Kapitel 5

1 e9783641062019_i0037.jpg Kaeleer

Alexandra ging durch die Gänge, Philip an ihrer Seite. Sie hätte Lelands Begleitung einem Mann vorgezogen, der bereits vergeben war. Doch dass Philip derart schnell angeboten hatte, mit ihr zu gehen, konnte nur bedeuten, dass er etwas unter vier Augen mit ihr zu besprechen hatte, ohne die anderen darauf aufmerksam machen zu wollen.

Da sie seine Gegenwart als ärgerlich empfand, fuhr sie ihn unwirsch an: »Wir sind nun schon über eine Woche hier, und es ist nichts geschehen. Wie lange erwartet dieser so genannte Begleiter, dass wir hier zu Gast bleiben können?«

Philip musste sie nicht darauf hinweisen, dass Osvald, der Beistand, den Dorothea ihnen mitgeschickt hatte, bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, an Wilhelmina oder Jaenelle heranzukommen, ohne dass nicht mindestens eine männliche Aufsichtsperson dort gewesen wäre; ganz zu schweigen davon, so nahe an die beiden Frauen heranzukommen, dass er sie heimlich aus der Burg hätte schaffen können. Ebenso wenig musste Philip sie darauf verweisen, dass sie so lange ›Gäste‹ auf der Burg sein würden, bis der Höllenfürst – oder die wahre Königin, die an diesem Hof herrschte – das Gegenteil entschied.

»Lucivar war heute Morgen bei mir«, sagte Philip jäh.

Die Anspannung in seiner Stimme brachte Alexandra dazu, ihn anzusehen. Ihr fiel die Röte auf, die Philips Gesicht verdunkelte. War es Wut oder Verlegenheit? »Und?«

»Er hat sich dafür ausgesprochen, dass du Vania stärker an die Leine nehmen solltest, bevor ihr etwas passiert. Anscheinend geht sie bei ihren Versuchen, einen Mann aus Kaeleer in ihr Bett zu locken, ein wenig zu aggressiv vor. Er meinte, wenn es sie so sehr nach einem Mann verlangt, sollte sie lieber ihren Gefährten einladen, denn dazu sei er da.«

Persönlich war Alexandra der Auffassung, dass sich Vania wie eine Schlampe aufführte. Doch Vania war auch offenherzig, wenn es darum ging, ihre Männer mit Königinnen zu teilen, die sich auf Besuch befanden – eine großzügige Geste, die Alexandra nie abschlug, wenn sie ihre Provinz bereiste. Seit über fünfundzwanzig Jahren hatte sie selbst sich keinen festen Geliebten an ihrem Hof gehalten – seitdem sie Philip gebeten hatte, Leland durch deren Jungfrauennacht zu geleiten. Es wäre ihnen allen gegenüber ungerecht gewesen, wenn sie ihn danach aufgefordert hätte, ihr Bett zu wärmen, obgleich er in Wirklichkeit der Geliebte ihrer Tochter sein wollte. Und die anderen Männer, die seitdem in Frage gekommen wären, waren viel mehr an der Macht interessiert gewesen als daran, ihr Vergnügen zu bereiten.

Doch die Erinnerung an Vanias Großzügigkeit – und der Gedanke, dass zur Zeit auch deren Bett von keinem Mann gewärmt wurde –, ließ Alexandra abwehrend reagieren. »Sie müsste nicht aggressiv vorgehen, wenn man an diesem Hof Königinnen, die zu Besuch sind, mit den grundlegenden Annehmlichkeiten versorgen würde.«

»Das habe ich auch erwähnt«, sagte Philip durch zusammengebissene Zähne. »Und er gab mir die Antwort, dass es keine Männer an diesem Hof gibt, zu deren Dienstaufgaben diese Pflicht gehört.«

»Es fällt mir schwer, das zu glauben. Nicht jede Königin, die hierher reist, hat zu dem Zeitpunkt unbedingt einen Gefährten oder wird von ihm begleitet. Es muss irgendeine Vorkehrung geben …« Sie brach ab, als ihr die Beleidigung in all ihren Ausmaßen klar wurde. »Es ist, weil wir aus Terreille sind, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Philip mit tonloser Stimme. »Er meinte, es gäbe ein paar Männer des Zweiten und Dritten Kreises, die normalerweise nichts dagegen haben, einen Gast des Hofes bei sich aufzunehmen, wenn sie darum gebeten werden. Doch da terreilleanische Königinnen nicht wüssten, wie man einen Mann genieße, ohne ihn schlecht zu behandeln, sei kein Mann aus Kaeleer dazu bereit, sich anzubieten.« Er zögerte. »Außerdem sagte er, dass es in Kaeleer keine Lustsklaven gäbe.«

Die verbale Ohrfeige traf sie empfindlich, denn sie rief ihr ins Gedächtnis, dass Daemon Sadi ein paar Monate lang Lustsklave an ihrem Hof gewesen war.

»Ich verstehe«, erwiderte sie gepresst.

»Abgesehen von seiner offensichtlichen Verärgerung über die Situation schien Lucivar sich wirklich Sorgen zu machen.« Philip klang erstaunt. »Hauptsächlich, weil Vania ihre Bemühungen auf Prinz Aaron konzentriert.«

»Aaron ist in der Tat ein sehr attraktiver Mann, und …«

»Er ist verheiratet.«

Darauf konnte sie nicht viel erwidern, zumal sie die Angst spürte, die von Philip ausging. Vanias Interesse an einem verheirateten Mann musste ihm auf grausame Weise seine eigene Verletzlichkeit vor Augen führen.

Obwohl immer mehr Eheverträge in den terreilleanischen Adelskreisen lediglich aus gesellschaftlichen oder politischen Gründen geschlossen wurden, schätzten die Männer des Blutes die Ehe hoch, weil es sich dabei um die einzige Beziehung handelte, bei der sich Mann und Frau als ebenbürtige Partner gegenübertraten. Zumindest so ebenbürtig, wie es eben möglich war. Es bedeutete auch, dass die Treue des Mannes Bedingung der Ehe war, und jeder Mann, der über das Bett seiner Frau hinaussah, konnte schnell ohne Zuhause oder Ehefrau dastehen und ebenfalls seine Kinder verlieren.

»Es gibt noch einen weiteren Grund, Vania zurückzuhalten«, gab Philip zu bedenken. »Wenn die Männer hier noch gereizter werden sollten …«

»Ich weiß«, erwiderte Alexandra scharf. Es würde ihnen niemals gelingen, Wilhelmina und Jaenelle von der Burg fortzuschaffen, wenn die Männer noch feindseliger würden, als sie ohnehin schon waren. »Ich weiß«, wiederholte sie, diesmal mit sanfterer Stimme. »Ich werde mit ihr sprechen.«

»Bald?«

Sie schalt sich selbst, weil er aufgrund der Angst in seiner Stimme in ihrer Achtung sank.

»Ja, Philip«, meinte sie freundlich. »Ich werde bald mit ihr sprechen.«

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Eine interessante Versammlung, dachte Daemon. Er ließ die Hände in die Taschen gleiten und fragte sich, was es bedeuten mochte, wenn der Haushofmeister den Hauptmann der Wache, den Gefährten und den Ersten Begleiter in sein Arbeitszimmer bestellte, »um etwas zu besprechen«.

Die letzten beiden Tage hatte er damit verbracht, in dem Protokollbuch zu lesen, das Saetan ihm gegeben hatte, und war überrascht gewesen, wie sehr sich die Regeln darin von denjenigen unterschieden, die man ihm in Terreille beigebracht hatte. Laut dieses Protokolls besaßen die Männer, trotz der starken Betonung der matriarchalen Ordnung der Angehörigen des Blutes, etliche Rechte und Privilegien, die dazu beitrugen, die Macht in einem gewissen Gleichgewicht zu halten. Dieser Umstand erklärte auch das erfrischende Fehlen angstvoller Unterwürfigkeit bei den hiesigen Männern. Sie begriffen die Grenzen, die annehmbares männliches Verhalten umrissen, und innerhalb dieser Grenzen standen sie auf festem Boden und mussten sich nie fragen, was passieren würde, falls sie nicht mehr in der Gunst einer bestimmten Lady stehen sollten.

Ebenso hatte ihn der Abschnitt im Protokoll überrascht, in dem es um die Männer des Ersten Kreises ging, weil in Terreille niemals auch nur im Entferntesten die Rede davon gewesen war.

Ein Satz darin fasste die Hingabe eines Mannes an den offiziellen Dienst zusammen: Dein Wille ist mein Leben. Dies gab der Königin das Recht, mit dem Mann zu verfahren, wie immer es ihr beliebte, ja, selbst ihn zu töten. Das war nicht neu, und in Terreille handelte es sich dabei durchaus um eine reale Gefahr. Der Unterschied bestand in dem Einverständnis der Königin, dass sie nicht nur den Mann annahm, sondern auch sein Recht, im Gegenzug ihre Entscheidungen und ihr Leben mitzubestimmen. Wenn eine Königin einen Befehl erteilte, und die Mehrheit der Männer ihres Ersten Kreises sich widersetzte, konnte sie sich entweder in deren Entscheidung fügen oder sie aus ihrem Hof entlassen. Doch sie konnte sie nicht deshalb belangen, weil sie sich widersetzt hatten!

Wenn die Männer in Terreille von diesem Teil des Protokolls gewusst hätten, wären sie vielleicht in der Lage gewesen, Dorotheas Marionettenköniginnen in Zaum zu halten. Vielleicht wäre es ihnen gelungen, die jüngeren, starken Hexen zu beschützen, damit sie unversehrt blieben, und sie hätten einen Weg gefunden, die Drohungen bezüglich Sklaverei und Kastration zu bekämpfen, welche die meisten Männer zu sehr verängstigt hatten, als dass sie die Hexen herausgefordert hätten, die sich an der Macht befanden.

Doch etwas – oder jemand – musste die Abschnitte über männliche Macht vor so langer Zeit aus den Protokollbüchern entfernt haben, dass sich niemand mehr an deren Existenz erinnern konnte.

Kein Wunder, dass das Leben in Kaeleer die Terreilleaner als solch ein Schock traf. Und nun ergab es auch endlich Sinn, dass man von Einwanderern verlangte, an einem Hof zu dienen. Sie benötigten diese Zeit, um sich an die neuen Regeln zu gewöhnen und zu begreifen, wie diese Regeln den Alltag bestimmten.

Dieser Gedanke machte ihn noch neugieriger darauf, das formelle Geben und Nehmen zwischen einer Königin und dem männlichen Dreieck zu beobachten.

Vorausgesetzt natürlich, die Königin tauchte auf.

»Hat jemand Katze Bescheid gegeben, dass ihre Anwesenheit erwünscht ist?«, fragte Lucivar und verlieh damit Daemons Gedanken Ausdruck.

Saetan bedachte Lucivar mit einem höflichen Blick. »Ich habe es ihr gesagt. Allerdings hatte Lord Ladvarian sie bereits zur Seite genommen, um die ein oder andere Sache mit ihr zu besprechen. Vermutlich wird sie erscheinen, sobald sie sich aus den Plänen herausgeredet hat, die er und Kaelas ausgeheckt haben mögen.«

Sein nächster höflicher Blick galt Daemon.

Daemon erwiderte den Blick, während sein Herz wie wild zu schlagen begann – weil er das untrügliche Gefühl hatte, dass Jaenelles Gespräch mit Ladvarian und Kaelas mit ihm zu tun hatte.

Er versuchte, sich einen vernünftigen Vorwand auszudenken, um Lucivar für eine Minute in die Eingangshalle zu schleifen, um ihn zu fragen, weshalb die verwandten Wesen ein derart reges Interesse am Gefährten der Königin an den Tag legten, als Jaenelle in das Zimmer gestürzt kam.

»Tut mir Leid, dass ich …« Sie stutzte, als sie die Männer sah, und ging nur zögerlich weiter. »Geht es um Familien- oder Hofangelegenheiten?«, wollte sie wissen.

»Hof«, erwiderte Saetan.

Fasziniert beobachtete Daemon, wie sie sich kaum merklich von der jungen Frau in die Königin verwandelte.

»Und was wünscht der Hof von mir?«, fragte Jaenelle weiter.

Daemon kam zu dem Schluss, dass nicht einmal der Hauch von Spott oder Sarkasmus in ihrer Stimme mitschwang, als sie die rituelle Eröffnung einer Debatte bei Hof benutzte.

