Kapitel 13
1 Kaeleer
Der Erste Kreis des Dunklen Hofes hatte sich im Bergfried versammelt.
Zumindest hatten sich die menschlichen Mitglieder des Ersten Kreises versammelt, verbesserte Saetan sich, während er Khardeens grausigem Bericht über die Angriffe lauschte, die im Laufe der vergangenen drei Wochen auf Scelt stattgefunden hatten. In den letzten drei Wochen hatten sich überall Angriffe ereignet. Vielleicht hatten die verwandten Wesen deswegen Jaenelles Aufruf nicht Folge geleistet, zum Bergfried zu kommen. Es war gut möglich, dass die verwandten Königinnen und Kriegerprinzen nicht wagten, ihren jeweiligen Ländern die eigene Kraft zu entziehen. Oder vielleicht bahnte sich ein Riss zwischen Menschen und verwandten Wesen an. Zogen sie sich von etwas zurück, das sie als reinen Menschenkonflikt betrachteten, um sich selbst zu retten?
Doch er hätte erwartet, dass zumindest Ladvarian kommen würde, um anschließend den anderen verwandten Wesen den Stand der Dinge erklären zu können. Ladvarian musste doch klar sein, dass der Konflikt sich nicht auf die Menschen allein beschränken würde. Beim Feuer der Hölle, längst waren auch verwandte Wesen angegriffen worden!
Doch Ladvarian war nicht da – und dieser Umstand bereitete ihm Sorge.
Noch zwei weitere Dinge beunruhigten ihn: das Aufflackern von trauriger Resignation, das er an Andulvar, Prothvar und Mephis spürte – die alle im letzten Krieg zwischen Terreille und Kaeleer gekämpft hatten und gefallen waren –, und der Umstand, dass Jaenelle die letzten beiden Stunden über mit derart leerem Blick dagesessen hatte, dass er sich unwillkürlich fragte, ob sie am Ende einen einfachen Schatten erschaffen hatte, der nun ihren Platz an der Tafel einnahm.
»Uns lediglich gegen diese Überfälle zur Wehr zu setzen, wird Land und Leute nicht retten«, meinte Aaron. »In Terreille sammeln sich ganze Heere gegen uns. Wenn der Feind, der sich bereits in Kaeleer befindet, die Kontrolle über ein Tor erringt und es jenem Heere öffnet … Wir müssen auf der Stelle etwas unternehmen.«
»Ja, ihr müsst etwas unternehmen«, sagte Jaenelle mit dumpfer Stimme. »Ihr müsst euch zurückziehen.«
Von allen Seiten wurden Proteste laut.
»Ihr müsst euch zurückziehen«, wiederholte Jaenelle. »Und ihr werdet sämtliche Königinnen und Kriegerprinzen aus euren Territorien zum Bergfried schicken.«
Ihre Aussage erntete verblüfftes Schweigen.
»Aber Jaenelle«, sagte Morghann kurz darauf, »die Kriegerprinzen werden benötigt, um die Kämpfer anzuführen. Und von den Königinnen zu verlangen, ihr Land zu verlassen, während ihr Volk angegriffen wird …«
»Man wird sie nicht brauchen, wenn die Leute sich zurückziehen. «
»Wie weit sollen wir uns denn genau zurückziehen?«, wollte Gabrielle unwirsch wissen.
»So weit wie nötig.«
Aaron schüttelte den Kopf. »Wir müssen unsere Krieger zu Heeren zusammenziehen, um gegen die Terreilleaner zu kämpfen und …«
»Kaeleer wird nicht gegen Terreille in den Krieg ziehen«, erklärte Jaenelle mit ihrer Mitternachtsstimme.
Chaosti sprang von seinem Stuhl auf. »Wir befinden uns längst im Krieg mit Terreille!«
»Nein, das tun wir nicht.«
»Na, dann befinden wir uns eben im Krieg mit Kleinterreille, da die Angreifer dort Unterschlupf gefunden haben«, knurrte Lucivar zornig. »Das ist doch dasselbe.«
Jaenelles Augen wurden zu Eis. »Wir befinden uns mit niemandem im Krieg.«
»Katze, denk doch mal nach …«
»Vergiss nicht, mit wem du sprichst.«
Lucivar sah ihr in die Augen und erblasste. Schließlich sagte er widerstrebend: »Ich bitte um Verzeihung, Lady.«
Jaenelle erhob sich. »Wenn vor dem Angriff die Möglichkeit bestehen sollte, euch zurückzuziehen, dann tut es. Wenn nicht, lasst euch auf so wenig Kampfhandlungen wie möglich ein. Verteidigt euch so lange, bis es euch gelingt, euch zurückzuziehen, aber greift nicht an. Und bringt die Königinnen und Kriegerprinzen zum Bergfried. Es werden keine Ausnahmen gemacht, und ich akzeptiere keinerlei Ausflüchte.«
Nachdem Jaenelle den Sitzungssaal verlassen hatte, herrschte lange Schweigen.
