Kapitel 9

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Andulvar ließ sich vor Saetans Ebenholzschreibtisch in einem Sessel nieder. »Karla sagt, du hast die letzten beiden Stunden hier vor dich hin gebrütet, seitdem du eine Nachricht von Lady Zhara erhalten hast.«

Saetan bedachte seinen langjährigen Freund mit einem eisigen Blick.

Andulvar wartete ab

Der Höllenfürst lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Beantworte mir diese eine Frage: Wenn ich mich verstecken wollte, gäbe es dann einen Ort in einem der Reiche, an dem ich unauffindbar wäre?«

Andulvar kratzte sich am Kinn. »Tja, also wenn du dich vor den dhemlanischen Königinnen oder dem Hexensabbat verstecken möchtest, gibt es einige Orte, an denen du untertauchen könntest. Wenn du dich vor deinem männlichen Nachwuchs verstecken willst, gibt es ein paar Orte im Dunklen Reich, auf die selbst Mephis erst nach einiger Zeit verfallen würde. Sollte jedoch Jaenelle nach dir suchen …«

»Genau aus diesem Grund sitze ich noch hier.« Saetan massierte sich seufzend die Stirn. »Zhara hat mich nach Amdarh gebeten, um ihr bei einem Problem behilflich zu sein.«

Andulvar legte die Stirn in Falten. »Lucivar ist doch gerade in Amdarh, nicht wahr? Wieso hat Zhara nicht ihn gebeten, wenn sie die Hilfe eines Mannes benötigt, der stärker ist als die Männer an ihrem eigenen Hof?«

Die Augen zu goldenen Schlitzen verengt, erklärte Saetan: »Lucivar ist mit Jaenelle in Amdarh.«

Das darauf folgende Schweigen lastete immer schwerer auf ihnen.

»Aha«, sagte Andulvar schließlich. »Nun, aber Daemon …«

»… ist mit Lucivar und Jaenelle in Amdarh.«

»Mutter der Nacht«, murmelte Andulvar, um dann argwöhnisch zu fragen: »Was genau hat Zhara geschrieben?«

Saetan griff nach der Botschaft und las mit Grabesstimme: »›Deine Kinder amüsieren sich köstlich. Komm und hol sie ab.‹«

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Daemon stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.

»Mutter der Nacht«, sagte Lucivar, jedes einzelne Wort überdeutlich aussprechend.

»Ich war noch nie so betrunken«, stöhnte Daemon leise.

Lucivar sah ihn mit blutunterlaufenen Augen an. »Natürlich warst du das.«

»Vielleicht ein – , zweimal, als ich noch jung und dumm war, aber nicht mehr, seitdem ich Schwarz trage. Mein Blut verbrennt den Alkohol zu schnell.«

»Diesmal nicht«, meinte Lucivar und fügte nach einer langen Pause hinzu, in der er offensichtlich nachgedacht hatte: »Ich war schon so betrunken.«

»Wirklich? Wann denn?«

»Das letzte Mal, als ich mit Jaenelle auf eine Sauftour gegangen bin. Großer Fehler. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es auch gewusst, wenn ich nüchtern gewesen wäre, als es mir wieder einfiel.«

Nach einer Minute schmerzhafter Anstrengungen, die Bedeutung dieser Bemerkung zu entschlüsseln, kam Daemon ein anderer Gedanke in den Sinn. »Ich bin noch nie zuvor aus einer Stadt geworfen worden.«

»Natürlich bist du das!«, sagte Lucivar mit einer forschen Stimme, die beide aufstöhnen ließ.

Daemon schüttelte den Kopf und bemerkte seinen Fehler erst, als es schon zu spät war. Selbst als er den Kopf wieder stillhielt, drehte sich das Zimmer weiterhin um ihn, und die Reste seines Gehirns schwappten geräuschvoll im Innern seines Schädels umher. Behutsam schluckte er. »Ich bin von Höfen verbannt worden, aber das ist etwas anderes.«

»Is’ schon gut«, sagte Lucivar. »In ein paar Wochen wird Zhara dich mit offenen Armen empfangen.«

»Sie sah mir nicht nach einer törichten Frau aus. Warum sollte sie das also tun?«

»Weil wir einen mäßigenden Einfluss auf Jaenelle ausüben. «

»Tun wir das?«

Die beiden Männer starrten einander an, bis sich die Esszimmertür öffnete.