»Ich habe eine Nachricht von Lord Jorval erhalten«, erwiderte Saetan ebenso gelassen, obgleich seine Augen wachsam wirkten. »Eine Person aus einer angesehenen Adelsfamilie ist nach Kaeleer gekommen und erbittet die Hilfe einer Heilerin bei einer Krankheit, die bisher sämtliche Heilerinnen in Terreille vor ein Rätsel gestellt hat. Da du bekanntermaßen die beste Heilerin im ganzen Reich bist, ersucht er dich dringend, nach Goth zu kommen und deine Meinung dazu abzugeben.«

Lucivar stieß ein leises, aber bösartiges Knurren aus. Eine leichte, nachdrückliche Handbewegung von Andulvar brachte ihn zum Schweigen.

»Jorval schreibt außerdem, zwar sei ihm versichert worden, dass die Krankheit nicht ansteckend sei, allerdings scheine sie nur Männer zu befallen. Und da er nicht möchte, dass die Männer deines Hofes Schaden nehmen …«

Diesmal schnaubte Andulvar verächtlich.

»… hat er angeboten, dir Geleitschutz zu stellen, während du dich in Kleinterreille aufhältst.«

»Nein!« Mit einem Ruck setzte Lucivar sich in Bewegung und ging in dem Zimmer auf und ab. »Du wirst nicht nach Kleinterreille reisen, um jemanden zu heilen, ohne von uns begleitet zu werden. Nicht schon wieder. Nie wieder! Wenn diese Person dich so dringend sehen möchte, warum kommt sie dann nicht hierher?«

»Da fallen mir ein paar Gründe ein«, entgegnete Jaenelle belustigt, wobei sie Lucivar betrachtete.

Daemons Blut sang, als ihr Blick einen Moment lang den seinen fand. Dann gefror es ihm in den Adern, als er zu Saetan hinübersah und das Flackern in dessen goldenen Augen gewahrte. Was versuchte der Höllenfürst hinter jenem absichtlich ausdruckslosen Blick zu verbergen – und was würde geschehen, wenn er es nicht länger zurückhalten konnte?

»Hat Jorval erwähnt, woher diese Person stammt? Oder irgendetwas sonst, das nützlich sein könnte?«, fragte Jaenelle und wandte Saetan den Rücken zu, während Lucivar weiterhin fluchend auf und ab ging.

»Nur, dass die kurzlebigen Völker am meisten betroffen zu sein scheinen«, sagte Saetan.

Jaenelles Lippen umspielte der Hauch eines Lächelns, das boshaft genug war, um Daemon einen Schauder über den Rücken zu jagen. »Die Völker aus dem westlichen Teil von Terreille?«, wollte sie mit ihrer Mitternachtsstimme wissen.

»Das hat er nicht gesagt, Lady.«

Nachdenklich nickte Jaenelle. »Ich werde darüber nachdenken. «

»Da gibt es nichts nachzudenken«, fauchte Lucivar wütend. »Du wirst nicht fahren. Du magst dich nicht an viel von dem erinnern, was sich vor sieben Jahren ereignet hat, ich aber schon! Das machen wir nicht noch einmal mit, vor allem du nicht.«

Daemon betrachtete Lucivar. Hinter dem Zorn verbarg sich eine Angst, die an Panik grenzte. Er musste ein Seufzen unterdrücken, denn er war nicht glücklich darüber, dass seine erste Handlung als Gefährte eventuell darauf hinauslaufen würde, dass er sich seiner Königin widersetzte. Doch wenn etwas Lucivar in solch einen Zustand versetzte, würde Daemon der Sache nicht ohne weiteres zustimmen können.

Dann bemerkte er Jaenelles Gesicht, als sie sich zu Lucivar umdrehte – und er fragte sich, wie irgendein Mann es wagen würde, sich Hexe entgegenzustellen, da sie nun ihre Volljährigkeit erreicht und ihre ganze Macht entfaltet hatte.

Lucivar blieb wie angewurzelt stehen, als sich die uralten Augen auf ihn richteten. Er zitterte am ganzen Leib, doch er hielt ihrem Blick stand, und seine Stimme bebte nicht, als er leise sagte: »Wenn du nach Kleinterreille möchtest, führt dein Weg über meine Leiche.«

Dann verließ er das Arbeitszimmer.

Kurzzeitig ließ Jaenelle die Schultern hängen, dann richtete sie sich wieder auf und wandte sich Daemon zu. »Bitte geh mit ihm.«

»Warum?«, fragte Daemon eine Spur zu sanft.

Eine Andeutung von Zorn lag im starren Blick der Königin. »Weil du stark genug bist, ihn zurückzuhalten, und ich nicht möchte, dass er die anderen wegen etwas aufbringt, das ich noch nicht einmal entschieden habe.«

Es war das Erste, worum sie ihn bat, und er war nicht sicher, ob er es tun konnte. »Was geschah vor sieben Jahren?«, fragte er.

Ihr Gesicht wurde totenbleich, und ihre Antwort ließ einen Augenblick auf sich warten. »Warum fragst du nicht Lucivar? Wie er schon sagte, kann er sich besser daran erinnern als ich.«

Er zögerte ein paar Herzschläge lang. »Wie lange wirst du brauchen?«

Ihr Blick wanderte nun zu Saetan. »Wie wäre es mit einer Stunde?«

»Es wäre uns eine Freude, in einer Stunde noch einmal zusammenzukommen«, meinte Saetan.

»Na gut«, sagte Daemon. »Eine Stunde lang kann ich ihn sicher bändigen.«

Sie nickte zum Zeichen, dass sie ihn gehört hatte, und eilte aus dem Zimmer.

Daemon starrte die geschlossene Tür an. Es war ihm klar, dass Andulvar und Saetan einen Hinweis darauf erwarteten, was er zu tun gedachte. »Ich werde ihn fragen«, erklärte er leise. »Und wenn mir die Antwort nicht gefällt, wird sie auch über meine Leiche gehen müssen.« Er würde jegliche Chance aufgeben, ihr Geliebter zu werden, falls dies nötig sein sollte, um sie zu beschützen.

»Die Antwort wird dir nicht gefallen«, sagte Saetan, »aber ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen darum machen, dich Jaenelle entgegenzustellen. Sollte sie sich entscheiden, nach Terreille zu reisen, wird sie es mit dem gesamten Ersten Kreis zu tun bekommen. Da es nicht wahrscheinlich ist, dass sie sich wegen dieser speziellen Heilung mit dem Hof überwerfen wird, zeugt es nur von Respekt, der Lady die Zeit zu gewähren, um selbst zu diesem Schluss zu kommen.«

»Wenn ihr mich also entschuldigt. Ich kümmere mich wohl am besten darum, Lucivars Temperament zu zügeln.«

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Lucivar ist unglücklich*, sagte Ladvarian mit einem Blick auf Jaenelle, die den Wasserfall und die übereinander angelegten Becken anstarrte, die sie vor etlichen Jahren in diesem Innengarten errichtet hatte.

»Ich möchte nachdenken, Krieger«, meinte Jaenelle leise. »Allein.«

Der Sceltie trat unruhig hin und her, überlegte einen Moment lang und rührte sich dann nicht von der Stelle. *Er ist wütend und aufgebracht und spricht mit keinem von uns.* Diese besondere Mischung von Angst und Wut entströmte Lucivar nur, wenn Jaenelle oder Marian etwas taten, das den Eyrier in Rage versetzte. Da Marian nichts Ungewöhnliches getan hatte – das hatte er bereits überprüft –, bedeutete dies, dass Jaenelle etwas getan hatte oder tun würde.

Er fletschte die Zähne. *Jaenelle!*

Als sie sich zu ihm umwandte, erblickte er das große Stundenglas aus Ebenholz, das auf ihrer Hand ruhte. Ohne etwas zu sagen, drehte sie es um, stellte es auf den Steinrand des untersten Beckens und ging zum anderen Ende des Gartens.

Ladvarian knurrte das Stundenglas leise an.

Es fiel den verwandten Wesen schwer zu verstehen, wie die Menschen den Tag in diese kleinen Einheiten namens Stunden und Minuten einteilten. Sie hatten schnell begriffen, dass Menschenfrauen manchmal allein gelassen werden wollten, aber eine Zeit lang waren sie zu früh zurückgekehrt und waren jedes Mal angefaucht worden. Also hatten der Höllenfürst und die Lady diese Stundengläser angefertigt, weil sie leicht zu verstehen waren. Wenn der ganze Sand in die untere Hälfte gerieselt war, war die Frau wieder zum Spielen bereit. Wenn nicht, hielten sich die verwandten Wesen zurück, ohne sie zu stören.

Jaenelle hatte zwei Garnituren Stundengläser. Jede Garnitur bestand aus einem Stundenglas für eine Stunde, eine halbe und eine Viertelstunde. Die Stundengläser aus hellem Holz nahm Jaenelle zur Hand, wenn sie Zeit für sich haben wollte, man sie aber stören konnte, falls nötig. Die Garnitur aus Ebenholz benutzte Hexe, die Königin, und diese Stundengläser waren ein stillschweigender, absoluter Befehl.

Ladvarian akzeptierte seine Entlassung und trottete aus dem Garten.

Er hatte nicht vor, sich seiner Königin zu widersetzen, doch er hatte gelernt, dass Lucivar um sich schlug, wenn man ihn fest genug ins Bein zwickte. Und dann würden Ladvarian und die anderen Männer herausfinden, was die Lady plante.

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Jeder Angehörige des Blutes, der Juwelen trug, war mithilfe der Kunst in der Lage, eine Axt mühelos durch ein Holzscheit gleiten zu lassen. Während Daemon zusah, wie die Axt niedersauste, kam er zu dem Schluss, dass sich Lucivar jedoch lediglich seiner Muskelkraft und enormen Wut bediente.

Dies verriet ihm mehr als alles, was er seit seiner Ankunft in Kaeleer erlebt hatte, wie anders es war, an einem der hiesigen Höfe zu dienen. In Terreille hätte Lucivar einen Streit mit einem der anderen starken Männer angefangen, und die daraus resultierende Gewalt wäre in eine körperliche Auseinandersetzung ausgeartet, die einen Hof in Stücke reißen konnte. Hier reagierte er seine Wut beim Holzhacken ab, was dazu führte, dass die Burg im kommenden Winter über genug Feuerholz verfügen würde.

»Sie hat dich nach draußen geschickt, um mir Fußfesseln anzulegen?«, stieß Lucivar zornig hervor, wobei er erneut die Axt schwang.

»Was passierte vor sieben Jahren, Lucivar?«, erkundigte Daemon sich ruhig. »Wieso hast du etwas dagegen, dass Jaenelle jemanden in Kleinterreille heilt?«

»Du wirst mich nicht umstimmen können, Bastard.«

»Ich habe kein Interesse daran, dich umzustimmen. Ich möchte bloß wissen, warum ich kurz davor stehe, mich dem Wunsch meiner Königin zu widersetzen.«

Die Axt sauste mit so viel Schwung herab, dass sich die Klinge in den Hackblock grub.

Lucivar rief ein Handtuch herbei und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Vor sieben Jahren war sie in Kleinterreille zu Besuch, ein Zugeständnis an den Dunklen Rat. Ein Kind war schwer verletzt worden, und man bat sie darum, es zu heilen. Wer immer dahinter steckte, machte seine Sache gut. Die Verletzung war so stark, dass der Heilungsprozess sie körperlich und mental erschöpfen musste, doch nicht so schlimm, dass sie Heilerinnen von außerhalb Kleinterreilles um Hilfe gebeten hätte. Denn wenn sie Gabrielle oder Karla herbeigerufen hätte, wäre Geleitschutz mit ihnen gekommen. Als sie das Kind geheilt hatte, verabreichte ihr jemand etwas zu essen oder ein Getränk, das mit Drogen versetzt war. Da sie völlig erschöpft war, bemerkte sie nichts. Es machte sie gefügig genug, um zu tun, was man ihr befahl – und man befahl ihr, einen Heiratsvertrag zu unterzeichnen.«

Die Kälte rann süß und tödlich durch Daemons Adern. Du warst nicht hier. Du kannst nicht behaupten, hintergangen worden zu sein, denn du warst nicht hier. Es war gleichgültig. Ein Gefährte war im Grunde nur dazu da, ihr körperlich gefällig zu sein. Doch ein Ehemann … »Wo ist er also?«, fragte er mit trügerischer Ruhe.

