenelle sich gegen ihn richten, gibt es nichts, was du oder ich oder irgendjemand tun oder sagen könnte, das auch nur den geringsten Unterschied machen würde. Wenn man in Kaeleer einmal Kleinterreille verlassen hat, ist Hexe das Gesetz! Ihr Urteil ist endgültig.«
Daemon dachte über das Gesagte nach. Er nickte. »Ich werde das Urteil der Lady hinnehmen.« Während er Saetan zurück zum Esszimmer folgte, hoffte er inständig, dass die Frau, die Jaenelle geworden war, sich nicht allzu sehr von dem Kind unterschied, dass er gekannt – und geliebt – hatte.
2 Kaeleer
Lord Jorvals Herz hämmerte wild in seiner Brust, als er in das Zimmer zurückkehrte, in dem der Mann mit dem rotblonden Haar und den besorgten grauen Augen auf ihn wartete. Er ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und faltete die Hände, um das aufgeregte Zittern zu verbergen.
»Hast du schon herausgefunden, wo meine Nichte hingegangen ist?«, fragte Philip Alexander.
»Das habe ich«, erwiderte Jorval feierlich. »Als du mir die verwandtschaftlichen Beziehungen erklärt hast, kam mir sofort ein Verdacht, wo ich suchen musste.«
Philip umklammerte die Lehnen seines Sessels so fest, als wolle er sie zerquetschen. »Hat sie einen Vertrag an einem Hof in Kleinterreille unterschrieben?«
»Leider nicht.« Jorval gab sich Mühe, genug Mitgefühl in seine Stimme zu legen. »Du musst das verstehen, Prinz Alexander. Wir konnten nicht wissen, wer sie war. Zwei Ratsmitglieder können sich daran erinnern, dass sie versuchen wollte, ihre Schwester zu finden, doch sie waren davon ausgegangen, dass ihre Schwester früher selbst einmal nach Kaeleer eingewandert war – und in gewissem Sinne trifft das auch zu. Doch woher Jaenelle Angelline stammte, hat der Dunkle Rat nie offiziell erfahren, als der Höllenfürst ihre Vormundschaft übernahm. Es bestand von unserer Seite kein Grund, die beiden Frauen miteinander in Verbindung zu bringen, und als die Ratsmitglieder anfingen, sich Gedanken über den Hintergrund ihrer Erkundigungen zu machen, war es bereits zu spät.«
»Was meinst du mit ›zu spät‹?«, fuhr Philip ihn an.
»Sie wurde dazu … überredet … einen Vertrag bei dem Kriegerprinzen von Ebon Rih zu unterschreiben – und das ist kein anderer als Lucivar Yaslana.«
Warme Zufriedenheit stieg in Jorval empor, als er sah, wie Philip erbleichte. »Wie ich sehe, hast du schon von ihm gehört. Dann ist dir auch klar, in welcher Gefahr deine Nichte schwebt. Und es geht nicht nur um Yaslana, obgleich er schon schlimm genug wäre.« Er hielt inne, um Philip Zeit zu geben, den Haken wie auch den Köder zu schlucken.
»Sie ist die Gefangene von allen dreien, nicht wahr? Sie befindet sich in der Gewalt von Yaslana, Sadi und dem Höllenfürsten – genau wie Jaenelle.«
»Ja.« Jorval seufzte. »Soweit wir wissen, brachte Yaslana sie auf die Burg SaDiablo in Dhemlan. Wie lange sie dort bleiben wird…« Er breitete hilflos die Hände aus. »Vielleicht ist es möglich, sie heimlich aus der Burg zu schaffen, doch sobald er sie einmal in die Berge geschafft hat, die Ebon Rih umgeben, ist es unwahrscheinlich, dass du sie je zurückholen wirst – zumindest solange noch genug von ihr übrig ist, um das Risiko zu rechtfertigen.«
Philip sank in seinem Sessel zusammen.
Jorval wartete einfach eine Weile. Schließlich fügte er hinzu : »Der Dunkle Rat ist nicht in der Lage, dir in dieser Angelegenheit offiziell zu helfen. Inoffiziell werden wir jedoch alles daransetzen, um Jaenelle Angelline und Wilhelmina Benedict wieder ihrer rechtmäßigen Familie zuzuführen.«
Als Philip sich schwerfällig erhob, wirkte er wie ein Mann, auf den man eingeprügelt hatte. »Danke, Lord Jorval. Ich werde diese Kunde meiner Königin überbringen.«
»Möge die Dunkelheit dich leiten und schützen, Prinz Alexander. «
Erst eine Minute, nachdem Philip das Zimmer verlassen hatte, lehnte Jorval sich zurück und seufzte zufrieden über den Verlauf des Treffens. Der Dunkelheit sei Dank, dass Philip ein Prinz war! Er würde sich Sorgen machen und über die Ereignisse nachgrübeln, aber im Gegensatz zu einem Kriegerprinzen würde er tatsächlich zu Alexandra Angelline zurückkehren und sich ihrer Entscheidung fügen. Und welch glückliche Fügung, dass Philip nicht eingefallen war, zu fragen, ob Yaslana einer Königin diente – oder wer sie war! Natürlich hätte Jorval gelogen, wenn Philip ihn gefragt hätte, doch es war durchaus interessant, dass der andere nicht einen Augenblick lang die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, Jaenelle könnte eine Königin sein, die mächtig genug war, um die Männer der Familie SaDiablo zu beherrschen.
Was Alexandra Angelline betraf … Sie würde nützlich sein, um den Höllenfürsten abzulenken und die Loyalitätsverhältnisse am Hof des Schwarzen Askavi zu spalten – solange sie nicht den wahren Grund erkannte, weswegen Jaenelle unbedingt vom Dunklen Hof entfernt werden musste.
3 Kaeleer
Daemon wanderte durch die Räumlichkeiten, die sich im Erdgeschoss der Burg befanden. Seine Gedanken waren voll von den Eindrücken, die während des Frühstücks auf seinen Geist eingedrungen waren. Als er eine Tür erreichte, die auf einen der nicht überdachten Höfe führte, trat er ins Freie und ging in der Hoffnung auf und ab, die frische Luft und das Grün würden ihm helfen, den Kopf freizubekommen.
Er hatte erwartet gehabt, dass das Esszimmer voller Leute sein würde. Schließlich wollten die Eyrier etwas essen, bevor sie die Aufgaben angingen, die Lucivar für sie im Sinn haben mochte. Außerdem hatte er damit gerechnet, dass Khardeen und Aaron anwesend sein würden. Er wusste, dass sie den Ring der Hingabe bemerken und seine Bedeutung begreifen würden. Auf all das war er vorbereitet gewesen. Doch er war nicht auf all die anderen Männer vorbereitet gewesen, die den Ersten Kreis bildeten!
Da gab es Sceron, den Kriegerprinzen von Centauran, der Rot trug. Der dunkelhaarige Zentaur stand neben dem Esstisch und verspeiste ein Gemüseomelett, während er sich mit Morton unterhielt, einem blonden, blauäugigen Krieger aus Glacia. Außerdem war da noch der Krieger Jonah, ein Satyr mit grünem Juwel, der einen Pelz trug, welcher ihm von den Hüften bis zu den gespaltenen Hufen reichte, ohne jedoch all das zu verdecken, was ihn so unglaublich männlich wirken ließ. Es gab Elan, einen Kriegerprinzen aus Tigerlan mit rotem Juwel, der gelbbraune, dunkel gestreifte Haut besaß, und dessen Hände in eingezogenen Krallen endeten. Daemon würde jede Wette eingehen, dass Elan nicht nur diese Äußerlichkeiten mit der dunkel gestreiften Raubkatze gemein hatte, die er von einem Fenster aus erspäht hatte.
Und dann gab es da noch Chaosti, den Kriegerprinzen der Dea al Mon, der ein graues Juwel trug und langes silberblondes Haar sowie spitze Ohren und waldblaue Augen hatte, die für Daemons Geschmack eine Idee zu groß waren. Bei Chaostis Anblick waren jäh sämtliche territorialen Instinkte in Daemon erwacht; vielleicht weil Chaosti ein Mann war, der unabhängig von seinen Juwelen ein ernst zu nehmender Gegner war, oder vielleicht, weil Daemon ein wenig zu viel von sich selbst in dem anderen Mann zu erblicken glaubte. Es war nur Saetans Gegenwart zu verdanken, dass die scharfe Begrüßung nicht in eine offene Auseinandersetzung umgeschlagen war. Jene Begegnung hatte ihn nervös gemacht und ihm zu deutlich seine eigene innere Zerbrechlichkeit vor Augen geführt.
Danach kam ein Kriegerprinz mit grauem Juwel, der sich selbst als Mephis, sein älterer Bruder, vorstellte. Das Zimmer hatte sich leicht zu drehen begonnen, als Daemon klar wurde, dass Saetans ältester Sohn seit mehr als fünfzigtausend Jahren dämonentot sein musste. Vielleicht hätte er sein Gleichgewicht wiedergewonnen, wenn nicht just in dem Augenblick Prinz Andulvar Yaslana und Lord Prothvar Yaslana in den Raum spaziert wären, und ihn das kollektive Entsetzen der eyrischen Neuankömmlinge überrollt hätte, als sie begriffen, wer die beiden sein mussten – und was. Nach einem Blick auf die verängstigten Eyrier und einer leise gemurmelten Bemerkung in Richtung des Höllenfürsten hatten der dämonentote Kriegerprinz und sein Enkelsohn das Zimmer wieder verlassen.
Zu dem Zeitpunkt hatte Daemon sich längst gewünscht, Brandy und nicht Kaffee serviert zu bekommen – ein Wunsch, den man ihm angesehen haben musste. Das Zeug, das Khardeen ihm aus einer silbernen Taschenflasche in den Kaffee gegossen hatte, war kein Brandy gewesen, aber es hatte Daemons Nerven erfolgreich so weit beruhigt, dass er wenigstens etwas essen konnte.
Allerdings war er immer noch zu durcheinander gewesen, um das Frühstück genießen oder sonderlich viel zu sich nehmen zu können. Als er fertig gegessen hatte, stürmte Surreal herein und murmelte, das Striegeln habe mehr Zeit als erwartet in Anspruch genommen. Sie hatte schockiert gewirkt, als ihr Blick auf Chaosti fiel, der die erste Person aus dem Volk ihre Mutter war, die sie je zu Gesicht bekommen hatte. Doch sobald er auf sie zugekommen war, hatte sie die Zähne gefletscht und verkündet, sie werde das nächste männliche Wesen, das ihr vor dem Frühstück in die Quere komme, mit der Klinge ihres Dolches striegeln.
Zumindest hatte sie auf diese Weise ein ruhiges, ungestörtes Frühstück genossen.
Als Daemon das Zimmer verlassen wollte, war eine hoch gewachsene, schlanke Hexe mit weißblondem Stachelhaar hereingekommen, hatte ihm einen einzigen Blick zugeworfen und laut erklärt: »Beim Feuer der Hölle, er ist eine Schwarze Witwe!«, so laut, dass es in jedem Winkel der Burg zu hören gewesen sein musste.
Dass er von Natur aus eine Schwarze Witwe war – und abgesehen von Saetan die einzige männliche –, hatte er all die Jahrhunderte seit dem Erreichen seiner sexuelle Reife hindurch geheim halten können; genauso, wie er den Schlangenzahn und das damit verbundene Gift unter dem Ringfingernagel seiner rechten Hand erfolgreich verborgen gehalten hatte. All seine Vorkehrungen, die er schon immer instinktiv getroffen hatte, um andere Schwarze Witwen daran zu hindern, sein Geheimnis herauszufinden, waren genau zu einer Zeit fehlgeschlagen, zu der er nicht das Geringste gegen die öffentliche Preisgabe seiner Fähigkeiten tun konnte.
Die Spannung in dem Zimmer hatte sich wieder gelegt, als Saetan gutmütig erwiderte: »Nun, Karla, er ist schließlich mein Sohn und außerdem ist er der Gefährte.«
Die Überraschung in den Zügen der Hexe war scharfem Nachdenken gewichen. »Oh«, sagte sie. »In dem Fall …« Langsam hatte sich ein schalkhaftes Lächeln auf ihrem Gesicht breit gemacht. »Küsschen!«
Daemon hatte sich eilig an Lucivar vorbeigeschoben und war aus dem Esszimmer geflohen. Die vergangene Stunde hatte er damit verbracht, durch die Burg zu wandern und zu versuchen, die aufgewühlten Gedanken und Gefühle in seinem Innern wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Hast du dich verlaufen?«
Daemon warf einen Blick zu dem Türrahmen, an dem Lucivar lehnte. »Ich habe mich keineswegs verlaufen«, gab er unwirsch zurück. Dann blieb er seufzend stehen. »Aber ich bin durcheinander.«
»Natürlich bist du das. Schließlich bist du ein Mann.« Lucivar grinste über Daemons verärgertes Knurren und betrat den Innenhof. »Wenn also eine der Hübschen aus dem Sabbat sich erbietet, dir alles zu erklären, geh bloß nicht darauf ein. Sie wird aufrichtig versuchen, dir zu helfen, aber wenn sie erst einmal damit fertig ist, deine Verwirrung aufzulösen, wirst du mit dem Kopf gegen die nächste Wand rennen.«
»Warum?«
»Für alle fünf Regeln, die du in Terreille über das angemessene Verhalten eines Mannes bei Hofe gelernt hast, kennen die Angehörigen des Blutes in Kaeleer bloß jeweils eine davon – und sie interpretieren sie vollkommen anders.«
Daemon zuckte mit den Schultern. »Gehorsam ist Gehorsam. «
»Nein, ist es nicht. Für die männlichen Angehörigen des Blutes lautet das erste Gesetz zu ehren, zu hegen und zu beschützen. Das zweite lautet zu dienen. Das dritte lautet zu gehorchen.«
»Und wenn Gehorsam sich nicht mit den ersten beiden Gesetzen des Blutes vereinbaren lässt?«
»Wirf ihn aus dem Fenster.«
Daemon blinzelte. »Und damit kommt man durch?«
Lucivar kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Es ist nicht so sehr eine Frage des Durchkommens. Für Kriegerprinzen stellt es fast schon eine Voraussetzung für ihren Dienst bei Hofe dar. Wenn du allerdings einen Befehl des Haushofmeisters oder des Hauptmanns der Wache missachtest, solltest du dir besser sicher sein, dass du deine Handlungsweise rechtfertigen kannst. Außerdem musst du gewillt sein, die Konsequenzen zu tragen, wenn sie deine Gründe nicht gelten lassen, was jedoch selten vorkommt. Beim Höllenfürsten habe ich mir öfter Ärger eingehandelt, weil er mein Vater ist, und nicht in seiner Rolle als Haushofmeister.«
Vater. Haushofmeister. Familienbande und die Bande des Hofes.
»Warum bist du hier, Mistkerl?«, fragte Daemon argwöhnisch. »Warum bist du nicht auf dem Übungsfeld und beobachtest die Krieger, die du ausgewählt hast?«
»Ich habe nach dir gesucht, weil du nicht auf dem Übungsfeld aufgetaucht bist.« Lucivar verlagerte kaum merklich sein Gewicht.
Noch nicht, dachte Daemon. Nicht jetzt. »Und weil eine Rechnung zwischen uns offen steht«, brachte er langsam hervor.
»Und weil eine Rechnung zwischen uns offen steht.« Lucivar atmete tief durch. »Ich habe dir vorgeworfen, du hättest Jaenelle umgebracht. Ich legte dir noch viel schlimmere Dinge zur Last. Doch ich habe mich getäuscht, und das hat dich deinen Verstand und acht Jahre deines Lebens gekostet.«
Daemon wandte den Blick ab von dem traurigen Bedauern, das sich in Lucivars Augen widerspiegelte. »Es war nicht deine Schuld«, meinte er leise. »Ich war damals bereits angeschlagen. «
»Ich weiß, das konnte ich spüren – und ich verwandte es als Waffe gegen dich.«
Bei der Erinnerung an ihre Auseinandersetzung in jener Nacht in Pruul schloss Daemon die Augen. Lucivars Wut hatte ihm nicht so zugesetzt wie seine eigene Angst, dass die Anschuldigungen vielleicht der Wahrheit entsprechen könnten. Wenn er sich sicher gewesen wäre, was sich damals an Cassandras Altar zugetragen hatte, wäre der Streit anders ausgegangen. Lucivar hätte nicht noch mehr Jahre in den Salzminen von Pruul verbracht, und er wäre nicht acht Jahre lang im Verzerrten Reich umhergeirrt.
