Kapitel 4
1 Kaeleer
Erklär mir noch einmal, warum ich kein Frühstück bekommen habe«, sagte Daemon schwer atmend, während er sich den Schweiß mit einem Handtuch von Gesicht und Nacken wischte.
»Weil niemand in deinem Frühstück ausrutschen will, wenn du nicht aufpasst und einen Schlag in den Magen abbekommst. « Lucivar schlürfte seinen Kaffee, während er beobachtete, wie Palanar und Tamnar ein paar Aufwärmübungen mit den Stangen absolvierten. »Außerdem können wir auf diese Weise heute Morgen früher anfangen, denn ich will, dass die Männer fertig sind, bevor die Frauen zu ihrer ersten Unterrichtsstunde erscheinen.«
Daemon trank einen Schluck von Lucivars Kaffee und reichte ihm anschließend die Tasse zurück. »Du wirst den Frauen tatsächlich beibringen, mit den Stangen umzugehen?«
»Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden sie wissen, wie man mit Stangen, Bögen und Messer umgeht.«
Auf einen scharfen Befehl von Hallevar hin traten die beiden eyrischen Jünglinge zurück und wiederholten langsam einen Bewegungsablauf.
»Ich wette, die Krieger waren nicht gerade erfreut, als du es ihnen erzählt hast«, sagte Daemon, der den Bewegungen der Kämpfer mit den Augen folgte.
»Sie haben sich beschwert. Die meisten Frauen sahen auch nicht gerade glücklich aus. Ich erwarte nicht, dass Kriegerinnen aus ihnen allen werden, aber sie alle werden in der Lage sein, sich lange genug zu verteidigen, bis ein Krieger sie erreichen kann.«
Daemon musterte Lucivar nachdenklich. »Hast du Marian deshalb den Umgang mit den Waffen beigebracht?«
Lucivar nickte. »Sie hat sich gesträubt, weil eyrische Frauen traditionellerweise niemals die Waffen eines Kriegers in die Hand nehmen. Ich sagte ihr, ich würde sie grün und blau schlagen, wenn ein Mann ihr wehtun würde, bloß weil sie zu stur gewesen sei, um zu lernen, wie man sich selbst verteidigt. Und sie erklärte mir, dass sie mir den Bauch aufschlitzen würde, wenn ich je Hand an sie legte. Ich habe das als untrügliches Zeichen gedeutet, dass wir Fortschritte machen.«
Daemon lachte. Doch das Gelächter blieb ihm im Hals stecken, als er Jaenelle erblickte, die über den Rasen auf sie zugeschritten kam. Seine Sinne wurden auf der Stelle messerscharf, die Hitze des Verlangens durchfuhr ihn, und jeder andere Mann wurde schlagartig zu einem Rivalen.
»Reiß dich am Riemen, alter Knabe«, murmelte Lucivar, der einen Blick über die Schulter warf und dann wieder Daemon ansah.
Hallevar und Kohlvar traten in den Übungskreis, nachdem Palanar und Tamnar ihre Kampfroutine beendet hatten.
Palanar verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Hier kommt ein Kätzchen, dass ein Kater sein möchte.«
Daemon wirbelte herum, die Augen von roter Wut überzogen.
Hallevar drehte sich auf der Ferse und versetzte Palanar einen derart festen Stangenhieb auf das Gesäß, dass der Junge zusammenzuckte.
»Du redest da von meiner Schwester, Junge«, sagte Lucivar eine Spur zu leise.
Palanar sah aus, als sei ihm übel. Jemand stieß einen heftigen Fluch aus.
»Ich bin gewillt zu vergessen, was du da eben gesagt hast«, fuhr Lucivar ebenso leise fort, »solange ich es nie wieder höre. Doch wenn mir etwas Derartiges noch einmal zu Ohren kommt, wirst du eines Tages in den Übungskreis treten, und ich werde dort auf dich warten.«
»J-ja, Sir«, stammelte Palanar. »Es tut mir Leid, Sir.«
Hallevar gab dem Jungen einen Klaps auf den Hinterkopf. »Geh und iss etwas«, meinte er barsch. »Wenn du etwas zu dir genommen hast, wird dein Mund vielleicht nicht der einzige Teil deines Kopfes sein, den du benutzt.«
Palanar schlich sich davon, Tamnar im Schlepptau.
Als Hallevar die Entfernung zwischen ihnen und Jaenelle abschätzte, kam er zu dem Schluss, dass sie die Worte gehört haben konnte. Er fluchte leise vor sich hin. »Er hat Besseres von mir beigebracht bekommen.«
Lucivar ließ eine Schulter kreisen. »Er ist alt genug, um seine Männlichkeit zur Schau zu stellen. Das lässt ihn dumm handeln.« Er sah den älteren Krieger an. »Er kann es sich nicht leisten, dumm zu sein. Selbst wenn die Königinnen an diesem Hof gewillt sind, einem Jüngling etwas nachzusehen, gilt das für die Männer bei Hofe noch lange nicht – zumindest nicht ein zweites Mal.«
»Ich werde sicherstellen, dass er die Warnung versteht«, versprach Hallevar. »Und wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich Tamnar auch gleich ein paar Takte sagen.« Er ging in den Kreis zurück und begann seine Aufwärmübungen mit Kohlvar.
Daemon wandte sich Jaenelle zu. Palanar war längst vergessen. Als er das wilde Glitzern in ihren Augen sah, erstarb das Lächeln auf seinen Lippen.
Lucivar hob einfach nur den linken Arm.
Nachdem Jaenelle Daemon einen scheuen Blick zugeworfen und eine Begrüßung gemurmelt hatte, die kaum auszumachen war, duckte sie sich unter Lucivars Arm hindurch.
Der Eyrier ließ den Arm sinken und drückte sie mit der Hand, die an ihrer Taille lag, fest an seine Seite. Ihr rechter Arm lag in seinem Rücken, mit der Hand hielt sie seine bloße Schulter umfasst.
So stehen sie des Öfteren da, dachte Daemon, dem es schwer fiel, seine Eifersucht – und den Schmerz – im Zaum zu halten, weil sie kaum einen Blick für ihn übrig gehabt hatte.
Allerdings hatte er den Verdacht, dass Lucivar besser als er darauf vorbereitet war, mit dem wilden Glitzern in ihren Augen umzugehen. Auch das tat weh.
»Willst du jetzt die Einführung?«, wollte Lucivar gelassen wissen.
Jaenelle schüttelte den Kopf. »Zuerst möchte ich mich aufwärmen. «
»Wenn du so weit bist, mache ich ein paar Übungen mit dir.«
Sie warf einen Blick auf Lucivars nackte Brust. »Willst du dich nicht auch erst einmal aufwärmen?«
»Ich habe das Aufwärmtraining bereits zweimal mitgemacht. Bisher ist mir aber noch nicht der Schweiß ausgebrochen. «
»Aha.«
Lucivar zögerte. »Deine Schwester ist hier.«
»Ich weiß.« Sie ließ den Blick rasch zu dem leeren Übungskreis der Frauen gleiten. »Es überrascht mich, dass du sie noch nicht hier herausgeschleift hast.«
»Sie hat noch eine halbe Stunde, um von sich aus auf dem Übungsplatz zu erscheinen. Erst dann schleife ich sie her.« Lucivar grinste boshaft. »Ich werde nachsichtig mit ihr sein. Versprochen.«
»Mhm.«
Das würde er gerne sehen, dachte Daemon mürrisch.
»Außerdem haben wir Gesellschaft«, sagte Lucivar.
Ihr Blick wurde eisig. »Ich weiß«, erwiderte sie mit ihrer Mitternachtsstimme.
Daemon trat einen Schritt auf sie zu. Er wusste nicht, was er sagen oder tun konnte, doch er war sich sicher, dass er – oder jemand anders – etwas gegen die Stimmung tun musste, in der sie sich befand.
*Lucivar …*, setzte er an.
*Reiz sie einfach nicht, Bastard*, antwortete Lucivar.
*Während des Trainings wird sie sich schon abreagieren.*
Daemon näherte sich Jaenelle einen weiteren Schritt. Ihre Miene verwandelte sich in etwas, das beinahe nach panischer Angst aussah – und ihm wurde klar, dass die Königin am vergangenen Abend, als sie ihm erlaubt hatte, sie zu umarmen, einem der Männer ihres Ersten Kreises gegenüber ihre Pflicht erfüllt hatte, aber dass die Frau auf keinen Fall auch nur in seine Nähe kommen wollte.
Als sie von Lucivar – und ihm – wegstürzte, stieß sie fast mit Jazen zusammen, der ein Tablett mit einer Kanne frischem Kaffee und sauberen Tassen trug.
»Wer bist du?«, erkundigte Jaenelle sich eine Spur zu sanft.
Entsetzt starrte Jazen ihr in die Augen. »Jazen«, brachte er schließlich hervor. »Prinz Sadis Kammerdiener.«
Ihre Augen wurden weniger eisig, und sie musterte ihn neugierig. »Ist die Arbeit interessant?«
»Sie wäre interessanter, wenn er ab und zu etwas anderes als immer nur einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd tragen würde«, murmelte Jazen.
Lucivar verkniff sich ein Lachen. Daemon konnte spüren, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, wobei er nicht sicher war, ob aus Wut oder Verlegenheit. Jazen sah zu Tode erschrocken aus.
Da erklang Jaenelles silbernes, samtweiches Gelächter. »Nun, wir werden uns Mühe geben, ihm extra für dich den Anzug zu zerknittern.« Im Vorübergehen strich sie Jazen mit der linken Hand über die Schulter. »Willkommen in Kaeleer, Krieger.«
Daemon wartete, bis sie den Übungskreis der Frauen erreicht hatte, bevor er sich an seinen Kammerdiener wandte. »Sollte ich mich bei dir entschuldigen, weil meine Kleiderwahl derart langweilig ist? Und warum im Namen der Hölle bist du hier draußen und verrichtest Lakaienarbeit?«
»Beale bat mich, dieses Tablett nach draußen zu bringen.« Jazen schluckte. »Ich weiß selbst nicht, warum ich das gesagt habe.«
»Du hast gesagt, was du dachtest«, meinte Lucivar amüsiert. »Mach dir keine Sorgen. Wenn wir erst einmal mit Daemon fertig sind, wird es dich einige Anstrengung kosten, ihn wieder manierlich aussehen zu lassen.«
Daemon knurrte seinen Bruder an und warf dann Jazen einen zornigen Blick zu.