»Sie denkt nicht klar«, sagte Kalush zögernd.
»Seit dem ersten Angriff verhält sie sich eigenartig«, zischte Gabrielle, woraufhin sie Karla einen entschuldigenden Blick zuwarf.
»Ist schon gut«, räumte Karla langsam ein, der das Sprechen offensichtlich schwer fiel. »Sie verhält sich seitdem tatsächlich seltsam. Ich habe mich gefragt, ob es sie irgendwie geschwächt hat, mich zu heilen.«
»Sie wird einzig und allein von ihrer Abneigung gegen das Töten angetrieben«, meinte Lucivar aufgebracht. »Doch für gewöhnlich ist sie scharfsichtig genug, um das Offensichtliche zu erkennen. Wir befinden uns im Krieg. Um das Wort herumzutanzen, ändert nichts an der Tatsache.«
»Du würdest dich deiner Königin widersetzen?«, wollte Daemon sanft, beinahe träge wissen.
Lucivars augenblickliche, fühlbare Anspannung ließ alle Anwesenden zusammenfahren.
Was spielt sich zwischen den beiden ab?, fragte sich Saetan, der beobachtete, wie Daemon und Lucivar einander wortlos anstarrten. Als dem Höllenfürsten Daemons schläfriger Blick auffiel, lief ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken.
»Ich glaube nicht, dass die Lady die Auswirkungen ihres Befehls bedacht hat«, meinte Lucivar vorsichtig.
»Oh«, sagte Daemon mit täuschend ruhiger Stimme, »ich denke, sie hat sie sehr wohl bedacht. Du stimmst nur nicht mit ihrer Einschätzung überein. Das ist kein ausreichender Grund, um dich über ihren Befehl hinwegzusetzen.«
»Wenn man bedenkt, was du an anderen Höfen getan hast, bist du ebenfalls nicht unbedingt ein Paradebeispiel an Gehorsam«, versetzte Lucivar leicht erzürnt.
»Das ist nicht von Belang. Wir sprechen von dir und diesem bestimmten Hof. Und ich möchte dir ans Herz legen, Yaslana, ihr weder mit Widerspruch noch mit Ungehorsam zur Last zu fallen. Wenn du das tun solltest …« Daemon lächelte nur.
Lucivar erschauderte.
Nachdem Daemon aus dem Saal geglitten war, fragte Saetan : »Spielt er uns etwas vor?« Ihm wurde unbehaglich zumute, als Lucivar lediglich auf den Tisch starrte. »Lucivar?«
»Der Sadist täuscht nichts vor«, antwortete Lucivar schroff. »Das hat er nicht nötig.« Mit diesen Worten verließ er den Raum.
»Offensichtlich gibt es nichts mehr zu diskutieren«, sagte Saetan und erhob sich. Ein rascher Seitenblick ließ Andulvar, Prothvar und Mephis aufspringen.
Er ließ die anderen Männer vorangehen. Als er die Tür beinahe hinter sich geschlossen hatte, hörte er Aaron sagen: »Was wissen wir wirklich über Daemon Sadi?«
Geräuschlos machte er die Tür hinter sich zu. Als er sich zu den anderen drei Männern umdrehte, spiegelte sich dieselbe Frage in Andulvars Augen wider – und er war sich nicht länger sicher, ob er eine Antwort darauf hatte.
2 Kaeleer
Was wissen wir wirklich über Daemon Sadi?«, wollte Aaron wissen.
Karla nahm das Gemurmel und die Gespräche der anderen nur mehr als undeutlichen Lärm wahr, während sie immer tiefer in ihren eigenen Gedanken versank.
Was wussten sie wirklich über Daemon Sadi?
Er war ein Kriegerprinz mit schwarzem Juwel und von Natur aus eine Schwarze Witwe – ein höchst gefährlicher und ein wunderschöner Mann.
Er war der Spiegel des Höllenfürsten, aber nicht dessen genaues Spiegelbild.
Ein Mann, der den Großteil seines Lebens auf die eine oder andere Weise an Dorothea SaDiablo, Kaeleers Feindin, gekettet gewesen war.