Daemon schlug die Augen wieder auf und sah seinen Bruder an. Endlich begriff er, dass Lucivar ihm keinen Zweikampf anbot, um sich für etwas zu rächen, das Daemon getan hatte, sondern als Wiedergutmachung für all die Qualen, die er im Verzerrten Reich hatte erleiden müssen. Oh, Lucivar würde kämpfen, und zwar verbissen, denn er hatte eine Ehefrau und einen kleinen Sohn, an die er zu denken hatte. Er würde den Kampf nicht scheuen, sollte Daemon es von ihm verlangen, obgleich er den Ausgang kannte, wenn Schwarzgrau gegen Schwarz antrat.
Er verstand auch, weshalb Lucivar das Thema so schnell zur Sprache brachte und nicht ruhen ließ. Sein Bruder wollte nicht, dass seine Frau und sein Kind in die Waagschale fielen. Daemon sollte nicht genug Zeit haben, um Gefühle für sie zu entwickeln, bevor er seine Entscheidung traf. Laut der alten Tradition des Blutes konnte er später keine Genugtuung mehr verlangen, wenn er die Schuld jetzt vergab. Andernfalls müssten sie immer wachsam sein, was den anderen betraf, während sie darauf warteten, dass er ihnen eines Tages in den Rücken fiel.
War die Schuld auf gewisse Art und Weise nicht ohnehin schon bezahlt worden? Seine Jahre im Verzerrten Reich standen gegen Lucivars Zeit in den Salzminen von Pruul; sein Kummer, als er Lucivar für tot gehalten hatte, gegen die Trauer Lucivars, der geglaubt hatte, Daemon habe Jaenelle umgebracht. Und wenn die Situation umgekehrt gewesen wäre, hätte er dann etwas anderes geglaubt oder anders gehandelt?
»Ist das die einzige Rechnung, die noch zwischen uns offen steht?«, wollte Daemon wissen.
Lucivar nickte bedächtig.
»Dann vergiss es, Mistkerl. Ich habe bereits einmal um den Verlust meines Bruders getrauert. Ein zweites Mal möchte ich es nicht tun.«
Eine Minute lang betrachteten sie einander und erwogen all jene Dinge ab, die sich nicht in Worte fassen ließen. Schließlich entspannte Lucivar sich. Sein Lächeln war träge, arrogant und so ärgerlich vertraut, dass Daemon nicht umhinkonnte, es zu erwidern.
»In dem Fall kommst du zu spät zu den Übungen, Bastard«, meinte Lucivar und bedeutete Daemon, durch die Tür ins Innere der Burg zurückzugehen.
»Du kannst mich mal«, knurrte Daemon, ging jedoch neben seinem Bruder her.
»Sei bloß vorsichtig, alter Knabe. Ich habe eine Neigung zu beißen, schon vergessen?« Lächelnd massierte Lucivar sich den Oberarm. »Marian übrigens auch. Sie reagiert sehr gereizt, wenn man sie ärgert.«
Als Daemon das warme Glücksgefühl in Lucivars Augen sah, musste er einen Anfall von Neid unterdrücken.
Sobald sie eine Tür erreicht hatten, die aus der Burg führte, hielten sie auf die weite Rasenfläche zu, auf der sich die Eyrier versammelt hatten.
»Übrigens«, meinte Lucivar, »während du mit trübsinnigem Grübeln beschäftigt warst …«
»Ich habe nicht gegrübelt«, gab Daemon unwirsch zurück.
»… ist dir heute Morgen der ganze Spaß entgangen.«
Daemon biss die Zähne zusammen. Er würde nicht nachfragen. Auf gar keinen Fall. »Welcher Spaß?«
»Siehst du den peinlich berührt dreinblickenden Wolf, der dort alleine herumsteht?«
Daemon sah zu dem Tier mit dem grauen Pelz hinüber. Der Wolf beobachtete eine Gruppe Frauen, die in eine Übung mit den eyrischen Stangen vertieft war. »Ja.«
»Graufang möchte sich mit Surreal anfreunden. Er ist jung und hat noch nicht viele Erfahrungen mit Menschen gesammelt, vor allem nicht mit Frauen. Anscheinend wollte er die beginnende Freundschaft stärken und sein Verständnis der Frauen fördern, indem er zu Surreal unter die Dusche stieg. Da sie zu dem Zeitpunkt quasi den Kopf unter Wasser hatte, bemerkte sie den Wolf erst, als er seine Schnauze an eine Stelle steckte, an der sie nichts verloren hatte.«
»Das muss in der Tat sein Verständnis der Frauen gefördert haben«, stellte Daemon trocken fest.
»Genau. Als er schließlich jammerte, dass er Seife im Fell habe, hat sie ihn ganz unter die Dusche gezerrt und ihn gewaschen. Nun riecht er nach Blumen.«
Daemon biss sich auf die Lippe. »Da lässt sich leicht Abhilfe schaffen.«
Lucivar räusperte sich. »Tja, normalerweise schon. Doch sobald die beiden im Freien waren, drohte sie ihm Prügel für den Fall an, dass er sich schmutzig machen sollte.«
»Alles hat seinen Preis«, brachte Daemon mit erstickter Stimme hervor. Da fiel ihm auf, mit welcher Frau Surreal sich gerade unterhielt. Er versetzte Lucivar einen festen Stoß. »Sollte Marian zu ihrer Mondzeit etwas derart Anstrengendes tun?«
Lucivar stieß ein Zischen aus. »Fang bloß nicht damit an!« Er blieb stehen und betrachtete die Frauen aus zusammengekniffenen Augen. »Ich habe ihr gesagt, dass sie eine Runde der Aufwärmübungen mitmachen darf. Sie wird mehr machen und so tun, als müsse sie jemandem ein paar Bewegungsabläufe zeigen. Aber danach wird sie es gut sein lassen und sich wieder schonen.«
Daemon ließ seinen Blick von den Frauen zu Lucivar wandern. »Du hast deiner Frau gesagt, wie viel sie mitmachen darf?«
»Selbstverständlich habe ich das meiner Frau nicht gesagt«, entgegnete Lucivar ungehalten. »Sehe ich wie ein Narr aus? Der Kriegerprinz von Ebon Rih hat sich an eine Hexe gewandt, die in seinem Territorium lebt.«
»Ach so. Das ist natürlich etwas anderes.«
»Das kannst du laut sagen. Hätte ich meine Frau persönlich darauf angesprochen, hätte sie versucht, mir mit einer verdammten Stange den Schädel einzuschlagen.«
Daemon lachte, während sie weiter auf die eyrischen Krieger zugingen. »Jetzt tut es mir tatsächlich Leid, dass ich den Spaß verpasst habe.«
Lucivars Aufmerksamkeit galt jedoch bereits Falonar und Rothvar, die soeben in den Übungskreis getreten waren. Währenddessen sah Daemon Surreal und Marian dabei zu, wie sie ein paar Bewegungen durchgingen.
»Wer ist sie?«, erkundigte Daemon sich, als sich die Hexe mit der stacheligen Kurzhaarfrisur zu den anderen Frauen gesellte.
Nachdem Lucivar einen Blick in Richtung der Frauen geworfen hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den eyrischen Kriegern zu. »Das ist Karla, die Königin von Glacia. Sie ist eine Schwarze Witwe, eine Königin und Heilerin. Eine der drei Hexen hier, die mit drei Gaben ausgestattet sind.«
Mit drei Gaben und einem vorlauten Mundwerk, dachte Daemon düster.
»Heute bist du vom Unterricht befreit, aber morgen erwarte ich, dass du pünktlich erscheinst«, erklärte Lucivar.
Im ersten Moment verschlug es Daemon die Sprache. »Ich werde mich ganz gewiss nicht im Stangenkampf gegen eyrische Krieger versuchen!«
Mit einem verächtlichen Schnauben musterte Lucivar Daemons Füße. »Ich habe ein paar Stiefel, die dir passen werden, bis du dir deine eigenen hast anfertigen lassen.«
»Da mache ich nicht mit.«
»Bis zur offiziellen Überschreibung bin ich im Besitz des Vertrags, den du unterzeichnet hast, alter Knabe. Du hast keine andere Wahl.«
Leise stieß Daemon einen wilden Fluch aus.
Lucivar machte Anstalten, ihn stehen zu lassen, um mit Falonar zu sprechen.
»Nenn mir einen guten Grund, weshalb ich das über mich ergehen lassen sollte«, verlangte Daemon durch zusammengebissene Zähne.
Lucivar drehte sich wieder zu ihm um. »Hast du eine Vorstellung davon, wie gut ich im Kampf mit eyrischen Stangen bin?«, fragte er leise.
»Ich habe dich kämpfen gesehen.«
»Jaenelle schafft es, dass ich im Dreck liege.« Lucivar musste grinsen, als Daemon ihn mit offenem Mund anstarrte. »Zwar nicht oft, aber sie hat es schon fertig gebracht.«
Während Lucivar mit den eyrischen Männern redete, ließ sich Daemon diese kleine Information durch den Kopf gehen. Er dachte geradezu angestrengt darüber nach. Als Lucivar zurückkehrte und ihn fragend ansah, zog er sich das Jackett aus, krempelte sich die Ärmel seines Hemdes hoch und knurrte verdrießlich: »Wo sind diese verfluchten Stiefel?«
4 Kaeleer
Alexandra Angelline wickelte das Schultertuch fester um sich und schlang sich die Arme um die Taille, als sie aus dem schmutzigen Herbergsfenster blickte, das auf das Basargelände hinausging. Es regnete seit einer Stunde, allerdings handelte es sich um leichten Nieselregen, der den Schmutz, der hier alles bedeckte, lediglich verwischte. Um ihn völlig wegzuwaschen, hätte es schon eines heftigen Platzregens bedurft.
Das ist Kaeleer?, dachte sie düster. Dies ist das Schattenreich, in das so viele verzweifelt gelangen wollen? Oh, wahrscheinlich war es ungerecht, ein ganzes Reich anhand eines Ortes zu beurteilen, der von hunderten Leuten zertrampelt worden war, die dort in der Hoffnung gewartet hatten, einen Dienstvertrag zu ergattern. Doch sie wusste, wenn jemand Kaeleer erwähnte, würde fortan dieses Bild vor ihrem geistigen Auge aufsteigen, egal, was sie noch von dem Reich zu Gesicht bekommen würde.
Jemand näherte sich ihr, doch sie wandte sich nicht um, als ihre Tochter Leland zu ihr ans Fenster trat.
»Weshalb wollte Wilhelmina bloß an diesen Ort kommen?«, murmelte Leland. »Ich bin froh, wenn wir wieder von hier wegkönnen.«
»Du musst nicht bleiben, Leland. Insbesondere jetzt, da Vania und Nyselle sich freundlicherweise bereit erklärt haben, mich zu begleiten.«
»Sie sind nicht mit uns gekommen, weil sie loyal sind«, sagte Leland leise, aber grimmig. »Sie wollten sich lediglich das Schattenreich ansehen und wussten, dass sich ihnen vielleicht keine andere Gelegenheit mehr bieten könnte.«
Alexandra biss die Zähne zusammen. Die Wahrheit von Lelands Aussage nagte an ihr. Vania und Nyselle, die beiden Provinzköniginnen, die sie nur widerwillig nach Hayll begleitet hatten, hatten sich sofort auf einschmeichelnd eifrige Weise um sie bemüht, sobald Alexandra bekannt gegeben hatte, nach Kaeleer aufbrechen zu wollen, um nach Wilhelmina zu suchen. Also waren sie und ihre Gefährten mit ihr gereist, zusammen mit Philip und Leland und einer fünfköpfigen Eskorte. Vier der Männer, die ihren Geleitschutz bildeten, waren mit ihr aus Chaillot gekommen. Den anderen, den Dorothea SaDiablo für sie ausgesucht hatte, hatte man sich von einer von Dorotheas königlichen Schoßhündinnen in einem anderen Territorium ›geborgt‹. Der Mann jagte ihr jedes Mal einen eiskalten Schauder über den Rücken, doch Dorothea hatte ihr versichert, er sei in der Lage, Wilhelmina an ihren Entführern vorbeizuschleusen und zu einem weiteren Trupp loyaler Männer zu schaffen, die bereits in Kaeleer in Stellung gegangen waren.
So Leid es mir tut, hatte Dorothea gesagt, aber wenn es dir nur gelingen sollte, eine deiner beiden Enkelinnen aus den Fängen des Höllenfürsten zu befreien, wird es Jaenelle sein müssen. Sie ist diejenige, die eine Gefahr für Terreille darstellt.
Alexandra war fest davon überzeugt, dass Jaenelle nur vorgeschoben wurde, um jemand anderen – oder etwas – zu verbergen, der oder das Terreille in Wirklichkeit bedrohte. Doch, süße Dunkelheit, sie hoffte, sie würde keine Wahl zwischen Wilhelmina und Jaenelle treffen müssen – denn tief in ihrem Herzen wusste sie, welches Kind sie dann zurücklassen würde.
»Abgesehen davon«, fügte Leland leise hinzu, »muss ich bleiben. Sie war immer ein eigenartiges Kind, aber Jaenelle war … ist … meine Tochter. Wenn ich mir vorstelle, dass sie die ganze Zeit über in den Händen dieses Ungeheuers gewesen ist …« Leland erschauderte. »Es ist gar nicht auszudenken, was er ihr alles angetan hat.«
Es gab keine Möglichkeit, zu sagen, was ihr in Briarwood zugestoßen war. War sie tatsächlich geistig labil gewesen, oder hatte jener Ort sie erst dazu gemacht? Nein, entschied sie entschlossen. Jaenelles Aufenthalte mochten ihren ohnehin schon zerbrechlichen Zustand noch verschlimmert haben, doch die Absonderlichkeiten des Kindes waren der Grund gewesen, weswegen sie das Mädchen überhaupt erst nach Briarwood geschickt hatte.
»Was werden wir tun?«, wollte Leland mit ruhiger Stimme wissen.
Alexandra blickte über die Schulter in Richtung der anderen Leute, die ungeduldig auf ihre Entscheidung warteten. Philip, der etliche Male die Beherrschung verloren hatte, während er ihr Lord Jorvals Neuigkeiten berichtete, würde mit ihr gehen. Nicht nur, weil er Leland geheiratet hatte, sondern auch, weil er wirklich an Wilhelmina und Jaenelle hing. Vania und Nyselle würden sie begleiten, um mehr von Kaeleer zu sehen als dieses verödete Stück Land. Die Gefährten und der Geleitschutz würden den Königinnen aus Pflichtbewusstsein folgen. Doch würden Neugier und Pflichtbewusstsein im Kampf gegen den Höllenfürsten ausreichen?
Es war egal. Sie würde jegliche Hilfe in Anspruch nehmen, die sie bekommen konnte.
Sie drehte sich wieder zu dem Fenster. »Prinz Alexander, bitte buche so bald wie möglich eine Fahrt in einer Kutsche für uns. Wir fahren zur Burg SaDiablo.«
5 Kaeleer
In dem sicheren Bewusstsein, mehr Muskelkater als Muskeln zu haben, ging Daemon langsam auf die große Eingangshalle zu, wo laut Beale der Höllenfürst auf ihn wartete.
Nie wieder. Nie, nie, nie. Er hätte daran denken sollen, was »Wir fangen ganz langsam an« bedeutete. Wie hatte er vergessen können, dass andere sportliche Betätigungen den Körper nicht im Geringsten auf eyrische Waffenübungen vorbereiteten? Oh, wenn er gerecht sein wollte – und das wollte er in absehbarer Zukunft gewiss nicht sein –, war es unbestreitbar, dass Lucivar in seinem Fall tatsächlich mit den grundlegenden Aufwärmübungen angefangen hatte. Doch selbst wenn man die Bewegungen im Übungstempo absolvierte, war dies mit Lucivar als Partner körperliche Schwerstarbeit.
Doch er vergaß seine schmerzenden Muskeln auf der Stelle, als er eine Tür öffnete und sah, wie Saetan einer hübschen dhemlanischen Hexe das Haar aus dem Gesicht strich. In der Bewegung lag zärtliche Zuneigung. Er fragte sich, ob er die Szene richtig deutete, während er so leise wie möglich weiterging.
Die Hexe bemerkte ihn zuerst. Verwirrt wich sie einen großen Schritt zurück und betrachtete ihn nervös. Doch ihn ließ lediglich der Ärger, den er an seinem Vater wahrnahm, wachsam werden.
Saetan drehte sich um, sah ihn und entspannte sich kurzzeitig. Dann kam er auf ihn zugeeilt.
»Was ist dir zugestoßen?«, wollte Saetan wissen. »Bist du verletzt?«
»Lucivar ist mir zugestoßen«, erwiderte Daemon durch zusammengebissene Zähne.
»Wieso habt ihr beiden miteinander gerauft?« Saetans Stimme klang täuschend unbeteiligt, doch es schwang ein deutlicher Unterton elterlicher Missbilligung mit.