Lucivar hielt das Handtuch umklammert. »Er hat den Vollzug der Ehe nicht überlebt.«

»Du hast dich darum gekümmert? Danke.«

»Er war schon tot, als ich dort ankam.« Lucivar schloss die Augen und schluckte hart. »Beim Feuer der Hölle, Daemon, sie hat ihn im ganzen Zimmer verteilt.« Er schlug die Augen wieder auf. Die Trostlosigkeit darin ließ Daemon erschaudern. »Abgesehen von der anderen Droge hatten sie ihr auch noch eine große Dosis Safframate eingeflößt.«

Kurzzeitig war Daemons Körper wie betäubt. Er wusste nur zu gut, was Safframate einem Menschen antun konnte. »Du hast dich um sie gekümmert?« Womit gemeint war: Du hast ihr den Sex gegeben, den sie brauchte? In seinem Innern war kein Raum mehr für Eifersucht oder das Gefühl, hintergangen worden zu sein; nur die verzweifelte Hoffnung, dass Lucivar das Nötige getan hatte.

Lucivar blickte zur Seite. »Ich ging mit ihr in Askavi auf die Jagd.«

Daemon starrte seinen Bruder lediglich an und ließ die Tragweite jener Worte auf sich wirken. »Du bist als Köder mit ihr gegangen?«

»Was sollte ich tun?«, fuhr Lucivar ihn an. »Sie im Schwarzen Askavi eingesperrt leiden lassen? Blutvergießen erleichtert die Schmerzen, die das Safframate verursacht, ebenso wie Sex.« Er hielt inne, um tief Luft zu holen und sich wieder zu beruhigen. »Es war nicht leicht, aber wir haben überlebt. «

Daemon begriff, dass dies alles war, was Lucivar über eine Zeitspanne zu sagen bereit war, die für ihn der reinste Albtraum gewesen sein musste.

»Danach war sie nur zweimal in Kleinterreille, und zwar nur mit einer vollständigen bewaffneten Eskorte, mich eingeschlossen«, meinte Lucivar. »Seitdem sie offiziell ihren Hof errichtet hat, ist sie gar nicht mehr dort gewesen.«

»Ich verstehe«, sagte Daemon leise. »Es ist beinahe an der Zeit, ihre Entscheidung anzuhören. Möchtest du dich vorher frisch machen?«

»Wozu denn?«, erwiderte Lucivar mit einem grimmigen Lächeln. »Sobald ich ihren Entschluss vernommen habe, bin ich sowieso wieder hier draußen.«

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Kann ich dir helfen?«

Osvald, der Beistand, biss die Zähne zusammen und bemühte sich um ein Lächeln, als er sich zu dem Lakaien umdrehte. Beim Feuer der Hölle, gab es denn an diesem Ort nicht einen einzigen Mann, der es nicht auf einen Kampf abgesehen hatte? »Ich muss mich wohl verlaufen haben und dachte mir bei der Gelegenheit, ich könnte die Gemälde in diesem Teil der Burg bewundern.«

»Es wäre mir ein Vergnügen, dich zurück auf dein Zimmer zu geleiten«, meinte Holt mit eisiger Höflichkeit.

In Terreille hätte Osvald den Lakaien allein schon für dessen Mangel an Unterwürfigkeit auspeitschen lassen können. Abgesehen davon würden die Dienstboten in Terreille ihre Juwelen nicht so offen zur Schau stellen, dass ihre Vorgesetzten gezwungen waren, von ihren Kräften Notiz zu nehmen. Es ärgerte ihn, dass er, der er in der Gunst der Hohepriesterin von Hayll stand, zugeben musste, dass ein bloßer Lakai ein Krieger war, der Opal trug.

»Hier entlang«, sagte Holt in dem Augenblick, als Wilhelmina aus ihrem Zimmer trat.

Insgeheim stieß Osvald Verwünschungen aus. Wenn Holt nur ein paar Minuten später aufgetaucht wäre, hätte er sich das Luder schnappen und mit ihr von der Burg verschwinden können.

Da glitt die gewaltige gestreifte Raubkatze aus dem Gemach und richtete unerschrocken den Blick auf ihn. Mit einem Mal war er Holt für dessen Gegenwart dankbar. Als die Katze die Lefzen zu einem Fauchen verzog, bedurfte es keiner weiteren Aufforderung. Er grüßte Wilhelmina höflich – und empfand große Erleichterung, als sie seinen Gruß derart automatisch erwiderte, dass es klang, als seien sie zumindest oberflächlich miteinander bekannt. Auf diese Weise reagierten die anderen Luder hier nur auf Männer, die sie relativ gut kannten. Bei jedem anderen Mann kam es zu einer kurzen Pause, die praktisch »Fremder« zu brüllen schien.

Das konnte ihm zum Vorteil gereichen, dachte er, während er Holt zurück in den Flügel folgte, in dem man Alexandra und ihr Gefolge untergebracht hatte. Es würde nicht auffallen, wenn ein Begleiter eine Botschaft von einer Lady zur anderen brachte – besonders, wenn man davon ausging, dass er schon seit mehreren Jahren im Dienst der betreffenden Familie stand.

Ja, das könnte wunderbar funktionieren.

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Wenn sie zusammenarbeiten, sind sie sehr gefährlich*, meinte Andulvar zu Saetan, indem er sich eines schwarzgrauen Kommunikationsfadens bediente.

Als Saetans Blick auf Lucivar und Daemon fiel, begriff er Andulvars Aussage. Alle Kriegerprinzen waren gefährlich, aber wenn zwei Männer mit einander ergänzenden Stärken ihre Kräfte vereinten … *Genau wie wir in ihrem Alter*, antwortete er trocken. *Das sind wir immer noch.*

*Wenn es je zu einem Kampf kommen sollte, würde ich nicht gegen die beiden antreten wollen*, sagte Andulvar nachdenklich.

Jegliche Belustigung, die Saetan verspürt hatte, war wie weggefegt. Sein Herz wollte rufen: Sie werden niemals unsere Feinde sein! Es sind meine Kinder, meine Söhne! Doch ein anderer Teil von ihm – der Teil, der dafür verantwortlich war, die mögliche Gefahr abzuschätzen, die von einem anderen starken Mann ausging – konnte sich nicht so sicher sein. Er war sich sicher gewesen, als Lucivar noch alleine gewesen war. Doch Daemon …

Lucivar hatte eine brutale Kindheit erlebt, doch auf gewisse Art und Weise hatte es sich um eine Brutalität gehandelt, mit der er hatte umgehen können. Er war erst in die Fänge eines Hofes geraten, als er zum Jüngling herangewachsen war. Doch Daemon war an Dorotheas Hof aufgewachsen, und er hatte die perversen Lektionen, die man ihm dort beigebracht hatte, in sich aufgenommen, sie zu einem Teil seiner selbst gemacht und sie schließlich als Waffe eingesetzt.

Obgleich Lucivar gegen einzelne Personen angekämpft haben mochte, war er in der Lage gewesen, der Familie und dem Hof gegenüber echte Loyalität zu entwickeln. Saetan hegte jedoch den starken Verdacht, dass Daemons Loyalität immer nur oberflächlich bleiben würde, dass die einzige Loyalität, auf die sie sich verlassen konnten, seine Hingabe an Jaenelle war. Das bedeutete, dass Daemon im Namen dieser Loyalität alles tun würde. Somit war sein Sohn mit äußerster Vorsicht zu genießen.

Es half nicht gerade, dass Jaenelle sich dem Fuchs Daemon gegenüber wie ein Kaninchen verhielt. Bei jedem anderen Mann hätte Saetan sich vielleicht köstlich über diese Art der Jagd amüsiert; die anderen Männer amüsierten sich auf alle Fälle, das war ihm klar, und er wusste auch, warum sie sich derart über Jaenelles Reaktion auf Daemon freuten. Doch er konnte sich nicht vorstellen, dass Daemon die Angelegenheit auch nur im Entferntesten amüsant fand, und er fragte sich, was geschehen würde, wenn sein Sohn letzten Endes die Beherrschung verlor – und wer unter seiner Wut zu leiden haben würde.

Als Jaenelle das Arbeitszimmer betrat, schob Saetan das Problem, das sich in dieser Form noch nicht gestellt hatte, gedanklich beiseite und widmete sich den Schwierigkeiten, die bereits auf der Türschwelle warteten.

»Höllenfürst«, meinte Jaenelle formell.

»Lady«, entgegnete Saetan nicht weniger förmlich.

Sie atmete tief durch und wandte sich an Lucivar. »Prinz Yaslana, mein Erster Begleiter, ich möchte, dass du dich um eine Unterbringungsmöglichkeit für mich und eine kleine Eskorte in der Nähe der Grenze von Kleinterreille kümmerst. Keine Herberge. Ein Privathaus oder eine Wachstation. Ein Ort, an dem Verschwiegenheit herrscht. Es kann in einem Territorium deiner Wahl sein. Den Zeitpunkt des Treffens überlasse ich dir – allerdings darf er nicht in den nächsten drei Tagen liegen.«

Er stand zu weit von ihr entfernt, um den Geruch zu wittern, doch das plötzliche Auflodern in Daemons Augen und die Härte in Lucivars Blick verrieten ihm, dass ihre Mondblutung eingesetzt hatte. Am liebsten hätte Saetan ein Seufzen von sich gegeben. Beim Feuer der Hölle, wie sollte er Daemons instinktive Aggressivität zügeln, wenn er mit seiner eigenen zu kämpfen hatte? Hexen waren an den ersten drei Tagen ihrer Mondzeit verletzlich, weil sie ihre Juwelen nicht tragen konnten und nur sehr einfache Dinge mithilfe der Kunst vollbringen konnten, ohne selbst körperliche Schmerzen zu erleiden. Ein Kriegerprinz drohte jederzeit in den Blutrausch zu geraten, solange seine Königin verletzlich war.

»Du musst niemandem etwas über die Vorkehrungen erzählen, die du treffen wirst«, fuhr Jaenelle fort. »Obgleich du der Höflichkeit halber den Haushofmeister, den Hauptmann der Wache und den Gefährten darüber unterrichten solltest. Der Haushofmeister wird sich an Lord Jorval wenden, um einen Treffpunkt in Kleinterreille zu vereinbaren.«

»Wozu einen sicheren Zufluchtsort organisieren, wenn du sowieso nach Kleinterreille gehst?«, fragte Lucivar, doch Saetan fiel auf, dass er sich große Mühe gab, respektvoll zu klingen.

»Weil ich nach Kleinterreille gehen werde, ohne nach Kleinterreille zu gehen. Das wird die Sorgen des Hofes um mein Wohlergehen besänftigen und es mir dennoch erlauben, mich mit dieser Person zu treffen.«

Lucivar verengte abwägend die Augen. »Du könntest einfach ablehnen.«

»Ich habe meine Gründe, es zu tun«, entgegnete Jaenelle mit ihrer Mitternachtsstimme.

Und das, wusste Saetan, würde in Lucivars Augen den Ausschlag geben.

Doch Lucivar musterte sie noch immer eingehend. »Wenn ich einwillige, dürfen wir uns dann die nächsten drei Tage um dich kümmern, ohne angefaucht zu werden?«

Mehr brauchte es nicht, um die Königin zurück in eine zornerfüllte, Gift und Galle spuckende kleine Schwester zu verwandeln. »Wer ist wir?«, wollte sie unheilvoll wissen.

»Die Familie.«

Saetan fragte sich, ob nur ihm aufgefallen war, wie Daemon seinen Bruder anstarrte. Wenn Blicke töten könnten … Ob Lucivar sich im Klaren darüber war, dass seine Forderung dem Gefährten der Königin nicht zusagte, egal, ob Lucivar ihn zur Familie dazugerechnet hatte oder nicht?

»Papa!« Jaenelle wirbelte zu ihm herum.

»Hexenkind?«, erwiderte er freundlich. Allerdings konnte er spüren, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, als sich Daemons Gesicht in eine kalte, ausdruckslose Maske verwandelte.

