Kapitel 12
1 Kaeleer
Lucivar und Falonar hielten besonnen Abstand, während sie den Frauen bei den Bogenschießübungen zusahen. Hallevar stand einen knappen Meter hinter den Frauen und gab Befehle, die in der ruhigen Morgenluft ebenso deutlich hörbar waren wie das Aufeinanderprallen der Stangen, das vom Waffenübungsfeld zu ihnen herüberschallte.
Über Nacht war das Wetter umgeschlagen und hatte das warme Versprechen des Frühlings mit sich gebracht. Die milden Temperaturen würden nicht anhalten, doch solange es warm war, wollte Lucivar, dass die Frauen jeden Morgen zwei Stunden auf dem Übungsfeld verbrachten. Dies war der erste Tag, an dem sie mit Pfeil und Bogen auf eine Zielscheibe schossen. Ihnen zuzusehen, hätte unterhaltsam sein können, wäre er nicht so nervös gewesen.
Seit Daemons Befehl an den Ersten Kreis ergangen war, zu ›bleiben, wo man war und auf der Hut zu sein‹ – ein Befehl, den Jaenelle ein paar Stunden später bekräftigt hatte –, waren anderthalb Tage vergangen. Die einzige andere Botschaft, die er erhalten hatte, war ähnlich kurz gewesen: Karla war vergiftet worden, und Morton war verschwunden.
Er hätte den Befehl missachtet, wenn nicht Daemon bei Jaenelle gewesen wäre. Doch ihm war klar, wenn ein Mann die Königin besser als er beschützen konnte, so war es der Sadist.
Folglich war er geblieben … war auf der Hut gewesen und hatte Ausschau gehalten … und gewartet.
Falonar prustete ärgerlich, als die Pfeile während eines missglückten Versuches, die Zielscheiben zu treffen, auf den Boden niederprasselten. »Meinst du wirklich, dass sie hierzu in der Lage sind?«, fragte er zweifelnd.
Lucivar stieß ein höhnisches Schnauben aus. »Während des ersten halben Jahres in den Jagdlagern hast du nichts getroffen, das nicht mindestens so groß wie ein Berg war.«
Falonar sah ihn nur an. »Aber ich habe nicht gejammert, dass ich Zeit damit verschwende, die ich damit verbringen könnte, mich um den Haushalt zu kümmern. Wozu so tun, als könnten sie Pfeil und … Verflucht!« Er starrte in Richtung einer Frau, die sich mit angelegtem Pfeil Hallevar zuwandte, der den Bogenschützinnen weitere Anweisungen gab. Hallevar sprang nach vorne und stieß sie zur Seite, sodass sich der Pfeil in den Rasen grub, anstatt die Frau neben ihr zu durchbohren.
Lucivar und Falonar wanden sich beide unter den Kraftausdrücken, derer Hallevar sich bediente, als er der Frau den kleinen Fehler erklärte, den sie begangen hatte.
»Siehst du, was ich meine?«, wollte Falonar wissen.
»Es ist nicht das erste Mal, dass jemand etwas derart Dummes getan hat. Ansonsten hätte Hallevar nie gelernt, so zu springen«, entgegnete Lucivar. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Was stört dich wirklich an der ganzen Sache?«
Falonar scharrte mit dem Stiefel. »Wenn wir nicht länger die Krieger und Beschützer sind, haben wir nicht mehr viel zu bieten – bis eine Frau nach einem Erzeuger sucht. Das ist keine sehr schöne Vorstellung.«
»Kannst du kochen?«, erkundigte sich Lucivar nachsichtig.
Zornig blickte Falonar ihn an. »Natürlich kann ich kochen! Jeder Eyrier, der in den Jagdlagern war, weiß, wie man sich rasch etwas brät.«
Lucivar nickte. »Dann beruhige dich. Nur weil eine Frau weiß, wie sie sich ihr eigenes Abendessen fängt, wird sie noch lange kein Jäger, ebenso wenig wie aus dir eine Köchin wird, bloß weil du weißt, wie man es zubereiten kann.« Er beobachtete, wie Surreals Pfeil den äußersten Ring der Zielscheibe traf, und lächelte. »Möchtest du hinübergehen und ihr auseinander setzen, dass sie deiner Ansicht nach nicht in der Lage ist, mit Pfeil und Bogen umzugehen?«
»Nicht, solange sie eine Waffe in der Hand hält«, murmelte Falonar.
Sie zuckten zusammen, als eine der Frauen laut aufheulte.
Lucivar entspannte sich wieder, als er sah, wie Hallevar sich mit der Hand über den Mund rieb, um ein Grinsen zu verbergen. Die Frau hielt den Unterarm gegen ihre rechte Brust gedrückt.
»Fünf Minuten freies Üben«, rief Hallevar und eilte auf die beiden anderen Männer zu.
»Was ist passiert?«, fragte Falonar.
»Verfluchtes Missgeschick«, sagte Hallevar mit einem breiten Grinsen. »Habe nicht daran gedacht, sie davor zu warnen, weil… na ja, beim Feuer der Hölle, bisher musste ich mir noch nie Gedanken darüber machen! Wie sollte ich wissen, dass man eine Brust mit der Bogensehne treffen kann?«
»Eine Brust mit der …« Falonar sah zu den Frauen hinüber – die sich alle zu ihnen umgedreht hatten und wütend in ihre Richtung starrten. Er blickte zu Boden und räusperte sich – mehrfach. »Ich wette, das tut weh.«
Lucivars Kiefermuskeln verkrampften sich, während er alles daran setzte, nicht zu lachen. »Ja, das tut es bestimmt. Ich hatte auch vergessen, Marian davor zu warnen, als ich ihr das Bogenschießen beigebracht habe. Zuvor hatte ich bereits mit Jaenelle gearbeitet, aber Marian hat … weiblichere Rundungen. «
Falonar musste husten.
Hallevar nickte nur ernst. »Das ist eine gute, angemessene Art, es auszudrücken – besonders wenn man mit etlichen Frauen konfrontiert ist, die vielleicht sogar wütend genug werden könnten, nach etwas oder jemandem auszuschlagen, falls du es auf irgendeine andere Weise formulieren solltest.«
»Genau«, sagte Lucivar trocken. »Lass sie noch eine Runde …«
Er rannte auf den Waffenübungsplatz zu, bevor der erste panische Hilfeschrei von den wütenden Rufen mehrerer Männer überlagert werden konnte. Mit einem Satz war er auf der niedrigen Steinmauer, welche die beiden Felder voneinander trennte. Eis begann sich um sein Herz zu bilden, als er sah, wie Kaelas dem eyrischen Kriegerprinzen, der ein grünes Juwel trug, mit einem flüchtigen Prankenschlag die Rückseite eines Oberschenkels aufriss. Das Eis wurde zu einem schmerzenden Käfig, als er beobachtete, wie Rothvar und Zaranar mit gezückten Waffen auf den Fremden zuliefen.
*Nein!*, rief er einen Speerfaden entlang. *Ich reiße jedem die Gedärme heraus, der seine Waffe erhebt!*
Die Männer schlitterten ein Stück über den Boden, bis sie zum Stehen kamen. Der Schock über seinen Befehl stand ihrer Wut in nichts nach. Doch sie und all die anderen Männer auf dem Übungsfeld gehorchten ihm.
»Hilfe!«, brüllte der Fremde und schwang sein Kampfschwert, um die Raubkatze vor sich in Schach zu halten, während er versuchte, rückwärts auf die anderen Männer zuzuhinken. »Ihr sollt in den Eingeweiden der Hölle schmoren! So helft mir doch!«
Lucivar drehte sich um und blickte zurück zu den Frauen. *Marian, bring sämtliche Frauen hoch in unseren Horst. Mach die Fensterläden zu.*
*Lucivar, was …*
*Tu es!*
Gefolgt von Falonar und Hallevar schritt er auf die Männer zu, die in einem weiten Kreis standen. Er verspürte zu gleichen Teilen Übelkeit und Zufriedenheit angesichts der Leichtigkeit, mit der Kaelas den verzweifelten Gegenangriffen des Fremden auswich – und er fragte sich, was die anderen Männer dazu sagen würden, wenn sie wüssten, dass er dem Raubtier beigebracht hatte, sich im Einklang mit oder im Kampf gegen menschliche Waffen zu bewegen.