»Wir haben nicht gerauft, sondern Kampfübungen gemacht. Allerdings bin ich hocherfreut, dass ich nicht der Einzige bin, dem es schwer fällt, da einen Unterschied auszumachen.«
Die Hexe wandte das Gesicht ab und gab ein unterdrücktes Kichern von sich. Als sie sich wieder zu ihnen umdrehte, funkelten ihre Augen belustigt. »Es tut mir Leid«, sagte sie, ohne auch nur im Geringsten so zu klingen, als wäre dem tatsächlich so. »Da ich Lucivars Kampfübungen auch schon einmal erleiden musste, kann ich nachempfinden, wie es dir geht.«
»Warum hast du mit Lucivar Waffenübungen absolviert?«, fragte Saetan.
»Weil ich ein Narr bin.« Daemon hob die Hand, um sich die Haare aus der Stirn zu streichen, doch auf halbem Wege erstarrte er. Langsam ließ er den schmerzenden Arm wieder sinken, dankbar, dass er ihn zumindest in diese Richtung bewegen konnte. »Ich möchte wirklich das nächste Mal dabei sein, wenn Jaenelle es schafft, dass er im Dreck liegt.«
»Wer würde das nicht gerne?«, murmelte die Hexe.
Saetan stieß einen aufgebrachten Seufzer aus. »Sylvia, das ist Daemon Sadi. Daemon, das ist Lady Sylvia, die Königin von Halaway.«
Sylvia riss die Augen auf. »Das ist der Junge?«
Daemon nahm eine drohende Haltung ein, bis Saetan ihn mental scharf zurechtwies.
»Junge ist ein dehnbarer Begriff«, meinte Saetan.
»Da hast du natürlich Recht.« Sylvia versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen.
Saetan sah sie wortlos an.
»Tja«, sagte Sylvia eine Spur zu fröhlich, »ich werde jetzt den Hexensabbat begrüßen und überlasse es euch beiden, das allein auszudiskutieren.«
»Wirst du mir nun dieses Buch leihen?«, fragte Saetan, die Lippen zu einem wissenden Lächeln verzogen.
»Welches Buch meinst du, Höllenfürst?« Sylvia gab sich Mühe, eine Unschuldsmiene aufzusetzen, obgleich ihr die Schamesröte in die Wangen schoss.
»Dasjenige, von dem du nicht zugibst, dass du es liest.«
»Oh, ich denke nicht, dass du es interessant finden würdest«, murmelte Sylvia.
»Wenn man bedenkt, wie du jedes Mal reagierst, wenn ich es auch nur erwähne, glaube ich, dass ich es höchst interessant finden würde.«
»Du könntest dir selbst eine Ausgabe kaufen.«
»Ich würde mir lieber dein Exemplar ausleihen.«
Sylvia sah ihn wütend an. »Ich leihe es dir unter der Bedingung, dass du dem Hexensabbat gegenüber zugibst, es zu lesen.«
Saetan schwieg. Nun waren seine Wangen von einer leichten Röte überzogen.
Zufrieden schenkte Sylvia Daemon ein herzliches Lächeln. »Willkommen in Kaeleer, Prinz Sadi.«
»Danke, Lady«, erwiderte Daemon höflich. »Deine Bekanntschaft zu machen, war sehr aufschlussreich.«
Saetan stieß ein zorniges Zischen aus. Sylvia suchte eilig das Weite.
Als sie fort war, fuhr Saetan sich mit den Fingern durch das Haar und betrachtete anschließend seine leere Hand. »Ich begreife nur zu gut, weshalb das Haar ihres Vaters ausgefallen ist«, meinte er verdrießlich. »Zumindest bekomme ich immer mehr graue Strähnen, wofür ich wahrscheinlich noch dankbar sein sollte.«
»Sie ist eine Freundin?«, erkundigte Daemon sich unschuldig.
»Ja, sie ist eine Freundin«, fuhr Saetan ihn an, wobei er das letzte Wort ein wenig zu stark betonte. Er warf Daemon einen aufgebrachten Blick zu. »Komm schon, Kleiner. Du setzt dich besser hin, bevor du mir noch umkippst.«
Gehorsam folgte Daemon seinem Vater trotz der Anrede in dessen offizielles Arbeitszimmer. Der gereizte, abwehrende Tonfall in Saetans Stimme amüsierte ihn und schürte seine Neugierde.
Als er sich endlich umständlich in einen Sessel gesetzt hatte, stieß Andulvar Yaslana zu ihnen.
»Für einen Anfänger warst du gar nicht schlecht«, sagte Andulvar.
»Sobald ich mich wieder bewegen kann, werde ich ihm den Kopf abreißen«, knurrte Daemon.
Saetan und Andulvar tauschten belustigte Blicke aus.
»Ach«, seufzte Saetan, »die Jahrhunderte mögen verstreichen, doch die Einstellung bleibt die gleiche.«
»Du wolltest Lucivar schon den Kopf abreißen, nachdem ihr das erste Mal aufeinander losgelassen worden wart«, erklärte Andulvar Daemon.
Daemon musterte die beiden Männer aus zusammengekniffenen Augen.
»Ihr beiden wart nur zwei Jahre älter als Daemonar«, sagte Saetan. »Ihr habt eine lange Stange gefunden, die den richtigen Durchmesser für eine Kinderhand hatte, habt sie in zwei Hälften gesägt, und Lucivar zeigte dir die Übungen, die er gelernt hatte.«
»Er ist von Natur aus begabt, was den Umgang mit Waffen betrifft«, meinte Andulvar, »aber in dem Alter war er nicht sonderlich gut darin, die Übungen zu erklären.«
»Folglich erzielte er ein paar Treffer«, fuhr Saetan fort, »und du ebenso, sei es durch Glück oder Temperament. Schließlich warft ihr beiden die Stangen von euch und seid mit den Fäusten aufeinander losgegangen. Manny hat dem Ganzen ein Ende gesetzt, indem sie einen Eimer kaltes Wasser über euch ausgoss.«
Es kostete Daemon einige Anstrengung, gleichmütig dreinzublicken. »Wirst du das jetzt regelmäßig tun?«, fragte er Saetan missmutig.
»Was tun?«, erkundigte sich Saetan höflich.
»Alberne Geschichten aus meiner Kindheit auftischen.«
Saetan lächelte nur.
»Komm schon, Kleiner«, meinte Andulvar. »Was du brauchst, ist ein heißes Bad, eine Massage und etwas zu essen. Der Morgen ist jung, und du hast noch den ganzen Tag vor dir.«
Daemons Knurren wurde zu einem Jaulen, als Andulvar ihn am Kragen seines Hemds packte und auf die Beine zog.
»Einen Augenblick«, sagte Saetan leise.
Daemon spürte den Stimmungsumschlag und wandte sich um, sodass er Saetan direkt in die Augen sah. »Du hast mich rufen lassen.«
Eine Minute lang musterte Saetan seinen Sohn eingehend. »Mir ist eine Anfrage zugekommen. Ob du darauf eingehen möchtest, liegt ganz bei dir. Wenn du zu dem Schluss kommst, dass du noch nicht so weit bist oder gar nicht darauf eingehen möchtest, werde ich mir Mühe geben, es zu erklären. «
Eis schoss Daemon durch die Adern, doch er widerstand dem Verlangen, der kalten Wut nachzugeben. Er hatte noch vieles zu lernen, was das Geben und Nehmen zwischen Männern und Frauen in Kaeleer betraf. Von daher sollte er nicht gleich annehmen, dass Anfragen hier auf dasselbe hinausliefen wie in Terreille.
»Wie lautet die Anfrage?«
Saetan erwiderte sanft: »Deine Mutter möchte dich sehen.«
6 Kaeleer
Karla nippte an einer Tasse Kräutertee, während sie im inneren Garten umherwanderte. Sie hoffte, das Geräusch des Brunnens würde sie beruhigen. Einmal blickte sie ängstlich zu den Fenstern im zweiten Stock an der Südseite des Hofes empor. War Sadi in diesem Moment dort oben und beobachtete sie durch die Gardinen hindurch?
Beim Feuer der Hölle, ich hätte nicht herausschreien sollen, dass er eine Schwarze Witwe ist. Sie hatte es in der Sekunde geahnt, als sie die kalte Wut in seinen Augen wahrgenommen hatte. Doch das Verworrene Netz, an dem sie in den letzten paar Tagen gewoben hatte, hatte sie verstört, und sie war völlig damit beschäftigt gewesen zu versuchen, die rätselhaften Bilder zu begreifen, die sie gesehen hatte … Nun, Daemon Sadis Auftauchen hatte auf jeden Fall viele dieser Bilder erklärt. Sie hatte gesehen, wie der Höllenfürst in einen Spiegel blickte, doch bei dem Spiegelbild hatte es sich nicht um ihn gehandelt. Sie hatte Wahrheiten gesehen, die von Lügen geschützt wurden. Eine Schwarze Witwe mit schwarzem Juwel, die zum Feind wurde, um Freund bleiben zu können. Und sie hatte den Tod gesehen, der von einem Ring aufgehalten wurde. Ihren eigenen Tod.
Da ihr Unvermögen, die Vision des Höllenfürsten zu interpretieren, sie beunruhigt hatte, hatte sie sich zu fragen begonnen, ob sie das Verworrene Netz vielleicht falsch gelesen hatte. Nun gab es keinen Zweifel mehr.
Sie leerte die Tasse und seufzte. Es gab da eine Angelegenheit, die sie vor Jaenelles Rückkehr besser aus der Welt schaffte – um ihrer aller willen.
Daemon griff nach dem schwarzen Jackett, das er auf sein Bett
gelegt hatte. Er hielt mitten in der Bewegung inne, als er erneut
das Klopfen vernahm, diesmal ein wenig lauter. Jemand befand sich
vor der gläsernen Balkontür im Wohnzimmer.
Er ließ das Jackett liegen und ging in das angrenzende Zimmer hinüber. Als er den Vorhang aufzog, sah er die Hexe mit den Stachelhaaren, die auf dem Balkon stand. Am liebsten hätte er den Vorhang wieder vorgezogen und sie einfach ignoriert. Er wollte weder sie noch ihre mentale Signatur in seinen Räumlichkeiten haben. Außerdem wollte er nicht, dass sich jemand die Frage stellte, weshalb er eine andere Frau bei sich empfing, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, offiziell von der Königin angenommen zu werden.
Dass sie eine Territoriumskönigin war, beeindruckte ihn herzlich wenig. Doch der Umstand, dass sie im Ersten Kreis von Jaenelles Hof diente, machte durchaus einen Unterschied.
Widerwillig öffnete er die Tür und trat zurück, damit sie eintreten konnte.
»Ich habe in ein paar Minuten einen Termin«, meinte er kühl zur Begrüßung.
»Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, sagte Karla. »Es wird nicht lange dauern. Ich bin nicht sonderlich gut darin, deshalb halte ich meine Entschuldigungen für gewöhnlich eher kurz.«
Daemon ließ abwartend die Hände in die Hosentaschen gleiten.
Karla holte tief Luft. »Ich hätte deine Zugehörigkeit zum Stundenglas nicht derart öffentlich verkünden sollen. Der Erste Kreis hätte es ohnehin erfahren, aber ich hätte es nicht so hinausposaunen dürfen. Ich dachte gerade über etwas nach, das mir Kopfzerbrechen bereitete, und als ich dich sah …« Sie zuckte mit den Schultern.
»Woher wusstest du es? Niemand in Terreille ist je darauf gekommen.«
Ihre Lippen zuckten. »Nun, ich möchte bezweifeln, dass irgendwer dort die letzten zehn Jahre damit verbracht hat, Saetan auf die Nerven zu fallen. Wer dies jedoch getan hat, kann leicht die Ähnlichkeit zwischen euren mentalen Signaturen feststellen und die richtige Schlussfolgerung ziehen.«
Mittlerweile hatten sich ihre Lippen ganz zu dem schelmischen Lächeln verzogen, das so charakteristisch für sie zu sein schien. »Er hat Jaenelle adoptiert, und damit hat er uns dazu bekommen. Wir kamen, um einen Sommer hier zu verbringen, und sind nie wieder wirklich abgereist. Du wirst dir vorstellen können, wie erfreut er war, als er feststellen musste, dass er es nicht mit einer heranwachsenden Hexe zu tun hatte, sondern mit zehn – und mit den Jungs natürlich auch.«
»Natürlich.« Daemon kämpfte gegen ein Grinsen an. »Welche Überraschung.«
»Mhm. Im Laufe jenes Sommers, als wir ihn alle auf einmal heimsuchten, bekamen wir sehr viel Übung im Brauen von Beruhigungstränken. Es war schrecklich, ihn immerfort jammern zu hören.«
Daemon erstickte beinahe an dem Gelächter, das in ihm aufstieg. Dann verflog seine fröhliche Laune wieder. Schlau war sie, diese Königin mit den eisblauen Augen und der weißblonden Stachelhaarfrisur! Sie musste ahnen, wie sehr er sich danach sehnte, Geschichten aus Jaenelles Jugend zu hören.
Karla musterte ihn. »Wenn es dir dadurch besser geht, kannst du mir drohen, mir den Hals umzudrehen.«
Im ersten Augenblick war er sprachlos. »Wie bitte?«
»Bei Hof ist es den Männern gestattet, auf diese Weise ihre Verärgerung über eine Hexe auszudrücken.«
»Es ist gestattet, damit zu drohen, einer Frau den Hals umzudrehen? «, fragte Daemon, der sich sicher war, etwas falsch verstanden zu haben.
»Solange es ruhig und gelassen gesagt wird, sodass man weiß, dass er es nicht ernst meint.«
Ein Mann, dem es gelang, an diesem Ort ruhig und gelassen zu bleiben, musste über eine ungeheure Menge an Selbstbeherrschung verfügen, dachte Daemon. Er massierte sich die Stirn. Langsam begriff er, weswegen Lucivar ihn davor gewarnt hatte, sich etwas von einer der Sabbathexen erklären zu lassen.
»Es macht euch nichts aus, von Lucivar bedroht zu werden? «, wollte Daemon wissen. Da Lucivar normalerweise völlig gelassen klang, wenn er jemanden bedrohte, würde nur ein Narr ihn nicht ernst nehmen.
Karla zuckte mit den Achseln. »Ach, na ja, Lucivar. Der sagt fast nie etwas, wenn er sich über jemanden ärgert. Er hebt dich einfach hoch und wirft dich in das nächste Wasserbecken. « Sie hielt inne. »Um aber gerecht zu bleiben …«
»Wer will schon gerecht sein?«, knurrte Daemon.
»Du hast den Vormittag mit ihm verbracht, nicht wahr?«, sagte Karla wissend. »Wenn es sich um einen Wassertrog oder einen Brunnen handelt, taucht er dich unter, anstatt dich hineinzuwerfen, damit du dich nicht verletzt. Allerdings bildet Lucivar eine Ausnahme. Allen anderen Männern raten wir stark davon ab, diese spezielle Angewohnheit zu entwickeln.«
»Andernfalls wärst du die meiste Zeit nass«, murmelte Daemon.
Bevor Karla auf diese Bemerkung reagieren konnte, klopften Morghann, die Königin von Scelt – die rothaarige Königin, der er bereits früher am Morgen begegnet war –, und Gabrielle, die Königin der Dea al Mon, kurz an die Balkontür und spazierten in das Wohnzimmer.
»Die Zimmer des Hexensabbats grenzen alle an den inneren Garten an. Also geht es schneller, die Balkontüren zu benützen, anstatt im Korridor erst ganz außen herum zu laufen«, sagte Morghann im selben Moment, in dem Karla meinte: »Wo ist Surreal?«
Gabrielle schob sich mit einem Grinsen das silberblonde Haar hinter die spitzen Ohren. »Chaosti hat sie unter dem Vorwand, ihr die Burg zeigen zu wollen, in Beschlag genommen. Sie hat Gift und Galle gespuckt, weil sie sich bei Graufang dafür entschuldigen musste, und sie klang, als würde sie es ernst meinen, als sie ihm eine Tracht Prügel angedroht hat.«
»Ich war gerade dabei, Daemon ein paar der Regeln zu erklären«, sagte Karla.
»Ich habe wirklich einen Termin«, murmelte Daemon. Dann rief er laut »Herein!«, als es an der Wohnzimmertür klopfte.
Saetan trat ein, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als er die drei Frauen erblickte.
»Küsschen«, meinte Karla.
»Wir wollten Daemon gerade die Regeln auseinander setzen«, bemerkte Morghann.
»Möge die Dunkelheit Erbarmen mit dem armen Schüler haben«, erwiderte Saetan trocken.