Kurz darauf drehte Jaenelle sich wieder zu Lucivar um. »In Grenzen«, fuhr sie ihn an. »Und ich darf bestimmen, wo diese Grenzen liegen.«

Als Lucivar sie nur angrinste, stürmte sie aus dem Arbeitszimmer. Das Grinsen verblasste, als sein Blick zu Andulvar wanderte. »Da du der Hauptmann der Wache bist, hätte sie dich bitten sollen, die Vorkehrungen zu treffen.«

Andulvar zuckte mit den Schultern. »Das steckt mein Ego weg, Kleiner. Sie ist eine zu gute Königin, als dass sie die Bedürfnisse der Männer nicht verstehen würde, die ihr dienen. Im Moment hast du es nötiger, die Vorbereitungen zu treffen, als ich.« Sein Lächeln nahm eine gefährliche Note an. »Aber wenn du mich nicht auf dem Laufenden halten solltest, werde ich in der Tat verletzt sein.«

»Wenn du jetzt gleich ein bisschen Zeit hast, könnten wir uns eine Landkarte ansehen«, schlug Lucivar vor.

»Du lernst schnell, Kleiner.« Andulvar legte Lucivar einen Arm um die Schultern und führte ihn aus dem Arbeitszimmer. »Du lernst schnell.«

Als Daemon keine Anstalten machte, ebenfalls zu gehen, lehnte sich Saetan an den Ebenholzschreibtisch. »Hast du etwas auf dem Herzen, Prinz?«

»Es ist mir verdammt noch mal egal, welche Familienbande Lucivar und du vorgeblich zu ihr habt. Ich bin nicht ihr Bruder«, sagte Daemon mit gefährlicher Ruhe.

»Das hat auch niemand behauptet. Der Umstand, dass ich ihr Adoptivvater bin, und du zufälligerweise mein Sohn, ist völlig irrelevant. Du hast sie nie als deine Schwester betrachtet, und sie dich nie als ihren Bruder. Daran hat sich nichts geändert.«

Die Kälte in Daemons Augen schmolz dahin, bis nur mehr Trostlosigkeit übrig blieb. »Sie mag mich nicht als ihren Bruder betrachten, aber sie will auch nicht, dass ich etwas anderes bin.«

Saetan wurde hellwach. »Das stimmt nicht.«

In Daemons leisem Lachen lag bitterer Kummer. »Normalerweise brauche ich nicht einmal eine Stunde, um eine Frau zu verführen, wenn ich es darauf anlege. Und gewöhnlich nicht mehr als zwei, wenn ich es nicht darauf anlege. Aber die meiste Zeit über bin ich nicht einmal in der Lage, Jaenelle nahe genug zu kommen, um mit ihr zu reden!«

Dass Daemon derart offen von seinen Verführungskünsten sprach, jagte Saetan einen eiskalten Schauder über den Rücken. Da die Leute früher nicht gewusst hatten, dass sie über seinen Sohn redeten, waren Saetan genügend Geschichten über den Sadisten zu Ohren gekommen, um ihn mit einem gewissen Unbehagen zu erfüllen. Jene Fähigkeiten im Schlafzimmer waren ein zweischneidiges Schwert, genauso wie der Mann, der sie besaß.

Wenn Daemon sich dazu getrieben fühlte, diese Künste vorzeitig einzusetzen …

Saetan verschränkte die Arme, um das leichte Zittern in seinen Händen zu verbergen. »Die anderen im Ersten Kreis finden das kleine Katz- und Mausspiel zwischen dir und Jaenelle sehr amüsant.«

»Tatsächlich?«, erkundigte Daemon sich mit gespielter Ruhe.

»Und ich, ehrlich gesagt, ebenfalls.« Oder zumindest würde ich das, wenn ich mir sicher sein könnte, dass du mir nicht an die Gurgel springst, bevor ich mit dir fertig bin.

In Daemons goldenen Augen lag ein gelangweilter, schläfriger Blick, den Saetan nur zu gut kannte – denn er hatte ihn bei verschiedenen Gelegenheiten in einem Spiegel in seinen eigenen Augen gesehen.

»Tatsächlich?«, fragte Daemon.

»Vor zwei Tagen fragte Jaenelle mich nach meiner Meinung, was das Kleid betraf, das sie zum Abendessen tragen wollte.«

»Ich kann mich an das Kleid erinnern. Es war bezaubernd.«

»Es freut mich, dass du es zu schätzen wusstest.« Saetan hielt inne. »In den dreizehn Jahren, in denen Jaenelle hier lebt, hat sie sich noch nie ausreichend Gedanken um ihre Kleidung gemacht, um mich um mein Urteil zu bitten. Und ich darf hinzufügen, dass sie mich nicht um meine Meinung als Haushofmeister oder Vater bat, sondern um meine Meinung als Mann! Und zugegebenermaßen hätte sich meine väterliche Meinung maßgeblich von meiner Meinung als Mann unterschieden. «

Daemon musste beinahe lächeln.

»Sie betrachtet dich als Mann, Daemon. Als Mann, nicht als männlichen Freund. Aber sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben mit ihrem eigenen sexuellen Verlangen konfrontiert, also nimmt sie Reißaus.«

»Aber sie muss doch nicht alleine mit ihrem Verlangen fertig werden«, murmelte Daemon. Der schläfrige Blick war hellwacher Aufmerksamkeit gewichen. »Schließlich bin ich ihr Gefährte. Sie könnte einfach …«

Saetan schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, Jaenelle würde das von dir verlangen?«

»Nein.« Daemon fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Seufzend fragte er schließlich:«Was kann ich tun?«

»Du musst nichts weiter tun, als was du bisher auch schon getan hast.« Saetan dachte einen Augenblick lang nach. »Weißt du, wie man einen Trank herstellt, um die Mondzeitbeschwerden zu lindern?«

»Ich kenne ein paar Rezepte.«

Saetan lächelte. »In dem Fall schlage ich vor, dass der Gefährte einen davon für seine Lady braut. Nicht einmal Jaenelle könnte behaupten, das überschreite die Grenzen, innerhalb derer man sich um sie kümmern darf.«

7 e9783641062019_i0043.jpg Kaeleer

Leise fluchend blieb Surreal im Türrahmen des Esszimmers stehen. Die einzigen Leute, die sich in dem Raum befanden, waren Alexandra und ihr Gefolge.

Beim Feuer der Hölle! Warum hatte Jaenelle nicht alles beim Alten belassen können? Die Mahlzeiten waren auf jeden Fall entspannter, und die Gespräche bei Tisch interessanter gewesen, als Alexandra und ihre Leute noch für sich gegessen hatten. Als Surreal Saetan darauf hingewiesen hatte, hatte er ihr erklärt, es sei Jaenelles Einfall gewesen, Alexandra und die anderen mit ihnen speisen zu lassen. Anscheinend hoffte sie, sie würden auf diese Weise ein wenig Verständnis für die Verhältnisse in Kaeleer entwickeln.

Die Absicht mochte löblich gewesen sein, dachte Surreal verärgert, als sie auf den Tisch zuging, doch in Wirklichkeit hatte das Experiment erbärmlich versagt. Nicht ein einziger Gast, von Alexandra bis hinab zu deren niedrigstem Begleiter, wollte auch nur im Geringsten begreifen, was die Angehörigen des Blutes aus Kaeleer so verschieden machte. Die Mahlzeiten tagsüber waren am schlimmsten, weil Saetan ihnen nicht offiziell vorsaß.

Am Tisch angekommen, erntete sie Blicke von den beiden Provinzköniginnen Vania und Nyselle, die eine Mischung aus selbstgefälliger Überheblichkeit und Abscheu ausdrückten. Sie hätte sich persönlich gekränkt gefühlt, wenn ihr nicht bewusst gewesen wäre, dass sie sämtliche Hexen auf diese Weise ansahen – selbst Königinnen, die in der Bluthierarchie weit über ihnen standen.

Dann wanderte Vanias Blick zurück zur Tür, und ein Ausdruck raubtierhafter Gier huschte über ihr Gesicht.

Surreal beobachtete, wie Aaron im Türrahmen stehen blieb – ein Mann, dem eben das Datum seiner Hinrichtung bekannt gegeben wurde, sah in etwa genauso aus. Da sie davon ausging, dass er nicht noch eine Frau gebrauchen konnte, die ihn unverhohlen anstarrte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tisch zu.

Es erregte ihr Interesse, wie sich die Gruppe verteilt hatte. Alexandra, Philip und Leland saßen am einen Ende der Tafel. Nyselle hatte sich am anderen niedergelassen, ihren Gefährten und die Begleiter um sie herum. Vanias Gefährte saß zu ihrer Linken und blickte unglücklich drein. Der Stuhl rechts von Vania war leer, ebenso diejenigen ihr gegenüber.

Außerdem fand Surreal es interessant, dass die Servierteller auf dem Tisch standen. Normalerweise türmten sich Frühstück und Mittagessen auf der gewaltigen Anrichte, sodass sich jeder den Teller füllen und sich auf einem Stuhl seiner Wahl niederlassen konnte. Das Abendessen war die einzige Mahlzeit, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eingenommen wurde und bei der Lakaien das Essen servierten. An diesem Tag war das Mittagessen jedoch im kleinen Rahmen angerichtet, als erwarte man nur wenige Leute.

Das war in Ordnung, dachte Surreal, während sie sich daran machte, sich Speisen von den Serviertellern in ihrer Nähe aufzutun. Es war völlig in Ordnung – solange die anderen alle lieber Hunger litten, als mit den Gästen essen zu müssen. Doch sollte sie herausfinden, dass anderenorts stillschweigend ein weiteres Mittagsmahl serviert wurde, würde sie ein paar Takte mit einer gewissen Person reden müssen, weil man versäumt hatte, ihr Bescheid zu geben!

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte Aaron leise, als er sich zu ihr gesellte.

Um ein Haar hätte sie ihn scharf darauf hingewiesen, dass es genug andere freie Stühle gab, als sie den gehetzten Blick in seinen Augen bemerkte.

Er trat näher, als deute er ihr Schweigen als Einverständnis. Nahe genug, so dass sie spüren konnte, wie seine Muskeln vor Anspannung zitterten, während er versuchte, starke Gefühlsregungen unter Kontrolle zu halten.

»Warum setzt du dich nicht hierher?«, sagte Vania mit einem neckisch-verschämten Lächeln und klopfte auf den Sitz rechts von sich.

Tja, das erklärte wohl den gehetzten Blick.

Im Laufe ihres Aufenthalts auf der Burg hatte Surreal beobachtet, dass die Männer – vom niedrigsten Diener bis zum Höllenfürsten persönlich – genaue Vorstellungen davon hatten, wie nah man ihnen kommen durfte. Die kalte Höflichkeit, die sie einer Frau gegenüber an den Tag legen konnten, wenn die entsprechende Distanz nicht eingehalten wurde, war normalerweise Abschreckung genug Die Männer im Ersten Kreis ließen es nicht nur über sich ergehen, von sämtlichen Hexen des Ersten Kreises umgeben und angefasst zu werden, sie begrüßten diese freundschaftliche Intimität sogar. Doch sie begrüßten es nicht, wenn sie von irgendjemand anderem kam.

Er betrachtet mich als eine der ihren, durchzuckte es Surreal freudig. Er geht davon aus, dass ich keine Gefahr darstelle. Deshalb brachte sie ihr »Selbstverständlich« so freundlich wie möglich hervor; was ihn aus irgendeinem Grund zu beunruhigen schien.

Ich war eine gute Hure, schoss es ihr durch den Kopf, während sie nach der Serviergabel und dem Tranchiermesser griff, die auf dem Teller mit dem Truthahnbraten lagen. Eine verdammt gute Hure sogar! Warum fehlt mir dann auf einmal jegliches Verständnis für die männliche Psyche?

»Könnte …«

Surreal wandte sich Aaron zu, das Tranchiermesser knapp über dem Truthahn. »Du warst nicht dabei anzudeuten, dass ich nicht mit einem Messer umzugehen weiß, oder, Süßer?«

Aaron riss die Augen auf. »Ich wäre niemals so töricht anzudeuten, eine Hexe der Dea al Mon könnte nicht mit einem Messer umgehen«, sagte er in einem verdächtig unterwürfigen Tonfall. »Ich wollte dich lediglich bitten, mir auch eine Scheibe abzuschneiden.«

»Natürlich wolltest du das«, versetzte sie spitz. Sie konnte spüren, wie er sich innerlich entspannte, und verwünschte insgeheim, wie irrational und unlogisch sich Männer verhielten. Noch während sie die Truthahnbrust tranchierte, überlegte sie, dass die Männer hier vielleicht einfach so sehr an die herbe Süße im Charakter einer Hexe gewöhnt waren, dass sie die Mischung beruhigend fanden. Vielleicht handelte es sich um einen Geschmack, an den man sich erst gewöhnen musste, wie an Essigbeeren.