»Darf ich dir das abnehmen?«, meinte Holt, einer der Lakaien, die ebenfalls Tabletts gebracht hatten.
Jazen blickte zu Daemon, reichte Holt das Tablett und zog sich dann eilig zurück. Gleichzeitig versuchte er jedoch, nicht den Anschein zu erwecken, dass er davonliefe.
»Sieht aus, als würde das Frühstück nun hier draußen serviert«, stellte Lucivar fest, der die vielfältigen Speisen beäugte, die auf einen Tisch gestellt wurden.
Daemon holte tief Luft und beobachtete Jaenelle, die mit ihren Aufwärmübungen beschäftigt war. »Ich sollte mit ihr über Jazens … Vergangenheit … reden, bevor sie ein Urteil über ihn fällt.«
Lucivar schenkte ihm einen eigenartigen Blick. »Das hat sie eben, alter Junge. Sie hat ihn in Kaeleer willkommen geheißen. Mehr braucht niemand zu wissen.«
»Hier entlang«, meinte Marian und winkte Wilhelmina Benedict
freundlich zu sich, während sie Surreals Tunika mit den weiten
Ärmeln und ihre Hosen musterte. »Was trägst du unter der
Tunika?«
Surreal gab sich Mühe, nicht barsch zu klingen. Marian schien ihr nicht die Art Frau zu sein, die sich für die Unterwäsche einer ehemaligen Hure interessierte. »Warum?«
»Lucivar wird darauf bestehen, dass ihr euch für die Unterrichtsstunde auszieht.«
»Ausziehen?«, fragte Wilhelmina. »Vor all den Männern?«
»Ansonsten behindert eure Kleidung euch in euren Bewegungen«, erklärte Marian gutmütig. »Außerdem werdet ihr euch danach etwas Trockenes anziehen wollen.«
»Dann gehe ich einmal davon aus, dass ich schwitzen werde«, sagte Surreal. Sie betrachtete Wilhelmina und fragte sich, ob diese Art Training eine gute Idee war. Die junge Frau wirkte ausgesprochen blass und verängstigt genug, um jeden Moment einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.
»Ich glaube nicht, dass er allzu hart mit den Anfängern umspringen wird, aber du …« Marians goldene Augen wanderten zu Surreals spitzen Ohren. »Du bist eine Dea al Mon. Vielleicht wird er dir mehr abverlangen, um herauszufinden, was du schon alles kannst.«
»Hab ich ein Glück«, murmelte Surreal leise vor sich hin, als sie den Rasen überquerten und auf die anderen Frauen zugingen, die sich bereits am Rande des Übungskreises versammelt hatten.
Marian lächelte. »Meine erste Waffe war die Bratpfanne.«
»Klingt gefährlich!« Surreal erwiderte das Lächeln.
»Ich hatte etwa vier Monate als Lucivars Haushälterin gearbeitet. An jenem Morgen hatte mein Mondblut begonnen, und es ging mir nicht sonderlich gut. Im Nachhinein betrachtet muss er die vorangegangenen Mondzeiten wohl eisern die Zähne zusammengebissen haben, um nichts zu sagen. Aber an jenem Morgen fing er an, mich zu bemuttern und mir zu raten, mich zu schonen. In meinem Ohren klang das, als wolle er mich darauf hinweisen, dass ich meine Arbeit nicht richtig erledigte. Ich warf mit einem Topf nach ihm. Nun, nicht wirklich nach ihm. Ich wollte ihn nicht treffen, sondern ich war nur so aufgebracht, dass ich mit etwas werfen musste. Er donnerte etwa einen halben Meter von der Stelle, an der Lucivar stand, gegen die Wand. Er sah den Topf eine Minute lang an, hob ihn dann auf und ging nach draußen. Ich konnte hören, wie er ihn warf, und ich dachte, er würde den Topf bestrafen, anstatt mich mit den Fäusten zu bearbeiten, wie manch anderer Eyrier es getan hätte. Kurz darauf kam er brummelnd ins Haus zurück, holte sich eine der Bratpfannen und ging wieder nach draußen. Ein paar Minuten später zerrte er mich ins Freie. Er meinte, ein Topf habe nicht die nötige Form, aber mit einer Bratpfanne würde es funktionieren, wenn man sie richtig werfen würde. Ich verbrachte zwei Monate mit Bratpfannenweitwurf, bis Lucivar meine Würfe für gut genug erachtete.« Die Erinnerung ließ Marian grinsen.
»Und was ist seiner Meinung nach gut genug?«, wollte Surreal wissen.
Nun sah Marian nicht mehr belustigt aus. »Wenn man in der Lage ist, dem Gegner bei neun von zehn Würfen die Knochen zu brechen.«
Einen Augenblick lang starrte Surreal sie nur an. Dann überschlugen sich ihre Gedanken. Sie war eine verflucht gute Attentäterin. Inwieweit würden sich diese Fähigkeiten unter Lucivars Führung noch vervollkommnen lassen?
Sobald sie den Übungskreis erreicht hatten, ließ Wilhelmina sich zurückfallen. Surreal stieß sie bis ganz nach vorne. Als ein eyrischer Krieger Surreal anknurrte, weil sie ihm einen Hieb mit dem Ellbogen versetzt hatte, fauchte sie zurück und stellte zu ihrer Befriedigung fest, dass er ihr Platz machte.
Als sie sich umsah und Daemon erblickte, stockte ihr kurzzeitig der Atem. Er sah relativ gelassen aus, wie er dort mit einer Kaffeetasse in der Hand dastand, aber sein Gesicht wies die angespannte Miene auf, die sie schon in der Kutsche auf der Anreise an ihm gesehen hatte. Es war nicht so schlimm, aber es war auch nicht gut.
Da begann Lucivar zu sprechen, und sie verdrängte ihre Sorge um Daemon vorübergehend.
»Es gibt gute Gründe, weswegen eyrische Männer die Krieger sind«, sagte Lucivar, der den Blick über die Frauen hinweggleiten ließ, während er langsam an der Reihe, die sie gebildet hatten, auf und ab ging. »Wir sind größer, kräftiger, und uns liegt das Töten im Blut. Ihr besitzt andere Stärken und Fähigkeiten. Die meiste Zeit über funktioniert das wunderbar. Doch es bedeutet nicht, dass ihr euch nicht verteidigen können solltet. Und bevor ihr mir mit irgendwelchem Blödsinn kommt, von wegen, ihr könntet nicht mit einer Waffe umgehen, darf ich euch vielleicht daran erinnern, dass die meisten von euch keinerlei Schwierigkeiten haben, Messer und Werkzeuge zu benutzen. Und einige von euch werden sich vor den Übungen drücken wollen, indem sie mir sagen, eine Frau würde niemals gegen einen Mann ankommen, egal, wie viel sie lernt. Richtig?« Er sah zu dem anderen Übungskreis hinüber und brüllte: »Katze! Komm her!«
Surreal fragte sich, was er mit einer Katze wollte, und richtete ihr Augenmerk auf den Kreis. Sie stieß ein Zischen aus, als sich die Frau zu ihnen umdrehte, die sich bis eben mit Karla, Morghann und Gabrielle unterhalten hatte. »Jaenelle«, flüsterte Surreal.
Surreal sah erneut zu Daemon hinüber. Er wirkte nicht schockiert, Jaenelle zu sehen. Vielleicht hatten sie bereits Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Vielleicht … Nein, es war wahrscheinlich viel zu früh, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.
Die anderen Frauen traten auf den Übungskreis zu. Jaenelle kam langsam herbeigeschlendert, den Blick unverwandt auf Lucivar gerichtet, während sie mit der Stange auf Hüfthöhe durch die Luft fuhr, dass es zischte.
Lucivar machte einen Seitenschritt in die Kreismitte, ohne Jaenelle aus den Augen zu lassen. »Komm, spiel mit mir, Katze.« Er schenkte ihr ein arrogantes Lächeln.
Sie fauchte ihn an und begann ihn zu umkreisen.
»Hallevar«, sagte Lucivar, der ebenfalls angefangen hatte, sich im Kreis zu bewegen. »Du rufst, wenn Auszeit ist.«
Surreal konnte spüren, wie sich Falonar neben ihr verkrampfte.
»Wann ist Auszeit?«, erkundigte Surreal sich und stieß den Eyrier behutsam an, als er ihr eine Antwort schuldig blieb.
»Nach zehn Minuten«, erwiderte Falonar grimmig. »Er wird sie lange vorher dem Erdboden gleichgemacht haben.«
Als Surreal Daemon einen Blick zuwarf, brach ihr der Schweiß aus. Was würde Sadi tun, wenn das passierte? Die Antwort war offensichtlich. Die schwierigere Frage lautete, was sie tun konnten, um ihn davon abzuhalten, Lucivar in Stücke zu reißen.
Beim ersten Aufprall der Stangen blieb ihr das Herz stehen. Danach nahm sie nur noch Jaenelle und Lucivar wahr, die sich graziös in einem wilden Reigen bewegten.
Sekunden wurden zu Minuten.
»Mutter der Nacht«, flüsterte Falonar. »Sie hält ihn ganz schön auf Trab!«
Auf Lucivars Brust glänzte der Schweiß, und Surreal konnte hören, wie sein Atem tief und heftig ging. Ihr eigener Schweiß strömte kalt über ihre Haut, als sie den wilden Blick in Jaenelles Augen wahrnahm.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Jaenelle nach einem halben Dutzend blitzschneller Bewegungen einen Augenblick lang das Gleichgewicht verlor. Lucivar tänzelte gerade lange genug zurück, bis sie wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Erst dann griff er sie erneut an.