Sobald der Eyrier seine Kampfhaltung einnahm, ging Kaelas zum Angriff über. Die Geschwindigkeit und das schiere Gewicht des Angreifers warfen den Mann etliche Meter zurück. Die Klauen rissen die Schultern des Eyriers auf und fuhren die Arme hinab, bis sie nur noch nutzlos herabhingen. Dann sprang die Katze zurück. Sie begann, den Mann, der kaum mehr in der Lage war aufzustehen, träge zu umkreisen.
Falonar blickte über die Schulter und stieß leise einen heftigen Fluch aus. Er drehte sich um und breitete die Flügel aus, um die Sicht auf das Übungsfeld zu versperren. »Geh mit den anderen Frauen mit«, knurrte er.
»Hör mir bloß damit auf … oh, verflucht«, sagte Surreal, nachdem sie Falonar ausgewichen war und einen Blick auf den Mann und die Raubkatze erhascht hatte.
Kaelas verteilte weiterhin leichte, beinahe spielerische Prankenhiebe, die oberflächliche Wunden verursachten, an denen seine Beute langsam verbluten würde. Auf diese Weise fuhr er fort, bis der eyrische Fremde seine Flügel ausbreitete und fortzufliegen versuchte. Die Katze sprang zusammen mit dem Mann in die Luft und landete federnd. Der Mann fiel wie ein Stein zu Boden, im Rücken eine gewaltige klaffende Wunde.
»Mutter der Nacht«, flüsterte Surreal, »er spielt mit dem Mann!«
»Er spielt«, stimmte Lucivar ihr grimmig zu, wobei sich sein Magen verkrampfte, »aber es ist kein Spiel. Was ihr hier seht, ist eine arcerianische Hinrichtung.«
Surreal begriff noch vor Falonar, was er damit meinte. Lucivar beobachtete, wie sich ihre Gesichtsmuskeln strafften – und kühles berufliches Interesse in ihren Augen aufflackerte.
»Yaslana«, warnte Falonar.
Lucivar konnte die wachsende Anspannung vonseiten der übrigen Männer spüren. Es würde nicht lange dauern, bis einer von ihnen seinem Befehl zuwiderhandelte und sich in den ›Kampf‹ einmischte. Er setzte sich langsam in Bewegung.
Auch Kaelas musste etwas gemerkt haben, denn das grausame Spiel fand ein jähes Ende. Der eyrische Fremde brüllte auf, als die Klauen seinen Brustkorb aufrissen und ihm die Oberschenkel bis auf die Knochen zerfetzten.
»Kaelas«, sagte Lucivar bestimmt, »das ist …« Rote Juwelenkraft knisterte, als die Pranke ein weiteres Mal niederfuhr. Der Gegenstand flog mit solcher Geschwindigkeit auf Lucivar zu, dass er ihn instinktiv auffing, damit er ihm nicht gegen die Brust prallte. Ein oder zwei Sekunden lang starrte Lucivar den Kopf an, der vom Rumpf abgetrennt worden war. Dann ließ er ihn fallen.
»Mutter der Nacht«, kam es leise von Surreal.
Die rechte des Hand des Eyriers mit dem Ring, in den ein grünes Juwel eingelassen war, segelte durch die Luft und landete neben dem Kopf auf dem Boden.
Mit lautem Wutgebrüll riss Kaelas dem Mann die Eingeweide aus dem Leib, bevor er von der Leiche wegtrat. Schließlich blickte er zu Lucivar. *Er ist noch drinnen … für den Höllenfürsten. *
Das Schlucken bereitete Lucivar Mühe. Kaelas hatte das Töten absichtlich nicht zu Ende geführt. *Warum?*
*Er hat Morton umgebracht*, erwiderte Kaelas, wobei er sich anstrengte, einen Kommunikationsfaden zu benutzen, der von allen anwesenden Menschen verstanden werden konnte. *Und er hat die blassen Menschen getötet, die zu Lady Karlas Rudel gehörten.*
Wie ein reinigendes Feuer durchfuhr grenzenlose Wut Lucivar. *Wo?* In seinem Geist erschien ein Bild, seltsam unklar, aber doch scharf genug, um den Ort zu erkennen. *Ich danke dir, Bruder*, sagte er mithilfe eines Speerfadens, der eigens auf die Raubkatze gerichtet war.
Kaelas machte einen Satz, erreichte die Winde und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Lucivars Blick fiel auf Falonar, der dagegen anzukämpfen schien, sich übergeben zu müssen. Trotz ihrer Erfahrungen auf Schlachtfeldern erging es auch den übrigen Männern nicht anders. »Ich erkenne ihn nicht wieder. Du vielleicht?«
Falonar schüttelte den Kopf.
»Ich aber«, meinte Rothvar dumpf und kam auf sie zu. »Als er herausfand, dass ich nach Kaeleer einreisen wollte, bot er mir einen Platz in seiner Truppe an. Er meinte, er würde keinem Miststück von einer Königin die Stiefel lecken, sondern binnen eines Jahres ein ansehnliches Stück Land beherrschen. Da ich ihn noch nie gemocht hatte, sagte ich Nein. Aber …« Er warf dem Kopf einen raschen Blick zu und sah dann rasch beiseite. »Ich hörte … jedenfalls dachte ich … Hat die Katze die Wahrheit gesagt?«
»Er würde nicht lügen.« Lucivar atmete tief ein. »Falonar, wähle vier Männer aus, die uns begleiten sollen.« Als er sich umsah, musste er feststellen, dass Surreal verschwunden war.
Auch Falonar drehte sich um und fluchte. »Verdammt, wahrscheinlich hat sie sich irgendwo verkrochen und kotzt sich die Seele aus dem Leib …«
Da sprang Surreal über die niedrige Steinmauer und trottete auf sie zu, einen großen, verbeulten Metalleimer in der Hand. Als die Männer sie sprachlos ansahen, schnaubte sie verächtlich. »Hattest du vor, das Ding da unter dem Arm zum Höllenfürsten zu transportieren?«, wandte sie sich spitz an Lucivar.
Lucivar lächelte widerwillig. »Danke, Surreal.« Er zögerte. Seine Hände waren ohnehin schon blutbesudelt, aber dennoch zögerte er.
Sie nicht. Erneut ein Schnauben ausstoßend warf sie den Kopf und die Hand in den Eimer und deckte ihn anschließend mit einem dunklen Tuch zu.
Die Männer wanden sich, woraufhin Surreal sie anfauchte.
Als Lucivar die Nervosität in Falonars Augen erblickte, sagte er: »Du hast deine Befehle, Prinz.«
Falonar und Rothvar verschwanden schneller, als es nötig gewesen wäre.
»Sag mir bloß nicht, dass er sich auf dem Schlachtfeld genauso ziert«, meinte Surreal mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme. »Ich schätze mal, alles wäre in bester Ordnung gewesen, wenn ich mich an ihm festgeklammert und ihn um Riechsalz angefleht hätte.«
»Verurteile ihn nicht vorschnell«, erwiderte Lucivar leise. »Eine Frau wie dich ist er einfach nicht gewöhnt.«
Surreal drehte sich zu ihm um. »Und welche Art Frau wäre das?«
»Eine Hexe der Dea al Mon.«
Das Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus, war aber echt. »Wahrscheinlich hätte ich ein wenig taktvoller sein sollen.« Sie deutete mit einem Wink auf den Eimer und zögerte dann. »Ich würde dich gerne begleiten.«
»Nein. Ich möchte, dass du hier bei den anderen Frauen bleibst.«
Sie bedachte ihn mit einem eiskalten Blick. »Warum?«
Voll Ungeduld fuhr er sie an: »Weil du Grau trägst, und ich dir vertraue.« Er wartete ab, bis er sich sicher sein konnte, dass sie ihn verstanden hatte. »Mein Heim verfügt über schwarzgraue Schutzschilde, aber Marian kann sie auf- und abschließen. Lasst niemanden hinein, den sie nicht kennt – egal, aus welchem Grund. Ich werde so bald wie möglich zurück sein.«
Surreal nickte. »Na gut. Aber sei vorsichtig. Wenn dir etwas passiert, bekommst du eine Tracht Prügel.«
Als sie außer Hörweite war, winkte Lucivar Hallevar zu sich. »Schicke Palanar zum Haus meiner Mutter. Er soll Lady Luthvian auf der Stelle zu meinem Horst geleiten.«
Unbehaglich trat Hallevar von einem Bein auf das andere. »Sie wird den Jungen bei lebendigem Leib auffressen.«
»Sag ihr, es handelt sich um einen Befehl des Kriegerprinzen von Ebon Rih«, meinte Lucivar. »Außerdem möchte ich, dass du deine Augen offen hältst. Solltest du auch nur das Geringste sehen, hören oder spüren, das dir missfällt, schickst du einen der Jungen zum Bergfried und den anderen zur Burg, damit sie Hilfe holen. Das Wolfsrudel wird auch aufpassen. Wenn du jemanden siehst, der nicht hier lebt, ob du ihn nun von Terreille her kennst oder nicht, ist er wie ein Feind zu behandeln. Verstanden?«
Mit einem Nicken zog Hallevar von dannen, um seinen Pflichten nachzugehen.