Der Gedanken brachte sie zum Lachen.

Nachdem Surreal Serviergabel und Tranchiermesser auf den entsprechenden Teller zurückgelegt hatte, machte sie sich über ihr Essen her. Das Tischgespräch versandete immer mehr, was sie begrüßte – insbesondere, da Vanias Bemerkungen ausnahmslos an Aaron gerichtet waren, und seine Antworten so knapp ausfielen, dass es schon an Unverschämtheit grenzte.

In der Hoffnung, die allgemeine Anspannung in eine andere Richtung umzulenken, hob Surreal den Blick, da sie Alexandra fragen wollte, wann sie und ihre Entourage abreisen würden. Doch sie sagte nichts, weil sie nicht umhinkonnte, Vania anzustarren. In den Augen der Frau stand eine lodernde Wut, die direkt auf Aaron abzielte.

Nachdem Vania eine weitere Minute in ihrem Essen herumgestochert hatte, stieß sie den Teller von sich und lächelte verschlagen. »Also wirklich, ich bin im Moment einfach zu müde, um auch nur einen Bissen hinunterzubekommen. Aaron hat mich heute Morgen derart auf Trab gehalten!«

Es dauerte einen Augenblick zu lange, bis Surreal die Bedeutung der Bemerkung verstanden hatte.

Unter Wutgeschrei warf sich Aaron über den Tisch, packte Vania an den Haaren und zerrte sie zu sich. Mit der Linken griff er nach dem Tranchiermesser und richtete es auf ihren Hals.

Surreal hielt Aarons linkes Handgelenk mit beiden Händen umklammert und zog so kräftig wie möglich daran. Ein paar Zentimeter ließ er sie gewähren, dann spannten sich seine Muskeln an, und sein Arm schnellte erneut vor.

Die Spitze des Messers fand Vanias Hals. Sie schrie auf, als das Blut aus der Wunde zu fließen begann.

Surreal ließ die Macht ihrer grauen Juwelen in ihre Hände fließen, um zusätzliche Kraft zu erhalten, doch Aaron umgab eine Art hautenger Schild, der die Energien einfach schluckte.

Na gut. Muskel gegen Muskel. Sie würde ihn die paar Sekunden zurückhalten können, welche die Männer an der Tafel benötigen würden, um ihr zu Hilfe zu kommen.

Doch niemand rührte sich!

Da erhaschte sie einen Blick auf Aarons Gesicht und wusste mit einem Mal, dass sich keiner der übrigen Anwesenden einem Kriegerprinzen nähern würde, der derart kalt und erbarmungslos aussah.

Sie gab sich noch mehr Mühe und hielt sich verbissen mit der anderen Hand am Tisch fest, um seine Hand mit dem Messer von Vanias Hals wegzuzerren. Es war ihr völlig gleichgültig, ob er Vania die verfluchte Kehle durchschnitt, aber sie wollte nicht, dass er sich Ärger einhandelte, bloß weil dieses Miststück ihn gereizt hatte.

*Surreal?*, sagte Graufang ängstlich.

*Hilf mir!*

Der Wolf musste sich in der Nähe aufgehalten haben, denn wenige Sekunden nach ihrem Rufen war er im Esszimmer.

*Surreal …*

*Steh nicht rum! Tu etwas!*

*Aaron ist im Ersten Kreis*, winselte Graufang. *Ich kann Aaron nicht beißen.*

*Dann treib jemanden auf, der es kann!*

Graufang stürzte aus dem Zimmer.

Am liebsten hätte sie das Messer mithilfe der Kunst verschwinden lassen, doch Aaron hatte seinen verdammten Schild auch auf die Waffe ausgeweitet. Sie kam nicht an das Messer heran und war noch nicht einmal in der Lage, ihm das Handgelenk zu brechen, um ihn von der Tat abzuhalten.

Als sich ihr Griff einen Augenblick lang lockerte, reichte ihm die Zeit, um Vania eine weitere Stichwunde am Hals zuzufügen.

Dann war auf einmal Chaosti da, der die Hände fest um Aarons rechtes Handgelenk legte. Lucivars Hände schlossen sich über Surreals und verstärkten ihre Anstrengungen.

Blind vor Wut setzte Aaron sich gegen sie zur Wehr, Mordlust in den Augen.

»Verflucht noch mal, Aaron«, knurrte Lucivar. »Zwing mich nicht dazu, dir das Handgelenk zu brechen.«

Na, viel Glück uns allen, dachte Surreal verdrießlich, als sich Lucivars Hände fester um die ihren legten. Sie konnte nur hoffen, dass er sich daran erinnerte, dass ihre Hände im Weg waren, bevor er sich daran machte, Aarons Knochen zu brechen.

Aaron schien längst nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Worte wahrzunehmen, doch er reagierte auf die Mitternachtsstimme, die sagte: »Prinz Aaron, hierher

Der Kriegerprinz begann unkontrolliert zu zittern. Rasch entriss Lucivar ihm das Tranchiermesser und ließ es verschwinden. Chaosti stemmte die Finger an Aarons rechter Hand auf, sodass dieser Vanias Haar losließ.

Vania schrie immer weiter – erst jetzt fiel Surreal auf, dass die Königin seit dem ersten Messerstich geschrien hatte.

»Ruhe.«

Auf der Stelle waren die Gläser auf dem Tisch von einer Eisschicht überzogen. Vania warf einen Blick in Jaenelles Richtung und verstummte.

»Prinz Aaron«, meinte Jaenelle eine Spur zu sanft. »Hierher. «

Aaron zuckte zusammen und richtete sich langsam auf. Chaosti und Lucivar ließen ihn los und traten zur Seite.

Totenbleich ging Aaron zu Jaenelle hinüber und sank vor ihr auf die Knie.

»Warte im Arbeitszimmer des Höllenfürsten auf mich«, befahl Jaenelle.

Mühsam erhob sich Aaron und verließ das Esszimmer.

Surreal sah in die eisigen Saphiraugen und konnte das leise Aufflackern einer immensen, kaum gezähmten Wut spüren, die sie erzittern ließ. Ihre Beine gaben nach, und sie musste sich auf den Tisch setzen.

Langsam kam Jaenelle auf den Tisch zu und richtete den Blick auf Lucivar. »Du wusstest davon.«

Lucivar atmete mehrmals flach durch, bevor er zu einer Antwort ansetzte. »Ich wusste davon.«

»Und du hast nichts dagegen unternommen.«

Er schluckte hart. »Ich hatte gehofft, es ließe sich im Stillen regeln.«

Jaenelle starrte ihn nur an. »Ich erwarte dich in einer halben Stunde im Arbeitszimmer des Höllenfürsten, Prinz Yaslana.«

»Ja, Lady.«

Als Nächstes schlugen die Saphiraugen Chaosti in ihren Bann. »Und dich anschließend.«

»Mit Vergnügen, Lady«, erwiderte Chaosti mit heiserer Stimme.

Oh, das möchte ich stark bezweifeln, dachte Surreal, die immer noch zitterte.

Dann sah Jaenelle Vania an – und die Kälte um sie her begann zu brennen.

»Solltest du jemals wieder einem meiner Männer auch nur den geringsten körperlichen, mentalen oder emotionalen Schaden zufügen, werde ich dich an deinen Fersen aufhängen und dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.«

Niemand sprach oder rührte sich, bis Jaenelle aus dem Zimmer gegangen war.

Könnte sie das tun?, fragte Surreal sich. Sie war sich nicht darüber im Klaren, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte, bis Lucivar ein Geräusch ausstieß, dass wie eine Mischung aus Lachen und Weinen klang.

»In der Stimmung, in der sie sich gerade befindet? Sie könnte es nicht nur tun, sie würde sich noch nicht einmal die Mühe machen, ein Messer zu benutzen.«

Surreals Blick fiel auf ihre eigenen Hände. Nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte, fragte sie sich, ob es jemanden stören würde, wenn sie sich auf den Boden übergab.

»Surreal?« Lucivars Hand zitterte, als er ihren Kopf hob.

Er hat panische Angst. Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben!

»Surreal? Bist du verletzt?«

Die dringende Sorge in seiner Stimme ließ sie wieder ganz zu sich kommen. »Verletzt? Nein, ich glaube nicht …«

»Dein Gesicht und dein Hals sind blutverschmiert.«

»Oh!« Ihr wurde übel. »Ich muss Spritzer abbekommen haben, als …« Auf einmal schien es ihr eine ausgezeichnete Idee zu sein, den Mund nicht weiter zu öffnen.

Lucivar blickte über die Schulter. »Falonar?«

»Prinz Yaslana«, kam Falonars leise Antwort.

»Deine einzige Aufgabe heute Nachmittag besteht darin, dich um Lady Surreal zu kümmern.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Lady Vania braucht eine Heilerin«, meinte einer der Begleiter verzweifelt.

»Verflixt!«, sagte Surreal, die auf einmal das Gefühl hatte, leicht angetrunken zu sein. »Die Leute hier sind doch tatsächlich am Leben. Sie können sprechen und sich bewegen. Als sie vor ein paar Minuten wie die Salzsäulen dasaßen, hatte ich so meine Zweifel. Wirklich.«

»Halt den Mund, du Luder!«, schrie einer der Begleiter.

Lucivar, Chaosti und Falonar knurrten den Mann wütend an.

»Ich schlage vor, ihr bittet Lord Beale, die Heilerin aus Halaway kommen zu lassen«, meinte Lucivar kalt.

»Auf der Burg muss es doch gewiss eine Heilerin geben!« Alexandra klang entrüstet.

»Da wären Lady Gabrielle und Lady Karla«, erwiderte Lucivar. »An eurer Stelle würde ich im Moment allerdings keine von beiden fragen.«

»Ihr könntet euch natürlich jederzeit an Jaenelle wenden«, fügte Surreal mit einem giftigen Lächeln hinzu.

Ängstliches Schweigen folgte ihrer Bemerkung.

Alexandra und ihr Gefolge verließen hastig das Zimmer, wobei Vania von zwei Begleitern gestützt wurde. Lucivar und Chaosti warfen Falonar einen eindringlichen Blick zu, bevor sie sich zurückzogen.

Vorsichtig näherte sich Falonar Surreal. »Das hier muss … bedrückend … für dich gewesen sein.« Er sah aus, als habe man ihn gezwungen, in eine Kröte zu beißen. »Brauchst du Riechsalz oder etwas Ähnliches?«

Surreal verengte die Augen zu Schlitzen. »Süßer, ich bin von Beruf Kopfgeldjägerin. Ich habe schon Schlimmeres als das hier an einem Esstisch gesehen.«

»Ich meinte nicht …« Er blickte auf den blutverschmierten Tisch.

»Oh!« Zumindest war er klug genug zu wissen, dass nicht Aaron sie in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Nichts passiert«, entgegnete sie. Nun war es an ihr, eine Pause einzulegen. »An jedem anderen Tag, würde ich versuchen, den Mann zu einer Runde verschwitztem Sex am Nachmittag einzuladen, bloß um mich ein paar Stunden ablenken zu können. Doch ich glaube nicht, dass Sex heute so eine gute Idee wäre.«

In Falonars Augen flackerte überraschtes Interesse auf, und in seiner Stimme lag Bedauern. »Nein, es wäre wohl keine so gute Idee … heute.«

»Warum üben wir dann nicht noch ein wenig mit den Stangen? Ich würde gerne eine Zeit lang aus diesem Gebäude verschwinden. «

Falonar nickte nachdenklich. »Mit einem Messer kannst du umgehen?«

Surreal lächelte. »Mit einem Messer kann ich umgehen.« Sie warf einen Blick auf seine Lendengegend. »Speere weiß ich auch sehr gut zu handhaben.«

Er errötete tatsächlich ein wenig. »Bogen?«

Immer noch lächelnd schüttelte sie den Kopf.

»Eine neue Fertigkeit erfordert Konzentration.«

»Alte Fertigkeiten ebenso … wenn man alles genau richtig machen will.«

Er errötete noch tiefer, während sein Interesse immer weiter wuchs.