Daemon machte sich auf das Zufallen der Tür mit einem Knall gefasst, der ihn seiner Meinung nach zweifelsohne umbringen würde.

»Mutter der Nacht«, meinte Surreal, die ein Lachen unterdrücken musste. »Sie sehen erbärmlich aus.«

»Nicht wahr?« In Saetans Entgegnung lag nicht die Spur eines Lachens.

Die leisen Schritte, die auf den Tisch zukamen, ließen das Zimmer vibrieren.

»Bitte schreit doch nicht so«, jammerte Daemon.

»Ich würde im Traum nicht daran denken, zu schreien«, entgegnete Saetan mit einer Stimme, die Daemon dennoch durch Mark und Bein fuhr. »Es wäre völlig sinnlos. Ihr beide würdet schon nach dem ersten Wort bewusstlos am Boden liegen. Deshalb spare ich mir die Strafpredigt auf, bis ihr wieder nüchtern genug seid, um sie euch anzuhören. Ich habe nämlich vor, sie sehr laut zu halten. Aber im Moment möchte ich lediglich eine Antwort auf folgende Frage: Was, im Namen der Hölle, habt ihr beiden euch hinter die Binde gekippt, um in solch eine Verfassung zu geraten?«

»Totengräber«, murmelte Lucivar.

»Wie viele?«, wollte Saetan unheilvoll wissen.

Lucivar atmete zweimal vorsichtig durch. »Keine Ahnung. An die Geschehnisse nach dem siebten kann ich mich nur sehr vage erinnern.«

»Nach dem…« Es folgte eine lange Pause. »Ist einer von euch in der Lage, auf sein Zimmer zu gehen?«

»Sicher«, meinte Lucivar. Es klappte nicht gleich beim ersten Versuch, doch schließlich erhob er sich.

Um nicht zurückzustehen, tat Daemon es ihm gleich – und bereute es augenblicklich.

»Du kümmerst dich um Lucivar«, sagte Saetan zu Surreal. »Er hat nicht ganz so viel Schlagseite wie Daemon.«

»Weil ich die Drinks nicht ausgetrunken habe.« Lucivar deutete auf Daemon, wobei er ins Schwanken geriet und beinahe Surreal gegen den Tisch geschleudert hätte. »Deswegen bist du so besoffen. Ich hab dir gleich gesagt, du sollst den Bodensatz drin lassen.«

Daemon versuchte eine unanständige Geste zu vollführen, was ihm jedoch erst im dritten Anlauf gelang.

Ohne weitere Worte wurde er aus dem Zimmer geschleppt und eine Furcht erregend steile Treppe hinaufgehievt. Als Daemon endlich sein Bett erreicht hatte und versuchte, sich hinzulegen, wurde an ihm gezerrt, bis er wieder aufrecht saß und sich ausziehen ließ, während der Zorn seines Vaters das Zimmer erbeben ließ.

»Brauchst du eine Schüssel?«, fragte Saetan ohne das geringste Anzeichen von Mitleid.

»Nein«, antwortete Daemon demütig.

Endlich durfte er sich hinlegen. Er spürte noch, wie Saetan ihm zärtlich das Haar aus dem Gesicht strich, dann war er bereits eingeschlafen.



Surreal schloss Lucivars Tür im selben Augenblick, in dem Saetan aus Daemons Zimmer trat.

»Ich weiß deine Hilfe zu schätzen«, sagte Saetan, als sie oben an der Treppe aufeinander stießen.

Surreal grinste. »Ich hätte den Anblick um nichts in der Welt versäumen wollen.«

Sie gingen gemeinsam die Stufen hinunter. »Du hast Lucivar ins Bett gebracht?«

»Er war sehr mürrisch und sagte mir immer wieder, ich solle meine Pfoten von ihm lassen, weil er ein verheirateter Mann sei. Er wollte sich nicht ausziehen, aber ich wies ihn darauf hin, dass er als verheirateter Mann ja wissen müsse, dass man in seiner derzeitigen Verfassung auf keinen Fall Stiefel im Bett trägt. Während wir uns mit den Stiefeln abplagten, versuchten wir uns einen Reim darauf zu machen, wie der kleine Fisch unter die Schnürsenkel geraten sein mochte.«