Kurze Zeit später flogen Lucivar und fünf seiner Männer in Richtung des Bergfrieds.
2 Kaeleer
Lucivar stellte den Metalleimer auf der anderen Seite des Arbeitstisches ab und beobachtete, wie Saetan frisches Blut in eine Schüssel goss, in der sich eine kochende Flüssigkeit befand. »Ich dachte, du seiest auf der Burg und würdest darauf warten, dass die Berichte eintreffen.«
»Draca hat nach mir geschickt«, antwortete Saetan, wobei er den Inhalt der Schüssel behutsam verrührte. »Was führt dich hierher?«
»Morton ist tot.«
Saetans Hand hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er mit dem Rühren fort. »Ich weiß.«
Lucivar wurde starr und meinte dann argwöhnisch: »Er befindet sich im Dunklen Reich?«
»Nein, er ist hier. Deshalb hat Draca nach mir gesandt. Er ist hergekommen, um Bericht zu erstatten.«
Ruhelos ging Lucivar auf und ab. »Gut. Ich werde mit ihm reden, bevor…«
»Nein!«
Der unnachgiebige Unterton in Saetans Stimme ließ ihn innehalten – einen Augenblick lang. »Es ist mir egal, ob er jetzt dämonentot ist.«
»Ihm aber nicht.« Saetans Stimme wurde weicher. »Er will dich nicht sehen, Lucivar. Keinen von euch.«
»Warum denn nicht, im Namen der Hölle?«, rief Lucivar.
Saetan fletschte die Zähne. »Glaubst du vielleicht, es ist leicht, die Verwandlung durchzumachen? Meinst du, irgendetwas wird gleich für ihn bleiben? Er ist tot, Lucivar! Ein junger Mann, der jetzt sehr viele Dinge nie mehr tun wird, der nicht mehr ist, wer und was er einmal war. Es gibt gute Gründe, weswegen sich die Verstorbenen größtenteils im Totenreich aufhalten.«
Lucivar fing erneut an, auf und ab zugehen. »Aber der Erste Kreis ist doch daran gewöhnt, Umgang mit Dämonentoten zu pflegen.«
»Ihr habt sie nicht gekannt, als sie noch im Reich der Lebenden waren«, meinte Saetan leise. »In dem Fall gab es keine Bande, die gekappt werden mussten. Ja, die Bande müssen gekappt werden«, kam er Lucivars Widerspruch zuvor. »Die Lebenden müssen weitermachen – und die Toten ebenso. Wenn du das nicht respektieren kannst, dann nimm wenigstens Rücksicht auf den Umstand, dass er Zeit benötigt, um sich in seiner neuen Existenzform zurechtzufinden, bevor er euch anderen begegnet.«
Lucivar fluchte leise vor sich hin. »Wie schlimm …?«
Saetan legte den Löffel beiseite und trat an das andere Ende des Tisches. »Die Verletzungen sind nicht sichtbar, wenn er angezogen ist. Ja, sie wären nicht einmal tödlich gewesen, wären die Pfeile nicht vergiftet gewesen.«
»Vergiftet«, meinte Lucivar matt, wobei er auf den Eimer starrte.
»Es gibt nicht viel, was Morton dir erzählen könnte, und ohne weitere Informationen wird uns nicht einmal das bisschen weiterhelfen, was er uns zu sagen hat.«
Lucivar wies auf den Eimer. »Vielleicht wirst du die Antworten da drin finden.«
Saetan lüftete das dunkle Tuch, warf einen Blick in den Eimer und deckte ihn dann wieder zu.
»Kaelas«, beantwortete Lucivar die Frage, die unausgesprochen im Raum hing.
»Ich verstehe«, erwiderte Saetan gelassen. »Du kehrst nach Ebon Rih zurück?«
Lucivar schüttelte den Kopf. »Ich mache mich mit einigen Männern auf den Weg zum Dunklen Altar in Glacia, um mich ein wenig umzusehen. Vielleicht gibt es dort ebenfalls ein paar Antworten.«
»Der Befehl unserer Königin war unmissverständlich«, meinte Saetan sanft.
»Ich nehme ihren Zorn in Kauf.«
Saetan nickte. »Dann bitte ich dich als Haushofmeister darum, zum Dunklen Altar in Glacia zu reisen, um herauszufinden, was sich dort zugetragen hat.«
»Ich habe es nicht nötig, mich hinter deinem Titel zu verstecken«, fuhr Lucivar ihn an.
Ein trockenes Lächeln umspielte Saetans Lippen. »Ich tue dies nicht nur für dich, sondern auch für Jaenelle. Auf diese Weise kann sie sich elegant aus der Affäre ziehen und muss dich nicht damit konfrontieren, dass du dich einem direkten Befehl widersetzt hast.«
»Oh, in dem Fall …«
»Verschwinde, Junge! Erstatte mir auf der Burg Bericht. Ach, und Prinz Yaslana«, fügte er hinzu, als Lucivar bereits die Tür erreicht hatte, »vergiss nicht, dass es sich bei Glacia nicht um dein Territorium handelt. Du bist dort nicht das Gesetz.«
»Ja, Sir, ich werde es nicht vergessen. Wir werden uns lediglich umsehen und dir dann Bericht erstatten.«
3 Kaeleer
Angesichts des zurückhaltenden Blicks in Marians Augen sowie Luthvians Art, wortlos kundzutun, dass sie die Wahl ihres Sohnes missbilligte, fragte Surreal sich, wie wütend Lucivar reagieren würde, wenn sie seine Mutter in den Garten bringen und als Zielscheibe für ihre Bogenschießübungen benutzen würden.
»Wie hast du es geschafft, heute Morgen etwas zu backen?«, wollte Nurian, die Heilerinnengesellin, wissen, während sie sich ein Stück Nusskuchen von dem Teller nahm, den Marian herumreichte. »Wie schaffst du es bloß, nach den Übungen am Morgen noch irgendetwas zustande zu bringen?«
»Oh«, erwiderte Marian mit einem scheuen Lächeln, »mittlerweile bin ich daran gewöhnt, außerdem …«
»Du bist eine Heilerin«, fuhr Luthvian dazwischen und bedachte Nurian mit einem eiskalten Blick. »Es ist mehr als verständlich, wenn du es nach den Übungen schwierig findest, deine anspruchsvolle Kunst auszuüben. Aber sie stellen natürlich keine ausreichende Entschuldigung dar, die eigenen Pflichten zu vernachlässigen, sofern es sich bloß um die Kunst einer Haushexe handelt. Schließlich …«
»Wenn ihr uns entschuldigen würdet«, sagte Surreal und zerrte Luthvian auf die Beine. »Es gibt da etwas, das Lady Luthvian und ich zu besprechen haben.«
»Lass mich los!«, zischte Luthvian, als Surreal sie aus dem Zimmer schleifte. »Man behandelt eine Schwarze Witwe und Heilerin nicht, als sei sie …«
»Eine Haushexe?«, meinte Surreal mit giftiger Süße und stieß Luthvian in den Garten.