»Er hätte sie ganz einfach umhauen und die Sache damit beenden können«, sagte Falonar leise.
»Er will mit ihr üben, ohne sie so weit zu reizen, dass sie es wirklich auf ihn abgesehen hat«, erklärte Chaosti, der hinter Surreal getreten war, ebenso leise.
Schließlich schrie Hallevar: »Auszeit!«
Lucivar und Jaenelle umkreisten einander weiter, stießen mit den Stangen zu, die donnernd gegeneinander prallten.
»Verflucht noch mal, ich habe Auszeit gesagt!«
Sie ließen voneinander ab und zogen sich langsam rückwärts zurück.
Hallevar betrat den Kreis und nahm Lucivar die Stange ab. Er sah zögernd in Jaenelles Richtung, zog sich jedoch zurück, als Lucivar den Kopf schüttelte.
»Komm, Katze«, stieß Lucivar keuchend hervor, als er einen Schritt auf sie zumachte. »Wir müssen herumgehen, um uns abzukühlen.«
Ihr Kopf fuhr in die Höhe. Breitbeinig nahm sie eine Kampfhaltung ein.
Lucivar hielt die Hände erhoben und ging weiter auf sie zu.
Der wilde Blick in ihren Augen wurde eine Spur milder. »Wasser.«
»Erst gehen.« Er entwaffnete sie.
»Mistkerl«, fauchte sie halbherzig, folgte ihm jedoch.
»Wenn du keinen Ärger machst, lasse ich dich sogar frühstücken. « Lucivar reichte die Stange im Vorübergehen Falonar. Er ließ sich von Aaron zwei Handtücher geben, legte eines Jaenelle um den Nacken und begann, sich mit dem anderen trocken zu reiben.
Als Surreal sich umblickte, sah sie, dass Khardeen sich ebenfalls in der Menge befand und aufmerksam auf das Geschehen achtete. Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte sie fest, dass Saetan sich leise mit Daemon unterhielt.
Sie wandte sich wieder Falonar zu und ließ die Finger über die Stange gleiten. »Meinst du, ich kann einmal auch nur halb so gut mit so einem Ding umgehen?« Halb erwartete sie eine abweisende Bemerkung, als er jedoch nicht antwortete, blickte sie auf und sah, dass er sie nachdenklich musterte.
»Wenn du halb so gut damit wirst wie sie, wirst du jeden Mann mit Ausnahme eines eyrischen Kriegers damit erledigen können«, sagte Falonar langsam. »Und die Hälfte der eyrischen Krieger wahrscheinlich obendrein.« Dann wanderte sein Blick zu Marian. »Alles in Ordnung, Lady?«
Marian stieß erschaudernd die Luft aus. »Mir geht es gut, danke, Prinz Falonar. Es ist nur … manchmal, wenn sie so ganz in den Kampf versunken sind …«
Falonar verneigte sich gerade tief genug, um seinen Respekt zu bekunden, und ließ sie dann stehen, um sich mit Hallevar zu unterhalten.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte Surreal und zog Marian ein Stück von den anderen fort.
Marians Lächeln wirkte aufgesetzt. »Lucivar ist immer so angespannt, wenn er auf dem Dienstbasar war, außerdem macht er sich um Daemon Sorgen.«
Als Surreal sich umblickte, sah sie, wie Daemon mit dem Höllenfürsten in Richtung der Burg ging. Tja, eine Sorge weniger für den Moment.
Ihr entging auch nicht, welche Blicke Daemon Jaenelle nachschickte, während Lucivar ihr Essen auf den Teller lud. Sie lächelte.
»Gewöhnlich kann ich ihm dabei helfen, die Anspannung abzubauen«, fuhr Marian fort.
Ihre zurückhaltende Ausdrucksweise verriet Surreal ganz genau, wie Marian ihm dabei half, sich zu entspannen. Die Frau war mutig, wenn sie mit einem Mann wie Lucivar ins Bett stieg, obwohl er aufgebracht war.
»Da diese Methode diesmal nicht zur Debatte stand …«
Nein, dachte Surreal, als Marian sie mit einem forschenden Blick bedachte. Sollte Lucivar tatsächlich niemals erwähnt haben, welche Alternativen es im Bett noch gab, würde sie Marian gewiss nicht darüber aufklären!
Kurz darauf zuckte Marian mit den Schultern. »Normalerweise, wenn Jaenelle seine Übungspartnerin ist, machen sie einfach so lange weiter, bis er die Anspannung ausgeschwitzt hat. Aber heute Morgen … Nachdem Jaenelles Verwandte einfach so aufgetaucht sind, ist sie selbst angespannt. «
»Klar, das Wiedersehen mit ihrer Familie ist nicht gerade Grund zur Freude.«
Marian versteifte sich. »Ihre Familie lebt hier.«
»Ja«, meinte Surreal nach einer Minute. »Da hast du wohl Recht.«
2 Kaeleer
Wilhelmina ging schweigsam neben Lucivar her, als er sie auf ihr Zimmer begleitete. Sie wünschte sich, er würde den Arm um sie legen. Vielleicht würde sie dann zu zittern aufhören. Vielleicht hätte sie dann nicht so viel Angst.
Es war seltsam. Noch vor ein paar Stunden hatte sie entsetzliche Angst vor ihm gehabt, besonders nachdem sie gesehen hatte, wie er und Jaenelle mit den Stangen aufeinander losgegangen waren.
Anschließend hatte sie versucht, sich zurück zur Burg zu schleichen, bevor es jemandem auffiele, denn sie war überzeugt gewesen, dass ihr Herz zu schlagen aufhören würde, sobald einer jener eyrischen Krieger sie anfuhr, weil sie die Übungen nicht richtig hinbekam. Doch Lucivar hatte bemerkt, wie sie sich davonstahl. Er hatte sie hinten an ihrer Tunika gepackt und in den Übungskreis gezogen.
Und er war nachsichtig gewesen. während andere Eyrier die Frauen unterwiesen. Marian und ein paar aus dem Hexensabbat hatten die Bewegungen vorgemacht, während er mit ihr und dem Mädchen namens Jillian gearbeitet hatte. Er war niemals in Eile gewesen, sondern immer geduldig, und seine Hände hatten sich fest, aber sanft angefühlt, als er ihren Körper in die richtigen Stellungen brachte. Seine Stimme klang stets ruhig und aufmunternd.
Das hatte sie nicht von ihm erwartet. Und sie hatte nicht erwartet, dass er bei ihr bleiben würde, als sie sich mit Alexandra, Leland und Philip traf.
Am liebsten hätte sie Nein gesagt, als der Höllenfürst ihr eröffnet hatte, dass sie hier waren und mit ihr sprechen wollten. Doch Wilhelmina hatte sich verpflichtet gefühlt, sie zu treffen, da sie den ganzen Weg hierher gereist waren.
Sie waren ärgerlich gewesen, als Lucivar sich weigerte, die Provinzköniginnen und die Begleiter in das Zimmer zu lassen, und als er es ablehnte, selbst ebenfalls zu gehen. Oh, er war hinaus auf den Balkon getreten, doch niemand war in der Lage gewesen, seine Gegenwart zu vergessen!
Es war offensichtlich gewesen, dass sie so gekränkt darüber waren, wie Wilhelmina selbst erleichtert war; aber sie waren zweifellos froh gewesen, sie zu sehen. Alle hatten sie umarmt und ihr gesagt, wie hübsch sie geworden sei, und welch große Sorgen sie sich um sie gemacht hätten, und wie sehr sie sie vermisst hätten …
Und dann meinte Alexandra, sie solle keine Angst haben. Sie würden einen Weg finden, um sie aus den vertraglichen Bindungen zu befreien und sie von diesem Ort und diesen Leuten fortzuschaffen. Sie hatte versucht, ihnen zu erklären, dass sie vorhatte, den Vertrag zu erfüllen, und dass der Höllenfürst und Prinz Yaslana nicht die Ungeheuer waren, die Alexandra in ihnen sehen wollte.
Sie hörten ihr nicht zu, genauso, wie sie ihr vor Jahren nicht zugehört hatten, als ihr Vater, Robert Benedict, nach Jaenelles Verschwinden versucht hatte, sich an ihr zu vergehen – ein paar Monate, nachdem ihn die Krankheit befallen hatte, an der er letzten Endes gestorben war. Sie war fortgelaufen, weil sie Angst gehabt hatte, dass eines Tages niemand ihre Schreie hören oder dass man sie ignorieren würde, weil sie wie Jaenelle zu einem ›schwierigen‹ Kind geworden war.
Sie hörten nicht zu. Denn sie waren sich so sicher, dass sie Recht hatten und wussten, was das Beste für sie war. Sogar Philip. Er sagte ihr wieder und wieder, dass nun alles in Ordnung sein würde, dass Robert tot sei, und von daher alles gut sei. Doch das würde es nicht sein, das konnte es gar nicht, denn sie hielten sie auf irgendeine Weise für ›geschädigt‹. Jeder Blick, den sie ihr zuwarfen, war von dieser Überzeugung gefärbt. Und weil sie an Philip hing und wusste, dass es ihn schmerzen würde, konnte sie ihnen nicht sagen, warum sie wirklich hier bleiben wollte.
Ihre Angst, Alexandra und ihr Anhang könnten sie womöglich tatsächlich mit sich nehmen, nachdem es sie solche Anstrengungen gekostet hatte, nach Kaeleer zu gelangen, nahm stetig zu, bis sie vom Sofa aufsprang und schrie: »Nein! Ich will nicht!«
Lucivar war im Zimmer und eilte mit ihr davon, noch bevor einer der anderen sich bewegen konnte.