Saetan blieb am Fuß der Treppe stehen. »Wie ist er dorthin geraten?«

»Lucivar hat keine Ahnung. Also habe ich dem Fisch quasi eine Seebestattung angedeihen lassen und noch dazu Lucivar davon überzeugt, dass es nicht unziemlich ist, wenn er sich bis zu den Hüften auszieht, weil ich schließlich zur Familie gehöre. Dann ist er ins Bett gefallen.« Surreal sah sich suchend um. »Aber willst du dich nicht darum kümmern, dass Jaenelle ebenfalls ins Bett kommt?«

»In diesem Augenblick«, meinte Saetan trocken, »sitzt Jaenelle in der Küche und verspeist ein sehr großes Frühstück. «

»Oh je!« Surreal brach in Gelächter aus.

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Karla nahm den Ring aus der Schmuckschatulle und schob ihn sich auf den Ringfinger ihrer rechten Hand. Es war ein einfacher Ring aus gelbem und weißem Gold, in das ein kleiner ovaler Saphir eingelassen war. Ein geschmackvolles Schmuckstück, jedoch nichts, das wirklich die Aufmerksamkeit auf sich lenken würde, gleichzeitig aber so feminin, dass sich niemand darüber wundern würde, dass eine Frau den Ring trug. Ein Ring, den man jeden Tag tragen konnte, ohne aufzufallen. »Perfekt!«

»Ich hatte Barnard gebeten, diesen hier zuerst fertig zu stellen«, sagte Jaenelle. »Doch da die Entwürfe so einfach gehalten waren, hat er bereits sämtliche Ringe für den Hexensabbat angefertigt.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ich habe auch Ringe für Surreal und Wilhelmina bestellt. Sie werden nächste Woche fertig sein.«

Karla nickte, wobei sie den Ring betrachtete. »Wie aktiviere ich den Schild, der sich darin verbirgt?«

»Du kannst ihn mithilfe deines grauen Juwels bewusst aktivieren. Ansonsten ist er auf dieselbe Weise abgestimmt wie die Ringe der Ehre, welche die Männer tragen, und wird auf Angst, Wut und heftige Schmerzen reagieren. Er springt nur auf sehr intensive Gefühlsausbrüche an, denn sobald er einmal aktiviert wird, wird jeder in Reichweite mit einem Ring, der mit diesem hier verbunden ist, handeln, als sei ein Ruf zur Schlacht erfolgt. Im Grunde ist es ja auch tatsächlich ein Schlachtruf.«

»Wie weit wirkt der Ring?«, fragte Karla. »Würde Morton die Ringaktivierung selbst dann noch spüren, wenn er sich gar nicht in derselben Stadt aufhält?«

Jaenelle bedachte sie mit einem eigenartigen Blick. »Karla, wenn etwas den Schild in dem Ring zum Leben erwecken sollte, wird nicht nur Morton kommen und an deine Tür hämmern, sondern Sceron, Jonah, Kaelas, Mistral und Khary werden ebenfalls an deiner Schwelle auftauchen – zusammen mit unseren Schwestern, die sich in dem betreffenden Teil des Reiches aufhalten.«

»Mutter der Nacht!« Karla betrachtete den Ring mit einem Stirnrunzeln. »Aber … ich weiß, dass die Männer ihren Schild bisweilen benutzt haben, ohne dass deswegen jemand Amok gelaufen wäre.«

»Meinst du wirklich, sie würden auf ein Signal, das vom Ring einer Königin ausgeht, auf die gleiche Weise reagieren wie auf das Signal eines Bruders bei Hofe?«, meinte Jaenelle trocken. »Außerdem sind die Männer mittlerweile aufeinander abgestimmt. Sie wissen genau, wann sie zwar wachsam bleiben müssen, ansonsten aber erst einmal das nächste Signal abwarten können, beziehungsweise wann sie alles stehen und liegen lassen und so schnell wie möglich jemandem zu Hilfe eilen müssen, der in Not geraten ist.«

»Und du meinst nicht, dass sie erst einmal abwarten würden? «

»Auf gar keinen Fall.«

Karla stieß ein Seufzen aus. Das klang nach ein wenig mehr männlicher Aufmerksamkeit, als sie erwartet hatte, und sie war dankbar für die Warnung.

»Ich werde ihn jetzt mit deinem grauen Juwel verbinden.« Jaenelle streckte ihr die rechte Hand entgegen.