»Genau«, antwortete Luthvian düster. »Aber ich gehe einmal nicht davon aus, dass eine Hure …«
»Halt den Mund, du Miststück«, sagte Surreal gefährlich leise.
Luthvian sog die Luft ein. »Du vergisst, mit wem du sprichst!«
»Nein, Süße, das weiß ich sehr genau. Du magst zu einer höheren Kaste gehören, aber meine Juwelen sind dunkler als die deinen. Damit sind wir meiner Meinung nach quitt – zumindest innerhalb der Familie. Du magst mich nicht, und das passt mir ganz gut in den Kram, denn ich kann dich auch nicht ausstehen.«
»Es ist nicht klug, eine Schwarze Witwe zu verärgern«, sagte Luthvian leise.
»Es ist auch nicht klug, eine Kopfgeldjägerin zu verärgern.« Surreal musste lächeln, als Luthvian die Augen aufriss. »Machen wir es also nicht unnötig kompliziert: Wenn du auch nur eine weitere geringschätzige Bemerkung über Marian von dir gibst, werde ich deinen Kopf gegen die nächste Wand knallen, bis du es endlich kapierst.«
»Was meinst du, würde Lucivar dazu sagen?« Luthvians Stimme klang selbstbewusst, doch in ihren Augen regten sich Zweifel.
»Oh«, versetzte Surreal, »ich glaube nicht, dass Lucivar etwas zu mir sagen würde.« Als sie sah, wie die verbale Ohrfeige saß, regte sich kurzzeitig Mitleid in ihr. Die Frau schreckte sämtliche Leute ab und schien anschließend nicht begreifen zu können, weswegen sie so einsam war.
»Er hätte eine weitaus bessere Partie machen können«, meinte Luthvian mürrisch. »Er hat es nicht nötig gehabt, eine Hexe mit purpurnem Juwel zu heiraten.«
Surreal betrachtete Luthvian eingehend. »Das hier hat doch überhaupt nichts mit Lucivar zu tun, oder? Es ist dir peinlich, dass dein Sohn eine Haushexe geheiratet hat. Marian ist eine fürsorgliche, gutmütige Frau, die ihn innig liebt, und deren Gegenwart ihn glücklich macht. Wenn er unglücklich mit einer Schwarzen Witwe und Heilerin verheiratet wäre, fändest du es in Ordnung, denn dann hätte er eine Frau genommen, die eines Kriegerprinzen würdig ist, wie?« Außerdem, fügte sie insgeheim hinzu, heißt der Höllenfürst die Wahl seines Sohnes gut. Sie hegte den Verdacht, dass dies der Hauptgrund war, weswegen Luthvian die Entscheidung ihres Sohnes niemals billigen würde. »Vergiss meine Worte nicht, Luthvian.« Sie begann, zum Horst zurückzugehen.
»Bloß weil der Höllenfürst dich den Namen SaDiablo benutzen lässt, ändert das nichts daran, was du warst – und immer noch bist«, meinte Luthvian boshaft.
Surreal warf einen Blick über ihre Schulter. »Nein«, antwortete sie, »das tut es nicht. Das solltest du ebenfalls nicht vergessen.«
4 Kaeleer
Lucivar konnte das Prickeln der verströmten Macht spüren, sobald er von dem Landenetz trat. Während die anderen Eyrier die Leichen anstarrten und sich unbehaglich im Flüsterton unterhielten, blickte er unverwandt auf den niedergedrückten Schnee einen knappen Meter vor ihm. Er ging darauf zu und umkreiste die Stelle.
»Was?«, wollte Falonar wissen, der die Stelle ebenfalls mied.
»Hier ist Morton gestorben«, erklärte Lucivar leise.
»Er ist nicht der Einzige, der starb«, meinte Rothvar grimmig und betrachtete die zerfetzten Leichen der Eyrier.
»Nein, er ist nicht der Einzige«, pflichtete Lucivar ihm bei. Aber er ist derjenige, bei dem ich miterlebt habe, wie er von einem guten Jungen zu einem tapferen Mann heranwuchs. »Rothvar, du und Endar …«
Wenn er nicht die letzten acht Jahre von verwandten Wesen umgeben gewesen wäre, hätte er jene besondere mentale Signatur nicht gespürt – und er hätte nichts von der Anwesenheit der arcerianischen Katzen geahnt, bis es viel zu spät gewesen wäre.
Scheinbar gleichgültig ließ er den Blick über die Dächer des Dorfes schweifen, während er insgeheim bis in die Tiefe seiner schwarzgrauen Juwelen hinabstieg und die Gegend erkundete. Acht arcerianische Raubkatzen. Zwei davon Kriegerprinzen. Alle trugen dunkle Juwelen.
»Hände weg von den Waffen.« Lucivar sprach bewusst leise und gelassen. »Wir haben Gesellschaft.« Langsam öffnete er den Gürtel seines kurzen wollenen Umhangs und legte seine Brust frei, an der das schwarzgraue Juwel an einer Kette von seinem Hals hing. Die Arme hielt er von sich gestreckt, weit weg von seinen Waffen. »Ich heiße Lucivar Yaslana«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Ich gehöre zur Lady. Und diese Männer gehören zu mir.«
*Ich kann nichts spüren*, meinte Falonar auf einem Speerfaden.
*Verwandte Wesen hängen ihre Anwesenheit für gewöhnlich nicht an die große Glocke*, sagte Lucivar trocken. *Besonders arcerianische Katzen.*
*Mutter der Nacht!* Falonar sah zu den zerfleischten eyrischen Leichen. *Diese Raubtiere sind noch hier? Wie viele?*
*Acht. Hoffen wir, sie kommen zu dem Schluss, dass wir Freunde sind, ansonsten wird das hier eine haarige Angelegenheit. *
Lucivar wartete ab. Seine ausgestreckten Arme begannen zu schmerzen. Schließlich konnte er eine vorsichtige mentale Berührung spüren. *Du bist ein Bruder von Kaelas*, erklang eine grollende Stimme.
*Und er ist mein Bruder*, entgegnete Lucivar. Er ließ die Arme sinken.
*Warum seid ihr hier?*, wollte das Raubtier wissen.
*Um der Lady Bericht erstatten zu können.*
Es folgte eine lange Pause. *Kaelas hat uns aufgetragen, diesen Ort zu bewachen, damit nicht noch mehr verdorbenes Fleisch durch das Tor kommt.*
Lucivar hoffte inständig, die Katzen gingen davon aus, sein Zittern habe mit der Kälte zu tun und nicht damit, dass sie Eyrier als ›verdorbenes Fleisch‹ betrachteten. *Kaelas ist klug.*
*Ihr seht euch um und verschwindet.* Es handelte sich definitiv nicht um eine Frage.
Lucivar wandte sich seinen Männern zu. Er hob die Stimme, um sicherzugehen, dass die arcerianische Katze seine Befehle hören konnte. »Baut einfache Schilde auf.«
Die fünf Männer blickten ihn erst verwirrt an, schienen dann jedoch rasch zu begreifen, was er von ihnen wollte. Im nächsten Moment bauten sich Schutzschilde um sie auf.
*Werden uns diese Schilde denn tatsächlich schützen?*, erkundigte sich Falonar bei Lucivar, wobei er sicherstellte, dass die anderen Männer ihn nicht verstehen konnten.
*Nein*, erwiderte Lucivar kurz angebunden. »Waffen zur Hand!« Er rief sein eyrisches Kampfschwert herbei und reagierte mit einem Kopfnicken, als die anderen es ihm gleichtaten. »Kohlvar, du und Endar haltet am Landenetz Wache. Rothvar und Zaranar, ihr nehmt euch die linke Seite des Dorfes vor. Falonar, du kommst mit mir.« *Und wenn sich euch eine der arcerianischen Katzen tatsächlich zeigen sollte, begegnet ihr mit der gleichen Höflichkeit wie jedem anderen Krieger*, setzte er auf einem allgemeinen Speerfaden hinzu.