Doch es gelang ihr nicht, das Zittern unter Kontrolle zu bringen, und die Angst fraß sie bei lebendigem Leib auf.
Da legte Lucivar die Hand auf ihre Schulter und brachte sie dazu, stehen zu bleiben. Kurz darauf rief er eine Taschenflasche herbei. Er ließ den Verschluss verschwinden, packte Wilhelmina am Hinterkopf und hielt ihr die Flasche an die Lippen.
»Wenn du weiter so zitterst, wirst du noch hinfallen«, sagte er ärgerlich. »Trink einen Schluck, um deine Nerven zu beruhigen. «
»Ich will kein Beruhigungsmittel!« Wilhelmina versuchte, sich ihm zu entziehen. Die Verzweiflung in ihrem Innern wurde immer größer. »Es ist alles in bester Ordnung.«
»Alles außer der Tatsache, dass du panische Angst hast, was nicht gerade gut für dich ist.« Lucivar hielt inne und musterte sie. »Es ist kein Beruhigungsmittel, Wilhelmina«, fuhr er leise fort. »Es ist Kharys Selbstgebrauter. Ein Schluck wird dir helfen, dich zu entspannen – und dich davon abhalten, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Jetzt halte dir die Nase zu und trink.«
Sie hielt sich nicht die Nase zu, aber sie trank den Schluck, den er ihr verabreichte.
Golden.
Die Flüssigkeit glitt über ihre Zunge, versammelte sich kurzzeitig in ihrem Magen und ergoss dann Sommerhitze in all ihre Glieder.
Als er ihr einen zweiten Schluck anbot, nahm sie ihn bereitwillig an. Die herrliche Hitze ließ ihre Angst dahinschmelzen, und in ihrem Innern entstand eine sinnliche Wärme. Wenn sie noch einen Schluck nähme, würde sie vielleicht sogar tapfer sein – wunderbar tapfer und wild.
Doch Lucivar bot ihr keinen weiteren Schluck an. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass er sie losgelassen hatte, doch nun hatte er den Verschluss in der einen und die Flasche in der anderen Hand und wollte ihr die köstliche Hitze wieder wegnehmen.
Sie griff nach der Flasche und rannte den Gang entlang. Bei der nächsten Biegung sauste sie um die Ecke und trank so viel wie möglich, bevor Lucivar sie einholte und ihr die Flasche entriss.
Sie lehnte an der Wand und lächelte ihn an. Es freute sie immens, als er zwei Schritte zurückwich und sie argwöhnisch betrachtete.
Lucivar schnüffelte an der Flasche und trank einen kleinen Schluck. »Verdammter Mist.«
»Mist? Hier im Korridor? Warte nur, wenn das Helene erfährt! «
Er fluchte leise, während er die Flasche verschloss und verschwinden ließ, doch es klang eher nach Gelächter. »Komm schon, kleine Hexe. Bringen wir dich fort, solange du noch aufrecht laufen kannst.«
Sie ging auf ihn zu, um zu beweisen, dass sie es konnte, doch der Boden war auf einmal uneben, und sie stolperte und fiel gegen Lucivar.
»Ich bin sehr tapfer«, erklärte sie ihm, an seine Brust gelehnt.
»Du bist sehr betrunken.«
»Nö, bin ich nich’!« Dann entsann sie sich der wichtigen Sache, die sie tun musste. Die wichtigste Sache von allen! »Ich will mit meiner Schwester sprechen.« Sie schlug mit der Hand so fest wie möglich gegen die Oberfläche, an der sie lehnte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Dann betrachtete sie ihre brennende Hand. »Es tut weh.«
»Wir werden beide blaue Flecken haben«, antwortete Lucivar trocken.
»Is’ gut.«
Unter ärgerlichem Gemurmel lenkte er sie durch die Korridore.
Sie fühlte sich so wunderbar, dass sie singen wollte, doch sämtliche Lieder, die sie kannte, waren so … anständig. »Kennst du irgendwelche unanständigen Lieder?«
»Mutter der Nacht«, brummte er.
»Das kenne ich nicht. Wie geht das?«
»Hier entlang.« Er schob sie um eine Ecke.
Sie entkam ihm und lief den Gang entlang, wobei sie die Arme auf und ab bewegte. »Ich kann fliiiiiegen!«
Als er sie erneut eingefangen hatte, schlang er ihr einen Arm um die Taille, klopfte einmal an die nächste Tür und schleppte Wilhelmina in das Zimmer.
»Katze!«
Wilhelmina traten Tränen in die Augen, als Jaenelle aus dem angrenzenden Zimmer trat. Das warmherzige Begrüßungslächeln ihrer Schwester war alles, was sie zu sehen brauchte.
Sie entglitt Lucivars Griff und taumelte ein paar Schritte vorwärts, um Jaenelle zu umarmen.
»Ich habe dich vermisst«, sagte Wilhelmina, die lachte, während ihr Tränen das Gesicht hinabliefen. »Ich habe dich so sehr vermisst! Es tut mir Leid, dass ich nicht mutiger war. Du warst meine kleine Schwester, und ich hätte dich beschützen sollen. Aber du warst diejenige, die sich um mich gekümmert hat.« Sie lehnte sich zurück, wobei sie sich an Jaenelles Schultern festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Du bist so hübsch!«
»Und du bist betrunken.« Die Saphiraugen waren auf Lucivar gerichtet. »Was hast du mit ihr angestellt?«
»Nach dem Treffen mit euren Verwandten war sie derart mit den Nerven fertig, dass ich befürchten musste, sie würde zusammenbrechen. Also bat ich Khary um das stärkste Gebräu, das er in einer Taschenflasche hatte, weil ich davon ausging, dass ich sie nicht dazu bewegen können würde, mehr als einen Schluck zu sich nehmen.« Lucivar wand sich. »Sie hat die halbe Flasche ausgetrunken – und es war gar nicht sein Selbstgebrautes, sondern dein spezielles Gebräu.«
Jaenelle riss die Augen auf. »Du hast sie von dem Totengräber trinken lassen?«
»Nein, nein, nein!« Wilhelmina schüttelte den Kopf. »Einem Totengräber sind wir ganz bestimmt nicht begegnet.« Sie lächelte gelassen, als Jaenelle und Lucivar sie nur anstarrten.
»Mutter der Nacht«, murmelte Lucivar.
»Kennst du das Lied?«, wollte Wilhelmina von Jaenelle wissen.
»Was hattest du zum Frühstück?«, erkundigte sich Jaenelle.
»Wasser. Ich war zu nervös, um etwas zu essen. Aber jetzt bin ich nicht mehr nervös. Ich bin sehr tapfer und wild.«
Lucivar legte ihr eine Hand um den Arm. »Warum setzt du dich nicht ein wenig auf das Sofa?«
Sie durchquerte das Zimmer – wenn auch nicht auf dem direktesten
Weg, doch als Lucivar versuchte, sie um den Sofatisch zu führen,
weigerte sie sich.
»Ich kann durch den Tisch gehen«, verkündete sie stolz. »Ich habe Unterricht in der Kunst gehabt. Jaenelle soll sehen, dass ich das mittlerweile kann.«
»Möchtest du etwas wirklich Schwieriges tun?«, fragte Lucivar. »Dann lass uns um den Tisch gehen. Im Moment wäre das eine echte Herausforderung.«
»Na gut.«
Um den Tisch herumzukommen, stellte Wilhelmina tatsächlich vor eine Herausforderung, vor allem, da ihr pausenlos Lucivars Füße im Weg waren. Als sie das Sofa endlich erreicht hatte, ließ sie sich neben Jaenelle in die Kissen plumpsen. »Ich habe Dejaal gestriegelt, und nun mag er mich. Meinst du, Lucivar würde mich auch mögen, wenn ich ihn striegele?«
»Er würde versprechen, dich zu mögen, wenn du aufhörst, ihm auf die Füße zu steigen«, knurrte Lucivar leise, während er ihr die Schuhe auszog.
»Es ist Marians Aufgabe, Lucivar zu striegeln«, erklärte Jaenelle ernsthaft.
»Na gut.«
»Ich denke, ich lasse uns Kaffee und Toast heraufschicken«, meinte Lucivar.
Wilhelmina blickte Lucivar nach, bis er das Zimmer verlassen hatte. »Ich dachte, er sei furchteinflößend, dabei ist er bloß groß.«
»Mhm. Warum legst du dich nicht ein bisschen hin?«, schlug Jaenelle vor.
Wilhelmina gehorchte. Als Jaenelle sie fertig zugedeckt hatte, sagte Wilhelmina: »Alle haben geglaubt, dass du tot bist. Aber mir haben sie immer gesagt, wir hätten dich ›verloren‹. Dabei wusste ich die ganze Zeit über, dass das nicht stimmt, denn du hast mir gesagt, wo ich dich finden kann. Wie konntest du verloren gehen, wenn du doch gewusst hast, wo du warst?«
Sie blickte in Jaenelles saphirblaue Augen. Der Geist hinter diesen Augen war so unermesslich. Doch davor hatte sie nun keine Angst mehr. »Du wusstest immer, wo du bist, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Jaenelle leise. »Ich wusste es immer.«
3 Kaeleer
Alexandra hielt inne, holte tief Luft und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen.
Die Frau mit den goldenen Haaren, die in einem Mörser Kräuter zerstieß, drehte sich nicht um oder zeigte auf andere Art und Weise, dass sie die Anwesenheit einer weiteren Person bemerkt hatte. Über dem Arbeitstisch schwebte eine gewaltige Schüssel und wurde von drei Flammen Hexenfeuer erwärmt. Ein Löffel rührte langsam den Inhalt der Schüssel um.