»Ich hole mein Jackett«, meinte Daemon, der nicht gewillt war, eine Gelegenheit zur Flucht verstreichen zu lassen. Allein sein Stolz hielt ihn davon ab, Hals über Kopf in sein Schlafzimmer zu stürzen. Gesunder Menschenverstand ließ ihn viel länger als eigentlich nötig brauchen, sodass Saetan allein auf ihn wartete, als er schließlich in das Wohnzimmer zurückkehrte.
»Sind sie fort, um jemand anderen zu quälen?«, erkundigte sich Daemon verdrießlich, als die beiden Männer die Zimmerflucht verließen und durch die Gänge gingen.
Saetan lachte in sich hinein. »Für diesmal, ja.«
Daemon zögerte. »Am besten erklärst vielleicht du mir die Regeln.«
»Ich werde dir ein Buch über das höfische Protokoll geben, damit du dir die Regeln bei Hofe noch einmal zu Gemüte führen kannst.«
»Nein, ich meinte die Regeln, die nur an diesem bestimmten Hof gelten. Wie zum Beispiel …«
»Ich will es nicht wissen«, unterbrach Saetan ihn ruhig, aber bestimmt.
»Aber du musst es wissen. Schließlich bist du der Haushofmeister. «
»Genau, und sollte es an diesem Hof Regeln geben, von denen ich in den fünf Jahren, die ich nun Haushofmeister bin, nichts erfahren habe, möchte ich auch jetzt nicht davon erfahren. «
»Aber …«, setzte Daemon an. Saetans unnachgiebiger Blick gebot ihm Einhalt. »Das ist aber eine vorsichtige Haltung, die du da einnimmst.«
»Von deinem Standpunkt aus betrachtet mag das so sein. Von meinem Standpunkt aus ergibt es durchaus Sinn. Du bist jünger. Werd alleine damit fertig.«
Bevor Daemon eine Bemerkung fallen lassen konnte, die ihm später vielleicht Leid getan hätte, kam ein braun-weißer Hund auf sie zugerannt und blieb ein paar Meter vor ihnen stehen, wobei er sie durch überschwängliches Schwanzwedeln begrüßte.
*Er ist hier! Jaenelles Männchen ist endlich hier!*
Daemon hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen; nicht nur, weil er den Hund verstanden hatte, sondern auch, weil er das rote Juwel erspäht hatte, das an dem weißen Halsband befestigt war.
»Daemon, dies ist Lord Ladvarian«, stellte Saetan vor. »Ladvarian, das hier…«
*Ein Kriegerprinz mit schwarzem Juwel*, sagte Ladvarian, der vor ihnen umhertänzelte. *Er ist ein Kriegerprinz mit schwarzem Juwel. Das muss ich Kaelas erzählen!* Der Hund jagte den Gang entlang und war im nächsten Augenblick verschwunden.
»Mutter der Nacht«, flüsterte Saetan. »Komm schon, verdrücken wir uns, bevor du noch jemandem begegnest. Für den ersten Tag bei Hofe hast du schon genug gelernt.«
»Er ist ein verwandtes Wesen«, meinte Daemon matt, während er Saetan folgte. »Als Lucivar sagte, jemand namens Ladvarian freue sich darauf, meine Bekanntschaft zu machen, dachte ich … Oder sprach er vielleicht von jemand anderem?«
»Nein, das ist Ladvarian. Er wäre selbst zu dem Dienstbasar gereist, um persönlich nach dir zu suchen, aber verwandte Wesen sind in Kleinterreille nicht gern gesehen, und ich war nicht gewillt, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Seine Fähigkeit, Menschen das Verhalten der verwandten Wesen zu erklären und umgekehrt, macht ihn zu etwas Einzigartigem. Außerdem darf man nicht den Einfluss vergessen, den er auf Prinz Kaelas ausübt.«
»Wer ist Kaelas?«
Saetan bedachte ihn mit einem eigenartigen Blick. »Heben wir uns Kaelas für ein andermal auf.«
Daemon betrachtete das gepflegte Haus und den ordentlichen Hof.
»Ich habe mir immer gewünscht, dass Tersa eines Tages an solch
einem Ort leben würde.«
»Sie fühlt sich wohl hier«, meinte Saetan und öffnete die Eingangstür. »Eine Schwarze Witwe, deren Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist, lebt bei ihr, um ihr Gesellschaft zu leisten. Und dann gibt es da noch Mikal«, fügte er hinzu, als sie den Stimmen folgten, die aus der Küche zu ihnen drangen.
Daemon betrat die Küche. Er warf einen kurzen Blick auf den Jungen, der am Küchentisch saß, und widmete dann seine ganze Aufmerksamkeit Tersa, die etwas vor sich hin murmelte, während sie eifrig eine kleine Auswahl an Speisen herrichtete.
Ihr schwarzes Haar war so zerzaust, wie er es in Erinnerung hatte, doch das dunkelgrüne Kleid war sauber und sah bequem aus.
Rasch schluckte der Junge einen Bissen Nusskuchen hinunter, bevor er mit Argwohn in der Stimme fragte: »Wer ist das?«
Tersa blickte empor. Freude ließ ihre goldenen Augen erstrahlen und zauberte ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen. »Das ist der Junge«, sagte sie und warf sich in Daemons Arme.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Daemon, den die Wiedersehensfreude schier übermannte.
»Das ist doch kein Junge!«, widersprach der Junge.
»Mikal«, meinte Saetan streng.
Tersa lehnte sich zurück und sah erst Mikal, dann Daemon an. »Er ist ein großer Junge«, erklärte sie entschieden. Sie zog Daemon auf den Tisch zu. »Setz dich. Setz dich. Es gibt etwas zu essen. Du musst etwas essen.«
Daemon ließ sich dem Jungen gegenüber nieder, der kein Hehl daraus machte, dass er den Neuankömmling als unwillkommenen Rivalen betrachtete. »Solltest du nicht in der Schule sein?«
Mikal verdrehte die Augen. »Heute ist keine Schule.«
»Aber du hast die Arbeiten erledigt, die deine Mutter dir aufgetragen hat, bevor du hierher kamst«, sagte Saetan freundlich. Ohne Mikal auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, nahm er ein Glas Rotwein entgegen, das Tersa ihm anbot.
Mikal wand sich unter dem wissenden Blick und murmelte schließlich: »Die meisten.«
»In dem Fall werde ich dich nach dem Essen nach Hause geleiten, damit du sie fertig machen kannst.«
»Aber ich muss Tersa helfen, im Garten Unkraut zu jäten«, protestierte Mikal.
»Das Unkraut läuft uns nicht davon«, meinte Tersa heiter. Nachdem sie die beiden ›Jungen‹ angesehen hatte, betrachtete sie die Milchgläser, die sie in Händen hielt, mit einem Stirnrunzeln und stellte schließlich beide vor Mikal. Sie tätschelte Daemons Schulter. »Du bist wohl alt genug für Wein.«
»Der Dunkelheit sei Dank«, flüsterte Daemon.
Während des Essens wurde nicht viel gesprochen. Saetan erkundigte sich nach Mikals Fortschritten in der Schule und erhielt die erwartungsgemäß ausweichenden Antworten. Tersa versuchte, Alltägliches über Haus und Garten zu erzählen, doch von Mal zu Mal wurden ihre Kommentare zusammenhangloser.
Daemon biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er sie gebeten, aufzuhören. Es tat ihm weh zu sehen, wie sie sich seinetwegen abmühte, im Niemandsland zwischen gesundem Geist und Wahnsinn zu wandeln, und es zerriss ihm das Herz, die Sorge und den Groll in Mikals Augen zu beobachten, während ihre Selbstbeherrschung immer weiter zusammenbrach.
Saetan stellte das Weinglas zurück auf den Tisch und erhob sich. »Komm schon, Kleiner«, wandte er sich an Mikal. »Ich bringe dich jetzt nach Hause.«
Hastig griff Mikal nach einem weiteren Stück Nusskuchen. »Ich bin noch nicht mit Essen fertig.«
»Nimm es mit.«
Als sie trotz Mikals lautstarkem Protest gegangen waren, sah Daemon Tersa an. »Es ist schön, dich wiederzusehen«, sagte er sanft.
Ihre Augen füllten sich mit Trauer. »Ich weiß nicht, wie ich deine Mutter sein soll.«
Er griff nach ihrer Hand. »Dann sei einfach Tersa. Das war immer mehr als genug.« Er konnte spüren, wie sie seine Anerkennung in sich aufsog und sich die Anspannung von ihr löste.
Schließlich lächelte sie. »Geht es dir gut?«
Er erwiderte das Lächeln und log. »Ja, es geht mir gut.«
Sie hielt seine Hand fester umschlossen. Ihr Blick wurde vage, und ihre Augen schienen in die Ferne zu schweifen. »Nein«, sagte sie leise. »Es geht dir nicht gut. Aber das wird sich ändern.« Dann stand sie auf. »Komm, ich zeige dir meinen Garten.«
7 Kaeleer
Saetan richtete sich auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer auf. Er musste nicht erst seine mentalen Fühler ausstrecken um zu wissen, wer sich draußen vor der Tür befand. Der Geruch ihrer Angst war völlig ausreichend. »Herein.«
Wilhelmina Benedict betrat das Zimmer, wobei sie zögerlich einen Fuß vor den anderen setzte.
Als Saetan sie sah, musste er seine Wut zügeln. Es war nicht ihre Schuld. Vor dreizehn Jahren war sie selbst kaum mehr als ein Kind gewesen. Sie hätte nichts tun können.
Doch wenn Jaenelle nicht auf Chaillot ausgeharrt hätte, um Wilhelmina zu beschützen, hätte jene letzte schreckliche Nacht in Briarwood niemals stattgefunden. Sie hätte der Familie, die ihr besonderes Wesen ohnehin nicht verstand oder wertschätzte, den Rücken gekehrt. Statt dort zu bleiben, wäre sie nach Kaeleer gekommen, zu ihm – und wäre der grausamen Vergewaltigung entgangen, die so viele Narben auf ihrer Seele hinterlassen hatte.
Es war ungerecht, Wilhelmina für das verantwortlich zu machen, was Jaenelle zugestoßen war, doch er ärgerte sich immer noch über Wilhelminas Anwesenheit auf seiner Burg und ihre Rückkehr in das Leben ihrer Schwester.
»Was kann ich für dich tun, Lady Benedict?« Obwohl er sich Mühe gab, gelang es ihm nicht, seiner Stimme die Schärfe zu nehmen.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Ihre Stimme war kaum hörbar.
»Inwiefern?«
»All die anderen, die einen Vertrag unterschrieben haben, haben etwas zu tun, und wenn sie nur eine Liste ihrer Fähigkeiten zusammenstellen. Aber ich …«
Sie rang so fest die Hände, dass Saetan um ihre zarten Knochen fürchten musste.
»Er hasst mich«, sagte Wilhelmina, deren Stimme vor Verzweiflung lauter wurde. »Alle hier hassen mich, und ich weiß nicht, warum.«
Saetan deutete auf das andere Ende des Sofas. »Setz dich.« Während er darauf wartete, dass sie seinem Befehl Folge leistete, fragte er sich unwillkürlich, wie solch eine verängstigte, labile Frau es geschafft hatte, durch eines der Tore zwischen den Reichen zu reisen und dann zu versuchen, einen Vertrag auf dem Dienstbasar zu ergattern. Als sie endlich saß, meinte er: »Hass ist ein zu starker Ausdruck. Niemand hier hasst dich.«
»Yaslana schon.« In ihrem Schoß ballte sie die Hände zu Fäusten. »Und du ebenfalls.«
»Ich hasse dich nicht, Wilhelmina«, widersprach er ruhig. »Aber ich habe etwas gegen deine Gegenwart hier.«
»Warum?«
Angesichts ihrer schmerzlichen Verwirrung war er versucht, die Wahrheit abzumildern, doch er entschied sich, Wilhelmina die Höflichkeit zu erweisen, sie nicht anzulügen. »Weil du der Grund bist, weswegen Jaenelle damals Chaillot nicht früh genug verlassen hat.«
Der fliegende Wechsel von Angst zu Zorn überraschte ihn, obwohl er es nicht hätte tun dürfen. Ihm dämmerte, dass er nach Gemeinsamkeiten zwischen ihr und Jaenelle hätte suchen sollen, anstatt sein Urteilsvermögen von der Vergangenheit überschatten zu lassen.
»Du weißt, wo sie sich befindet, nicht wahr? Oder etwa nicht?«
Sie sah aus, als sei sie drauf und dran, die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln. Fasziniert von der Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, fragte er sich, ob sie es tatsächlich versuchen würde.
»Im Augenblick nicht«, erwiderte er sanft. »Aber sie wird bald wieder zu Hause sein.«
»Zu Hause?« Ihr Zorn machte wieder Verwirrung Platz. Schließlich ließ sie nachdenklich den Blick durch das Arbeitszimmer schweifen. »Zu Hause?«
»Ich bin ihr Adoptivvater.« Als sie nicht reagierte, setzte er hinzu: »Und Lucivar ist ihr Bruder.«
Sie zuckte zusammen, als habe er sie mit einer Nadel gestochen. Blankes Entsetzen lag in ihrem Blick. »Bruder?«
»Bruder. Falls es dir ein Trost ist, kann ich dir versichern, dass Lucivar und du zwar mit derselben Frau verwandt seid, aber nicht miteinander.«
Ihre Erleichterung war so offensichtlich, dass er beinahe in lautes Gelächter ausgebrochen wäre.
»Mag sie ihn?«, erkundigte Wilhelmina sich kleinlaut.
Er konnte nicht anders; er musste lachen. »Ja. Meistens jedenfalls. « Dann musterte er sie. »Bist du deshalb nach Kaeleer gekommen? Um Jaenelle zu finden?«
Sie nickte. »Alle haben behauptet, sie sei tot. Sie haben gesagt, dass Prinz Sadi sie umgebracht habe. Doch ich wusste, dass es nicht wahr ist. Er hätte Jaenelle niemals wehgetan. Ich dachte, sie sei fortgegangen, um bei einer ihrer Freundinnen zu leben oder bei ihrem Lehrer.« Sie sah ihn an, als gleiche sie das, was sie vor sich sah, mit dem ab, was sie wusste. »Das warst du, nicht wahr? Du hast sie unterrichtet!«
»Ja.« Er hielt inne. »Wie bist du auf Kaeleer gekommen?« »Sie erzählte es mir. Hinterher.« Wilhelmina strich mit dem Finger über ihr Juwel, einen Saphir. »Als Prinz Sadi die Kraft seiner schwarzen Juwelen auf uns losließ, um den hayllischen Verfolgern zu entkommen, hörte ich Jaenelle schreien: ›Reite darauf! Reite darauf!‹ Also tat ich es. Als alles vorüber war, trug ich einen Saphir. Alle waren ganz aufgelöst, weil sie glaubten, ich habe irgendwie der Dunkelheit mein Opfer dargebracht. Aber es war nicht mein Juwel. Es war Jaenelles. Ich konnte es nicht wirklich benutzen, aber es beschützte mich. Und manchmal, wenn ich Angst hatte oder nicht wusste, was ich tun sollte, gab es mir immer die gleiche Antwort: Kaeleer. Ich bin von zu Hause fort, weil Bobby …« Sie presste die Lippen aufeinander und atmete mehrmals tief durch. »Ich bin von zu Hause fortgegangen. Sobald ich zwanzig war, brachte ich mein Opfer dar. Ich erhielt dieses Juwel. Das andere verschwand. «
»Und du hast die ganzen letzten Jahre damit verbracht, einen Weg hierher zu finden?«
Sie zögerte. »Lange Zeit war ich nicht so weit. Eines Tages fing ich dann an mich zu fragen, ob ich jemals so weit sein würde. Also brach ich auf.«
Zweifellos besaß diese Frau mehr Mut, als es den Anschein hatte.
»Sag mal, Wilhelmina«, meinte Saetan sanft, »wenn Jaenelle sich vor dreizehn Jahren entschieden hätte, Chaillot zu verlassen, und sie hätte dich aufgefordert, mit ihr zu gehen, wärst du ihr gefolgt?«
Es dauerte lange, bis sie ihm antwortete. Schließlich entgegnete sie widerstrebend: »Ich weiß es nicht.« Sie sah sich in dem Zimmer um, aus ihren Augen sprach Trauer. »Jaenelle gehört hierher. Ich nicht.«
»Du bist Jaenelles Schwester und eine Hexe mit Saphir-Juwel. Urteile nicht voreilig.« Und ich werde mir ebenfalls Mühe geben, kein vorschnelles Urteil zu fällen. »Außerdem hätte der Ort einen anderen Eindruck auf dich gemacht, als noch zehn heranwachsende Hexen hier wohnten«, fügte er gewollt düster hinzu.