Er war ein Mann, der Frauen verstand. Da sie das Mitleid in den Augen der Bediensteten nicht ertragen hatte, die ihr in den ersten Tagen nach ihrer Heilung in die Badewanne halfen, hatte sie darauf bestanden, alleine zurechtzukommen. Mithilfe der Kunst war sie in der Lage, sich auszuziehen und in die Wanne zu steigen, doch sie schaffte es nicht, sich gut genug zu waschen, zumal die Abwehrreaktion gegen die Gifte dazu geführt hatte, dass sie sich lächerlich schnell häutete. Eines Abends war Daemon aufgetaucht, um ihr zur Hand zu gehen. Sie hatte ihn angefahren, er solle verschwinden. Seine Antwort, die er mit solch freundlicher Stimme vorgetragen hatte, dass es ein paar Sekunden gedauert hatte, bis sie den Inhalt seiner Worte begriffen hatte, war in ihrer Unverschämtheit derart kreativ gewesen, dass Karla sich in der Wanne befand und sanft, aber gründlich gewaschen wurde, bevor sie erneut zur Widerrede ansetzen konnte. Seine Berührungen waren weder unpersönlich noch sexuell aufgeladen gewesen. Doch als er damit begonnen hatte, ihr die Kopfhaut zu massieren, war sie von einer sinnlichen Wohligkeit durchflutet worden, die sie so noch nie zuvor erlebt hatte.
Von daher verstand sie, warum die anderen sich Sorgen machten. Eine Frau konnte ohne weiteres von jenen Berührungen abhängig werden und zu vielem bereit sein, um zu verhindern, dass sie aufhörten. Und Jaenelle hatte sich seit dem ersten Überfall tatsächlich eigenartig verhalten. Doch Karla glaubte nicht, dass ihr merkwürdiges Verhalten auch nur das Geringste mit Daemon zu tun hatte.
Es gab noch eine Sache, die sie über Daemon Sadi wusste; etwas, das sie in dem Verworrenen Netz erblickt hatte, das sie vor ihrem eigenen Tod gewarnt hatte: Er war ein Freund, der zum Feind werden würde, um ein Freund zu bleiben.
3 Kaeleer
Was hat Daemon an sich, vor dem Lucivar solch eine Heidenangst hat?«, fragte Andulvar, sobald die vier Männer einen kleinen Salon im Bergfried betraten.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Saetan. Er vermied die Blicke der anderen, indem er über einer Zunge Hexenfeuer ein Glas Yarbarah erwärmte.
Er wusste es tatsächlich nicht. Lucivar hatte es immer vermieden, über die Zeiten zu sprechen, als Daemon und er sich an terreilleanischen Höfen in die Quere gekommen waren. Einmal hatte Lucivar gesagt, vor die Wahl gestellt, gegen den Sadisten oder den Höllenfürsten antreten zu müssen, würde er sich für den Höllenfürsten entscheiden, da er in dem Fall zumindest die Chance habe, als Sieger hervorzugehen.
Was an Daemons Lächeln war es, das Lucivar derart erschüttern konnte? Was hatte Daemon an sich, das einen aggressiven Mann wie Lucivar zum Nachgeben bewegen konnte? Und was mochte Daemons Anwesenheit im Bergfried für sie alle bedeuten?
»Höllenfürst!« Prothvar stieß Saetans Hand von dem Hexenfeuer fort, bevor der Yarbarah zu kochen anfangen konnte.
Saetan stellte das Glas ab. Der Yarbarah war ohnehin nicht mehr genießbar.
»SaDiablo«, meinte Andulvar leise, »müssen wir aufpassen, dass uns niemand in den Rücken fällt?«
Es kam ihm nicht in den Sinn, den anderen eine beruhigende Lüge aufzutischen. »Ich weiß es nicht.«
4 Kaeleer
Ladvarian trottete erschöpft auf Halaway zu. Er folgte einem sanften, aber hartnäckigen Ruf. Ab und an stieß er ein wütendes Knurren aus, um seiner Enttäuschung und seinem wachsenden Zorn Luft zu machen.
Wie konnte ein Ort, der so groß wie die Burg war, nicht über das verfügen, was er benötigte? Oh, er hatte etliche Dinge gefunden, die beinahe richtig waren, aber nichts, das tatsächlich das Richtige gewesen wäre. Daher seine Enttäuschung. Sein Zorn allerdings …
Die verwandten Wesen hatten so lange auf den lebenden Mythos gewartet. Diesen Traum. Diesen ganz besonderen. Und nun würde er von den Menschen verdorben werden.
Nein, er würde nicht verdorben werden! Die verwandten Wesen sammelten sich. Sobald die Traumweberin ihnen eröffnete, was zu tun war, würden sie handeln.
Als er das gepflegte Häuschen in Halaway erreichte, ging er zur Hintertür und bellte einmal höflich. Tersa öffnete ein Fenster im ersten Stock. »Komm herein, kleiner Bruder.«
Mithilfe der Kunst schwebte er zum Fenster empor und glitt hindurch. Die meisten verwandten Wesen nannten Tersa ›die Seltsame‹. Das war keineswegs respektlos gemeint. Ihnen war klar, dass sie eine Schwarze Witwe war, die auf Straßen wanderte, welche die meisten Angehörigen des Blutes niemals zu Gesicht bekommen würden. Sie war etwas Besonderes. Diesen Umstand hatte sie mit der Lady gemeinsam.