Alexandra wartete. Nach einer Minute sagte sie mit gepresster Stimme: »Könntest du einen Moment aufhören, mit diesem Zeug herumzuhantieren, und deine Großmutter begrüßen? Schließlich ist es dreizehn Jahre her, seitdem ich dich zum letzten Mal gesehen habe.«
»Eine Minute mehr wird bei einer Begrüßung keinen Unterschied machen, die dreizehn Jahre lang warten konnte«, entgegnete Jaenelle und schüttete die fein gemahlenen Kräuter in die Schüssel, deren Inhalt mittlerweile Blasen warf. »Aber sie wird einen Unterschied machen, was den Wirkungsgrad dieses Stärkungsmittels betrifft.« Sie drehte sich halb um und bedachte Alexandra mit einem scharfen Blick, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gebräu zuwandte.
Alexandra biss die Zähne zusammen. Jetzt entsann sie sich, weshalb sie es immer so schwierig gefunden hatte, mit ihrer Enkelin umzugehen. Selbst als kleines Kind hatte Jaenelle diese arroganten Gesten an den Tag gelegt und auf diese Weise angedeutet, es bestehe kein Grund, weswegen sie ihren Eltern Respekt entgegenbringen oder sich einer Königin beugen sollte.
Warum? Zum ersten Mal stellte Alexandra sich diese Frage. Wie alle anderen war sie immer davon ausgegangen, dass dieses Verhalten einen Versuch darstellte, zu kompensieren, dass sie keine Juwelen trug und von daher unter den anderen Hexen in der Familie stand. Doch vielleicht rührten sie daher, dass jemand – wie der Höllenfürst – dem Kind süße Lügen ins Ohr geflüstert hatte, bis das Mädchen wirklich glaubte, allen anderen überlegen zu sein.
Sie schüttelte den Kopf. Es war schwer vorstellbar, dass ein Kind, das schon bei den einfachsten Lektionen in der Kunst überfordert gewesen war, zu einer schrecklichen, mächtigen Bedrohung für das Reich Terreille herangewachsen sein sollte, wie Dorothea behauptete. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, wo war dann die ganze Macht? Selbst jetzt, da sie sich Mühe gab, Jaenelles Kraft zu erspüren, fühlte ihre Magie sich … gedämpft … an, ganz so wie früher auch. Weit entfernt, wie es sich eben bei Frauen des Blutes anfühlte, die nicht über genug mentale Kraft verfügten, um ein Juwel zu tragen.
Das bedeutete, dass Jaenelle tatsächlich nur eine bloße Schachfigur in einem ausgeklügelten Spiel war. Der Höllenfürst – oder vielleicht auch die geheimnisvolle Königin, die an diesem Hof herrschte – hatte es auf eine Galionsfigur abgesehen, um sich dahinter verstecken zu können.
»Was machst du da?«, erkundigte Alexandra sich mit harscher Stimme.
»Einen Stärkungstrank für einen kleinen kranken Jungen«, antwortete Jaenelle und fügte dem Gebräu eine dunkle Flüssigkeit hinzu.
»Sollte das nicht lieber eine Heilerin machen?« Beim Feuer der Hölle, lassen sie Jaenelle wirklich Tränke für Menschen herstellen?
»Ich bin eine Heilerin«, lautete Jaenelles scharfe Entgegnung. »Außerdem bin ich eine Schwarze Witwe und Königin.«
Natürlich bist du das. Nur mit Mühe verbiss sich Alexandra die Worte. Sie würde gelassen bleiben, würde auf irgendeine Weise ein Band mit ihrer Enkeltochter knüpfen, würde sich ins Gedächtnis rufen, welch schreckliche Erfahrungen Jaenelle bereits gemacht hatte.
Als Jaenelle mit dem Gebräu fertig war, drehte sie sich um.
Alexandra vergaß, gelassen zu bleiben oder ein Band zu knüpfen, als sie in ihre saphirblauen Augen starrte. Vor dem … etwas … zurücktaumelnd, das ihr aus jenen Augen entgegenblickte, suchte sie nach einer passenden Erklärung.
Als sie endlich verstand, hätte sie am liebsten geweint.
Jaenelle war wahnsinnig. Absolut, komplett wahnsinnig. Und dieses Ungeheuer, das sie in seiner Gewalt hatte, unternahm aus seinen eigenen dunklen Beweggründen nichts gegen ihre Wahnvorstellungen. Er beließ Jaenelle in dem Glauben, sie sei eine Heilerin und eine Schwarze Witwe und eine Königin. Wahrscheinlich würde er ihr sogar erlauben, einem kranken kleinen Jungen den Trank zu verabreichen, ganz egal, was das Zeug einem Kind tatsächlich antat.
»Warum bist du hier, Alexandra?«
Alexandra erbebte beim Klang der Mitternachtsstimme. Dann riss sie sich innerlich zusammen. Das Mädchen war schon immer theatralisch gewesen. »Ich bin hier, um dich und Wilhelmina mit nach Hause zu nehmen.«
»Warum? Die letzten dreizehn Jahre hast du mich für tot gehalten. Wieso hast du nicht einfach weiterhin so getan, als sei ich gestorben? Das war doch so viel bequemer für dich, als zu wissen, dass ich noch lebe?«
»Wir taten nicht so«, erwiderte Alexandra aufgebracht. Jaenelles Worte hatten sie getroffen, weil sie der Wahrheit entsprachen. Es war leichter gewesen, um den Tod eines Kindes zu trauern, als zu versuchen, mit dem schwierigen Mädchen fertig zu werden. Doch das würde sie niemals zugeben! »Wir haben gedacht, du seiest tot! Wir haben geglaubt, dass Sadi dich umgebracht hätte.«
»Daemon hätte mir niemals ein Leid zugefügt.«
Aber ihr schon – und das habt ihr auch. Dies war die unterschwellige Botschaft, die in der kalten, ausdruckslos vorgebrachten Antwort mitschwang.
»Leland ist deine Mutter. Ich bin deine Großmutter. Wir sind deine Familie, Jaenelle!«
Langsam schüttelte Jaenelle den Kopf. »Ich kann meine Blutlinie zu euch zurückverfolgen. Das bedeutet, dass wir miteinander verwandt sind. Zu einer Familie macht uns das nicht.« Sie bewegte sich auf die Tür zu. Kurz vor Alexandra blieb sie stehen. »Du bist vorübergehend bei einem Hexensabbat in die Lehre gegangen, nicht wahr? Bevor du die Wahl treffen musstest, Schwarze Witwe oder Königin von Chaillot zu werden.«
Alexandra nickte und fragte sich, worauf Jaenelle hinauswollte.
»Du hast genug gelernt, um ganz einfache Verworrene Netze zu erschaffen, von der Art, die einen intensiven Wunsch in sich aufnehmen und dir das entsprechende Objekt vor Augen führen. Nicht wahr?« Als Alexandra erneut nickte, füllten sich Jaenelles Augen mit traurigem Verständnis. »Wie viele Male saßt du vor einem jener Netze und hast davon geträumt, dass dir etwas helfen würde, Chaillot vor Haylls Übergriffen zu bewahren?«
Alexandra brachte keinen Ton heraus. Selbst das Atmen fiel ihr schwer.
»Ist dir nie gekommen, dass ich die Antwort zu dem Rätsel sein könnte? Saetan war ebenfalls ein leidenschaftlicher Träumer. Der Unterschied besteht darin, dass er den Traum erkannte, als er ihm letzten Endes erschien.« Jaenelle öffnete die Tür. »Geh nach Hause, Alexandra. Hier gibt es nichts – und niemanden – für dich.«
»Wilhelmina«, flüsterte Alexandra.
»Sie wird die achtzehn Monate ihres Vertrages erfüllen. Danach kann sie tun und lassen, was sie will.« In Jaenelles Lächeln lag eine schreckliche Ironie. »Die Königin befiehlt es so.«
Alexandra holte tief Luft. »Ich will diese Königin sehen.«
»Nein, das willst du nicht«, erwiderte Jaenelle eine Spur zu sanft. »Du möchtest nicht vor dem Dunklen Thron stehen.« Sie hielt inne. »Wenn du mich nun entschuldigen würdest, ich muss diesen Trank fertig stellen. Er hat lange genug gekocht.«
Fortgeschickt. Sie wurde einfach so fortgeschickt!
Alexandra verließ den Arbeitsraum, erleichtert, Jaenelle verlassen zu können. Sie fand einen der inneren Gärten und ließ sich auf einer Bank nieder. Vielleicht würde die Sonne etwas gegen die Kälte ausrichten können, die ihr bis ins Mark gefahren war. Vielleicht würde sie dann glauben können, dass sie vor Kälte zitterte und nicht, weil Jaenelle etwas erwähnt hatte, dass sie niemals jemandem anvertraut hatte.
Ihre Großmutter väterlicherseits war von Natur aus Schwarze Witwe gewesen. Dieser Umstand hatte Alexandra überhaupt erst dazu gebracht, sich an den Hexensabbat zu wenden. Doch zu ihrer Zeit hatte bereits das Geflüster unter den adeligen Angehörigen des Blutes eingesetzt, dass Schwarze Witwen ›unnatürliche‹ Frauen seien, und die anderen Königinnen und Kriegerprinzen hätten niemals eine Königin gewählt, die eine Hexe des Stundenglassabbats war.
Also hatte sie ihre Lehre abgebrochen und war ein paar Jahre später, als ihre Großmutter mütterlicherseits abgedankt hatte, Königin von Chaillot geworden. Doch während der ersten Jahre als Königin hatte sie heimlich jene Verworrenen Netze gewoben. Sie hatte tatsächlich geträumt, dass etwas oder jemand in ihrem Leben erscheinen und ihr helfen würde, Haylls zersetzenden Einfluss auf die Gesellschaft von Chaillot zu bekämpfen. Damals war sie davon ausgegangen, dass es ein Gefährte sein würde – ein starker Mann, der sie unterstützen und ihr helfen würde. Doch ein solcher Mann war niemals in ihr Leben getreten.
Dann, als ihre Großmutter, die Schwarze Witwe, im Sterben lag, hatte sie Alexandra das mit auf den Weg gegeben, was sie fortan als ›das Rätsel‹ bezeichnete. Was du dir erträumst, wird kommen, aber wenn du nicht aufpasst, wirst du blind sein, bis es zu spät ist.