Sie riss die Augen auf. »Du meinst die Königinnen, die hier sind?«
»Ja.«
»Oh je!«
»So lässt es sich auch ausdrücken.«
Sie senkte den Kopf, während sie sich ein Lachen verbiss. Als sie es wieder wagte, ihn anzusehen, spiegelte sich in ihren Gesichtszügen wider, dass sie scharf nachdachte und die Burg wie auch deren Bewohner neu einschätzte.
»Ich habe noch immer nichts zu tun«, gab sie zögernd zu bedenken.
Ihr beinahe zuversichtlicher, erwartungsvoller Blick zeigte ihm, dass sie der Vorstellung, ihn als den Patriarchen der Familie anzuerkennen, einen großen Schritt näher gekommen war – und nun damit rechnete, dass er den Pflichten nachkam, die ihm diese Position auferlegte.
»Lucivar hat gar nichts in dieser Hinsicht gesagt?«, wollte er wissen, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass Lucivar sie lediglich auf die Burg gebracht hatte, um sie von allen fernzuhalten, die eventuell versuchen könnten, ihre Beziehung zu Jaenelle auszunutzen.
Zum ersten Mal loderte so etwas wie Ärger in ihren Augen auf. »Er meinte, ich solle versuchen, nicht ständig in Ohnmacht zu fallen, weil es die Männer aus der Fassung bringen könnte.«
Saetan seufzte. »Aus Lucivars Munde war das fast schon taktvoll. Seine Aussage ist richtig. Barsch, aber richtig. Männer reagieren heftig auf Frauen, die sich in einer Notlage befinden. «
Wilhelmina runzelte die Stirn. »Folgt mir deshalb diese riesige gestreifte Katze?«
Saetans Blick wanderte zur Tür seines Arbeitszimmers. Eine kurze Frage auf einem mentalen Speerfaden brachte ihm die gewünschte Antwort. »Er heißt Dejaal, und er ist der Sohn von Prinz Jaal. Er hat sich selbst zu deinem Beschützer ernannt, bis du dich in Gegenwart der anderen Männer auf der Burg besser fühlst.«
»Er ist ein verwandtes Wesen? Ich habe Geschichten von …«
»Die Angehörigen des Blutes in Kleinterreille wissen nicht viel mit den verwandten Wesen anzufangen, und die verwandten Wesen können noch viel weniger mit den Blutleuten aus Kleinterreille anfangen«, erklärte Saetan, um dann insgeheim hinzuzufügen: Es sei denn, sie haben Hunger.
Er erhob sich, bot Wilhelmina eine Hand und geleitete sie zur Tür. Dann rief er eine Bürste herbei und reichte sie ihr. »Wenn du etwas tun möchtest, dass uns allen von Nutzen sein wird, dann bring Dejaal nach draußen in die Gartenanlagen und striegele ihn. Wenn du dich erst einmal an ihn gewöhnt hast, wird es dir vielleicht leichter fallen, dich hier aufzuhalten. «
»Wenn es darum geht, dass ich mich besser fühlen soll, sollte ich stattdessen vielleicht lieber Lucivar eins mit der Bürste überziehen.« In ihrer Stimme schwang ein leicht bissiger Unterton mit.
Saetan brach in Gelächter aus. »Schätzchen, wenn du mit Lucivar auskommen willst, zeig ihm einfach deine Krallen, damit er sieht, dass du Rückgrat hast. Da er die letzten acht Jahre mit Jaenelle zusammengelebt hat, wird er damit umzugehen wissen und sich sogar noch darüber freuen.«
8 Kaeleer
Bist du dir sicher, dass dieser Pfad zurück zur Burg führt?«, fragte Daemon, während er sich bückte, um einem tief hängenden Ast auszuweichen.
*Den Pfad haben wir verlassen*, erwiderte Ladvarian. *Wir müssen über den Bach, und auf dem Weg gibt es keine Brücke.*
»Ich brauche keine Brücke, um einen Bach zu überqueren.«
Ladvarian warf einen Blick auf Daemons Schuhe. *Du würdest nasse Füße bekommen.*
»Das würde ich überleben«, murmelte Daemon.
Beim Verlassen von Tersas Haus hatte Ladvarian draußen auf ihn gewartet, um ihn zur Burg zurückzugeleiten. Zuerst hatte Daemon sich gefragt, ob es sich um eine subtile Beleidigung handelte. Wollte der Hund damit andeuten, er sei nicht in der Lage, den Rückweg alleine zu finden? Als Ladvarian dann angeboten hatte, ihm einen Trampfelpfad zu zeigen, der zwischen Halaway und der Burg verlief, hatte er insgeheim damit gerechnet, in einen Hinterhalt geführt zu werden. Schließlich war ihm jedoch gekommen, dass das Tier lediglich etwas Zeit mit dem Mann verbringen wollte, der aufgrund seiner neuen Pflichten eine wichtige Rolle im Leben der Königin spielen würde.
Weniger gefiel ihm sein wachsender Eindruck, dass er hier als verzärtelter Mensch zu gelten schien.
Er blieb stehen. »Sieh mal, das kann so nicht weitergehen. Ich mag ja kein eyrischer Kämpfer sein, aber ich bin ganz gut in der Lage, ein paar Meilen zu Fuß zu gehen, ohne zusammenzubrechen. Wenn ich möchte, komme ich über einen Bach, ohne nass zu werden, und ich brauche vor allem kein kleines Fellknäuel, das mich behandelt, als könne ich nur in einem Haus voll Dienstboten überleben. Verstehst du, was ich meine?«
Ladvarian wedelte mit dem Schwanz. *Ja. Du möchtest wie ein Mann aus Kaeleer behandelt werden.*
Daemon wippte auf den Fersen nach hinten und betrachtete den Sceltie. »Habe ich das gesagt?«
*Ja.* Ladvarian änderte abrupt die Richtung. *Hier entlang. *
Eine Minute später erreichten sie den Bach. Ladvarian trottete auf das Ufer zu und machte einen Satz nach vorne. Eigentlich hätte er mitten in dem Gewässer landen müssen, doch er segelte darüber hinweg, und als er das andere Ufer erreicht hatte, schwebte er ein paar Zentimeter über dem Boden, die Lefzen zu einem Hundelächeln verzogen.
Daemon ließ den Blick von dem Bach zu dem Sceltie wandern und überquerte das Gewässer dann in der Luft, bis er ebenfalls am anderen Ufer stand.
*Hat Jaenelle dir das beigebracht?*
Daemons Brust zog sich zusammen, als er sich an den Nachmittag zurückerinnerte, als Jaenelle ihn gelehrt hatte, durch die Luft zu gehen. »Ja«, sagte er leise, »das hat sie.«
*Mir hat sie es auch beigebracht.* Ladvarian klang äußerst zufrieden.
Nachdem sie ein kleines Wäldchen durchquert hatten, erblickte Daemon die Straße. Sobald die nördliche Straße aus Halaway die Brücke hinter sich gelassen hatte, wurde sie zur Burgauffahrt, und das Land, das sich vor ihm erstreckte, gehörte zum Familienanwesen.
Er ging auf die Auffahrt zu, wirbelte jedoch herum, als Ladvarian ein Knurren vernehmen ließ. Trotz des freundschaftlichen Verhaltens des Hundes erwartete er halb, nun doch noch von ihm angefallen zu werden.
Doch Ladvarian wandte sich in die Richtung, aus der sie kamen. Die Brücke befand sich hinter einer Biegung außer Sichtweite, aber der Wind kam dorther
»Was ist los?«, wollte Daemon wissen, wobei er seine erste innere Barriere weit genug öffnete, um die Umgebung mental abtasten zu können.
*Menschen kommen. Drei Kutschen. Ich habe die anderen Männer bereits gewarnt, aber wir müssen sofort zurück.* Ladvarian verfiel in einen Trott und hielt direkt auf die Burg zu, sodass Daemon schnell gehen musste, um nicht abgehängt zu werden.
»Was ist so schlimm daran, wenn Menschen zur Burg fahren? «
Ladvarians mentale Signatur bekam eine feindselige Note. *Sie fühlen sich falsch an.*
Die plötzliche Grimmigkeit Ladvarians rief Daemon jäh ins Gedächtnis, dass der kleine Hund, das neben ihm herlief, ein Krieger war, der ein rotes Juwel trug; und wenn Lucivar auch nur einen Teil von Ladvarians Ausbildung überwacht hatte, war der Sceltie gewiss ein viel besserer Kämpfer, als es den Anschein erwecken mochte.
*Nachtschwinge wird dich zur Burg bringen. Er kann schneller laufen.*
Bevor Daemon Gelegenheit hatte, über diese rätselhafte Bemerkung nachzugrübeln, konnte er den Hufschlag auf sich zugaloppieren hören.
Unter anderen Umständen hätte er das Angebot abgelehnt, sobald er den Rappen erblickte – nicht nur, weil es keine gute Idee war, einen Hengst ohne Sattel zu reiten, sondern vor allem, weil der Wind und die Bewegung des Pferdes für einen Moment dessen Stirnlocke gelüftet hatten, sodass er das graue Juwel sehen konnte, das darunter verborgen war. Obwohl sie verschiedenen Gattungen angehörten, fiel es Daemon nicht schwer, die aggressive mentale Signatur eines anderen Kriegerprinzen zu erkennen. Doch als Daemon sich nicht rührte, nachdem das Pferd stehen geblieben war, kniff Ladvarian ihn in die Wade.
*Steig auf, Daemon. Schnell!*
Er hatte kaum Gelegenheit, sich auf den Rücken des Pferdes zu schwingen und sich an der langen Mähne festzuhalten, so schnell galoppierte Nachschwinge quer über die Wiese. Wie sollte Ladvarian bei diesem Tempo mithalten?, fragte Daemon sich. Als er sich nach dem Hund umblickte, stellte er fest, dass dieser hinter ihm auf dem Rücken des Pferdes balancierte.
Sobald das Pferd die letzte lange, gerade Strecke der Auffahrt erreicht hatte, zog Daemon an der Mähne und rief: »Langsam!« Er fürchtete, Nachtschwinge könnte bei dieser Geschwindigkeit auf dem Kies ausrutschen.
Da fühlte er, wie er ein Stück emporgehoben wurde, und hörte … nichts. Kein Donnern der Hufe, kein knirschender Kies. Ein Blick über Nachtschwinges linke Schulter bestätigte ihm, dass die muskulösen Beine des Hengstes mitten durch die Luft auf die Eingangstür zuhielten.
Sie waren nahe genug, um jede Einzelheit des Drachenkopfes erkennen zu können, der den Türklopfer bildete, als Nachtschwinge sich endlich auf die Hinterbeine stemmte und kurz darauf eine Handbreit von den Stufen entfernt zum Stehen kam.
Daemon stieg ab und erklomm die Stufen, wobei er nicht zu sagen vermochte, ob seine Beine vor Muskelanspannung oder aufgrund seiner strapazierten Nerven zitterten. Als er von der Tür aus zurückblickte, war Nachtschwinge spurlos verschwunden, doch er konnte den Hengst ganz in der Nähe spüren.
»Beim Feuer der Hölle«, murmelte er, als ein Lakai die Tür öffnete.
Ladvarian stürzte vor ihm in die Eingangshalle und lief davon.
Daemon betrat die Burg langsamer. Er konnte die Woge männlicher Feindseligkeit spüren. Abgesehen von dem Lakaien befand sich der Butler Beale in der großen Eingangshalle, doch Daemon bezweifelte, dass sie die einzigen Anwesenden waren.
»Anscheinend bekommen wir Besuch«, meinte Daemon. Er strich sich das Haar glatt und richtete sich das schwarze Jackett.
»Es sieht ganz so aus«, erwiderte Beale höflich. »Wenn du hier bleiben könntest; Prinz Yaslana und der Höllenfürst müssten jeden Moment eintreffen.«
Daemon sah sich um und zog sich dann in den offiziellen Salon zurück, allerdings nur so weit, dass er von der Eingangstür nicht gesehen werden konnte.
Beale hatte ihn beobachtet und wechselte seinen Standpunkt, sodass er weiterhin Blickkontakt mit Daemon hatte.
*Lucivar*, sagte Daemon, indem er einen schwarzgrauen Speerfaden benutzte.
*Ich komme durch den Dienstboteneingang an der Rückseite der Burg.*
*Wenn es einem von ihnen gelingen sollte, an uns vorbeizuschlüpfen, besteht dann die Möglichkeit, dass sie die Wohnräume erreichen?*
*Der einzige Weg zu den oberen Gemächern führt über die Treppe im Familiensalon. Mach dir da mal keine Sorgen. Kaelas wartet dort. Niemand wird diese Treppe hinaufkommen. Außerdem ist der Höllenfürst aus dieser Richtung auf dem Weg nach unten.*
Daemon hörte, wie die Kutschen vor der Burg hielten. Beale nickte dem Lakaien zu, als es an der Tür klopfte.
Schritte. Raschelnde Gewänder. Dann eine Frauenstimme.
»Ich verlange, Wilhelmina Benedict zu sehen.«
Kalte Wut überkam ihn, und er befand sich im Blutrausch, noch bevor er bemerkt hatte, auch nur den ersten mentalen Schritt in diese Richtung getan zu haben. Seit dreizehn Jahren hatte er ihre Stimme nicht mehr gehört, doch er erkannte sie auf der Stelle wieder.
»Lady Benedict ist nicht zu sprechen«, erwiderte Beale kühl.
»Red keinen Unsinn! Ich bin die Königin von Chaillot und ich …«
Daemon trat aus dem Salon. »Guten Nachmittag, Alexandra«, sagte er gelassen. »Es ist mir ein Vergnügen, dich wiederzusehen. «
»Du!« Alexandra starrte ihn aus angstvollen, weit aufgerissenen Augen an. Als Nächstes kam die Wut über sie. »Du hast diese so genannte Führung durch Briarwood in die Wege geleitet, nicht wahr?«
»Angesichts der Situation war es das Mindeste, was ich tun konnte.« Er ging einen Schritt auf sie zu. »Ich habe dir gesagt, dass Blut durch die Straßen von Beldon Mor fließen wird, wenn du mich verrätst.«
»Du hast auch gesagt, dass du mich umbringen würdest.«
»Ich habe entschieden, dass es eine weitaus schlimmere Strafe ist, dich am Leben zu lassen.«
»Du Bastard! Du …« Alexandra begann zu zittern. Ihr gesamtes Gefolge wirkte ebenfalls eingeschüchtert und ängstlich.
Einen Augenblick später traf auch ihn die intensive, brennende Kälte. Er war so überrascht, dass er aus seinem Blutrausch auftauchte.
Kurz darauf betrat Saetan die große Eingangshalle.
Sehe ich so aus, wenn mich die kalte Wut überkommt?, fragte sich Daemon, ohne den Blick von den glasigen, schläfrigen Augen und dem boshaften Lächeln abwenden zu können.
»Lady Angelline.« Saetans Stimme rollte wie leiser Donner durch die Eingangshalle. »Ich wusste, dass wir uns eines Tages begegnen würden, doch ich hätte nie gedacht, dass du so töricht sein würdest, freiwillig hierher zu kommen.«
Obwohl Alexandra die Hände zu Fäusten ballte, gelang es ihr nicht, ihr Zittern zu unterdrücken. »Ich bin hergekommen, um meine Enkelinnen mit mir nach Hause zu nehmen. Lass sie ziehen, und wir verschwinden von hier.«
»Lady Benedict wird davon in Kenntnis gesetzt, dass du hier bist. Sollte sie dich sehen wollen, wird ein Treffen arrangiert – unter Aufsicht selbstverständlich.«
»Du wagst es anzudeuten, dass ich eine Gefahr für sie darstelle? «
»Ich weiß, dass du das tust. Es stellt sich lediglich die Frage, wie groß die Gefahr ist, die von dir ausgeht.«
Alexandras Stimme wurde lauter. »Du hast kein Recht …«
»Ich herrsche hier«, stieß Saetan wütend hervor. »Du bist diejenige, die keine Rechte hat, Lady. Überhaupt keine. Außer denjenigen, die ich dir gewähre. Und ich gewähre dir nicht viel.«
»Ich will meine Enkeltöchter sehen. Beide!«
Etwas Wildes funkelte tief in Saetans Augen auf. Er blickte zu Leland und Philip, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Alexandra zu. Seine Stimme bekam einen gefährlich sanften Unterton. »Ich durchlebte zwei lange, schreckliche Jahre, in denen ich mir die perfekte Hinrichtung für euch drei ausdenken konnte. Euer Tod wird zwei lange, schreckliche Jahre dauern, und jede Minute davon wird mit mehr Schmerzen und Grauen angefüllt sein, als ihr euch vorstellen könnt. Allerdings muss ich in diesem Fall die Erlaubnis meiner Königin einholen, bevor ich beginnen kann.« Er wandte sich von ihnen ab. »Beale, lass Zimmer für unsere Gäste herrichten. Sie werden eine Zeit lang bei uns bleiben.«
Als er an Daemon vorbei auf sein Arbeitszimmer zustrebte, trafen sich ihre Blicke kurzzeitig.