Obwohl er das alles wusste, stellten sich seine Nackenhaare auf, als er das Zimmer betrat.
Ein niedriges, schmales Bett – genau das, wonach er auf der Burg gesucht hatte! Er trat vorsichtig einen Schritt näher und öffnete seine Sinne. Es roch nach nichts. Dem Bett hätte Menschengeruch anhaften müssen sowie die Reste der mentalen Signatur derjenigen, die das Bett, die Matratze und das Bettzeug angefertigt hatten.
»Es ist alles gereinigt worden«, meinte Tersa gelassen. »Keinerlei mentale Signaturen werden die Traumweberei stören.«
*Die Traumweberei?*, meinte Ladvarian wachsam.
»In dem Schrankkoffer lassen sich Sachen unterbringen, außerdem kann man ihn als Nachttisch verwenden. Vergiss nicht, Kleidung für warmes Wetter wie auch für das Frühjahr mitzunehmen. Lieblingssachen. Kleidungsstücke, denen viel ihrer Signatur anhaftet, auch wenn sie gewaschen worden sind.«
Ladvarian wich ein paar Schritte zurück. *Warum sollte ich Kleidung mitnehmen?*
Tersa lächelte und erklärte nachsichtig: »Weil Hexe kein Fell hat.« Ihre Augen blickten tief in ihr eigenes Innerstes, und ihr Blick wurde leer und weit. »Es ist beinahe an der Zeit, die offenen Rechnungen zu begleichen. Die Überlebenden werden dienen, aber es wird nicht viele Überlebende geben. Die Schreie … Schreie der Freude und des Schmerzes, der Wut und des Triumphes. Sie wird kommen.« Ihre Augen richteten sich wieder auf ihn. »Und die verwandten Wesen werden den Traum im Fleisch verankern.«
*Ja, Lady*, sagte Ladvarian respektvoll.
Tersa griff nach einer kobaltblauen Schüssel, die in der Nähe auf einer Frisierkommode stand. Mithilfe der Kunst ließ sie die Schüssel in der Luft schweben. »Wenn du die Traumweberin das nächste Mal siehst, richte ihr aus, auf diese Weise werde sie erlangen, was sie benötigt.«
Ladvarian verlagerte unruhig sein Gewicht von einer Pfote auf die andere. Die arachnianische Königin hatte Tersa nicht erwähnt. Warum wusste Tersa dann so viel über die arachnianische Königin?
Tersa tauchte einen Finger in die Schüssel. Als sie die Hand wieder hob, hing ein Wassertropfen von ihrem Finger. Anstatt nach unten zu fallen, weitete das Wasser sich wie ein Tropfen geblasenen Glases aus, eine Perle aus Wasser. Mit dem Daumennagel stach Tersa sich in einen Finger ihrer anderen Hand, sodass ein Blutstropfen hervorquoll. »Und das Blut soll zum Blut singen.«
Ladvarian konnte die Macht spüren, die in den Blutstropfen floss.
»Das Blut soll der Fluss der Erinnerung sein.« Sie bewegte die Hand und berührte mit dem Blutstropfen den Wassertropfen. Das Blut floss hindurch, bis es sich ganz darin befand.
Nachdem Tersa einen Schutzschild um die Wasserblase gelegt hatte, steckte sie die Perle behutsam in eine kleine, gepolsterte Schachtel, die sie Ladvarian entgegenhielt. »Sieh.«
Er öffnete seinen Geist und streckte vorsichtig einen mentalen Fühler aus.
Bilder und Erinnerungen huschten an ihm vorbei. Erinnerungen an ein junges Mädchen, das eine erschöpfte Frau aus dem Verzerrten Reich führte. Jaenelle, jetzt älter, die versprach, Daemon zu finden. Gespräche, Lachen, Freude an der Welt. Tersas Erinnerungen.
»Du wirst es der Weberin ausrichten?«, fragte Tersa.
Ladvarian ließ die Schachtel verschwinden. *Ich werde es ihr ausrichten.*
»Noch etwas, kleiner Bruder. Weise Lorns Gabe nicht zurück. Auch sie wird die Weberin benötigen.«
5 Kaeleer
Daemon ließ die Tür offen stehen, als er Jaenelles Arbeitsraum betrat. Sie hatte jeden Tag, seitdem sie Karla zum Bergfried gebracht hatte, um den Heilungsprozess fortzuführen, stundenlang in diesem Zimmer verbracht. Doch er glaubte nicht, dass ihre Zerstreutheit oder die kontrollierte hektische Aktivität auch nur das Geringste mit Karla zu tun hatten. Ja, er war sich sogar sicher, dass er der Einzige war, dem sie erlaubt hatte, etwas von dieser fiebrigen Hektik mitzuerleben. Etwas nagte an ihr, und nach der kleinen Szene in dem Sitzungssaal war er fest entschlossen herauszufinden, was es war.