Also hatte sie gewartet. Sie hatte Ausschau gehalten. Der Traum war nie in Erscheinung getreten. Und sie wollte und konnte nicht glauben, dass ein exzentrisches Kind die Antwort auf das Rätsel sein sollte.
4 Kaeleer
Während er aus dem Fenster starrte, griff er in sein Hemd und zog das schmale Glasfläschchen hervor, das an einer Kette um seinen Hals hing. Die Hohepriesterin von Hayll hatten ihm versichert, dass sie und die Dunkle Priesterin die stärksten Zauber gewoben hatten, die sie kannten, um sicherzugehen, dass er unentdeckt bliebe. Bisher hatten die Zauber gewirkt. Niemand hatte gemerkt, dass er etwas anderes war als einer der Begleiter, die Alexandra Angelline mit sich gebracht hatte. Er war lediglich ein unauffälliger Mann, so gut wie unsichtbar. Das passte ihm ausgezeichnet.
Es hatte so einfach geklungen, als er den Auftrag erhalten hatte. Finde sie, setze sie unter Drogen, damit sie keine Gegenwehr leistet, und bring sie dann heimlich aus der Burg zu den Männern, die gleich an der Grenze des Anwesens auf dich warten. Als er die Größe des Anwesens gesehen hatte, hatte er geglaubt, dass es sogar noch leichter werden würde.
Doch trotz der ungeheuren Ausmaße der Burg wimmelte es dort nur so von aggressiven Männern, angefangen bei den niedersten Dienstboten bis hin zum Höllenfürsten. Und diese verfluchten Hexenluder schienen niemals allein zu sein. Er hatte sich stundenlang in den Gängen herumgetrieben, ohne auch nur eine von beiden ohne Begleitung anzutreffen.
Er erschauderte, als er sich an das eine Mal erinnerte, als er einen Blick auf das goldhaarige Miststück erhascht hatte. Ihm war wiederholt eingeschärft worden, dass sie sein Hauptziel war, doch er hatte nicht vor, sich auch nur in ihre Nähe zu begeben, weil sie etwas an sich hatte, das ihm Furcht einflößte. Außerdem war er nicht überzeugt, dass die Zauber unter jenem Saphirblick Bestand haben würden. Also würde er die andere nehmen, die Schwester. Allerdings würde er bald zuschlagen müssen. Ewig würde er so vielen bedrohlichen, misstrauischen Männern nicht aus dem Weg gehen können.
Vielleicht würde er Wilhelmina den ganzen Weg zurück nach Hayll begleiten. Was machte es schon für einen Unterschied, dass man auf sein Verschwinden aufmerksam wurde, wenn er sie einmal von hier fortgeschafft hatte?
Und es konnte ihm gleichgültig sein, ob Alexandra allein zurückblieb und das Verschwinden ihrer Enkelin erklären musste – oder sich der Strafe zu unterziehen hatte, die der Höllenfürst zu verhängen gedachte.
5 Terreille
Dorotheas Innerstes krampfte sich vor blinder Wut zusammen. Kraftlos ließ sie die Hand mit dem kurzen Brief sinken.
»Du bist beunruhigt, Schwester«, sagte Hekatah, die in das Zimmer schlurfte und sich setzte.
»Kartane ist nach Kaeleer gereist.« Sie konnte nicht tief genug Luft holen, um ihrer Stimme Kraft zu verleihen.
»Um zu sehen, ob die dortigen Heilerinnen etwas für ihn tun können?« Hekatah dachte einen Augenblick nach. »Aber wieso jetzt? Er hätte in den letzten Jahren jederzeit dorthin gehen können.«
»Vielleicht, weil er glaubt, nun etwas zu haben, das er eintauschen kann, und das mehr wert ist als Goldmünzen.«
Hekatah begriff sofort und stieß ein unwilliges Zischen aus. »Wie viel weiß er?«
»Er war letztens bei meiner ›Beichte‹, aber dieses Wissen ist nicht gerade weltbewegend.«
»Es würde ausreichen, um Saetan zu warnen«, meinte Hekatah unheilvoll. »Es wäre genug, um ihn unangenehme Fragen stellen zu lassen.«
»Dann sollten eventuell Vorkehrungen getroffen werden, bevor Kartane die Gelegenheit erhält, mit jemandem außerhalb Kleinterreilles zu sprechen«, erwiderte Dorothea sanft, beinahe geistesabwesend. Ihr fielen etliche interessante ›Vorkehrungen‹ ein, die gegen einen Sohn getroffen werden konnten, der um ihren Feind zu buhlen trachtete.
Hekatah stand auf und ging eine Minute lang im Zimmer auf und ab. »Nein. Lass uns sehen, ob wir Kartane als Köder verwenden können, um eine ganz bestimmte Heilerin nach Kleinterreille zu locken.«
Dorothea schnaubte verächtlich. »Glaubst du wirklich, Jaenelle Angelline würde ausgerechnet Kartane helfen?«
»Ich werde heute Abend nach Kleinterreille aufbrechen und mit Lord Jorval sprechen. Er weiß gewiss, wie eine taktvolle Bitte an den Dunklen Hof zu formulieren ist.« An der Tür hielt Hekatah inne. »Wenn dein kleiner Krieger nach Hause kommt, solltest du ihm vielleicht eine Lektion in Sachen Loyalität angedeihen lassen.«
Erst als Hekatah fort war, ging Dorothea zum Kaminfeuer hinüber. Sie ließ den Brief in die Flammen fallen und beobachtete, wie sie ihn verzehrten.
Sobald der Krieg, den sie anzetteln würden, vorüber war, würde sie ein Freudenfeuer errichten und sich daran ergötzen, wie die Flammen jenen ausgetrockneten wandelnden Leichnam verzehrten. Und während sie zusah, wie Hekatah verbrannte, würde sie ihren Sohn Loyalität lehren.
6 Kaeleer
Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte Karla jäh, nachdem sie sich zehn Minuten lang oberflächlich unterhalten und über die Eyrier gesprochen hatten, die Lucivar hergebracht hatte.
Jaenelle hob den Blick von der Stickerei, an der sie gerade arbeitete, die Augen voll wachsamer Belustigung. »Na gut.«
»Ich will einen Ring der Ehre, wie die Männer im Ersten Kreis einen haben.«
»Schätzchen, sie tragen den Ring der Ehre um den Penis. Du magst ebenso draufgängerisch wie ein Mann sein, aber da sehe ich sogar bei dir gewisse Probleme!«
»Die männlichen verwandten Wesen tragen ihre Ringe nicht dort. Du hast kleine Ringe anfertigen lassen, die sie an den Ketten tragen, an denen ihre Juwelen hängen.«
»Du möchtest also einen Ring der Ehre.« Jaenelle klang immer noch amüsiert, während sie Stich um Stich an ihrem Muster stickte.
Karla nickte feierlich. »Für jede Hexe im Hexensabbat.«
Jaenelle sah auf. Die Belustigung war aus ihrem Gesicht verschwunden.
Karla erwiderte ihren Blick. Aufgrund der leichten Veränderung in den saphirblauen Augen erkannte sie, dass sie es nicht länger mit Jaenelle, ihrer Freundin und Schwester, zu tun hatte. Sie redete mit Hexe, der Königin des Schwarzen Askavi. Ihrer Königin.
»Du hast einen Grund«, stellte Jaenelle in ihrer Mitternachtsstimme fest. Es war keine Frage.
»Ja.« Wie viel würde sie sagen müssen, um Jaenelle zu überzeugen? Und wie viel von dem, was sie in dem Verworrenen Netz gesehen hatte, konnte unerwähnt bleiben?
Ein paar Minuten verstrichen, ohne dass eine der beiden Frauen etwas sagte.
Jaenelle begann wieder zu sticken. »Wenn er am Finger getragen wird, sollte er so verziert sein, dass sein Zweck nicht offensichtlich ist«, meinte sie leise. »Ich gehe davon aus, dass du vor allem aufgrund meiner speziellen Schutzzauber an dem Ring interessiert bist.«
»Ja«, antwortete Karla kaum hörbar. Die Schutzzauber, die Mitternachtsschilde, mit denen Jaenelle die Ringe versehen hatte, waren der Grund, weshalb sie ein derartiges Schmuckstück haben wollte.
»Möchtest du, dass die Ringe nur innerhalb des Hexensabbats miteinander verbunden sind oder auch mit den Ringen der Männer?«
Karla zögerte. Ein typischer Ring der Ehre erlaubte es einer Königin, die Gefühle der Männer in ihrem Ersten Kreis zu überwachen. Aufgrund einer Eigenart des ersten Rings der Ehre, den Jaenelle erschaffen hatte – und den Lucivar immer noch trug –, hatten die Männer des Ersten Kreises im Gegenzug ebenfalls die Möglichkeit, die Stimmung der Königin zu erfassen. Wollten sie oder der Hexensabbat tatsächlich mit Männern umgehen müssen, die noch mehr auf weibliche Stimmungen eingestellt waren, als die Männer es ohnehin schon waren? War eine gewisse Distanz es wert, auf die Möglichkeit zu verzichten, eine Warnung zu senden, die in keiner Weise aufzuhalten war? »Sie sollten mit den Männern des Ersten Kreises verbunden sein.«
»Ich werde die Ringe so bald wie möglich anfertigen lassen«, sagte Jaenelle leise.
»Danke, Lady«, erwiderte Karla, deren Förmlichkeit sich mehr an die Königin als die Freundin wandte.
Wieder legte sich Schweigen über den Raum.
»Noch etwas?«, wollte Jaenelle schließlich wissen.