Daemon betrachtete Leland, die sich an Philip klammerte und leise weinte; die anderen Königinnen und ihre Männer, die dicht gedrängt in einer Gruppe zusammenstanden; und schließlich Alexandra, die ihn mit angsterfüllten Augen anstarrte, und der sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging auf das Arbeitszimmer zu. Da gewahrte er Lucivar, der geräuschlos an der Rückseite der Eingangshalle verharrte.
*Wenn du dort hineingehst, sei vorsichtig, Bastard*, riet ihm sein Bruder.
Mit einem Nicken betrat Daemon das Arbeitszimmer.
Saetan stand am Schreibtisch und goss sich bedächtig ein Glas Brandy ein. Er blickte auf, schenkte ein zweites Glas ein und hielt es Daemon entgegen.
Daemon griff danach und nahm einen großen Schluck in der Hoffnung, der Brandy würde ihn ein wenig beleben.
»Die Wut eines anderen Mannes sollte dich nicht derart aus der Bahn werfen, dass du aus dem Blutrausch auftauchst«, meinte Saetan leise.
»Ich habe noch niemals zuvor etwas Ähnliches gespürt.«
»Und wenn du es wieder spüren solltest, wird es dich wieder aus der Bahn werfen?«
Daemon sah den Mann an, der eine Armeslänge von ihm entfernt stand. Da begriff er, dass der Haushofmeister des Dunklen Hofes und nicht sein Vater diese Frage an ihn richtete. »Nein, das wird es nicht.«
Betont vorsichtig, als müsse Saetan befürchten, dass jede ruckartige Bewegung die Gewaltbereitschaft freisetzen könnte, die noch immer in ihm tobte, lehnte er sich an seinen Ebenholzschreibtisch.
Daemon goss sich ein zweites Glas Brandy ein, wobei seine Bewegungen ebenso kontrolliert waren wie die seines Vaters. »Glaubst du, die Königin wird ihr Einverständnis geben?«
»Nein. Da ihre Verwandten niemandem außer ihr selbst Schaden zugefügt haben, wird sie Einspruch gegen die Hinrichtung erheben. Aber ich werde sie dennoch darum ersuchen.«
Daemon ließ den Brandy leicht in seinem Glas kreisen. »Wenn sie sich aus irgendeinem Grund nicht gegen die Hinrichtung stellt, darf ich dann zusehen?«
Saetans Lächeln war süß und boshaft zugleich. »Mein liebster Prinz, wenn Jaenelle mir tatsächlich die Erlaubnis erteilen sollte, darfst du mehr als nur zusehen.«
9 Kaeleer
Seufzend legte Lord Magstrom die Akten auf den großen Tisch, auf dem sich bereits etliche Papierberge stapelten. Er seufzte erneut, als er mit dem Ellbogen gegen einen Haufen an der Ecke stieß und die Papiere aus der obersten Mappe zu Boden fielen. Nachdem er sich auf ein Knie niedergelassen hatte, begann er, die Akten wieder einzusammeln.
Der Dunkelheit sei Dank, dass der Angebotstag verstrichen und damit der herbstliche Dienstbasar offiziell vorüber war. Vielleicht sollte er ablehnen, den Dienstbasar im kommenden Frühjahr zu leiten. Die aufreibend langen Arbeitstage waren mörderisch für einen Mann seines Alters, doch es waren die herzzerreißende Hoffnung und die Verzweiflung in den Gesichtern der Einwanderer, die ihn völlig erschöpften. Wie konnte er eine Frau sehen, die nicht älter als seine jüngste Enkelin war, und ihr nicht helfen wollen, einen Wohnort zu finden, an dem die Furcht in ihren Augen durch Glück ersetzt würde? Wie sollte er mit einem höflichen, redegewandten Mann sprechen, der von den wiederholten Versuchen, ›ihm Gehorsam beizubringen‹, schreckliche Narben davongetragen hatte, und nicht von ganzem Herzen wünschen, ihn in ein ruhiges Dorf zu schicken, wo er seine Selbstachtung wiedergewinnen konnte und keine Angst haben musste, sobald die dort herrschende Lady in seine Richtung blickte?
Solche Orte gab es in Kleinterreille nicht. Nicht mehr. Doch es waren die Königinnen aus diesem Territorium, die immer wieder Verträge anboten und nicht müde wurden, ihre Höfe mit Einwanderern aufzufüllen. Die anderen Königinnen in Kaeleer, aus den Territorien, die der Königin des Schwarzen Askavi Rechenschaft abzulegen hatten, waren vorsichtiger und viel wählerischer. Folglich gab er sich immer besondere Mühe, diejenigen Einwanderer ausfindig zu machen, die eine Fähigkeit oder einen Traum oder sonst etwas vorzuweisen hatten, das ihnen einen Vertrag außerhalb Kleinterreilles bescheren könnte. Dann machte er die Männer aus Jaenelle Angellines Erstem Kreis auf jene Leute aufmerksam, wenn sie zu dem Dienstbasar kamen. Was die anderen Immigranten betraf, füllte er ihre Verträge aus und wünschte ihnen viel Glück und ein gutes Leben – und fragte sich, ob sich ihr neues Dasein in Kleinterreille wirklich so sehr von dem Leben unterscheiden würde, dem sie zu entfliehen trachteten.
Und er versuchte, möglichst überhaupt nicht über diejenigen nachzugrübeln, die nicht das Glück besessen hatten, irgendeinen Vertrag zu ergattern, und nach Terreille zurückgeschickt wurden.
Kopfschüttelnd legte Magstrom wahllos die Papiere übereinander. Welch schlampige Arbeit, die Einwanderungslisten in dieselbe Mappe zu stecken wie die Dienstlisten und die Verzeichnisse, welche die Namen derer enthielten, die wieder nach Terreille abgeschoben würden. Wie konnte man von den Schreibern erwarten …
Seine Hand umklammerte ein Blatt Papier. Die hayllische Einreiseliste. Doch er war für die hayllische Liste verantwortlich gewesen – bis gegen Ende des dritten Tages, als Jorval entschieden hatte, eben jene Liste in seine Obhut zu nehmen. Auf der Liste, die er an Jorval übergeben hatte, hatten zwanzig Namen gestanden. Jetzt befanden sich lediglich zwölf darauf. Hatte jemand die Liste neu geschrieben und nur diejenigen Leute angegeben, die einen Dienstvertrag erhalten hatten? Nein, denn Daemon Sadis Name war nicht aufgeführt.
Rasch durchwühlte Magstrom die Papiere auf der Suche nach der Liste der Hayllier, die nach Terreille zurückkehrten, und welche die Wachen benutzen würden, um sicherzugehen, dass ihnen niemand durch die Finger ging und illegal in Kaeleer untertauchte. Vier aufgelistete Namen. Sadi befand sich mittlerweile in Dhemlan. Folglich blieben drei Leute von der Einreiseliste, die er Jorval ausgehändigt hatte, deren Verbleib unklar war.
Als er Schritte nahen hörte, stopfte er die Papiere zurück in die Mappe, stand leise stöhnend auf und legte die Mappe hastig auf einen Stapel, von dem aus sich ihr Inhalt nicht gleich wieder auf den Boden ergießen würde.
Die Schritte hielten kurz vor der Tür inne, gingen dann aber weiter.
Magstrom lauschte einen Augenblick lang, dann bediente er sich der Kunst, um die Umgebung zu untersuchen. Niemand. Doch ihm lief ein unbehaglicher Schauder den Rücken hinab.
Das Unbehagen ließ ihn Hals über Kopf das Gebäude verlassen und die Herberge aufsuchen, in der er während des Dienstbasars gewohnt hatte. Auf seinem Zimmer fing er sogleich mit dem Packen an.
Eigentlich hätte er sich an andere Ratsmitglieder wenden und sie von den Ungereimtheiten auf den hayllischen Listen in Kenntnis setzen müssen. Vielleicht handelte es sich lediglich um Schreibfehler – zu viele Namen, zu viel Arbeit in zu kurzer Zeit. Doch wer würde ›vergessen‹, einen Kriegerprinzen wie Daemon Sadi auf die Liste zu setzen? Außer, sein Name war absichtlich ausgelassen worden. Und wenn das der Fall sein sollte, ließ sich nicht abschätzen, wie viele andere Listen ähnliche Ungereimtheiten aufwiesen, und wie viele Terreilleaner nach ihrer Einreise in Kaeleer spurlos verschwunden waren.
Und wer wusste schon, was mit den Beweisen für diese Unstimmigkeiten geschehen würde, falls er sich den falschen Ratsmitgliedern anvertraute?
Wenn er mit dem weißen Wind reiste, der ihm die geringste Anstrengung abverlangen würde, würde er immer noch bei Morgengrauen die Grenze von Nharkhava erreichen. Da dort eine seiner Enkelinnen lebte, hatte ihm Kalush, die Königin von Nharkhava, eine Sondergenehmigung erteilt, die ihm erlaubte, ihr Territorium zu besuchen, ohne jedes Mal die Einreiseformalitäten über sich ergehen lassen zu müssen. Und wenn er, sobald er an dem Landenetz ankam, eine Eskorte zum Haus seiner Enkeltochter erbat … Die Wächter mochten die Bitte eigenartig finden, doch sie würden sich nicht weigern, einem alten Mann behilflich zu sein. Nachdem er etwas geschlafen hatte, würde er einen Brief an den Höllenfürsten verfassen und darin von den Ungereimtheiten bezüglich der Listen berichten.
Vielleicht handelte es sich tatsächlich bloß um einen Schreibfehler. Doch wenn es das erste Anzeichen herannahenden Ärgers war, wäre Saetan zumindest vorgewarnt – und würde auch wissen, wo der Ärger seine Wurzeln hatte.
Jorval betrachtete das Blatt Papier, das unter dem Tisch lag, sowie die eilig in die überquellende Mappe zurückgestopften Listen.
So, so. Der alte Narr war neugierig geworden. Wie schade.
Magstrom mochte dem Dunklen Rat seit etlichen Jahren ein Dorn im Auge gewesen sein, doch er war auch nützlich gewesen – besonders da er das einzige Ratsmitglied war, das den Höllenfürsten um eine Audienz bitten konnte und tatsächlich von diesem empfangen wurde.
Doch allem Anschein nach neigte sich Magstroms Nützlichkeit nun ihrem Ende zu. Und Jorval war auch nicht gewillt zu vergessen, dass es nur Magstroms Einschreiten gestern Nachmittag zu verdanken gewesen war, dass die Dunkle Priesterin nicht ihre Waffe mit dem schwarzen Juwel an einen sicheren Ort hatte bringen können, wo sie ihnen von Nutzen hätte sein können.
Er war versucht, noch diese Nacht jemanden loszuschicken, der sich um Magstrom kümmern sollte, doch der Zeitpunkt könnte gewisse Leute – namentlich den Höllenfürsten – dazu veranlassen, den Dienstbasar ein wenig zu genau unter die Lupe zu nehmen.
Magstrom konnte warten. Der alte Mann konnte nicht allzu viel entdeckt haben. Und wenn von irgendeiner Seite nachgefragt werden sollte, war es ein Leichtes, den einen oder anderen Schreiber wegen Nachlässigkeit zu entlassen und sich überschwänglich zu entschuldigen.
Doch zu einem anderen Zeitpunkt …
10 Kaeleer
Alexandra saß in sich zusammengekauert in dem Sessel vor dem Ebenholzschreibtisch.
Der Höllenfürst wünscht dich zu sprechen.
Wünscht? Verlangt traf die Sache schon genauer. Doch das Arbeitszimmer war leer gewesen, als der hünenhafte Butler sie mit steinerner Miene in den Raum geführt hatte, und nun, eine Viertelstunde später, saß sie immer noch hier und wartete. Nicht, dass sie es eilig hatte, dem Höllenfürsten erneut unter die Augen zu treten!
Sie verstärkte den Wärmezauber, mit dem sie ihr Schultertuch belegt hatte, und verzog dann ärgerlich das Gesicht: An diesem Ort war es unmöglich, auch nur das geringste bisschen Wärme zu finden. Es war nicht so sehr das Gebäude an sich – das im Grunde sehr schön war, wenn man den bedrückenden, dunklen Eindruck außer Acht ließ –, es waren die Leute, von denen eine Kälte ausging, die einem bis in die Knochen kroch.
Aus Höflichkeit war ihr und ihrem Gefolge das Abendessen gewiss nicht in einem kleinen Esszimmer in der Nähe ihrer Gemächer serviert worden. Dem Höllenfürsten wäre es gleichgültig gewesen, dass sie viel zu erschöpft war, um die Bekanntschaft der übrigen Burgbewohner machen zu können – wer immer das sein mochte. Ebenso wäre es ihm egal gewesen, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, am selben Tisch mit Daemon Sadi auch nur einen Bissen hinunterzuwürgen.
Nein, sie und ihre Leute hatten unter sich zu Abend gespeist, weil er sie nicht an seiner Tafel haben wollte.
Und nun, da sie sich nur mehr danach sehnte, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen und wenigstens zu versuchen, nach einem anstrengenden Tag etwas zu schlafen, wünschte er sie zu sehen – und besaß dann noch nicht einmal den Anstand, bei ihrem Erscheinen anwesend zu sein.
Sie sollte einfach gehen. Immerhin war sie eine Königin! Außerdem hatte sie sich diese Beleidigung, warten gelassen zu werden, nun schon lange genug bieten lassen. Wenn der Höllenfürst sie sprechen wollte, sollte er gefälligst zu ihr kommen!
Als sie sich eben erhob, um das Zimmer zu verlassen, ging die Tür auf und seine dunkle mentale Signatur durchflutete den Raum. Sie sank in den Sessel zurück, und es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, sich nicht zu ducken, als er an ihr vorüberging und auf dem Sessel hinter dem Ebenholzschreibtisch Platz nahm.
»Wenn ein Mann darum bittet, mit einer Königin sprechen zu dürfen, lässt er sie nicht warten.« Alexandra musste sich Mühe geben, um das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Und du, die du derart pedantisch auf Höflichkeit bedacht bist, hast noch nie jemanden warten lassen?«, erkundigte Saetan sich freundlich, nachdem er einige Zeit hatte verstreichen lassen.
Das eigenartige, schillernde Glitzern in seinen Augen ängstigte sie, doch sie spürte instinktiv, dass dies die einzige Gelegenheit war, die sich ihr bieten würde. Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, würde er ihr nie eine ihrer Forderungen zugestehen.
Sie legte die kühle Geringschätzung in ihre Stimme, derer sie sich immer bediente, wenn ein aristokratischer Mann in die Schranken gewiesen werden musste. »Was eine Königin tut, steht nicht zur Debatte.«
»Weil eine Königin ohnehin tun kann, was sie will, egal wie grausam ihre Handlungsweise ist, oder wie viel Leid sie damit hervorrufen mag.«
»Verdreh mir nicht die Worte im Mund«, fuhr sie ihn an, wobei sie alles um sich her vergaß, außer, dass er ein Mann war und eine Königin nicht auf diese Weise behandeln durfte.
»Verzeihung, Lady. Da du selbst so sehr dazu neigst, die Wahrheit zu verdrehen, werde ich mich bemühen, dem nichts mehr hinzuzufügen.«
Sie dachte einen Moment lang nach. »Du provozierst mich absichtlich. Warum? Damit du es vor dir rechtfertigen kannst, mich hinzurichten?«
»Oh, für eine Hinrichtung habe ich schon jegliche Rechtfertigung, die ich benötige«, erwiderte er sanft. »Nein, es ist ganz einfach. Wenn du vor Angst vor mir erstarrst, führt das zu nichts. Solange du wütend bist, redest du zumindest.«
»In dem Fall möchte ich dir sagen, dass ich meine Enkelinnen wiederhaben will.«
»Du hast weder bei der einen noch bei der anderen das Recht, sie zurückzuverlangen.«
»Ich habe jedes Recht!«
»Du vergisst etwas ganz Grundsätzliches, Alexandra. Wilhelmina ist siebenundzwanzig. Jaenelle ist fünfundzwanzig. Ihre Volljährigkeit haben sie schon mit zwanzig erreicht. Du hast in ihrem Leben längst kein Mitspracherecht mehr.«
»Du dann aber auch nicht. Sie sollten entscheiden, ob sie bleiben oder gehen möchten.«
»Sie haben sich bereits entschieden. Und ich habe viel mehr Einfluss auf ihr Leben als du. Wilhelmina hat einen Vertrag mit dem Kriegerprinzen von Ebon Rih unterzeichnet, der wiederum am Dunklen Hof dient. Ich bin der Haushofmeister. Folglich räumt mir die Hierarchie bei Hofe das Recht ein, so manche Entscheidung zu treffen.«
»Und was ist mit Jaenelle? Dient sie ebenfalls am Dunklen Hof?