»Jaenelle, wir müssen miteinander reden.«
Sie sah von dem Bücherberg auf, der sich auf einem Tisch türmte. »Ich habe jetzt keine Zeit zu reden, Daemon«, sagte sie abweisend.
Im nächsten Augenblick knallte er die Tür mit solcher Gewalt zu, dass alles in dem Raum – sie eingeschlossen – einen Satz machte.
»Dann nimm dir die Zeit«, meinte er eine Spur zu sanft. Als sie Einspruch erheben wollte, kam er ihr zuvor: »Ich tue alles für dich. Alles. Doch bevor ich mich dem restlichen Ersten Kreis entgegenstelle, möchte ich wissen, warum.«
»Kaeleer darf nicht gegen Terreille in den Krieg ziehen.« Ihre Stimme bebte.
»Warum?«
Heiße, zornige Tränen traten ihr in die Augen. »Wenn wir in den Krieg ziehen, wird jede einzelne Person sterben, die sich gerade eben in dem Saal befunden hat.«
»Das weißt du nicht«, fuhr er sie an.
Die Tränen rannen ihr die Wangen hinab und trafen ihn mitten ins Herz. »Doch, ich weiß es.«
Daemon wippte auf den Fersen. Sie war eine sehr starke, sehr begabte Schwarze Witwe. Wenn sie den Tod aller Anwesenden in einem Verworrenen Netz der Träume und Visionen gesehen hatte, gab es keinen Raum für Zweifel. Das erklärte ihren Widerstand.
Er holte tief Atem, um ruhiger zu werden. »Meine Liebste … manchmal ist es notwendig, zu töten. Manchmal ist es die einzige Möglichkeit, um das Gute zu bewahren.«
»Ich weiß.« Jaenelle warf ein Buch auf den Tisch. »Ich habe die letzten drei Wochen damit verbracht, nach einer Antwort zu suchen. Nein, ich suche schon länger, aber die Zeit wird knapp. Ich kann es spüren.«
»Jaenelle«, warf er behutsam ein, »du bist sehr stark ...« Der Blick in ihren Augen grenzte an Hass, doch er ließ nicht locker. »Ein Teil deiner Macht würde ausreichen, um ein Heer aus Terreille zu zerstören.«
»Und während ich das eine Heer zerstörte, würden sechs weitere die Angehörigen des Blutes in Kaeleer niedermetzeln. Selbst wenn ich sie vernichte, eine Armee nach der anderen, wird es keinen Unterschied machen.«
»Du wärst aber doch nicht die Einzige, die kämpft«, beharrte Daemon und stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch auf, um sich zu ihr zu beugen. »Beim Feuer der Hölle, Frau! Sieh dir doch an, wie stark die Männer in diesem Reich sind! Sieh dir die Juwelen an. Schwarz. Schwarzgrau. Grau. Wir sind stärker als sie.«
»Im letzten Krieg verfügte Kaeleer ebenfalls über die stärkeren Männer«, erwiderte Jaenelle leise. »Und Kaeleer hat gesiegt – knapp nur, aber es hat gereicht. Doch all diese Männer sind ums Leben gekommen. Und es machte keinen Unterschied. Der Makel, von dem sich jener Krieg genährt hat, ist immer noch unter den Angehörigen des Blutes vorhanden, ja, er ist noch stärker geworden.«
»Hekatah und Dorothea können vernichtet werden.«
Jaenelle kam um den Tisch herum, um in dem Zimmer auf und ab gehen zu können. »Zu diesem Zeitpunkt würde das nichts nutzen. Selbst wenn sie sterben, selbst wenn Kaeleer die erste Schlacht gewinnt, wird das Schattenreich nicht siegen. Der Makel hat sich schon zu weit ausgebreitet. Terreille wird ein Heer nach dem anderen schicken. Immer neue Armeen werden sie schicken, und das Kämpfen wird kein Ende finden, weder in Terreille noch in Kaeleer, bis die Angehörigen des Blutes nicht mehr wissen, wer sie sind, oder dass sie die Hüter der Reiche sein sollten.«
»Wir befinden uns im Krieg, Jaenelle«, meinte Daemon ernst. »Es ist gleichgültig, ob er offiziell erklärt wurde oder nicht. Es herrscht Krieg.«
»Nein.«
»Du verfügst über die Macht, es zu ändern. Wenn du deine Kräfte entfesselst …«
»Das kann ich nicht.«
»Du kannst es.«
»Ich kann es nicht!«
»Warum nicht?«
Sie wandte sich ihm zu. »Weil ich zu stark bin, verflucht noch mal! Wenn ich meine Kräfte entfessele, werden die Angehörigen des Blutes untergehen. Alle! In Terreille. In Kaeleer. In der Hölle.«
Daemons Knie wurden weich. Mit letzter Kraft schob er ein paar Bücher beiseite, um sich auf den Tisch setzen zu können. Du hast gesagt, sie sei sechs Mal so stark wie wir beide zusammen. Oh, Vater, du hattest ja so Unrecht! Sechs Mal? Sechshundert Mal? Sechstausend Mal?