»Werden die anderen das nicht merken?«, erkundigte sich Karla und legte ihre Rechte in Jaenelles Hand.

»Ja, und es wird noch nicht einmal zwei Minuten dauern, bevor sie herausgefunden haben, dass ein Mitglied des Hexensabbats nun einen Ring trägt, mit dem sie in Verbindung treten können.«

Nun ja, zumindest werde ich nicht die Einzige sein, dachte Karla. Wenn alle von uns solche Ringe tragen …

»Und es wird eine weitere Minute dauern, bis sie gelernt haben, wie sich dieser spezielle Ring anfühlt, sodass sie ihn als den deinen erkennen können.«

»Beim Feuer der Hölle!«

Jaenelles Lächeln wirkte mitleidig, gleichzeitig aber auch belustigt. »Warte nur ab, wenn ein besorgter Lucivar zum ersten Mal bei dir auftaucht. Es ist ein echtes Erlebnis.«

»Da bin ich mir sicher«, murmelte Karla.

Einen Augenblick später wurde sie erst von eisiger Kälte, dann von Hitze durchzuckt. Der Ring pulsierte an ihrem Finger. Auch nachdem diese Empfindungen abgeklungen waren, konnte sie das tiefe Machtreservoir spüren, das gerade außer Reichweite darauf wartete, angezapft zu werden.

»Du solltest noch wissen, dass wenn der Schild erst einmal erwacht ist, nur die anderen des Ersten Kreises zu dir vordringen können, wenn du Hilfe brauchst«, sagte Jaenelle.

Karla nickte. »In dem Fall sollte ich ihn besser immer tragen. Es wäre undenkbar, wenn ihn sich jemand anders überstreifte und diese Art Schutz genießen würde.«

»Niemand sonst kann den Ring tragen. Er wurde für dich angefertigt. Sollte ein anderer versuchen, den Schild zu aktivieren, wären die Folgen … unangenehm.«

»Ich verstehe.« Sie bat Jaenelle nicht darum, ihr den Begriff ›unangenehm‹ näher zu erläutern.

Jaenelle betrachtete Karla einen Moment lang. »Nutze ihn gut, Schwester.«

»Danke, das werde ich.«

»Ich sehe besser zu, dass der Rest des Hexensabbats die übrigen Ringe erhält.« Jaenelle griff nach der Tasche, in der sich die anderen Ringschatullen befanden. Dann zögerte sie. »Musst du wirklich morgen abreisen?«, wollte sie ein wenig wehmütig wissen.

»Die Pflicht ruft«, erwiderte Karla lächelnd. Erst nachdem Jaenelle das Zimmer verlassen hatte, fügte sie hinzu: »Außerdem hat Saetan keinen Zweifel daran gelassen, dass keine Ausrede, um noch länger bleiben zu können, als akzeptabel betrachtet werden würde.«

Sämtliche Königinnen sowie die Männer des Ersten Kreises kehrten zu ihren Heimatterritorien zurück. Lucivar brachte seine Familie und die anderen Eyrier nach Ebon Rih. Surreal und Wilhelmina würden ihn ebenfalls begleiten. Andulvar und Prothvar waren bereits auf dem Weg nach Askavi, und Mephis war zu seinem Stadthaus in Amdarh aufgebrochen.

Sie verstand, warum Saetan die Burg leer haben wollte. Alle begriffen es. Morgen Nachmittag würden sämtliche Freunde verschwunden sein, die Jaenelle bisher als Schutzschilde benutzt hatte. Ihre einzigen menschlichen Begleiter wären dann der Höllenfürst, der sich gewiss rar machen würde – daran hegte Karla keinerlei Zweifel –, und Daemon. Der Gefährte sollte freie Bahn haben und könnte endlich ungestört um seine Lady werben.

»Möge die Dunkelheit uns beistehen«, murmelte Karla, während sie auf die Tür zuschritt und sie aufriss. Im nächsten Augenblick stand sie wie angewurzelt im Türrahmen.

Lucivar, Aaron, Chaosti, Khardeen und Morton lächelten sie an.

»Nun, nun, nun«, säuselte Lucivar. »Sieh an, wen wir hier gefunden haben.«

Karla gab sich Mühe, das Lächeln zu erwidern. »Küsschen«, stieß sie matt hervor und hoffte inständig, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis Jaenelle die restlichen Ringe aktiviert hatte.