Sie gingen langsam und vorsichtig vor, da sie sich völlig darüber im Klaren waren, dass die Katzen jede ihrer Bewegungen und Gesten beobachteten.
»Wie haben diese Katzen es geschafft, derart viele Eyrier umzubringen, ohne dass jemand Alarm schlug?«, fragte Falonar leise, nachdem sie die Hälfte der Häuser auf ihrer Seite des Dorfes abgesucht hatten. Es war offensichtlich, dass etliche der Männer nicht das Geringste von dem Angriff geahnt hatten.
»Wenn eine arcerianische Katze auf der Jagd ist, bekommt man für gewöhnlich erst etwas davon mit, wenn es längst zu spät ist und man das Zeitliche gesegnet hat«, erwiderte Lucivar geistesabwesend, während er rasch ein weiteres Haus überprüfte. In sämtlichen Häusern hatten sie Anzeichen zumindest geringer Gegenwehr entdecken können, allerdings musste es sich hierbei um Kämpfe zwischen Glacianern und Eyriern gehandelt haben. »Deshalb sind sie so gute Jäger.«
Als sie den Wohnbereich in der heiligen Stätte erreichten, starrten beide auf die junge Priesterin – oder das, was noch von ihr übrig war.
»Beim Feuer der Hölle«, stieß Falonar voll Ekel hervor. Er zog sich rückwärts in Richtung der Tür zurück. »Tja, wahrscheinlich kommt es auch einer Art Hinrichtung gleich, eine Frau mehrmals nacheinander zu vergewaltigen. Aber wieso nur diese eine? Und warum hat man sie zu Tode geprügelt, nachdem ihr wahrscheinlich ohnehin schon genug angetan worden war, um sie umzubringen?«
»Weil sich die anderen Frauen zur Wehr setzten, während diese hier eine andere Art von Belohnung erwartete, die sie letzten Endes erhalten hat«, erwiderte Lucivar. Als Falonar ihn mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen anstarrte, gab er ein tiefes, boshaftes Lachen von sich. »Du hast genug Zeit an terreilleanischen Höfen verbracht um zu wissen, mit welch schmutzigen Methoden gearbeitet wird, Prinz Falonar. Irgendjemand muss dem Bastard mit dem grünen Juwel geholfen haben, durch das Tor zurück nach Terreille zu gelangen – oder das Tor zumindest ohne das Wissen und die Einwilligung der alten Priesterin benutzt haben. Was die Prügel betrifft … Ich schätze mal, dass der Mistkerl seine Wut an jemandem auslassen musste, als er merkte, dass er hier drinnen gefangen war.«
»Die Katze hat ihn nicht langsam genug umgebracht«, murmelte Falonar, indem er dem Zimmer den Rücken zukehrte. »Nicht einmal annähernd langsam genug.«
Ich könnte mir vorstellen, dass der Höllenfürst weiß, wie er an die letzte Rate kommt, um die Rechnung mit dem Mistkerl zu begleichen, dachte Lucivar, doch das erzählte er Falonar besser nicht.
Als sie die heilige Stätte verließen, bedeutete Zaranar ihnen mit einem Wink, zu ihm zu kommen.
»Rothvar ist an der Hintertür«, meinte Zaranar nervös. »Meiner Meinung nach solltest du dich der Sache annehmen. Wir haben lediglich die Türen im Auge behalten«, fügte er hastig hinzu.
Bevor sich Lucivar in Bewegung setzen konnte, sandte Kohlvar eine dringende Botschaft. *Prinz, am Landenetz ist ein Glacianer eingetroffen, der behauptet, der Hauptmann der Wache von Lady Karla zu sein. Er hat vierzig Wächter bei sich.*
*Er soll bleiben, wo er ist*, entgegnete Lucivar scharf, während er und Falonar auf die Rückseite des Hauses zuhielten. *Ich werde in ein paar Minuten mit ihm sprechen.*
Schon wenige Schritte vor der Hintertür konnte er das nervöse Fauchen hören, das aus dem Inneren des Hauses drang. Rothvar trat beiseite. Lucivar öffnete die Tür, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen.
Der arcerianische Kriegerprinz war beinahe ausgewachsen, sodass in der kleinen Küche kaum genug Platz für ihn war, um auf- und abzugehen. Auf dem Tisch stand eine merkwürdige Auswahl an Nahrungsmitteln. Eine sauber umgebrachte Ziege lag auf dem Boden.
Als Lucivar auf die Ziege zutrat, machte die Katze einen Satz darauf zu und fauchte ihn an.
*Meins*, sagte das Raubtier.
»Schon gut«, antwortete Lucivar freundlich.
Die Katze schien verdutzt zu sein, dass er so schnell einlenkte. *Mein Lohn.*
Interessant, dachte Lucivar. Probierte das verwandte Wesen eine menschliche Vorstellung an ihm aus? »Da du diesen Ort bewachst, anstatt auf die Jagd zu gehen, ist es nur gerecht, dass du Fleisch als Lohn erhältst.«
Sichtlich entspannter warf die Katze dem Tisch einen Blick zu. Lucivar tat es ihr gleich. Es befand sich nichts darauf, von dem er annahm, dass eine Raubkatze es fressen wollen würde. »Ist das auch Arbeitslohn?«
*Menschennahrung.* Das Raubtier ließ es mehr nach einer hoffnungsvollen Frage klingen.
»Ja, genau.«
*Würde die Nahrung einem weiblichen Menschenjungen schmecken?*
Lucivar rieb sich das Kinn. »Ich weiß es nicht.«
Die Katze stieß ein Knurren aus, doch das Geräusch klang hauptsächlich entmutigt. *Wir haben ihr etwas Fleisch im Feuer zubereitet, aber sie hat es nicht gegessen.* Seine Lefzen kräuselten sich. Anscheinend hielt er nicht viel davon, gutes Fleisch zu ruinieren, indem man es briet. *Ich habe versprochen, Menschennahrung zu beschaffen.*
Ein eiskalter Schauder lief Lucivars Rücken hinab. »Ein Kind hat das hier überlebt?«
*Ja. Ein weibliches Junges. KaeAskavis Freundin.* Die Katze musterte ihn eingehend und fragte dann zögernd: * Wirst du mir helfen?*
Lucivar blinzelte Tränen zurück, die nur dazu beigetragen hätten, das Raubtier in noch größere Verwirrung zu stürzen. »Ja, ich helfe dir.«
5 Kaeleer
Haben wir das Richtige getan?«, wollte Daemon wissen, während er und Lucivar durch die Luft auf das offizielle Landenetz zugingen. Diese Mühe gaben sie sich nicht nur, um nicht im hüfthohen Schnee zu versinken, sondern auch, weil Fußspuren einen Feind zu den Höhlen der arcerianischen Katzen hätten führen können.
»Was sonst konnten wir tun?«, entgegnete Lucivar erschöpft. »Das Mädchen hat seine Mutter, das Dorf und alle verloren, die es kannte. KaeAskavi ist der einzige Freund, der ihr geblieben ist. Es gibt überall in Glacia einzelne Orte, an denen gekämpft wird; sie also in einem anderen Dorf unterzubringen … Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass sie das nächste Mal überleben würde, sollte das entsprechende Dorf ebenfalls angegriffen werden. Marian und ich hätten sie bei uns aufgenommen, aber …«
Daemon schüttelte den Kopf. »Du hast natürlich Recht. Im Moment würde sie nicht damit klarkommen, unter Eyriern zu leben.« Dies war auch der Grund gewesen, weshalb Lucivar überhaupt erst darauf bestanden hatte, dass Daemon ihn nach Arceria begleitete.