Genug Macht, um sämtliche Angehörige des Blutes auszulöschen.
Die Arme um den Oberkörper geschlungen, ging Jaenelle in dem Zimmer auf und ab. »Der Bergfried ist die heilige Stätte, der Zufluchtsort. Er würde nicht davon betroffen sein. Doch wie viele passen hier schon hinein? Ein paar tausend, wenn überhaupt? Wer soll sie auswählen, Daemon? Was, wenn die falsche Wahl getroffen wird, und der Makel weiterhin erhalten bleibt, wenn auch verborgen – bloß weil jemand so verdammt sicher ist, Recht zu haben?«
Sie dachte an Alexandra. Hätte irgendjemand geglaubt, dass sie schlecht war? Irregeleitet, gewiss; aber solange Königinnen nicht offensichtlich verdorben waren, würden sie auf jeden Fall ausgewählt. Und was war mit jemandem wie Vania? Sie wies nicht die Art Makel auf, von dem Jaenelle sprach, war aber eine Frau, welche die Männer um sich her verbittert werden ließ und letzten Endes ein Land in den Ruin treiben konnte. Genau die Art Frau, die Dorothea züchtete.
»Blut ist Blut«, fuhr Jaenelle fort. »Zweibeiner, Vierbeiner, das ist egal. Blut ist Blut. Die Gabe der Kunst kam aus einer Quelle und verbindet uns alle.«
Demzufolge würden nicht einmal die verwandten Wesen verschont bleiben. Kein Wunder, dass sie derart verzweifelt war.
»Siegt Kaeleer?«, wollte Daemon leise wissen.
Eine ganze Minute verstrich, bevor Jaenelle antwortete. »Ja, aber der Preis für diesen Sieg werden sämtliche Königinnen und sämtliche Kriegerprinzen aus Kaeleer sein.«
Daemon entsann sich all der anständigen Menschen, denen er seit seiner Ankunft in Kaeleer begegnet war. Er dachte an die verwandten Wesen. Er dachte an die Kinder. Am deutlichsten stand ihm Daemonars Bild vor Augen, Lucivars Sohn. Wenn es ihnen aus irgendeinem Grund nicht gelänge, Dorothea und Hekatah zu töten, und die beiden Daemonar in die Finger bekämen … »Tu es«, sagte er. »Entfessele deine Kräfte. Vernichte die Angehörigen des Blutes.«
Mit offenem Mund starrte Jaenelle ihn an.
»Tu es«, wiederholte er. »Wenn das die einzige Möglichkeit ist, um den Makel zu beseitigen, mit dem Dorothea und Hekatah die Angehörigen des Blutes besudelt haben, dann, bei der Dunkelheit, Jaenelle, lass Gnade walten im Namen derer, die du liebst, und tu es.«
Sie fing erneut an, auf und ab zu gehen. »Es muss eine Möglichkeit geben, Blut von Blut zu trennen. Es muss!«
Ein Erinnerungsfetzen blitzte auf, doch er konnte ihn nicht festhalten, solange ihre hektischen Bewegungen ihm das Gefühl gaben, alles um ihn her drehe sich im Kreis. »Bleib gefälligst stehen«, fuhr er sie an.
Vor Wut schnaubend, blieb sie jäh stehen.
Er hob eine Hand und gebot ihr zu schweigen. Die Erinnerung entzog sich ihm weiter, doch es gelang ihm, sie schließlich festzuhalten. »Ich glaube, es gibt tatsächlich einen Weg.«
Sie riss die Augen auf, gehorchte jedoch seinem Befehl, sich still zu verhalten.
»Vor ein paar Jahrhunderten gab es eine Königin, die man die Graue Lady nannte. Als ein Dorf, in dem sie sich befand, kurz davor stand, von hayllischen Kriegern angegriffen zu werden, fand sie einen Weg, die Dorfbewohner von den Haylliern zu trennen, und als sie ihre Kraft entfesselte, blieben die Dorfbewohner verschont.«
»Wie stellte sie es an?«, fragte Jaenelle kaum hörbar.