Saetan bedachte sie mit einem seltsamen Blick. »Du begreifst es wirklich nicht, wie? Jaenelle dient nicht, Alexandra. Jaenelle ist die Königin.«
Im ersten Moment ließ sie sich beinahe von der Überzeugung in seiner Stimme mitreißen.
Nein. Nein! Wenn Jaenelle tatsächlich eine Königin wäre, hätte Alexandra es gewusst. Gleiches erkennt Gleiches. Oh, vielleicht gab es wirklich eine Königin, die an diesem Hof regierte, doch es war nicht Jaenelle. Das war völlig ausgeschlossen!
Doch seine Erklärung gab ihr eine Waffe an die Hand. »Wenn Jaenelle die Königin ist, hast du keinerlei Recht, über ihr Leben zu bestimmen.«
»Du aber auch nicht.«
Alexandra klammerte sich an den Armlehnen ihres Sessels fest und knirschte mit den Zähnen. »Das Erreichen der Mündigkeit hängt von gewissen Faktoren ab. Wird ein Kind in welcher Hinsicht auch immer als hilflos eingestuft, erhält die Familie weiterhin das Recht, sich um sein Wohl zu kümmern und stellvertretend gewisse Entscheidungen zu treffen.«
»Und wer entscheidet darüber, ob das Kind hilflos ist? Die Familie, der weiterhin die Kontrolle über das Kind zugesprochen wird? Wie ausgesprochen praktisch! Vergiss bitte nicht, dass du hier über eine Königin sprichst, die in der Bluthierarchie über dir steht.«
»Ich vergesse nichts. Und versuch nun ausgerechnet du nicht, mir etwas von deinem moralisch integren Charakter vorzuspielen – als hättest du auch nur die geringste Vorstellung, was Moral überhaupt bedeutet!«
Saetans Blick wurde eiskalt. »Nun gut, dann sehen wir uns doch einmal deine Vorstellung von Moral etwas genauer an. Erzähl mir, Alexandra, wie du es vor dir rechtfertigen konntest, dass man Jaenelle offensichtlich hungern ließ? Wie hast du dir die aufgeschürften Handgelenke erklärt, die ihr die Seile eintrugen, mit denen sie gefesselt war? Wie die Blutergüsse von den Schlägen? Hast du das alles lediglich als Erziehungsmaßnahmen abgetan, die bei einem widerspenstigen Kind vonnöten waren?«
»Du lügst!«, rief Alexandra. »Derartige Beweise habe ich niemals zu Gesicht bekommen!«
»Du hast sie also bloß nach Briarwood abgeschoben, bis du schließlich entschieden hast, sie wieder herauszuholen, ohne dir die Mühe zu machen, jemals nach ihr zu sehen?«
»Natürlich habe ich sie besucht!« Alexandra stockte. In ihrer Brust machte sich Schmerz breit, als sie an die distanzierte, beinahe anklagende Art denken musste, mit der Jaenelle Leland und sie manchmal ansah, wenn sie das Mädchen besuchten. Das argwöhnische Misstrauen in ihren Augen, das ihnen galt. Sie wusste noch, wie weh es getan hatte, und wie Leland auf dem Rückweg leise geweint hatte, wenn Dr. Carvay ihnen mitteilte, Jaenelle sei zu labil, um Besuch zu empfangen. Und sie entsann sich der Gelegenheiten, als sie insgeheim erleichtert war, dass Jaenelle aus dem Weg war, sodass andere nicht aus erster Hand von den merkwürdigen Phantasien des Mädchens erfuhren. »Ich besuchte sie, wann immer sie stabil genug war, um Besucher zu haben.«
Saetan stieß ein leises Knurren aus.
»Du kannst da sitzen und mich verurteilen, aber du hast ja keine Ahnung, wie es war, mit einem Kind zurechtkommen zu müssen, das …«
»Jaenelle war sieben, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin.«
Einen Augenblick lang raubte es Alexandra den Atem. Sieben. Sie konnte sich gut vorstellen, wie jene dunkle Männerstimme ein Kind umgarnte und ihm Lügen vorspann. »Wenn sie also ihre Märchen von Einhörnern und Drachen erzählt hat, hast du sie noch darin unterstützt.«
»Ich habe ihr geglaubt.«
»Warum?«
Sein Lächeln war erbarmungslos. »Weil es sie wirklich gibt.«
Sie schüttelte den Kopf. Der Tumult an Gedanken und Gefühlen in ihrem Innern verschlug ihr die Sprache.
»Was müsste geschehen, um dich zu überzeugen, Alexandra? Müsste man dich auf dem Horn eines Einhorns aufspießen? Würdest du dann immer noch behaupten, dass es sich dabei lediglich um ein Märchenwesen handelt?«
»Du könntest jeden dazu bringen, dir die absonderlichsten Dinge zu glauben.«
Seine Augen nahmen einen schläfrigen Blick an. »Ich verstehe. « Er erhob sich. »Es ist mir verdammt noch einmal egal, was du von mir hältst. Es ist mir überhaupt egal, was du denkst. Doch wenn ich bei Wilhelmina oder Jaenelle wegen dir auch nur den Hauch einer Sorge wahrnehme, wirst du herausfinden, wie ich wirklich bin, und was ich weiß.« Er sah sie mit jenen unendlich kalten Augen an. »Ich weiß nicht, wieso Jaenelle zu dir kam. Es ist mir unbegreiflich, weshalb die Dunkelheit ein derart außergewöhnliches Wesen in die Obhut einer Person wie dir gab. Du hattest sie nicht verdient. Du verdienst es nicht einmal, sie auch nur zu kennen.«
Er verließ das Zimmer.
Alexandra saß noch lange da.
Tricks und Lügen. Er hatte behauptet, Jaenelle sei sieben gewesen, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte, doch wie alt war sie wirklich gewesen, als der Höllenfürst anfing, das süße Gift seiner Lügen in das Ohr des Kindes zu träufeln? Vielleicht hatte er sogar Trugbilder von Einhörnern und Drachen erschaffen, die echt genug aussahen, um die Kleine von ihrer Existenz zu überzeugen. Vielleicht war der Umstand, dass sie sich manchmal in Jaenelles Gegenwart unwohl gefühlt hatte, in Wirklichkeit ein Nachgeschmack ihrer Treffen mit dem Höllenfürsten gewesen, und nicht das Kind an sich.
Sie konnte nicht bestreiten, dass in Briarwood entsetzliche Dinge passiert waren. Doch hatten jene Männer diese Dinge aus freiem Antrieb getan, oder hatte ein Unsichtbarer die Fäden gezogen? Daemon Sadis Grausamkeit hatte sie am eigenen Leib erfahren. War es nicht wahrscheinlich, dass er bei seinem Vater in die Lehre gegangen war? Waren all der Schmerz und das Leid verursacht worden, um ein bestimmtes Kind so verletzlich zu machen, dass es schließlich von diesen beiden Männern abhängig wurde?
Dorothea hatte Recht gehabt. Der Höllenfürst war ein Ungeheuer. Während Alexandra vor ihm saß, stieg nur eine Gewissheit in ihr empor: Sie würde alles tun, um ihm Wilhelmina und Jaenelle zu entreißen.
Er spürte, wie Daemons Hände seine Schulterblätter empor glitten
und sich ihm dann einen Augenblick lang auf die Schultern legten,
bevor die starken, schlanken Finger seine verspannte Muskulatur
lockerten.
»Hast du ihr gesagt, dass Jaenelle Hexe ist?«, fragte Daemon leise.
Saetan trank einen Schluck Yarbarah, Blutwein, und schloss die Augen, um besser genießen zu können, wie die Anspannung und die Wut von ihm abfielen, während Daemon ihn massierte. »Nein«, antwortete er schließlich. »Ich habe ihr erklärt, dass Jaenelle die Königin ist, was hätte ausreichen sollen, aber …«
»Es hätte keinen Unterschied gemacht«, meinte Daemon. »In jener letzten Nacht auf dem Winsolfest, als mir endlich dämmerte, was Briarwood in Wirklichkeit war, wollte ich Alexandra die Wahrheit über Jaenelle sagen. Ich hatte mir eingeredet, sie würde mir helfen, Jaenelle von Chaillot fortzuschaffen. «
»Doch du hast geschwiegen.«
Daemons Hände hielten inne. Dann bearbeiteten sie eine andere verspannte Muskelgruppe. »Ich hörte, wie sie einer anderen Frau sagte, Hexe sei nur ein Symbol für die Angehörigen des Blutes, aber falls der lebende Mythos tatsächlich erscheine, hoffe sie, dass jemand den Mut aufbrächte, sie noch in der Wiege zu erdrosseln.«
Ärger durchzuckte Saetan, doch er wusste nicht zu sagen, ob er ursprünglich aus seinem Innern oder von Daemon gekommen war. »Mutter der Nacht, wie ich diese Frau hasse!«
»Philip und Leland sind auch nicht gerade Unschuldslämmer. «
»Nein, sind sie nicht, aber sie folgen nur Alexandras Anweisungen, sowohl in ihrer Rolle als ihre Königin als auch als Matriarchin der Familie. Sie warf mir vor, Jaenelle in ein Lügennetz eingesponnen zu haben, doch wie viele Lügen haben sie schon von sich gegeben, indem sie Jaenelle in den Mantel der so genannten Wahrheit einhüllten?« Saetan stieß ein Geräusch aus, das nach einem verbitterten Lachen klang. »Ich kann dir sagen, wie viele. Ich hatte jahrelang Gelegenheit dazu, die Narben zu zählen, welche die Worte ihrer Familie bei ihr hinterlassen haben.«
»Und was geschieht, wenn sie herausfindet, dass sie hier sind?«
»Darum kümmern wir uns, sobald es so weit ist.«
Daemon beugte sich vor, sodass seine Lippen über Saetans Nacken strichen. »Ich kann ein Grab erschaffen, dass niemals jemand finden wird.«
Der Kuss, der dieser Aussage folgte, ließ Saetan genug zusammenfahren, um sich ins Gedächtnis zu rufen, dass mit seinem Sohn vorsichtig umzugehen war. Er mochte sich im Moment lediglich der Phantasie hingeben, imaginäre Gräber auszuheben, um seinen Ärger abzureagieren; andererseits würde Daemon gewiss nicht zögern, seine Worte eines Tages Wirklichkeit werden zu lassen.
Der Höllenfürst zuckte erneut zusammen, als eine dunkle weibliche Kraft federleicht am tiefsten Winkel seiner inneren Barrieren entlang strich.
»Saetan?«, meinte Daemon eine Spur zu sanft.
Wolfsgeheul drang durch die Nacht.
»Nein«, erwiderte Saetan milde, aber bestimmt, als er weit genug vortrat, um sich umdrehen und Daemon ins Gesicht blicken zu können. »Dafür ist es jetzt zu spät.«
»Wieso?«
»Weil dieser Begrüßungschor der Wölfe bedeutet, dass Jaenelle zurückgekehrt ist.« Als Daemon erbleichte, strich Saetan mit der Hand über den Arm seines Sohnes. »Komm in mein Arbeitszimmer und trink etwas mit mir. Lucivar nehmen wir mit, denn wahrscheinlich hat er sich mittlerweile so liebevoll um Marian gekümmert, dass sie längst vor Wut kocht.«
»Was ist mit Jaenelle?«
Saetan lächelte. »Junge, nach einer dieser Reisen steht die Begrüßung von Männern, wer immer sie auch sein mögen, bloß an dritter Stelle ihrer Prioritätenliste – an erster Stelle befindet sich ein langes, heißes Bad und an zweiter eine gigantische Mahlzeit. Da können wir uns ebenso gut zurücklehnen und uns entspannen, während wir darauf warten, endlich doch noch an die Reihe zu kommen.«
11 Kaeleer
Surreal stürmte durch die Gänge. Jedes Mal, wenn sie an eine Kreuzung kam, wies ein Lakai ihr die richtige Richtung. Wahrscheinlich hatte der Erste seine Mitbediensteten vorgewarnt, nachdem Surreal ihn angefaucht hatte: »Wo ist das Arbeitszimmer des Höllenfürsten?«
Erst war es ihr ein wenig eigenartig erschienen, dass keiner der Dienstboten überrascht reagiert hatte, als sie in nichts als ihrem Nachthemd durch die Gänge gelaufen kam. Wenn man andererseits bedachte, welche Hexen auf der Burg lebten, war ihr Aufzug wahrscheinlich gar nicht so ungewöhnlich.
Als sie endlich die Treppe erreichte, die in den Familiensalon hinabführte, lüftete sie ihr Nachthemd bis zu den Knien, um nicht über den Saum zu stolpern. Dann rannte sie die Treppe hinunter und in die große Eingangshalle, wo sie einen Fluch ausstieß, weil der Marmorboden sich unter ihren bloßen Füßen eiskalt anfühlte. Statt anzuklopfen, riss sie die Arbeitszimmertür einfach auf und stapfte auf den Ebenholzschreibtisch zu. Saetan saß hinter der Arbeitsplatte und blickte ihr entgeistert entgegen, ein Brandyglas halb an die Lippen geführt.
Daemon und Lucivar, die sich gemütlich in zwei Sesseln vor dem Schreibtisch räkelten, starrten sie nur an.
Da sie nun hier war, war sie plötzlich nicht mehr ganz so erpicht darauf, den Höllenfürsten direkt anzusprechen. Dementsprechend wandte Surreal sich halb Daemon und Lucivar zu, als sie die Frage ausstieß: »Liegt es nicht an mir zu entscheiden, ob ich einen Mann in meinem Bett haben möchte oder nicht?«
Die Luft hinter dem Schreibtisch kühlte sich augenblicklich ab, doch Lucivar meinte höflich: »Graufang?«, woraufhin sich die Lufttemperatur wieder normalisierte.
Der belustigte Unterton in Lucivars Stimme veranlasste sie, sich ihm zuzuwenden. »Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, aber ich bin nicht daran gewöhnt, mit einem Wolf in einem Bett zu schlafen.«
»Hast du etwas gegen seine Anwesenheit, weil er ein Wolf ist, oder weil er dich davon abhält, dir das Bett von einem anderen männlichen Wesen wärmen zu lassen?«, fragte Lucivar.
Vielleicht war die Bemerkung nicht als unhöfliche Anspielung auf ihre Vergangenheit als Hure gemeint, doch sie fasste sie so auf, um ihren Zorn an ihm auslassen zu können. »Tja, Süßer, wenn du mich fragst, besteht da kein allzu großer Unterschied. Er nimmt mehr als seine Hälfte des Bettes in Anspruch, er schnarcht und gibt schlabberige Küsse. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich ihn nehmen, denn zumindest ist er in der Lage, sich selbst zu lecken!«
Mit einem lauten Krachen wurde ein Glas auf dem Schreibtisch abgestellt.
Surreal schloss die Augen und biss sich auf die Lippe.
Mist! Ihre Wut auf Lucivar hatte sie derart in Anspruch genommen, dass sie den Höllenfürsten ganz vergessen hatte.
Bevor sie sich umdrehen konnte, hatte Saetan sie fest am Arm gepackt und zog sie auf die Tür zu.
»Wenn du Graufang des Nachts nicht in deinem Zimmer haben möchtest, sag es ihm.« Saetan klang, als sei ihm etwas in der Kehle stecken geblieben. »Wenn er sich nicht davon abbringen lässt … Nun, Lady, er trägt ein purpurnes Juwel, und du trägst Grau. Ein Schutzschild um dein Gemach würde das Problem lösen.«
»Ich habe das Zimmer mit einem Schild umgeben«, protestierte Surreal. »Und trotzdem bin ich aufgewacht und habe ihn neben mir vorgefunden. Er klang hoch erfreut, dass ich das Zimmer gegen die ›fremden Männchen‹ abgeschirmt hatte, doch als ihm klar wurde, dass auch er nicht hineinkam, ließ er sich von jemandem namens Kaelas durch den Schild helfen.«
Saetans Hand erstarrte über dem Türknauf. Langsam richtete er sich auf. »Kaelas half ihm, durch den Schild zu kommen? «, meinte er gedehnt.
Sie nickte argwöhnisch.
Hastig öffnete Saetan die Tür. »In dem Fall, Lady, möchte ich dir eindringlich ans Herz legen, dass du die Sache mit Graufang unter euch regelst.«
Im nächsten Moment stand sie in der Eingangshalle und starrte die fest verschlossene Tür an.