Surreal erhob sich. »Konzentrieren wir uns auf eine neue Fertigkeit.«

»Und diskutieren die Möglichkeit, demnächst alte Fertigkeiten zu üben?«

»Auf jeden Fall!«

Gemeinsam flohen sie so rasch wie möglich vor der wachsenden Wut, welche allmählich die Burg erfüllte.

8 e9783641062019_i0044.jpg Kaeleer

Daemon blieb vor Jaenelles Wohnzimmer stehen. Nachdem er tief Luft geholt und die Schultern gestreckt hatte, klopfte er an die Tür.

Keine Antwort. Sie war da. Er konnte die Wut spüren, die in dem Zimmer umherwirbelte. Und die Kälte.

Nach abermaligem Klopfen betrat er das Zimmer, obwohl er nicht hereingebeten worden war.

Jaenelle ging im Wohnzimmer auf und ab, die Arme um die Taille geschlungen. Sie warf ihm einen zornentbrannten Blick zu und fauchte: »Verschwinde, Daemon!«

Sie sollte sich heute ausruhen, dachte Daemon, während der Ärger immer weiter in ihm aufwallte. Wahrscheinlich hatte sie das vor der Szene im Esszimmer auch getan.

»Da ich der einzige Mann im Ersten Kreis bin, der nicht dein Missfallen erregt zu haben scheint, bin ich auf den Gedanken verfallen, nach dir zu sehen und herauszufinden, ob du irgendetwas benötigst. Warum bist du übrigens nicht auch auf mich böse?« Obgleich er sich Mühe gab, gelassen zu sprechen, klang seine Stimme gereizt. Er wusste, dass er eigentlich dankbar sein sollte, ihrer Standpauke im Gegensatz zu den anderen entgangen zu sein. Stattdessen grämte ihn der Umstand, davon ausgeschlossen worden zu sein – bis ihn ihr eiskalter Saphirblick mit voller Wucht traf.

»Wusstest du, dass du es mir hättest melden sollen, dass Vania Aaron nachstellte?«, wollte Jaenelle eine Spur zu leise wissen.

»Nein, das wusste ich nicht. Doch ich hätte es auch so nicht gemeldet.«

»Warum nicht, im Namen der Hölle?«, rief Jaenelle.

Hitze. Daemons Beine wurden schwach, während die Erleichterung ihn schier übermannte. Der Dunkelheit sei Dank, dies war nicht länger kalte Wut, sondern siedend heißer Zorn. Damit wusste er umzugehen. »Weil sie ihn verfolgt hat! Aaron war nicht dabei, sie zu verführen, oder machte stillschweigende Einladungen. Sie hat versucht, ihn in ihr Bett zu drängen, weil sie ihn erobern wollte. Es war ihr völlig gleichgültig, was sie ihm damit antun würde.«

»Genau!«

Sie begriff noch immer nicht. Daemon fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Beim Feuer der Hölle, Frau, der Mann ist verheiratet und hat eine kleine Tochter! Wenn er etwas gesagt hätte, hätte Kalush ihm dann wirklich geglaubt, dass ihn keinerlei Schuld traf?«

»Natürlich hätte sie das!«, schrie Jaenelle. »Aber wenn er das Gefühl hatte, nicht mit Kalush darüber reden zu können, hätte er sich doch an mich oder Karla oder Gabrielle wenden können.«

»Und inwiefern hätte das geholfen?«, brüllte Daemon zurück. »Ihr hättet Kalush davon erzählt, und er würde trotzdem wegen etwas in Verdacht geraten, das er nicht getan hat, ja, das er nicht einmal tun wollte

»Wieso schwatzt du dauernd etwas von Verdacht? Hier geht es nicht um Verdacht.«

»Warum bist du dann so wütend auf ihn?«, schrie Daemon.

»Weil sie ihn verletzt hat, und das hätte nicht passieren dürfen!« Auf einmal füllten sich Jaenelles Augen mit Tränen. »Ich bin wütend auf ihn, weil ihm wehgetan wurde. Meinst du denn, ich weiß nicht, wie überglücklich und ängstlich er ist, seitdem Kalush schwanger wurde? Wie viel sie und Arianne ihm bedeuten? Wie verletzlich er sich fühlt, sobald eine andere Frau Interesse an ihm zeigt?« Sie wischte sich eine Träne fort, die ihr die Wange hinabrollte. »Aber ihr alle habt die Sache so gut verborgen, dass wir nichts außer der Gereiztheit wahrnahmen, die euch gepackt hatte, seitdem diese … Leute … auf die Burg gekommen sind. Wenn wir auch nur das Geringste geahnt hätten, wäre der Hexensabbat schon lange eingeschritten.«

Daemon kniff die goldenen Augen zusammen, da er etwas unter der Oberfläche der Worte mitschwingen hörte. »Was noch?«

Jaenelle zögerte. »Alexandra ist meine Großmutter.«

Daemon sprang so schnell auf sie zu, dass sie rasch einen Schritt zurückwich und über die Schleppe ihres Kleides stolperte. Er fing sie auf, indem er sie an den Armen packte und an sich zog. »Du wirst dich nicht in Schuldgefühle fallen lassen, Jaenelle«, sagte er grimmig. »Hörst du mich? Das wirst du nicht tun. Sie ist deine Großmutter. Eine erwachsene Frau. Als Erwachsene ist sie für ihre Taten selbst verantwortlich. Als Königin obliegt es ihr, ihren eigenen Hof unter Kontrolle zu halten. Wenn irgendjemanden außer Vania die Schuld trifft, dann Alexandra. Sie war gewarnt und unternahm trotzdem nichts.« Als Jaenelle zu widersprechen begann, schüttelte er sie so fest, dass sie die Zähne entblößte und ihn wütend anfauchte. »Wenn du Schuld auf dich nehmen möchtest, weil sie hier sind, dann ist Wilhelmina genauso mitschuldig.«

Oh, der Zorn in ihren Augen!

Besänftigend strich Daemon ihr über die Arme. »Wenn man Wilhelmina nicht die Mitschuld an Vanias Taten oder Alexandras Nichtstun geben sollte, wie kannst du dann so ungerecht sein und die andere Enkelin beschuldigen?«

»Weil ich die Königin bin, und eine Königin herrscht nicht nur an ihrem Hof, sondern sie beschützt ihn auch.«

Daemon stieß ein entnervtes Knurren aus und murmelte etwas nicht sehr Schmeichelhaftes über weibliche Sturheit.

»Es ist keine Sturheit, solange man im Recht ist«, fuhr Jaenelle ihn an.

Da er diese Auseinandersetzung nicht für sich entscheiden konnte, wenn sie auf dieser Meinung beharrte, versuchte er es von einer anderen Seite aus. »Na gut, wir hätten es melden sollen.« Oder uns selbst besser darum kümmern sollen.

Argwöhnisch starrte sie ihn an. »Warum stimmst du mir auf einmal zu?«

Daemon hob eine Braue. »Ziehst du es denn nicht vor, wenn Männer dir zustimmen?«, meinte er freundlich. »Soll ich lieber weiterstreiten?«

»Wenn einer von euch so schnell klein beigibt, geschieht das nur, weil ein Zweiter Stellung bezogen hat, um aus einer anderen Richtung anzugreifen.«

»Das klingt, als sei der Erste Kreis ein Rudel auf der Jagd.« Daemon gab sich Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.

»Ich glaube, sie haben diese Taktik tatsächlich bei den Wölfen abgeschaut«, erwiderte Jaenelle verdrossen.

Daemon begann, ihr das Genick und die Schultern zu massieren.

Sie schloss die Augen. »Wusstest du, dass du und Lucivar die einzigen menschlichen Männer des Ersten Kreises wart, die Vania nicht ins Bett zu zerren versuchte?«

»Sie hätte nicht gewagt, es bei mir zu versuchen«, sagte Daemon eine Spur zu sanft.

»Und sie war klug genug, es nicht bei Lucivar zu probieren. Wenn ihn jemand in diese Lage bringt, neigt er dazu, erst zuzuschlagen und dann die Fragen zu stellen.«

»Klingt wie eine erfolgreiche Abschreckungsstrategie.«

»Mmmm. Oh ja, genau da!«

Gehorsam konzentrierte Daemon sich auf einen verspannten Muskelknoten. Während er streichelte und massierte, brachte er sie kaum merklich dazu, sich an ihn zu lehnen, bis ihre Arme um seine Taille lagen, und ihr Kopf an seiner Schulter ruhte. »Lucivar ist sehr verletzt, weil du zornig auf ihn bist«, meinte er leise. »Das sind sie alle.«

»Ich weiß.« Sie seufzte. »Ich bin zu müde, um mir für jeden Einzelnen von ihnen eine Aufgabe auszudenken. Wahrscheinlich werde ich mir einen Zeh anstoßen müssen.«

»Wie bitte?« Seine Hände hielten kurz in der Massage inne.

»Ich stoße mir den Zeh an, und dann lasse ich mich von ihnen umsorgen und sie Sachen holen und wegbringen, und sie werden wissen, dass ich ihnen nicht länger böse bin.«

»Sie halten einen angestoßenen Zeh tatsächlich für eine ernsthafte Verletzung?«

Jaenelle schnaubte leise. »Natürlich nicht. Es ist mehr so eine Art Ritual.«

»Ich verstehe. Die Königin kann sich nicht für die Disziplin entschuldigen, muss aber ein deutliches Zeichen setzen, dass wieder alles im Lot ist.«

»Genau. Wenn es nur einer von ihnen gewesen wäre, hätte ich ihn bei etwas um Hilfe gebeten, das ich genauso gut alleine erledigen kann, und er hätte begriffen. Bei so vielen muss ich mich von ihnen pflegen lassen.« Ihre Stimme bekam eine unwillige Note. »Sie werden Kissen aufschütteln und mich zudecken, obwohl ich es nicht möchte. Und sie werden mir Nachmittagsschläfchen verordnen.«

»Es geht also nicht bloß darum zu vergeben, sondern ein klein wenig Rache ihrerseits kommt auch noch dazu.«

»Ein klein wenig Rache! Normalerweise schmuggelt eine der Hexen aus dem Hexensabbat ein Buch in mein Zimmer, damit ich während meiner ›Nickerchen‹ lesen kann. Einmal kam Papa nach mir sehen, und ich versteckte in der Eile das Buch nicht gut genug unter dem Kopfkissen. Als Khary und Aaron auch noch erschienen, schob er das Buch weiter unter das Kissen, um es ganz zu verbergen. Und dann hatte Saetan die verfluchte Unverfrorenheit zu behaupten, ich sähe fiebrig aus, woraufhin die anderen mich noch heftiger quälten.«

Einen Augenblick lang hielt Daemon inne und ließ sich die Unterscheidung durch den Kopf gehen, die sie zwischen ›Papa‹ und ›Saetan‹ machte. »Liebling«, meinte er vorsichtig, »wenn Saetan verflucht unverfroren ist, dann ist es Papa ebenfalls. «

»Irgendwie klingt es respektlos, auf diese Weise von Papa zu sprechen.«

»Ich verstehe«, sagte Daemon in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er nichts verstand.

»Papa ist charmant und intelligent«, erklärte Jaenelle, »in jeglicher Beziehung ein runder Charakter.«

Daemon musste an Saetan und Sylvia denken und versetzte trocken: »In einer ganz bestimmten Beziehung ist er jedoch nicht derjenige mit den meisten Rundungen.«

Es herrschte langes Schweigen. »Du würdest Sylvias Figur als wohl gerundet bezeichnen?«, wollte sie schließlich wissen.

Er biss sich auf die Zunge. Fragte sie nach Sylvia, weil sie einen seiner Gedanken aufgeschnappt hatte, oder hatte sie lediglich seine Anspielung verstanden? Und wie im Namen der Hölle sollte ein Gefährte auf eine derartige Frage antworten? »Ihre Figur weist zumindest mehr Rundungen auf als seine«, äußerte er vorsichtig – und warf ihr ohne die geringsten Skrupel Saetan zum Fraß vor: »Sie scheinen einander sehr zugetan zu sein, selbst wenn Sylvia sich weigert, ihm ein Buch auszuleihen.«

Als Jaenelle den Kopf hob, lag in dem Funkeln in ihren Augen nichts Kaltes mehr. »Welches Buch?«



»Du hast was erwähnt?«

Daemon rieb sich das Genick, während er seinen Vater wachsam musterte. Als Mann hatte er sich verpflichtet gefühlt, Saetan vorzuwarnen – und nun wünschte er sich aufrichtig, es nicht getan zu haben.