»Und woanders können wir sie nicht hinbringen«, setzte Lucivar erbittert hinzu. »Nicht, bevor wir nicht wissen, ob dieser Angriff Teil von Hobarts Versuch ist, wieder die Kontrolle über Glacia an sich zu reißen, oder ob mehr dahintersteckt. Du hast gesagt, das Mädchen sei körperlich in Ordnung.«
»Sie hat sich den Knöchel verstaucht, aber die arcerianischen Heilerinnen verfügen über genug Kunst, um sich um verletzte Gliedmaßen zu kümmern. Abgesehen davon war sie… unversehrt.« Er brachte es nicht über sich, das Wort ›Vergewaltigung‹ auszusprechen. Niemals würde er die Angst vergessen, die ihn durchzuckt hatte, als er in die Höhle gekrochen war und Della erblickt hatte – die blonde, blauäugige, zehnjährige Della. Abgesehen von der Haar- und Augenfarbe sah sie Jaenelle nicht im Geringsten ähnlich, hatte aber dennoch die Erinnerungen an das heraufbeschworen, was vor dreizehn Jahren auf Chaillot geschehen war. Mit zitternden Händen hatte er sie behutsam nach Verletzungen abgetastet, während er mithilfe eines kaum spürbaren mentalen Fadens jener Frage nachgegangen war. Seine Hände hatten auch deswegen gezittert, weil sie mit einer Hand eine ausgestopfte Stoffkatze und mit der anderen KaeAskavis Fell umklammert hatte – sodass er ständig den Atem der Raubkatze im Genick gespürt hatte. Die Art, wie sie sich an KaeAskavi festgehalten hatte, hatte Daemon gezwungen, sie in der Höhle zu belassen. Sie musste sich sicher fühlen, um heilen zu können – und sich an knapp zweihundert Kilo Muskeln und Pelz zu schmiegen, gab ihr offensichtlich ein starkes Gefühl von Sicherheit.
Lucivar legte Daemon eine Hand auf die Schulter. »Ein paar Wochen bei den arcerianischen Katzen werden ihr bestimmt nicht schaden. Zumindest kann man sich auf diese Weise um sie kümmern, ohne dass sie den Eindruck bekommt, jemand wolle an die Stelle ihrer Mutter treten.«
Daemon nickte. »Kehrst du nach Ebon Rih zurück?« Er selbst hatte vorgehabt, zum Bergfried aufzubrechen, da Jaenelle sich zusammen mit Karla und Morghann auf dem Weg dorthin befand.
Lucivar schüttelte den Kopf. »Der Höllenfürst hat mir aufgetragen, ihm auf der Burg Bericht zu erstatten. Dieser unvorhergesehene Ausflug hat meinen Bericht um zwei Tage verzögert. Ich bewege meinen Hintern also besser auf dem schnellstem Wege auf die Burg, bevor Saetan einfällt, mir einen Tritt in selbigen zu versetzen.«
»Dann komme ich mit dir.«
Als sie die Stelle erreichten, an der sie auf die Winde aufspringen konnten, zögerte Lucivar. »Wie geht es Karla? Ich hatte keine Gelegenheit, sie zu sehen, bevor die Frauen zum Bergfried aufbrachen.«
Daemon starrte auf den unberührten Schnee. »Sie wird es überleben. Jaenelle glaubt, dass sie die Beine so weit heilen kann, dass Karla eines Tages wieder laufen können wird.«
»Jaenelle glaubt, es zu können?« Lucivar wurde blass. »Mutter der Nacht, Daemon, wenn Jaenelle sich nicht sicher ist, was hat man mit Karlas …«
»Frag nicht«, meinte Daemon. Dann atmetet er langsam aus und gab sich Mühe, gelassener zu klingen. »Frag nicht. Ich … möchte nicht darüber sprechen.« Doch es war Lucivar, der ihm die Frage gestellt hatte, also versuchte er es dennoch. »Es gibt kein Mittel gegen Hexenblut. Jaenelle sog das Gift in ihre Beine und von dort aus dem Körper, um die inneren Organe zu retten. Es … hat einen Großteil des Muskelgewebes zerstört, und diese Muskeln mussten …« Bei dem Gedanken an die ausgetrockneten Gliedmaßen, die einst gesunde Beine gewesen waren, wurde ihm übel.
»Lass gut sein«, sagte Lucivar sanft. »Lass gut sein.«
Beide schöpften ein paar Mal zitternd Atem. Erst dann meinte Daemon: »Je schneller wir Bericht erstatten, desto schneller kommen wir nach Hause.« Für ihn war zu Hause kein Ort, sondern eine Person – und in diesem Augenblick musste er unbedingt wissen, dass Jaenelle in Sicherheit war.
6 Terreille
Kartane hat einen Bericht geschickt.« Sorgfältig wählte Dorothea ein Stück gezuckertes Obst aus, biss davon ab und kaute langsam, um Hekatah so lange wie möglich warten zu lassen.
»Und?«, fragte Hekatah schließlich. »Ist das Tor in Glacia für unsere Zwecke sicher? Und ist das Dorf für unsere handverlesenen Einwanderer bereit?«
Dorothea griff nach einem weiteren Stück Obst. Diesmal leckte sie ein paar Mal genüsslich daran, bevor sie antwortete. »Die Dorfbewohner sind tot. Die Eyrier aber auch.«
»Was? Wie konnte das geschehen?«
»Der Bote, der sich mit Kartane getroffen hat, konnte herausfinden, was den Eyriern zugestoßen ist; nur, dass sie die Dorfbewohner umgebracht hatten und dann selbst den Tod fanden. « Sie legte eine kurze Pause ein. »Lord Hobart ist ebenfalls tot.«
Hekatah stand da, ohne sich zu rühren. »Und dieses Miststück von einer Königin, Karla? Ist da wenigstens alles nach Plan verlaufen?«
Dorothea zuckte mit den Schultern. »Sie verschwand im Laufe der Kämpfe. Doch da Ulka ziemlich … dramatisch … ums Leben kam, darf man wohl davon ausgehen, dass sie das Gift genommen hat.«
»Dann ist es aus mit ihr«, sagte Hekatah, deren Lippen der Anflug eines zufriedenen Lächelns umzuckte. »Selbst wenn es jemandem gelingen sollte, rechtzeitig ein Mittel gegen das hayllische Gift zu finden, wird das Hexenblut ihr den Garaus machen.«
»Unseren Plänen für Glacia ist ebenfalls der Garaus gemacht worden. Oder ist dir das noch nicht aufgefallen?«
Hekatah wischte den Einwand mit einer unwilligen Handbewegung fort. »Angesichts der Tatsache, was wir erreicht haben, stellt das lediglich eine kleine Unannehmlichkeit dar.«
Dorothea ließ das Obst zurück in die Schüssel fallen. »Rein gar nichts haben wir erreicht!«
»Du wirst immer halsstarriger, Dorothea«, säuselte Hekatah mit giftiger Süße. »Mittlerweile benimmst du dich schon so würdelos, wie du aussiehst.«
Das Blut hämmerte in Dorotheas Schläfen, und sie sehnte sich danach – oh, wie sehr sie sich danach sehnte! –, nur eine Kostprobe der Gefühle loszulassen, die immer heftiger in ihrem Innern tobten. Sie hasste Hekatah, war aber gleichzeitig auf das Luder angewiesen. Folglich lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und versetzte ihrem Gegenüber eine Wunde, die viel tiefer gehen würde als jeder körperliche Schmerz. »Zumindest habe ich noch all mein Haar. Die kahle Stelle hat zu nässen angefangen, meine Teure.«
Hekatah hob instinktiv eine Hand, um die Stelle zu verbergen. Mühsam hielt sie sich selbst davon ab, den eigenen Kopf zu berühren.
Der ohnmächtige Hass in Hekatahs stumpfen goldenen Augen machte Dorothea ein wenig Angst, erfüllte sie jedoch auch mit boshafter Schadenfreude.
»Wir können uns damit behelfen, heimlich die anderen Tore zu benutzen«, sagte Hekatah. »Jetzt haben wir etwas viel Besseres.«
»Und das wäre?«, erkundigte Dorothea sich höflich.
»Den Vorwand, den wir benötigten, um den Krieg anzufangen. « Hekatahs Lächeln bestand aus purer Bosheit.
»Ich verstehe.« Dorothea erwiderte das Lächeln.