Karla atmete tief durch. »Ich mag deine Verwandten nicht.«
»Niemand hier mag meine Verwandten«, gab Jaenelle zurück, doch unter dem belustigten Tonfall lag eine gewisse Schärfe verborgen – und Trauer. Dann fügte sie flüsternd hinzu: »Saetan hat mich offiziell um die Erlaubnis gebeten, sie hinrichten zu lassen.«
»Hast du sie ihm erteilt?«, fragte Karla ausdruckslos. Sie kannte die Antwort bereits. Als sie vor fünf Jahren Königin von Glacia geworden war, war sie in der gleichen Lage gewesen. Sie hatte ihren Onkel, Lord Hobart, ins Exil geschickt, anstatt seine Hinrichtung anzuordnen, obwohl sie den starken Verdacht hegte, dass er hinter dem Tod ihrer Eltern steckte.
Wenn man Jaenelle zu einer Entscheidung drängte, würde sie die gleiche Wahl treffen.
»Wenn es dir irgendein Trost sein sollte: Deine Schwester mag ich«, meinte Karla, als Jaenelle ihr die Antwort schuldig blieb. »Sie wird sich schon in Kaeleer einleben, falls es ihr gelingen sollte, lange genug ihre Angst zu vergessen, um einmal tief durchzuatmen.«
Jaenelle verzog das Gesicht. »Lucivar hat sie betrunken gemacht, und sie hat angeboten, ihn zu striegeln.«
»Oh, Mutter der Nacht!« Als das Gelächter nach einiger Zeit verklungen war, erhob sich Karla noch immer kichernd von dem Sofa, wünschte Jaenelle eine gute Nacht und machte sich auf den Weg zu ihrer eigenen Zimmerflucht.
In der Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers erlaubte sie sich das eine oder andere Stöhnen, während sie sich bettfertig machte. Egal, wie viel Sport sie trieb, wenn sie zu Hause war, es dauerte immer ein paar Tage, bis sie sich wieder an die Übungen gewöhnt hatte, die Lucivar ihr abverlangte. Doch sie würde sich auf keinen Fall die Gelegenheit entgehen lassen, von ihm weiter in die Kampfkunst eingewiesen zu werden. Besonders jetzt nicht.
Als sie bald darauf eindöste, kam ihr der Gedanke, dass Jaenelle, die eine starke und sehr begabte Schwarze Witwe war, vielleicht ihre eigenen Gründe gehabt hatte, dem Gefallen zuzustimmen, um den Karla sie gebeten hatte.
7 Kaeleer
Übertrieben sorgfältig band Daemon den Gürtel des Gewandes zu. Das heiße Bad hatte seine verspannte, müde Muskulatur aufgewärmt und gelockert. Eine große Menge Brandy würde die scharfen Kanten seiner Gedanken ein wenig verschwimmen lassen. Doch keine dieser Maßnahmen würde etwas gegen sein verletztes, blutendes Herz ausrichten können.
Jaenelle wollte ihn nicht. Dieser Umstand wurde ihm immer schmerzlicher bewusst.
Als sie sich letzte Nacht begegnet waren, hatte er geglaubt, sie freue sich, ihn zu sehen. Er hatte gehofft, sie könnten von Neuem anfangen. Doch heute war sie ihm aus dem Weg gegangen, wann immer er versuchte, sich ihr zu nähern, und hatte Lucivar oder Chaosti oder gar den gesamten Hexensabbat als Abschirmung benutzt. Ihr Verhalten hatte ihn zu der Annahme gezwungen, dass sie ihm den Titel des Gefährten nur verliehen hatte, weil sie sich ihm gegenüber verpflichtet fühlte, nicht, weil sie ihn wollte.
Auf dem Weg in sein Schlafzimmer fragte er sich, wie lange er es wohl ertragen könnte, ihren Umgang mit den anderen Männern des Hofes zu beobachten, während sie ihn aus ihrem Leben ausschloss. Wie lange würde der geistige Zusammenbruch auf sich warten lassen, wenn er ihr Tag für Tag nahe genug war, um sie zu berühren, es jedoch nicht durfte? Wie lange …
Als er im schwachen Licht sein Bett sah, glaubte er im ersten Moment, jemand habe einen weißen Pelzüberwurf darüber ausgebreitet, ohne ihn glatt zu streichen.
Dann hob sich ein Kopf von seinen Kissen, und Muskeln spielten unter dem weißen Fell, als die gewaltige Raubkatze sich bewegte.
Die Vorderpfoten, die über die Bettkante hingen, krümmten sich und ließen eindrucksvolle Krallen sichtbar werden. Graue Augen starrten ihm entgegen, als wollten sie ihm verbieten, auch nur einen einzigen Atemzug zu wagen.
Selbst wenn Daemon das rote Juwel nicht inmitten des weißen Fells gesehen hätte, hätte er keinerlei Zweifel gehegt, wer da auf seinem Bett ausgestreckt lag.
Wir alle geben uns Mühe, Kaelas nicht zu verärgern, hatte Lucivar gesagt.
Möge die Dunkelheit Erbarmen haben!
Mit klopfendem Herzen wich Daemon vorsichtig in Richtung der Tür zurück. Saetans Zimmerflucht befand sich gleich gegenüber von der seinen. Er könnte …
Etwas Großes warf sich auf der anderen Seite gegen die Tür, als seine Hand den Knauf berührte.
Kaelas verzog die Lippen zu einem leisen Fauchen.
Ihm stand nur noch ein einziger Fluchtweg offen.
Ohne den Blick auch nur eine Sekunde von Kaelas abzuwenden, stahl Daemon sich zu der Tür hinüber, die sein Schlafzimmer von Jaenelles trennte. Er öffnete die Tür nur so weit wie nötig und schlüpfte in ihr Zimmer, verschloss die Tür mit Schwarz und belegte sie außerdem mit einem schwarzen Schild. Wenn Kaelas tatsächlich durch jeglichen Schild dringen konnte, wie Lucivar behauptet hatte, dann waren das Schloss und der Schild nutzlos, aber sie gaben ihm dennoch ein gewisses Gefühl der Sicherheit.
Während er weiter in Jaenelles Zimmer zurückwich, fing er zu zittern an. Es war nicht wirklich wegen Kaelas. Jeder Mann, der mit einem gesunden Überlebenswillen ausgestattet war, würde eine gewisse Furcht vor einer Raubkatze dieser Größe verspüren – besonders, wenn die Katze noch dazu ein Kriegerprinz mit rotem Juwel war. Doch er wusste, dass er keine derart überwältigende Angst empfunden hätte, bevor sein Geist an Cassandras Altar zersplittert war. Er hätte ausreichend Selbstbewusstsein besessen, um der wilden Raubtierarroganz etwas entgegenzusetzen, selbst wenn er es letzten Endes für vernünftiger halten sollte, ihr nachzugeben. Doch jetzt …
»Daemon?«
Er wirbelte herum. Auf einmal stockte ihm der Atem.
Jaenelle stand in dem Türrahmen, der zum Rest ihrer Zimmerflucht führte. Sie trug ein blaues Nachtgewand.
Ihr Anblick ließ ihn in zu vieler Hinsicht das Gleichgewicht verlieren.
Sie stürzte auf ihn zu und schlang ihm die Arme um die Taille, um ihn aufzufangen. »Was ist los? Bist du krank?«
»Ich …« Die Anstrengung, die es ihm verursachte, tief genug einzuatmen, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
»Kannst du weit genug gehen, um dich aufs Bett zu setzen? «
Da er keinen Ton hervorbrachte, nickte er nur.
»Setz dich«, befahl Jaenelle. »Leg den Kopf auf die Knie.«
Als er ihrer Aufforderung Folge leistete, öffnete sich sein Gewand. Er beugte sich in der Hoffnung weiter vor, dass er derart gebückt ihrem Blick nichts offenbarte, das sie nicht zu sehen wünschte.
»Kannst du mir sagen, was los ist?«, fragte Jaenelle und strich ihm mit den Fingern durch das Haar.
Du liebst mich nicht. »Auf meinem Bett«, stieß er keuchend hervor.
Jaenelle drehte sich der Verbindungstür zwischen ihren beiden Gemächern zu. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was macht Kaelas in deinem Zimmer?«
»Schlafen. Auf meinem Bett.«
»Es ist dein Zimmer. Warum hast du ihm nicht gesagt, dass er verschwinden soll?«
Warum? Weil er keine Lust hatte, heute Nacht zu sterben.
Doch sie klang so verblüfft, dass er den Kopf hob, um sie anzusehen. Sie meinte es ernst. Ohne weiter darüber nachzudenken, würde sie eine dreihundertfünfzig Kilo schwere, fauchende Wildkatze von ihrem Bett scheuchen.
Jaenelle erhob sich. »Ich werde ihm …«
Daemon griff nach ihrer Hand. »Nein, es ist schon gut. Ich werde ein anderes Bett finden. Ein Sofa. Beim Feuer der Hölle, und wenn ich auf dem Boden schlafe!«
Die uralten Augen musterten ihn. Kurzzeitig flackerte etwas Eigenartiges darin auf. »Möchtest du heute Nacht hier schlafen? «, fragte sie leise.
Ja. Nein. Er wollte nicht wie ein verängstigter, hilfsbedürftiger Junge zu ihr kommen. Doch er würde ebenso wenig die einzige Einladung in ihr Bett ausschlagen, die er vielleicht jemals erhalten würde. »Bitte.«
Sie zog die Tagesdecke so weit wie möglich zurück, während er noch immer auf dem Bett saß. »Leg dich hin.«
»Ich …« Sein Gesicht glühte.
»Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass du im Bett dasselbe trägst wie die anderen Männer hier«, meinte Jaenelle trocken.
Also nichts.
Sie bewegte sich zur anderen Seite des Zimmers, Daemon höflich den Rücken zugekehrt.
Rasch schlüpfte Daemon aus dem Gewand und glitt in das gewaltige Bett. Kein Wunder, dass sie ihm angeboten hatte, zu bleiben. Das Bett war so groß, dass ihr eine zweite Person darin gar nicht auffallen würde.