»Du hast gesagt, du würdest mir helfen«, murmelte sie. »Du sagtest, ich könne zu dir kommen, wenn ich irgendetwas brauche.«
Als die Tür erneut aufging, erwartete sie halb, vom Höllenfürsten zurückgerufen zu werden. Stattdessen wurden nun auch Daemon und Lucivar in die Halle geschoben, woraufhin die Tür donnernd hinter ihnen ins Schloss fiel.
Die beiden starrten kurzzeitig die Tür an, dann sahen sie zu Surreal.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Lucivar. »Du bist erst ein bisschen länger als vierundzwanzig Stunden hier und wurdest schon aus seinem Arbeitszimmer geworfen. Selbst ich war drei Tage lang auf der Burg, bevor er mich zum ersten Mal vor die Tür gesetzt hat.«
»Warum gehst du nicht und machst es dir auf einer Speerspitze gemütlich?«, erwiderte Surreal unwirsch.
Lucivar schüttelte tadelnd den Kopf. Daemon schien voll und ganz damit beschäftigt zu sein, nicht in Gelächter auszubrechen.
»Warum hat er euch beide hinausgeworfen?«, wollte Surreal wissen.
»Um allein zu sein. Wie dir nicht entgangen sein wird, existieren jetzt sehr starke Schilde um das Zimmer, inklusive eines Hörschutzes.« Lucivar warf einen Blick auf die geschlossene Tür des Arbeitszimmers. »Da die Männer des Ersten Kreises nun schon mehrfach Zeugen dieses Verhaltens geworden sind, sind sie zu dem Schluss gekommen, dass er entweder da drin sitzt und sich vor Lachen nicht mehr einkriegt oder aber dass er einen hysterischen Anfall erleidet. So oder so möchte er jedoch nicht, das wir davon wissen.«
»Er hat gesagt, er würde mir helfen!«, knurrte Surreal.
Lucivars Augen glänzten vergnügt. »Ich bin mir sicher, er hatte vor, Graufang die eine oder andere Sache zu erklären – bis zu dem Augenblick, als du Kaelas erwähnt hast.«
»Der Name fällt immer wieder«, stellte Daemon fest. »Wer ist dieser Kaelas nun eigentlich?«
Lucivar bedachte Daemon mit einem nachdenklichen Blick, richtete die Antwort jedoch an Surreal. »Kaelas ist ein arcerianischer Kriegerprinz, der ein rotes Juwel trägt. Doch eigenartigerweise – es mag nun an seinen Fähigkeiten oder seiner Ausbildung liegen – ist er in der Lage, jeglichen Schild zu durchdringen, selbst Schwarz.«
»Mutter der Nacht«, murmelte Daemon.
»Abgesehen davon besteht er aus dreihundertfünfzig Kilo Katzenmuskeln und Raubtiertemperament.« Lucivars Lächeln war grimmig. »Wir alle geben uns Mühe, Kaelas nicht zu verärgern. «
»Mist«, stieß Surreal matt hervor.
»Komm«, sagte Lucivar. »Wir begleiten dich zu deinem Zimmer.«
Auf einmal klang es nach einer ausgezeichneten Idee, zwei starke Männer bei sich zu haben.
Nach zwei Minuten meinte Surreal: »Zumindest dürfte es bei seiner Größe nicht schwierig sein, seine Anwesenheit zu bemerken.«
Lucivar zögerte. »Die arcerianischen Angehörigen des Blutes setzen immer einen Sichtschutz ein, wenn sie auf die Jagd gehen. Das macht sie zu sehr erfolgreichen Raubtieren.«
»Oh.« Mit einem Wolf befreundet zu sein, ergab von Minute zu Minute mehr Sinn.
Sobald sie Surreals Zimmer erreicht hatten, wünschte sie den Männern eine gute Nacht und verschwand in ihrem Schlafgemach.
Graufang stand genau dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Nun, sie hatte ihm gesagt, »Bleib, wo du bist!«, und er musste sie beim Wort genommen haben.
Als sie die Trauer in seinen braunen Augen sah, stieß sie ein Seufzen aus.
Ein herzzerreißender Hundeblick. Mit diesem Wort hatten die Huren immer den Blick beschrieben, den ungeschickte, eifrige Jünglinge während der paar Wochen in den Augen hatten, wenn sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen sammelten. Eine kurze Zeit lang versuchten die Männer zu gefallen, sodass sie nicht des Bettes verwiesen wurden. Doch nachdem der Reiz des Neuen vorbei war, lag bald Härte in ihren Augen und Spott in ihrer Stimme, sobald sie sich an dieselben Frauen wandten.
»Morgen müssen wir ein paar Dinge klären«, sagte Surreal zu Graufang.
Sein Schwanz wedelte einmal hin und her. Tock-Tock.
Sie gab nach, indem sie in ihr Bett kletterte und auf das Bettzeug neben sich klopfte. Er sprang auf die Matratze und legte sich hin, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. Sie kraulte ihm das Fell und schaltete das Licht aus, ein Lächeln auf den Lippen. Sie war an einem Ort gelandet, wo sich das Wort Hundeblick tatsächlich auf einen Hund bezog.
12 Kaeleer
Da Daemon zu nervös zum Schlafen war, jedoch zu ruhelos, um sich mit einem Buch abzulenken, wanderte er durch die matt erhellten Gänge der Burg.
Du läufst davon, dachte er. Mit Verbitterung hatte er die Zweifel und Ängste in sich aufsteigen gefühlt, als er sich seiner Zimmerflucht genähert – und Jaenelles Gegenwart in der Nachbarsuite gespürt hatte.
Die meisten seiner siebzehnhundert Lebensjahre hatte er felsenfest geglaubt, dazu geboren worden zu sein, der Geliebte von Hexe zu werden. Die Begegnung mit dem Mädchen, dass Jaenelle vor dreizehn Jahren gewesen war, hatte diese Überzeugung nicht erschüttern können. Sein Herz war Hexe längst verschrieben, und er war bereit, auf sie zu warten. Doch nun trennten sie eine brutale Vergewaltigung und die Jahre voneinander, die er an den Wahnsinn verloren hatte. Er war sich nicht sicher, ob er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten und es ertragen konnte, nur die eingegangene Verpflichtung oder, noch schlimmer, Mitleid in ihren Augen zu sehen.
Er musste einen Ort finden, an dem es ihm gelingen würde, sein Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Daemon hielt inne und lächelte zögerlich, als ihm dämmerte, dass er nicht weggelaufen war, sondern vielmehr nach etwas suchte. Irgendwo auf dem Anwesen musste es einen Ort geben, der den formellen Riten der Angehörigen des Blutes für die heiligen Tage jeder Jahreszeit gewidmet war. Doch ohne Zweifel würde Saetan kein Heim errichten, in dem es nicht auch einen informellen Ort gab, an dem man ungestört meditieren konnte.
Er schloss die Augen und öffnete seine Sinne. Einen Moment später stürmte er zurück auf den Teil der Burg zu, in dem sich die Wohnräume der Familie befanden.
Wenn er nicht im Vorbeieilen kurz sein Spiegelbild im Glas der Tür erhascht hätte, wäre ihm der Eingang niemals aufgefallen.
Er trat ins Freie und blickte in den tief abfallenden Garten hinab. Oben umrahmten Blumenbeete den Eingang von allen Seiten, lediglich unterbrochen von den steinernen Stufen, die in den Garten hinabführten. Zwei Statuen beherrschten den Ort. Ein paar Meter vor ihnen befanden sich ein erhöhter Steinsockel und ein hölzerner Stuhl. Sorgsam platzierte Kerzen tauchten die Statuen und die Treppenstufen in ihren Lichtschein.
Die Statuen zogen ihn magisch an. Er ging die Stufen hinab und zögerte einen Augenblick, bevor er den Rasen betrat.
Machtvolle Energie lag in der Luft und ließ sie beinahe zu schwer zum Atmen werden. Als er seine Lungen damit füllte, konnte er spüren, wie sein Körper die Kraft und den Frieden in sich aufnahm, die in diesem Garten herrschten. Auf dem Steinsockel befanden sich ein halbes Dutzend Kerzen in getönten Glasbehältern. Er suchte willkürlich eine aus und schuf mithilfe der Kunst eine Flamme Hexenfeuer, um sie anzuzünden. Ein Hauch Lavendel umhüllte ihn, noch bevor er zu dem Brunnen hinüberwandelte, in dem sich die weibliche Statue befand.
Die Rückseite des Brunnens bestand aus einer wellenförmigen, unbehauenen Felswand, über die sich das Wasser wie ein Vorhang in das steinumfasste Becken ergoss. Die Frau erhob sich halb aus dem Wasser, das Antlitz himmelwärts gerichtet. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. Sie hatte die Hände erhoben, als wolle sie sich das Wasser aus den Haaren wringen. Alles an ihr verkörperte gelassene Kraft und die Feier des Lebens.
Den erwachsenen Körper erkannte er nicht wieder, das Gesicht dafür umso deutlicher. Unwillkürlich fragte er sich, ob der Bildhauer unter den Hüften, die aus den Fluten hervorragten, mit ebenso feiner Detailliebe gearbeitet hatte. Was würden seine Finger finden, wenn er seine Hand ihren Bauch hinabgleiten ließe?
Verwirrt drehte er sich zu der anderen Statue um – dem Mann.
Dem Biest.
Tief in seinem Innern erkannte er instinktiv den gekrümmten, offenkundig männlichen Körper wieder, der eine Mischung aus Mensch und Tier darstellte. Es war, als habe ihm jemand die Haut abgestreift und offenbart, was wirklich darunter verborgen lag.
Auf den breiten Schultern lag ein katzenartiges Haupt mit wütend gefletschten Zähnen. Eine Pfote oder Hand ruhte auf dem Boden neben dem Kopf einer kleinen, schlafenden Frauengestalt. Die andere war erhoben, die Krallen ausgefahren.
Jemand wie Alexandra würde dieses Wesen ansehen und zu dem Schluss kommen, dass es kurz davor stand, die Frau zu zerquetschen und in Stücke zu reißen. In ihren Augen gäbe es nur eine einzige Möglichkeit, jene körperliche Stärke und jene Wut zu bändigen: den Mann in Ketten zu legen. Jemand wie Alexandra würde niemals über jene Schlussfolgerung hinausblicken und die kleinen Einzelheiten wahrnehmen – wie die Hand der Schlafenden, die ausgestreckt war, sodass ihre Fingerspitzen sachte die Pfote oder Hand in der Nähe ihres Kopfes entlang strichen; oder die Art und Weise, wie der gebückte Körper sie beschützte, und die glitzernden grünen Steinaugen auf denjenigen starrten, der sich näherte; oder gar den Umstand, dass der wilde Zorn der Bestie dem Verlangen entsprang, die Frau zu beschützen.
Daemon atmete tief durch – und versteifte sich dann. Er hatte keinerlei Schritte gehört, doch er musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer in diesem Augenblick am Fuß der Treppe stand. »Wie findest du ihn?«, fragte er leise.
»Er ist wunderschön«, erwiderte Jaenelle mit ihrer Mitternachtsstimme.
Langsam wandte Daemon sich ihr zu.
Sie trug ein langes schwarzes Kleid. Der Spitzenbesatz endete knapp über ihren Brüsten, ließ jedoch genug helle Haut frei, um einen Mann aus der Fassung zu bringen. Das goldene Haar fiel ihr über die Schultern den Rücken hinab. Ihre uralten Saphiraugen wirkten nicht so gehetzt, wie er sie in Erinnerung hatte, aber ihn beschlich der schmerzliche Verdacht, dass er der Grund für die Traurigkeit war, die sich nun darin spiegelte.
Als sich das Schweigen zwischen ihnen ausdehnte, war es ihm unmöglich, auf sie zuzugehen – genauso, wie es ihm unmöglich war, sich von ihr fortzubewegen.
»Daemon …«
»Begreifst du, wofür er steht?«, fragte er rasch. Er nickte leicht in Richtung der Statue.
Der Hauch eines Lächelns umspielte Jaenelles Lippen. »Oh ja, Prinz, ich begreife, wofür er steht.«
Daemon musste hart schlucken. »Dann beleidige mich nicht, indem du dich entschuldigst. Ein Mann ist entbehrlich. Jeder Mann. Eine Königin nicht, insbesondere wenn es sich um Hexe handelt.«
Sie gab ein eigenartiges Geräusch von sich. »Einst hat Saetan mir beinahe das Gleiche gesagt.«
»Und er hatte Recht.«
»Nun, da du ein Kriegerprinz und aus demselben Holz geschnitzt bist, ist es nicht verwunderlich, dass du seine Meinung teilst, nicht wahr?« Sie lächelte sacht.
Etwas schien ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Daemon konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr etwas an ihm nicht gefiel. Als sie einen Augenblick später mit ihrer Musterung fertig war, wurde ihm klar, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte, ganz so, wie sie es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Und wie damals wusste er auch jetzt nicht, was sie entschieden hatte.
Der Ring der Hingabe lastete schwer an seinem Finger, doch das Schmuckstück erlaubte ihm auch, um die eine Sache zu bitten, die er so dringend benötigte.
»Darf ich dich eine Minute lang festhalten?«
Er versuchte sich einzureden, dass ihr Zögern aus Überraschung und nicht aus Misstrauen entsprang, doch er glaubte es sich selbst nicht. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, die Arme um sie zu schlingen, als sie auf ihn zutrat. Ebenso wenig änderte es etwas daran, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, als sich ihre Arme behutsam um seine Taille legten, und sie den Kopf an seine Schulter lehnte.
»Du bist größer, als ich dich in Erinnerung habe«, sagte er, wobei er ihr mit der Wange über das Haar strich.
»Na, das will ich doch hoffen!«
Ihre Stimme klang scharf, aber ihm entging das Lächeln darin nicht.
Oh, wie seine Hände sich danach sehnten, sie zu streicheln! Doch da er Angst hatte, sie könnte sich ihm entziehen, rührte er sich nicht. Sie lebte, und er war bei ihr. Das war alles, was zählte.
Er hätte die restliche Nacht so dastehen und sie einfach nur halten können, während er das leichte Heben und Senken ihres Atems spürte, aber nach ein paar Minuten trat sie von ihm zurück.
»Komm schon, Daemon.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Du brauchst Schlaf, und mein Befehl lautete, dich zurück in dein Zimmer zu treiben, damit du dich vor Morgengrauen noch etwas hinlegst.«
Auf der Stelle wallte sein Temperament auf. »Wer würde es wagen, dir Befehle zu erteilen?«, knurrte er.
Sie bedachte ihn mit einem halb aufgebrachten, halb belustigten Blick. »Rate mal.«
Beinahe hätte er »Saetan« gesagt, doch dann überlegte er es sich anders. »Lucivar«, meinte er erbost.
»Lucivar«, pflichtete Jaenelle ihm bei, als sie nach seiner Hand griff und ihn in Richtung der Treppe zog. »Und glaub mir, du willst nicht die Erfahrung machen, von Lucivar aus dem Bett gezerrt zu werden, weil du nicht zum verabredeten Zeitpunkt auf dem Übungsfeld erschienen bist.«
»Was wird er mit mir anstellen? Einen Eimer Wasser über mir auskippen?«, fragte Daemon, während sie den Gang erreichten und auf ihre Gemächer zugingen.
»Nein, denn wenn er das Bettzeug ruiniert, bringt er Helene gegen sich auf. Aber er hätte keinerlei Skrupel, dich unter eine kalte Dusche zu schubsen.«
»Er hat dich nicht wirklich …«
Sie sah ihn nur an.
Seine Meinung war sofort gefasst. »Warum lässt du dir das gefallen?«
»Er ist größer als ich«, meinte sie verdrossen.
»Jemand sollte ihn daran erinnern, dass er dir dient.«
Jaenelle lachte so heftig, dass sie gegen ihn taumelte. »Er ruft mir diesen Umstand immer dann ins Gedächtnis, wenn es ihm gerade so passt. Ansonsten muss ich regelmäßig versuchen, mit meinem großen Bruder auszukommen. So oder so ist es aber meist leichter, ihm seinen Willen zu lassen.«
Sie hatten die Tür zu Jaenelles Zimmerflucht erreicht. Widerwillig ließ er ihre Hand los.
»Er hat sich kein bisschen verändert, wie?« Daemon fühlte kurzzeitig Angst in sich emporsteigen, weil er noch zu gut wusste, wie launisch Lucivar immer bei Hof gewesen war.
Als er Jaenelle ansah, glomm ein eigenartiges Licht in ihren Augen. »Nein«, antwortete sie mit ihrer Mitternachtsstimme, »er hat sich kein bisschen verändert. Doch auch er begreift, wofür die Statue steht.«