»Ich weiß es nicht.« Er zögerte – und fragte sich, warum er gezögert hatte. »Ein Mann, den ich kannte, war damals bei ihr. Ein paar Jahre vor seinem Tod sandte er mir eine Botschaft, die besagte, er habe das ›Abenteuer‹ schriftlich festgehalten und das Dokument an einem sicheren Ort für mich hinterlegt. Sie war eine gute Königin, die letzte Königin, der es gelang, Dorothea in Schach zu halten. Er wollte, dass man sie nicht vergaß.«
Jaenelle stürzte auf ihn zu und packte ihn. »Dann weißt du ja doch, wie sie es bewerkstelligte!«
»Nein, ich weiß es nicht. Ich habe den schriftlichen Bericht nie abgeholt, sondern entschloss mich, ihn dort zu belassen, wo er sich befand – außerhalb von Dorotheas Reichweite.«
»Meinst du, du könntest ihn finden?«, wollte Jaenelle begierig wissen.
»Das sollte nicht allzu schwer sein«, erwiderte Daemon trocken und schlang die Arme um sie. Auf einmal verspürte er das dringende Bedürfnis, sie zu berühren. »Er hinterlegte den Bericht beim Bibliothekar des Bergfrieds.«
»Ich habe die Papiere vom terreilleanischen Bergfried geholt, als
du zum ersten Mal mit Jaenelle zum Schwarzen Askavi kamst«, meinte
Geoffrey. Er reichte Daemon ein sorgfältig verpacktes Bündel.
»Damals wunderte ich mich, warum du gar nicht danach gefragt hast.
Was hat dich jetzt auf einmal daran denken lassen?«
Die Frage klang, als sei sie mit unschuldiger Neugier gestellt, doch sie war alles andere als unschuldig.
Daemon blickte direkt in Geoffreys schwarze Augen und lächelte. »Es ist mir eben erst eingefallen.«
Er öffnete das Bündel nicht und sah es sich auch nicht an. Mithilfe
der Kunst ertastete er es lediglich weit genug, um sicher sein zu
können, dass es keinerlei Zauber enthielt, die ausgelöst würden,
sobald sich jemand außer ihm daran zu schaffen machte. Dann
überreichte er es Jaenelle und verbrachte die nächsten Stunden
damit, so gut wie jedem Mitglied des Ersten Kreises den Zutritt zur
Königin zu verwehren. Das brachte ihm einigen Groll ein, war aber
nicht weiter schwierig. Niemand außer dem Haushofmeister, dem
Hauptmann der Wache und dem Gefährten hatte freien Zutritt zu den
Gemächern der Königin. Lucivar hatte ihn nur einmal kurz angesehen
und sich dann sogleich zurückgezogen. Saetan und Andulvar
aufzuhalten, war um einiges schwieriger gewesen, und er ahnte, dass
es nicht mehr allzu vieler höflicher Konfrontationen
bedurfte, um ihr Vertrauen in ihn vollends ins Wanken zu bringen.
Angesichts des Verhaltens, das Jaenelle in letzter Zeit an den Tag
gelegt hatte, verstand er nur zu gut, dass sie sich Sorgen machten.
Dennoch schmerzte ihn ihr Misstrauen.
Als er schließlich zu Jaenelle zurückkehrte, saß sie in ihrem Zimmer, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und starrte düster aus dem Fenster.
»Es hat dir nicht weitergeholfen?«, fragte er leise und legte ihr sachte eine Hand auf die Schulter.
»Doch, doch, das hat es. Ich habe die Lösung gefunden. Zwar kann ich nicht genauso vorgehen wie sie damals, aber ich kann es als Grundlage für das benutzen, was ich tun muss.«
Sie wandte sich zu ihm und küsste ihn mit einer Verzweiflung, die ihm Angst einjagte. Doch er erwiderte ihren Kuss und ihre Leidenschaft, und gab ihr, was sie brauchte. Stundenlang gab er ihr, was sie brauchte.
Als sie schließlich nur noch in seinen Armen liegen wollte, sagte sie: »Ich liebe dich.« Dann schlief sie ein.
Obgleich Daemon körperlich und emotional völlig erschöpft war, lag er lange Zeit wach – und fragte sich, weshalb »Ich liebe dich« so sehr nach »Leb wohl« geklungen hatte.
6 Kaeleer
Die Lady hat ihre Meinung geändert«, eröffnete Saetan in aller Form den Territoriumsköniginnen, die den Hexensabbat bildeten. »Ihr und die Männer des Ersten Kreises sollt im Bergfried bleiben, aber die übrigen Königinnen in euren Territorien dürfen ausharren, wo sie sind.«
»Warum müssen wir hier bleiben?«, wollte Chaosti wissen. »Unsere Völker sterben. Wir sollten zu Hause sein und uns auf den Kampf vorbereiten.«
»Wieso hat sie ihre Meinung geändert?«, fragte Morghann. »Was hat sie gesagt, als du mit ihr gesprochen hast?«
Saetan zögerte. »Die Anweisungen wurden mir von ihrem Gefährten überbracht.«
Er konnte ihre Wut und das wachsende Misstrauen Daemon gegenüber aufflackern spüren. Schlimmer noch war, dass er selbst nicht anders empfand.