Eine Minute später legte sie sich ebenfalls ins Bett, wobei sie darauf achtete, auf ihrer Seite zu bleiben. Als sie die Kerzen löschte, murmelte sie: »Gute Nacht, Daemon.«
Lange Zeit lag er im Dunkeln und lauschte ihren Atemzügen. Er war davon überzeugt, dass sie ebenfalls nicht schlief.
Letzten Endes hüllten das warme Bett, das Gemurmel des Brunnens unten im Garten und ihr Duft ihn ein, und er fiel in einen tiefen Schlaf.
Leise, beinahe verstohlene Geräusche weckten ihn.
Daemon schlug die Augen auf.
Dunkelheit. Wirbelnder Nebel.
Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah sich um. Sie stand neben dem Altar. Die goldene Mähne, die nicht ganz Haar und nicht ganz Fell war. Die leicht spitz zulaufenden Ohren. Der dünne Fellstreifen, der ihre Wirbelsäule hinab bis zu dem Rehkitzschweif entlang lief, der sich ruckartig über ihrem Gesäß hin- und herbewegte. Die menschlichen Beine, an denen sich Hufe befanden. Die Hände mit den eingezogenen Krallen.
Hexe. Der lebende Mythos. Fleisch gewordene Träume.
Er war wieder an dem nebligen Ort, tief im Abgrund. Der Ort, an dem …
Langsam erhob er sich. Er bewegte sich vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, als er um den Altar herumging, bis er ihr gegenüberstand.
Auf dem Altar befand sich ein Kristallkelch, den hauchdünne Risse durchzogen. Während er schweigend zusah, griff sie nach einer Kristallscherbe und setzte sie an die richtige Stelle.
Etwas in seinem Innern regte sich. Als er den Kelch genauer betrachtete, erkannte er, dass es sich um seinen eigenen, zerborstenen Geist handelte.
Ihm fielen drei weitere winzige Splitter auf. Als er die Hand nach einem ausstreckte, versetzte sie ihm einen Klaps.
»Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie lange ich suchen musste, um die hier zu finden?«, fauchte sie ihn an.
Sie drehte den Kelch und fügte einen weiteren winzigen Splitter ein.
Der Nebel drehte sich, tanzte, wirbelte umher.
Er fiel, fiel, fiel in den Abgrund. Sein Geist zerbarst. Das Erwachen an dem nebligen Ort. Der erste Anblick von Jaenelle als Hexe, wie sie seinen Kristallkelch wieder zusammensetzte.
Ein weiterer Splitter kam an seinen ursprünglichen Platz.
Das schmale Bett, an dessen Enden Stricke angebracht waren, mit denen sich Hände und Füße fesseln ließen – das Bett aus Briarwood. Ein üppiges Bett mit seidenen Laken. Eine verführerische Falle aus Liebe und Lügen und der Wahrheit – eine Falle, die ein Kind retten sollte. Der Sadist flüsterte, dass sie den Köder schlucken würde, weil er selbst, in all seiner männlichen sexuellen Pracht, der Köder war.
Der letzte Splitter fand seinen angestammten Platz.
Die geistige Verbindung mit Saetan, nachdem er Jaenelle überredet hatte, zur Höhe der roten Juwelen aufzusteigen. Gemeinsam zwangen sie Jaenelle, ihren gemarterten, blutenden Körper zu heilen. Jaenelles panische Angst, als die Männer aus Briarwood versuchten, gegen die Abwehrmechanismen anzukämpfen, die Surreal in den Gängen errichtet hatte, die zu dem Altar führten. Cassandra, wie sie das Tor zwischen den Reichen öffnete und Jaenelle fortbrachte.
Sein Kristallkelch glühte und wurde immer wärmer, da Hexe sämtliche Risse mit ihrer dunklen Kraft umhüllte und versiegelte.
Nun, da die Lücken geschlossen waren, strömten die Erinnerungen wieder auf ihn ein, und endlich wusste er genau, was sich vor dreizehn Jahren an Alexandras Altar zugetragen hatte. Endlich wusste er mit Gewissheit, was er getan hatte – und was nicht.
Er atmete tief und langsam durch.
Sie warf ihm einen Blick zu. In ihren uralten Augen kämpfte Scheu mit Wildheit und wacher Intelligenz. »Die fehlenden Scherben verursachten Schwachstellen, die den Kelch zerbrechlich machten. Jetzt sollte es dir wieder gut gehen.«
»Danke.«
»Ich will deine Dankbarkeit nicht«, fuhr sie ihn an.
Daemon betrachtete Hexe eingehend und öffnete seine inneren Barrieren weit genug, um ihre Gefühle zu ertasten. Der Schmerz in ihrem Innern überraschte ihn.
»Was willst du dann?«, wollte er leise wissen.
Nervös strich sie über den Stiel des Kelches. Er fragte sich, ob sie ahnte, dass er die zärtliche Berührung spüren konnte. Außerdem fragte er sich, ob sie die geringste Vorstellung davon hatte, was diese Liebkosung mit ihm anstellte. Er begann um den Altar herumzugehen, wobei er mit den Fingern leicht über den Stein strich.
»Nichts«, sagte sie kleinlaut und wich einen halben Schritt vor ihm zurück. Dann fügte sie hinzu: »Du hast mich angelogen. Du wolltest Hexe nicht.«
Feurige Wut durchzuckte ihn und weckte den Teil seines selbst, den die Angehörigen des Blutes in Terreille den Sadisten nannten. Als sich der Ärger abgekühlt hatte, wurde er von einem anderen Feuer abgelöst.
Seine Stimme wurden zu einem aufreizenden Schnurren. »Ich liebe dich. Und ich habe ein Leben lang darauf gewartet, dein Geliebter zu werden. Doch du warst noch zu jung, Lady.«
Sie hob den Kopf, den Körper zu einer würdevollen Haltung aufgerichtet. »Hier im Abgrund war ich nicht zu jung.«
Langsam bewegte er sich weiter um den Altar. »Dein Körper war geschändet worden, dein Geist zerschmettert. Doch selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, wärst du zu jung gewesen – auch hier im Abgrund.«
Er trat von hinten an sie heran. Leicht strichen seine Finger über ihre Hüften, ihre Taille. Er ließ seine Hände weiter nach oben gleiten, spreizte sie über ihren Rippen und streichelte mit den Fingerspitzen die Unterseite ihrer Brüste. Er kam näher und lächelte voll wilder Freude, als das nervöse Zucken ihres Rehkitzschweifes ihn neckte und immer weiter erregte.
Er küsste die Stelle, an der ihr Nacken auf die Schulter traf. Der erste Kuss war zurückhaltend und keusch. Beim zweiten Kuss benutzte er die Zähne, um sie ruhig zu halten, während seine Zungenspitze ihre Haut liebkoste und sie schmeckte.
Er konnte spüren, wie ihr Herz schlug und ihr Atem in keuchenden Stößen kam.
Er zog eine Spur leichter Küsse ihren Hals empor, um ihr schließlich ins Ohr zu flüstern: »Du bist nicht mehr zu jung.«
Sie stieß einen atemlosen, spitzen Schrei aus, als er sich sanft an ihr rieb.
Auf einmal waren seine Hände leer, und er war allein.
Hungriges Verlangen brüllte in seinem Inneren. Langsam beschrieb er einen Kreis, Ausschau haltend, tastend – das Raubtier auf der Suche nach seiner Beute.
Er nahm nur noch wahr, wie sich der Nebel immer mehr verdichtete und um ihn herwirbelte, dann war da nichts mehr.
Es kostete ihn Mühe, dem dichten Nebel des Schlafes zu entrinnen,
als etwas ihn am Arm packte und aus dem Bett zerrte. Benommen
versuchte er weit genug aufzuwachen, um sich fragen zu können,
weshalb man ihn durch das Zimmer schubste und stieß.
Das Aufwachen fiel ihm ausgesprochen leicht, nachdem Lucivar ihn in die Duschkabine geschleift und das kalte Wasser voll aufgedreht hatte.
Daemon drehte wild am Hahn, bis es ihm gelang, das Wasser abzustellen. Während er sich mit einer Hand an der Wand abstützte, versuchte er, seine Lungen zum Einatmen zu überreden. Dann warf er Lucivar einen wutentbrannten Blick zu.
»Jaenelle war ähnlich schlecht gelaunt, als sie aufwachte«, meinte Lucivar nachsichtig. »Muss ja eine interessante Nacht gewesen sein.«
»Es ist nichts passiert«, gab Daemon mürrisch zurück und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
»Nichts Körperliches«, sagte Lucivar. »Aber ich habe schon oft genug mit dem Sadisten getanzt, um ihn wiederzuerkennen, wenn ich ihm begegne.«
Daemon wartete einfach nur ab.
Lucivars Lippen verzogen sich zu seinem trägen, arroganten Lächeln. »Willkommen in Kaeleer, Bruder«, sagte er sanft. »Es tut gut, dich wiederzuhaben.« An der Badezimmertür hielt er inne. »Ich werde dir eine Tasse Kaffee bringen. Das und eine heiße Dusche sollten dich wach genug werden lassen.«
»Wach genug wofür?«, erkundigte Daemon sich argwöhnisch.
Lucivars Lächeln nahm eine boshafte Note an. »Du kommst zu spät zu den Kampfübungen, alter Knabe. Aber in Anbetracht der Lage gebe ich dir eine Viertelstunde, bevor ich noch einmal bei dir vorbeischaue.«
»Und wenn du noch einmal vorbeischauen musst?«, wollte Daemon eine Spur zu sanft wissen.
»Vertrau mir, sollte ich gezwungen sein, ein weiteres Mal nach dir zu sehen, wird es dir ganz und gar nicht gefallen.«
Es gefiel ihm bereits jetzt ganz und gar nicht. Doch er schlürfte den Kaffee, den Lucivar ihm gebracht hatte, während noch das heiße Wasser über seinen Nacken und seinen Rücken rann – und der Sadist begann, die leise, sanfte Verführung von Jaenelle Angelline zu planen.