»Die Einwanderer, welche die Dorfbewohner ersetzen sollten, werden nach Glacia gehen – genau wie sie es getan hätten, wenn Hobart uns jenes Dorf als Bezahlung für unsere Unterstützung überlassen hätte. Außerdem werden wir noch ein paar Immigranten aus anderen terreilleanischen Territorien hinzufügen. Als Begleiter geben wir ihnen Männer mit, die keine Ahnung haben, wo sich das ursprüngliche Dorf befand. Nur den Kutschern werden wir sagen, wo sie die glücklichen Familien abzusetzen haben – und das wird weit entfernt von jedem bewohnten Gebiet sein, sodass man uns auf keinen Fall auf die Schliche kommen wird. Selbstverständlich werden die Begleiter bestürzt sein, kein Anzeichen eines Dorfes entdecken zu können, das auf seine neue Bewohner wartet.« Ein träumerischer Ausdruck lag in Hekatahs Augen. »Die Truppe eyrischer Krieger, die sie dort erwartet, wird sich um alles kümmern. Das Blutbad wird … schrecklich sein. Doch es wird ein paar wenige Überlebende geben, denen die Flucht gelingt. Sie werden lange genug leben, um nach Kleinterreille zurückkehren und ein paar Leuten erzählen zu können, auf welch grausame Weise Terreilleaner in Kaeleer abgeschlachtet werden. Und sie werden lange genug überleben, um aussagen zu können, dass zwei Männer die Befehle gaben – ein Hayllier und ein Eyrier.«
»Niemand in Terreille wird daran zweifeln, dass es sich um Sadi und Yaslana handelte«, meinte Dorothea hämisch. »Sie werden denken, der Höllenfürst habe den Angriff befohlen und seine Söhne dorthin geschickt, um alles zu überwachen.«
»Genau.«
»Somit werden sich all meine Warnungen als gerechtfertigt herausstellen. Und sobald sich die Leute zu fragen beginnen, weshalb sie nichts von Freunden oder Familienangehörigen gehört haben…« Dorothea ließ sich mit einem zufriedenen Seufzen in ihren Sessel zurücksinken. Dann richtete sie sich unwillig wieder auf. »Allerdings müssen wir immer noch einen Weg finden, um Jaenelle Angelline im Zaum zu halten.«
»Oh, mit dem richtigen Anreiz werden wir sie schon dazu bringen, sich uns freiwillig zu ergeben.«
Dorothea stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Und welche Art Anreiz sollte sie dazu veranlassen?«
»Wir müssen uns nur einer Person als Köder bedienen, die sie liebt.«
7 Kaeleer
Saetan kroch die Kälte in sämtliche Knochen, während er Lucivars und Daemons Berichten lauschte. Nur zu gerne hätte er geglaubt, Lord Hobart habe einen Trupp Eyrier angeheuert, um die Macht in Glacia an sich zu reißen, und dass Mortons Tod sowie der Anschlag auf Karla eine rein glacianische Angelegenheit sei. Doch in den letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn auch noch andere Berichte ereilt. Zwei Bezirksköniginnen in Dharo waren zusammen mit ihren Begleitern ermordet worden. Eine Bande Landen hatten ein Rudel verwandter Wölfe angegriffen, die sich vor kurzem einer jungen Königin angeschlossen hatten. Während die Begleiter der Königin sich um diese Bedrohung gekümmert hatten, hatten ein paar Angehörige des Blutes ihre Flanke umgangen und die Königin umgebracht. Anschließend waren sie verschwunden und hatten die Landen zurückgelassen, die von den wutentbrannten Männern abgeschlachtet worden waren. Auf Scelt war ein Kriegerprinz, ein Jüngling, noch nicht alt genug, um der Dunkelheit sein Opfer darzubringen, mit aufgeschlitzter Kehle hinter einem Wirtshaus in seinem Heimatdorf gefunden worden.
Noch beunruhigender war die Kunde, dass Kalush angegriffen worden war, als sie in einem Park in Tajrana, ihrer eigenen Hauptstadt, spazieren gegangen war. Ihrer kleinen Tochter und ihr war nur deshalb nichts geschehen, weil es den Angreifern nicht gelang, ihren Schutzschild zu durchdringen – den mitternachtsschwarzen Schild, der dem Ring entstammte, den Jaenelle ihr gegeben hatte –, und weil Aaron, durch die Verbindung zu seinem Ring der Ehre alarmiert, in den Blutrausch verfallen war und die Angreifer mit einer wilden Grausamkeit niedermetzelte, die an Wahnsinn grenzte.
Es war nicht schwer, das dahinter steckende Muster zu erkennen, zumal es ihm bereits vertraut war. Fünfzigtausend Jahre schmolzen dahin, als hätte es sie niemals gegeben. Vor ihm hätten genauso gut Andulvar und Mephis sitzen können, die ihre Bedenken über rasche, anscheinend willkürliche Angriffe einem Mann gegenüber äußerten, der darauf bestanden hatte, dass er sich als Hüter nicht länger in die Angelegenheiten der Lebenden einmischen konnte. Er war immer noch Hüter, doch mittlerweile war er zu sehr in die Angelegenheiten der Lebenden verstrickt, um sich nach den Regeln zu richten, die für Hüter galten.
Es würde Krieg geben.
Er fragte sich, ob Daemon und Lucivar sich bereits darüber im Klaren waren.
Außerdem fragte er sich, wie vielen Menschen, die er liebte, er diesmal bei ihrem Übergang in das dämonentote Dasein würde helfen müssen – und wie viele spurlos verschwinden würden. Wie Andulvars Sohn Ravenar. Wie sein eigener Sohn, sein Zweitgeborener, Peyton.
»Vater?«, fragte Daemon leise.
Er merkte, dass sie ihn beide gespannt betrachteten, doch er wandte seine Aufmerksamkeit alleine Daemon zu; dem Sohn, der sein Spiegel war und sein wahrer Erbe; dem Sohn, den er am besten verstand – und am schlechtesten.
Bevor er Gelegenheit hatte, ihnen von den anderen Überfällen zu erzählen, klopfte Beale an die Tür des Arbeitszimmers und trat ein.
»Verzeih die Störung, Höllenfürst«, sagte der Butler, »aber ein Krieger ist hier, der dich sprechen möchte. Er hat einen Brief bei sich.«
»Dann lass dir den Brief aushändigen. Im Moment wünsche ich nicht gestört zu werden.«
»Das sagte ich ihm bereits, Höllenfürst. Er meinte, er müsse ihn persönlich überbringen.«
Saetan hielt kurz inne. »Also gut.«
Lucivar sprang von seinem Sessel auf und stellte sich neben den Eingang. Daemon erhob sich und setzte sich auf eine Ecke des Schreibtisches.
Der angespannte Krieger und der träge Mann. Saetan konnte sich ohne weiteres vorstellen, dass sie diese Rollen bereits zuvor gespielt hatten – und zwar gut. Solange Lucivars Aggressivität so nahe an der Oberfläche schwelte, würde jeder seine Aufmerksamkeit auf ihn richten – doch der Todesstoß würde letzten Endes von Daemon kommen.
Der Krieger, der das Arbeitszimmer betrat, sah blass und nervös aus. Außerdem schwitzte er. Er erbleichte noch mehr, als er Lucivar und Daemon erblickte.
Saetan ging um den Schreibtisch herum. »Du hast einen Brief für mich?«
Der Krieger musste hart schlucken. »Ja, Sir.« Er hielt dem Höllenfürsten einen Umschlag entgegen. Die Tinte, die sich darauf befand, war ein wenig von seinen feuchten Händen verschmiert worden.
Saetan tastete den Briefumschlag mental ab, fand jedoch nichts. Kein Anzeichen eines Zaubers. Keine Spur Gift. Er nahm ihn entgegen und musterte den Krieger.