Saetan starrte ihn an. »Was hat dich geritten, es ihr zu sagen?«

Oh nein! Er würde gewiss nichts von dem wiederholen, was seiner Bemerkung vorausgegangen war. »Jaenelle ist jetzt viel besser gelaunt.«

»Das glaube ich dir gerne.« Saetan fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Was macht sie jetzt?«

»Sich ausruhen«, antwortete Daemon. »Ich werde Beale bitten, ihr ein Tablett ins Wohnzimmer zu bringen. Wir werden dort zu Abend essen und dann eine Zeit lang Karten spielen.«

Das plötzliche Glitzern in Saetans Augen machte ihn nervös.

»Du wirst mit Jaenelle Karten spielen?«, wollte Saetan wissen.

»Ja«, erwiderte Daemon misstrauisch.

»In diesem Fall ist die Erwähnung des Buches längst abgegolten, Prinz.«

9 e9783641062019_i0045.jpg Kaeleer

Osvald trieb sich in dem Gang herum.

Anfangs hatte er gedacht, Vanias gieriges Verlangen würde all ihre Pläne zunichte machen. Doch nachdem das blasse Luder Jaenelle den Männern des Hofes deshalb die Leviten gelesen hatte, hatten sie sich alle verzogen, um ihre Wunden zu lecken, und sich den restlichen Tag nicht mehr blicken lassen.

Jaenelles Wutausbruch wäre ein Geschenk des Himmels für ihn gewesen, wenn Wilhelmina Benedict sich zu dem Zeitpunkt in ihrem Zimmer aufgehalten hätte. Doch dort war sie nicht, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er nach ihr suchen sollte. Wenn sie mit den anderen Miststücken zusammen war, konnte er sich ihr nicht nähern. Er wollte nicht auffallen, bevor er bereit war, sich aus dem Staub zu machen.

Bald, dachte er, als er in sein eigenes Gemach zurückkehrte. Bald.

10 e9783641062019_i0046.jpg Kaeleer

Und mich nennt man den Sadisten!, schoss es Daemon durch den Kopf, als sein Blick auf das Spielbrett und die Karten fiel – und es kostete ihn einige Anstrengung, nicht frustriert aufzustöhnen.

»Die Runde hättest du beinahe gewonnen«, meinte Jaenelle beschwichtigend, wobei sie versuchte, nicht allzu schadenfroh zu klingen, während sie die Punkte notierte.

Daemon entblößte die Zähne, doch es gelang ihm nicht, die Lippen zu einem glaubhaften Lächeln zu verziehen. »Bin ich dran?«

Jaenelle nickte, drehte geschäftig das Blatt Papier um, zog in der Mitte eine Linie und schrieb ihre Namen an den oberen Seitenrand.

Daemon griff nach den Karten und begann, sie zu mischen.

Beim Feuer der Hölle, ein Kartenspiel sollte ihm nicht derart schwer fallen. Es war lediglich eine Variante eines Spiels namens Wiege, das Jaenelle als Kind gespielt hatte. Na gut, es waren sechsundzwanzig Varianten von Wiege. Trotzdem sollte es ihm nicht so schwer fallen, auch einmal eine Runde zu gewinnen. Doch etwas an dem Spiel war eigenartig, es hatte etwas, das sich männlichem Denken entzog.

Ein Spielbrett mit farbigen Steinen und Scheiben, die auf einer Seite je ein Zeichen eingeritzt hatten. Ein Stapel Karten. Und das komplizierte Zusammenspiel all dieser Dinge. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Hexensabbat an einem stürmischen Winternachmittag um das Spielbrett saß und das Spiel Stück für Stück zusammensetzte, sich eine Variante nach der anderen einfallen ließ und Einzelheiten aus Spielen einfügte, die ihren jeweiligen Kulturen entstammten, bis sie etwas erschaffen hatten, das für männliche Gehirne die reinste Folter darstellte. Am meisten verabscheute er den Joker, denn der Spieler, der über das Spielbrett gebot, wenn der Joker gezogen wurde, konnte eine andere Variante des Spiels ausrufen – was regelmäßig dazu führte, dass eine gute Hand wertlos wurde, und eine wunderbare Spielstrategie in sich zusammenfiel.

Es musste eine Möglichkeit geben, dies zu seinem Vorteil einzusetzen. Es musste …

Während Daemon weiter die Karten mischte, musterte er die Steine und Scheiben. Er überlegte, wie sich alles in dem Spiel gegenseitig beeinflusste: Steine und Scheiben – und Karten.

Ja, das würde funktionieren! Es würde sogar ausgesprochen gut funktionieren …

»Welche Variante möchtest du spielen?«, fragte Jaenelle, als sie die Steine und Scheiben für den Spielanfang aufbaute.

Daemon schenkte ihr ein Lächeln, das früher immer die Königinnen von Terreille in Angst und Schrecken versetzt hatte. »Variante siebenundzwanzig.«

Jaenelle runzelte nur die Stirn. »Daemon, es gibt keine Variante siebenundzwanzig.«

Er teilte die Karten aus und meinte schnurrend: »Jetzt schon.«

11 e9783641062019_i0047.jpg Kaeleer

So jung, dachte Surreal, als sie ihre Mutter betrachtete. Ich hatte sie als groß und stark in Erinnerung, dabei war sie kleiner als ich … und sie war so jung, als sie starb.

Titian zog die Beine auf dem Fensterplatz an und schlang die Arme um die Knie. »Es ist gut, dass du nach Kaeleer gekommen bist.«

Surreal starrte aus dem Fenster, doch im Dunkel der Nacht zeigte ihr das Glas lediglich ihr eigenes Spiegelbild – was ihr die Fragen ins Gedächtnis rief, die schon zu lange unbeantwortet geblieben waren. »Warum sind wir nicht schon früher hierher gekommen?«, wollte sie leise wissen. »Warum bist du nicht nach Hause zurückgekehrt, als du Kartane entkommen warst?« Sie zögerte. »War es wegen mir?«

»Nein!«, erwiderte Titian scharf. »Ich habe mich dazu entschieden, dich zu behalten, Surreal. Nachdem ich die instinktive Reaktion meines Körpers, dich nicht anzunehmen, niedergekämpft hatte, entschied ich mich für dich.« Nun zögerte Titian. »Es gab damals andere Gründe, nicht nach Hause zurückzukehren. Wenn ich es getan hätte, wäre dein Leben leichter verlaufen, aber …«

»Aber was?«, fuhr Surreal sie an. »Wenn du nach Hause gegangen wärst, hättest du nicht als Hure deinen Lebensunterhalt verdienen müssen. Hättest du Terreille den Rücken gekehrt, wärst du nicht so verdammt jung gestorben. Welcher Grund ist triftig genug, um diese Dinge aufzuwiegen?«

»Ich habe meinen Vater geliebt«, meinte Titian leise. »Und auch meine Brüder. Auf Vergewaltigung steht die Todesstrafe, Surreal. Wäre ich nach Hause zurückgekehrt, sobald es mir gelang, Kartane zu entkommen, wären mein Vater und meine Brüder nach Hayll aufgebrochen, um ihn umzubringen.«

Surreal starrte sie an. »Wie im Namen der Hölle hätten sie an Dorotheas Wachen vorbeikommen wollen, um Kartane zu erwischen?«

»Sie hätten es nicht geschafft und wären gestorben«, erwiderte Titian einfach. »Und ich wollte nicht, dass mein Vater und meine Brüder sterben. Verstehst du das?«

»Nicht wirklich, weil ich den größten Teil meines Lebens damit verbracht habe, mich auf den Tag vorzubereiten, an dem es mir endlich gelingt, Kartane umzubringen. …« Surreal versuchte erfolglos, ein Lächeln zustande zu bringen. »Was meinst du, hätte dein Vater zu der Entscheidung gesagt, die du getroffen hast?«

Titians lächelte kläglich. »Ich weiß, was er dazu gesagt hat. Er war kurze Zeit im Dunklen Reich, bevor er zurück in die Dunkelheit einging. Doch er hatte sein Leben in dessen ganzer Fülle leben können, Surreal, und meine Brüder zogen Kinder auf, die ansonsten niemals geboren worden wären.« Sie hielt inne. »Und wenn ich mich anders entschieden hätte, wärst du vor dreizehn Jahren nicht in Chaillot gewesen, und wir hätten die größte Königin verloren, welche die Angehörigen des Blutes je geführt hat.«

»Und wenn du nicht in Terreille unter Kartane gelandet wärst, wärst du eine Königin und Schwarze Witwe geworden. «

»Ich bin immer noch eine Königin und Schwarze Witwe«, fuhr Titian sie an. »Als Kartane mich zerbrach, beraubte er mich der Kraft, die ich besessen hätte, doch er konnte mir nicht nehmen, was ich bereits war.«

»Verzeihung«, sagte Surreal, die sich nicht sicher war, wie sie ausdrücken sollte, dass sie das Geschehene bereute, ohne noch beleidigender zu werden.

»Belaste dich nicht mit unnötiger Reue, kleine Hexe«, sagte Titian zärtlich, als sie sich erhob. »Und bürde dir nicht die Taten anderer auf, sondern nur deine eigenen.« Sie streckte ihr eine Hand entgegen. »Komm schon. Du wirst einen klaren Kopf brauchen, wenn du morgen im Übungskreis gegen Lucivar antrittst.«

Erschöpft stand Surreal auf und folgte Titian. Nach der Szene mit Vania am Mittagstisch, den zusätzlichen Übungen mit Falonar und den Nachwirkungen von Jaenelles Wutausbruch sehnte sie sich nur noch danach, in ihr Bett zu kriechen. Im Laufe des Tages hatte sie mehr betrübte Männer tröstend in den Arm genommen als in ihrem ganzen Leben zuvor. Da kam ihr ein anderer Gedanke. »Wie soll ich bloß mit den männlichen Verwandten umgehen, die ich auf einmal dazu gewonnen habe?«

»Du musst deine Grenzen ziehen«, antwortete Titian, während sie den Gang erreichten, der zu Surreals Zimmer führte. »Du entscheidest, was sie für dich tun dürfen, und was du selbst tun musst. Dann sagst du es ihnen – sachte. Das hier ist Kaeleer, Surreal. Mit den Männern musst du …« Titian erstarrte mit angespannter Miene.

»Titian?« Der schreckliche Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter erschreckte Surreal. »Was ist los?«

»Wo ist der Höllenfürst?«, fauchte Titian. Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte sie auf den nächsten Treppenaufgang zu.

Surreal rannte ihrer Mutter hinterher und holte sie ein, als Titian jäh vor einer Tür zum Stehen kam.

Titian hämmerte einmal mit der Faust gegen die Tür und riss sie dann auf. »Höllenfürst!«

Aus dem angrenzenden Zimmer drang ein gedämpftes Geräusch.

Titian riss die Verbindungstür auf und stürzte in das Zimmer. Surreal lief hinter ihr her, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen.

Saetan war gerade dabei gewesen, nach einem Morgenmantel zu greifen, der auf dem Bett lag. Doch nun richtete er sich langsam auf und wandte sich zu ihnen um.

Surreal kam nicht umhin, ihm einen kurzen, quasi beruflich bedingten Blick zuzuwerfen. Was sie sah, fand durchaus ihren Beifall.

Titian schien gar nicht aufzufallen, dass sie in das Zimmer eines nackten und mittlerweile sehr erzürnten Mannes eingedrungen war.

»Auf der Burg befindet sich ein befleckter Mann!«, platzte es aus Titian heraus.

Saetan starrte sie einen Augenblick lang an. Dann band er sich den Morgenmantel zu und meinte kurz angebunden: »Wo?« Im nächsten Moment war er aus der Tür, gefolgt von Titian. Surreal gelang es erst kurze Zeit später, sich aufzurappeln.

Als sie die beiden einholte, lief Titian im Gang wie ein Hund auf und ab, der eine Fährte witterte, während Saetan langsamer folgte. Keiner schenkte Surreal auch nur die geringste Beachtung.