»Ich habe ihn heute Morgen im Schreibtisch unseres Gästezimmers gefunden«, erklärte der Mann hastig. »Ich wusste nicht, dass er sich dort befand.«
Saetan blickte auf den Umschlag, auf dem lediglich sein eigener Name geschrieben stand. »Du hast ihn also heute Morgen gefunden. Ist das von Bedeutung?«
»Ich hoffe nicht. Ich meine …« Der Mann holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. »Lord Magstrom ist ... war … der Großvater meiner Ehefrau. Letzten Herbst kam er uns besuchen, kurz bevor … Nun, vorher eben. Ihn schien etwas zu beunruhigen, aber wir achteten nicht weiter darauf. Meine Frau … Wir hatten gerade mit Sicherheit herausgefunden, dass sie schwanger war. Das Jahr zuvor hatte sie eine Fehlgeburt erlitten, und wir hatten Angst, dass es erneut passieren könne. Die Heilerin meint, sie müsse sehr vorsichtig sein.«
Warum verteidigte der Mann sich ihm gegenüber? »Geht es deiner Frau gut?«
»Ja, vielen Dank, es geht ihr gut, aber sie muss auf sich aufpassen. Großvater Magstrom erwähnte den Brief nicht. Zumindest kann ich mich nicht entsinnen, dass er es getan hätte, und dann, nachdem er … ermordet wurde …« Die Hände des Mannes begannen zu zittern. »Ich hoffe, es war nichts Dringendes. Sobald ich den Brief entdeckte, wusste ich, dass ich auf der Stelle herkommen musste. Ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht.«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Saetan nachsichtig. »Wahrscheinlich sind es nur die Informationen, die Lord Magstrom mir normalerweise nach einem Dienstbasar zukommen ließ – eine Art Bestätigung, nichts weiter.«
Der Mann war sichtlich erleichtert.
Saetan warf dem gelben Juwel des Kriegers einen Blick zu. »Darf ich dir eine Kutsche anbieten, die dich nach Hause bringen wird?«
»Oh, ich möchte dir keine Umstände bereiten.«
»Es bereitet mir keine Umstände – und mit einem Fahrer, der die dunklen Winde benutzen kann, wirst du früh genug zu Hause eintreffen, um mit deiner Lady zu Abend zu essen.«
Der Krieger zögerte einen weiteren Augenblick. »Danke. Ich … bin nicht gerne allzu lange von ihr fort.« Er wirkte ein wenig verlegen. »Sie sagt, ich mache zu viel Aufhebens um sie.«
Saetan lächelte. »Du wirst Vater. Da ist es dein gutes Recht, Aufhebens zu machen.« Er führte den Mann aus dem Arbeitszimmer, erteilte Beale Anweisungen bezüglich der Kutsche und kehrte dann zu Daemon und Lucivar zurück. Mithilfe des Brieföffners von seinem Schreibtisch schlitzte er vorsichtig den Umschlag auf. Er rief seine halbmondförmige Brille herbei, faltete den Brief auseinander und begann zu lesen.
»Du hast Berichte von Magstrom über die Dienstbasare erhalten?«, wollte Lucivar wissen, während er nach dem Brandyglas griff, das Daemon ihm eingeschenkt hatte.
»Normalerweise nicht.« Und je weiter er las, desto weniger gefiel es ihm, diesen Bericht erhalten zu haben. Während er den Brief ein zweites Mal durchlas, lauschte er Daemons und Lucivars Unterhaltung nur mit halbem Ohr – bis Daemon etwas sagte, das seine Aufmerksamkeit erregte. »Was war das eben?«
»Ich meinte, Lord Magstrom habe angedeutet, er werde Briefe an ein paar Königinnen außerhalb Kleinterreilles schreiben«, wiederholte Daemon, wobei er den Brandy in seinem Glas kreisen ließ. »Doch nachdem es Jorval übernommen hatte, sich um meine Einwanderung zu kümmern, erfuhr ich, dass die Königinnen außerhalb Kleinterreilles einen Kriegerprinzen mit schwarzem Juwel nicht in Betracht ziehen würden. «
Lucivar schnaubte verächtlich. »Wahrscheinlich sorgte Jorval dafür, dass die Briefe nie abgeschickt wurden. Beim Feuer der Hölle, Daemon, du hast die übrigen Territoriumsköniginnen doch selbst kennen gelernt! Wenn eine von ihnen einen solchen Brief erhalten hätte, wäre ihr Haushofmeister auf dem schnellsten Weg zu dem Basar geschickt worden, um den Vertrag zu unterzeichnen.«
»Lest das.« Saetan reichte Daemon den Brief.
»Das verstehe ich nicht«, meinte Daemon, nachdem er die Hälfte des Briefes gelesen hatte. »Sollen nicht sämtliche Einwanderer, die den Dienstbasar besuchen, auf den Listen aufgeführt werden?«
»Ja«, sagte Lucivar grimmig, während er über Daemons Schulter mitlas. »Und du hast auf keiner einzigen gestanden.« Er sah Saetan an. »Diesen Umstand habe ich damals erwähnt. «
»Ja, das hast du getan«, erwiderte Saetan. »Aber da Daemon letzten Endes doch am Dunklen Hof gelandet ist, ist mir die Bedeutsamkeit deiner Beobachtung entgangen.«
Daemon gab Saetan den Brief zurück. »Es muss irgendwo eine Liste gegeben haben. Woher hätten die Königinnen in Kleinterreille ansonsten wissen können, dass ich verfügbar war?«
Saetan klang weiterhin gelassen. »Um welche Königinnen handelte es sich dabei?«
»Es gab vier Königinnen in Kleinterreille, die gewillt waren, mich bei sich aufzunehmen«, antwortete Daemon langsam. »Jorval bestand darauf, dass es sonst niemanden gäbe.«
»Wenn du also nicht zufällig Lucivar über den Weg gelaufen wärst …«
Daemon erstarrte. »Ich hätte einen Vertrag bei einer von ihnen unterschrieben.«
Leise fluchend fing Lucivar an, in dem Zimmer auf- und abzugehen.
Saetan nickte nur. »Du hättest einen Vertrag bei einer der von Jorval handverlesenen Königinnen ausgesucht und wärst in irgendeinem versteckten Winkel Kleinterreilles verschwunden – ohne dass jemand etwas von deiner Anwesenheit geahnt hätte.«
»Worin hätte der Sinn dieser Übung bestanden?«, wollte Daemon aufgebracht wissen.
»In Kleinterreille wird bei eingewanderten Männern der Ring des Gehorsams verwandt«, fuhr Lucivar ihn an. »Das wäre der Sinn gewesen. Es wäre genau dasselbe wie in Terreille gewesen.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Saetan, der sich immer noch bemühte, ruhig zu klingen. »Wenn man Daemon gut und sorgsam behandelt hätte – was gewiss Teil der Abmachung war –, hätte kein Grund für ihn bestanden, nicht die Kraft seiner Juwelen gegen einen Feind einzusetzen, der die Königin bedrohte, der er diente. Und kein Weg hätte mehr zurückgeführt, falls er Schwarz eingesetzt hätte. Die Grenzen wären klar gewesen.«
Daemon starrte ihn an.
»Was macht das schon?« Lucivar sah die beiden anderen nervös an. »Daemon ist bei uns.«
»Ja«, meinte Saetan sanft, »das ist er. Aber wo sind die anderen Männer, deren Namen von den Listen verschwunden sind?«
8 Kaeleer
Die goldene Spinne betrachtete eingehend die beiden Verworrenen Netze aus Träumen und Visionen.
Mehr Tode. Viele Tode.
Die Zeit war gekommen.
Denk an dieses Netz. Kenne es. Kenne jeden einzelnen Faden.
Im Laufe der kalten Jahreszeit war sie aus ihren eigenen Träumen gerissen worden und hatte den Drang verspürt, das Netz zu betrachten, das den lebenden Mythos geformt hatte, die Königin, die Hexe war. Und ihr war klar geworden, dass es nicht ausreichen würde, weil das Leben im Fleisch den Traum verändert hatte. Er war jetzt mehr. Und irgendwie musste es ihr gelingen, dieses ›mehr‹ zu dem Netz hinzuzufügen. Ansonsten würde Kaeleers Herz zu viele Jahreszeiten lang fort sein – und nicht mehr ganz dasselbe sein, wenn der Traum wiederkehrte.
Sie fuhr fort, die Netze zu betrachten.
Der braune Hund, Ladvarian, war der Schlüssel. Er war in der Lage, ihr zu bringen, was sie benötigte.
Ja, die Zeit war gekommen.
Sie kehrte in die Kammer in den heiligen Höhlen zurück und begann an dem Netz für Träume zu weben, die bereits Fleisch geworden waren.