»Es war hier«, sagte Titian, ohne ihre Suche zu unterbrechen. »Es war hier

»Kannst du es immer noch spüren?«, fragte Saetan beinahe zu ruhig.

Titians Schultern spannten sich an. »Nein, aber es war hier.«

»Ich bezweifle deine Worte nicht, Lady.«

»Aber du nimmst nichts wahr.«

»Nein. Was lediglich bedeutet, dass wer auch immer die Zauber erschuf, die ihn verbergen sollten, genau wusste, vor wem und was er verborgen werden musste.«

»Das ist Hekatahs Werk«, zischte Titian.

Saetan nickte. »Oder Dorotheas. Vielleicht stecken sie auch beide dahinter. Wer auch immer es sein mag, sie haben sichergestellt, dass er sich harmonisch einfügen und es keinen Grund geben würde, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Allerdings konnten sie nicht vorhersehen, dass eine Harpyie einen Hauch seiner wahren mentalen Signatur aufschnappen würde. Aber warum hat er sich hier herumgetrieben?« Er wandte sich um und musterte die Türen. »Surreals Zimmer. Und Wilhelminas.«

Surreal räusperte sich. Das Unbehagen, das sie auf einmal empfand, überraschte sie selbst. »Es könnte sich lediglich um einen Kerl handeln, der noch nichts davon mitbekommen hat, dass ich mich von meiner Laufbahn in den Häusern des Roten Mondes zurückgezogen habe.«

Saetan bedachte sie mit einem langen, abschätzenden Blick und drehte sich dann zu Titian um, die den Kopf schüttelte. »Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte er rätselhaft. Er klopfte schwungvoll an Wilhelminas Tür. Als er keine Antwort erhielt, trat er ein. Eine Minute später kehrte er wieder zurück. »Sie befindet sich mit Dejaal im Garten. Er wird bei ihr bleiben.«

Es dauerte einen Augenblick, bis es Surreal gelungen war, den Namen mit dem jungen Tiger in Verbindung zu bringen, den sie schon des Öfteren an Wilhelminas Seite gesehen hatte.

»Graufang ist auf dem Weg hierher«, sagte Saetan und warf Surreal einen strengen Blick zu. »Er soll heute Nacht auf keinen Fall von deiner Seite weichen.«

Es dauerte einen Augenblick, bis sie die Puzzleteile zusammengesetzt hatte. Zorn stieg in ihr empor. »Moment mal, Höllenfürst. Ich kann allein auf mich aufpassen.«

»Er ist ein Krieger«, fuhr Saetan sie an. »Er ist dazu da, zu verteidigen und zu beschützen.«

»Er trägt Purpur, während ich Grau trage. Du kannst nicht davon ausgehen, dass dieser andere Mann unbedingt ein helleres Juwel trägt als er.«

»Ich gehe von nichts Bestimmten aus. Er ist dazu da zu verteidigen und zu beschützen.«

Wütend trat Surreal auf Saetan zu und packte ihn am Morgenmantel. »Er ist kein Futter«, meinte sie grimmig. »Es ist nicht richtig, wenn er stirbt, obwohl ich ohne weiteres in der Lage bin, mich selbst zu verteidigen.«

Trockene Belustigung trat in Saetans Augen. »Du wirst gefälligst nicht seinen Stolz verletzen, indem du ihm eröffnest, er sei unfähig, dich zu beschützen. Da die Königinnen allerdings deine Meinung teilen, gilt es als annehmbar, wenn du euch beide mit Schutzschilden umgibst und ihm den Rücken freihältst.«

»Oh.« Surreal ließ Saetan los und versuchte angestrengt, den Stoff des Morgenmantels an den Stellen glatt zu streichen, an denen sie ihn mit den Fäusten zerknittert hatte. Als sie merkte, wie Saetans Belustigung wuchs, gab sie auf und trat einen Schritt zurück.

»Wirst du heute Nacht Wachen aufstellen?«, erkundigte sich Titian.

Nach kurzem Überlegen schüttelte Saetan den Kopf. »Nein, das wäre zu offensichtlich. Die Ladys des Hofes werden beschützt, um den Rest kümmern wir uns am Morgen.« Sein Blick wanderte zu Surreal. »Ich hätte gerne, dass du heute Abend auf deinem Zimmer bleibst oder in dem Innengarten, auf den dein Gemach hinausgeht. Aus der Richtung wird niemand kommen, um dir oder Wilhelmina etwas anzutun. «

Unwillkürlich erwachten Surreals Instinkte, als sie erwog, auf welchen Wegen sich ein Attentäter Zugang verschaffen konnte. »Sind alle Räumlichkeiten belegt?«, wollte sie nachdenklich wissen. Man musste nur in ein leer stehendes Zimmer schlüpfen, von dort aus durch den Garten, den nur eine Glastür vom Zimmer des Opfers trennte …

»Zwei der Gästezimmer sind leer«, antwortete Saetan. »Aber es wird niemand durch den Garten kommen. Kaelas wird dort sein.«



Daemon bedachte Saetan und Titian mit einem langen Blick, trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür zu Jaenelles Wohnzimmer. »Lady Titian«, sagte er voller Respekt und überspielte die Überraschung, die er bei ihrem Anblick empfunden hatte. Er wusste, dass sie dämonentot war, doch er hatte nicht erwartet, ihr auf der Burg zu begegnen – und ihm gefiel ihre angespannte Haltung kein Deut besser als Saetans beherrschte Gelassenheit.

»Als Haushofmeister möchte ich dich förmlich bitten, heute Nacht bei der Königin zu bleiben«, meinte Saetan leise. »Die ganze Nacht.«

Daemon versteifte sich. Dies war der erste Abend, seitdem Jaenelle die Heilung seines Geistes beendet hatte, an dem sie sich bereit gezeigt hatte, Zeit mit ihm zu verbringen. Er hatte gehofft, ein paar Runden Karten mit ihr zu spielen, würde ihr in Erinnerung rufen, dass er ein Freund war. Das war der erste Schritt, um letzten Endes als ihr Geliebter akzeptiert zu werden. Doch wenn er ihr eröffnete, dass er die Nacht in ihrem Bett zu verbringen gedachte, würde sie wieder vor ihm davonlaufen. Begriff Saetan das nicht?

Ja, stellte er fest, als er die ausdruckslose Miene des Höllenfürsten musterte, Saetan begriff. Doch der Haushofmeister fühlte sich gezwungen, die Gefühle des Gefährten zu übergehen, obgleich er Verständnis dafür hatte.

»Ich trage diese Bitte sämtlichen Gefährten und Ersten Begleitern vor«, fügte Saetan hinzu.

Daemon nickte und ließ die Tragweite der Bemerkung auf sich einwirken. Eine förmliche Bitte wie diese kam an einem Hof wie diesem einem Aufruf zur Schlacht gleich. Die Nacht hindurch würde sich jeder einzelne Kriegerprinz am Hof im Blutrausch befinden. »Wird Lucivar bei Marian sein?«

»Nein«, erwiderte Saetan. »Prothvar wird sich bei Marian und Daemonar aufhalten. Lucivar wird heute Nacht seine … Runde … durch die Burg machen.«

»Wo wird Kaelas sein?«, fragte Daemon. Auf einmal empfand er den Gedanken an die geballte Macht des riesigen Raubtiers als überaus trostreich.

»Kaelas wird im Garten sein. Das wird ihm mehr Beweglichkeit verschaffen.«

»Dann wünsche ich euch eine gute Nacht – und eine gute Jagd«, setzte Daemon leise hinzu. »Höllenfürst. Lady.«

»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich Jaenelle, als er in das Wohnzimmer zurückkehrte.

Erst zögerte Daemon, doch ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, als ihr die Wahrheit zu sagen. »Der Haushofmeister hat mich in aller Form darum gebeten, heute Nacht bei dir zu bleiben.«

Die panische Angst, die kurzzeitig in ihren Augen aufflackerte, tat ihm weh. Doch es war die plötzliche Angespanntheit, mit der sie sich auf die Wohnzimmertür konzentrierte, die ihn wachsam werden ließ – besonders, als sie ihre Aufmerksamkeit schließlich ihm zuwandte.

»Wird diese Bitte sämtlichen Gefährten und Ersten Begleitern vorgetragen?«, fragte Hexe mit ihrer Mitternachtsstimme.

»Ja, Lady.«

Langes Schweigen. Dann zog Jaenelle die Nase kraus. »In aller Form darum zu ersuchen finde ich ein wenig übertrieben, wenn es bloß darum geht, euch für eine Nacht von den Sofas zu bekommen.«

Daemon verkniff sich ein erleichtertes Seufzen. Sie tat so, als sei das alles, was die Bitte zu bedeuten hatte. Höchstwahrscheinlich wollte sie nur ein paar Stunden haben, bevor sie eingestand, dass Alexandra oder jemand aus deren Gefolge etwas getan hatte, um das man sich am folgenden Tag würde kümmern müssen.

»Wie wäre es mit einer weiteren Runde?«, fragte er und nahm wieder Platz.

Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Wer ist mit Austeilen dran?«

Er lächelte ihr zu. »Ich.«



»Warum hast du ihm nichts von dem befleckten Mann erzählt? «, wollte Titian wissen.

»Ich kann mich im Moment nicht darauf verlassen, dass Daemon die Beherrschung behält«, entgegnete Saetan nach einer langen Pause. »Ein Kriegerprinz, der sich darauf konzentriert, als Gefährte akzeptiert zu werden, ist ausgesprochen launisch.«

Nach einem Augenblick schüttelte Titian den Kopf. »Selbst wenn niemand sonst die Zauber bemerkte, die Dorothea und Hekatah erschaffen haben, begreife ich nicht, weshalb sie Jaenelle nicht aufgefallen sind.«

»Ich auch nicht. Doch wie ich schon sagte, Dorothea und Hekatah wussten genau, vor wem sie ihre Machenschaften verstecken mussten«, erwiderte Saetan, dessen Herz immer lauter schlug, bis ihm jeder einzelne Schlag in den Ohren toste.

»Trotzdem sieht sich Jaenelle die Leute, die in Kaeleer bleiben möchten, immer ganz genau an.«

»Aber es bestünde kein Grund, jemanden allzu genau zu inspizieren, der nicht bleiben wollte, besonders wenn man sich persönlicher, emotionaler Dinge als Vorwand bediente, um einen ganz anderen Zweck zu verbergen.«

Titian legte die Stirn in Falten. »Wer befindet sich sonst noch auf der Burg?«

»Jaenelles Verwandte von Chaillot sowie deren Begleiter.« Sein eigener Hass spiegelte sich in Titians Gesicht wider.

»Und du hast nichts gegen sie unternommen?«

»Mein offizielles Gesuch, sie hinzurichten, wurde abgelehnt«, antwortete Saetan, der sich Mühe gab, nicht auf ihren anklagenden Tonfall einzugehen. »Ich ersticke schier an ihrer Anwesenheit, aber ich finde mich damit ab. Außerdem wird es an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt Gelegenheit geben, alte Rechnungen zu begleichen«, fügte er flüsternd hinzu.

Titian nickte. »Wenn ich mich in ihre Gemächer stehle, kann ich vielleicht etwas wittern. Dann könnten wir uns heute Nacht im Stillen um den befleckten Mann kümmern.«

Der Höllenfürst stieß ein wütendes Knurren aus. »Abgesehen von dem Miststück Vania hat sich noch niemand etwas zuschulden kommen lassen, das eine Hinrichtung rechtfertigen würde.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben sichergestellt, dass heute Nacht nichts passieren kann. Nach dem Frühstück werde ich mit Jaenelle darüber sprechen, diese … Leute … aus der Burg und aus Kaeleer zu entfernen.«

»Wahrscheinlich ist das der beste Weg.« Schweigsam gingen sie eine Zeit lang nebeneinander her. »Ist Jaenelles gesamte Verwandtschaft hier?«

»Alle außer Robert Benedict. Er starb vor ein paar Jahren – und hielt sich kurzzeitig im Dunklen Reich auf.«

Da blieb Titian ruckartig stehen. Saetan wandte sich zu ihr um. Sie hob eine Hand und legte sie sanft an seine Wange.

»Und während dieser kurzen Zeit kam er in den Genuss einer privaten Unterhaltung mit dem Höllenfürsten?«, fragte sie mit boshaftem Grinsen.

»Ja«, erwiderte Saetan freundlich, »genau so war es.«