»Die Königin befiehlt.« Er wusste, wie unzulänglich diese Worte klingen mussten, während sie alle von Berichten über Kämpfe in ihren Heimatterritorien erhielten.
»Das ist schön und gut, Höllenfürst«, meinte Aaron kühl. »Die Königin befiehlt. Aber offensichtlich hat bisher noch niemand die verwandten Wesen über diesen Umstand aufgeklärt. Keines der verwandten Mitglieder des Ersten Kreises muss im Bergfried bleiben.«
Alle sahen einander an und ließen diese Erkenntnis auf sich wirken. Schließlich war es Karla, die sich erkundigte: »Wo sind die verwandten Wesen?«
Saetan sah zu, wie die Regentropfen die Fensterscheibe
hinabperlten.
Als Jaenelle allen Königinnen befohlen hatte, zum Bergfried zu kommen, hatte er aus einem Grund keinen Einspruch erhoben: Sylvia. Er hatte gewollt, dass sie sich im Bergfried aufhielt, wo sie in Sicherheit war.
Doch nun, da Jaenelle ihre Meinung geändert hatte – oder ihre Meinung geändert worden war –, würde er als Kriegerprinz von Dhemlan seine eigenen Befehle erteilen und sämtliche dhemlanischen Königinnen auf die Burg rufen. Es war ein Risiko. Die Burg verfügte nicht über die gleichen Verteidigungsanlagen wie der Bergfried. Kein anderer Ort war ebenso gut befestigt wie der Bergfried. Doch die Burg war errichtet worden, um einem Angriff standzuhalten, und sie war sicherer als jeder Ort, an den die Königinnen sich vielleicht zurückziehen müssten, sollten die Kämpfe eskalieren. Außerdem war die Burg so groß, dass die Königinnen ihre Kinder und Familien mitbringen konnten.
Er wollte, dass sie in Sicherheit war. Und ihre Jungen, Mikal und Beron, ebenfalls.
Die freche, eigenwillige, wunderbare Sylvia. Mutter der Nacht, er liebte sie!
Nachdem Jaenelle der Dunkelheit ihr Opfer dargebracht hatte, war der Stärkungstrank, den sie ihm zubereitete, so viel mächtiger geworden, dass sich wieder das hungrige Begehren eines Mannes in Saetan regte – und er es auch befriedigen konnte. Doch selbst zu jenem Zeitpunkt hätte er vielleicht der Versuchung widerstehen können, Sylvias Geliebter zu werden, hätte vielleicht die Stärke aufgebracht, lediglich ein Freund zu bleiben, wenn er nicht die Verwundbarkeit an ihr wahrgenommen hätte, die ein Vermächtnis ihres letzten Gefährten war. Sie hatte sich jeglichen sexuellen Freuden versperrt und war von keinem Mann fasziniert genug gewesen, um es doch noch einmal zu probieren – bis sie sich mit ihm angefreundet hatte.
Sie hatten ihre Liebschaft nie öffentlich bekannt gegeben. Auf sein Drängen hin hatten sie nach außen hin so getan, als seien sie nur Freunde. Oh, seine Gründe waren sehr logisch und wohlüberlegt gewesen! Er wusste, dass Luthvian erbost reagieren würde, wenn er offen der Geliebte einer anderen Frau werden würde, und er hatte nicht gewollt, dass sie ihre Wut an der restlichen Familie oder Sylvia ausließ. Abgesehen davon hatte er ihr ersparen wollen, dass die Leute sich von ihr zurückzogen, weil sie sich mit einem Hüter eingelassen hatte.
Anfangs hatte sie keinerlei Einwände erhoben; vor allem, weil sie erst dabei war, die Freuden des Bettes für sich wiederzuentdecken. Sie hatte akzeptiert, dass er im Schlafzimmer ihr Geliebter, außerhalb davon aber nur ein Freund war. Doch allmählich, im Laufe des letzten Jahres, war ihr die Geheimhaltung immer schwerer gefallen, und sie hatte begonnen, sich nach einer offiziellen Beziehung mit ihm zu sehnen.
Er hatte erwartet, dass sie ihn verlassen würde. Stattdessen hatte sie ihm eines Nachts während der Winsolfeierlichkeiten vor ein paar Monaten einen Heiratsantrag gemacht. Und, so wahr ihm die Dunkelheit helfe, er hatte Ja sagen wollen! Er wollte nicht nur sein Bett, sondern sein Leben mit ihr teilen!
Doch er sagte nicht Ja. Nicht wegen Luthvian oder weil er ein Hüter war, sondern aufgrund einer vagen Unruhe, die ihn gewarnt hatte aufzupassen und abzuwarten. Also hatte er lächelnd erwidert: »Frag mich noch einmal nächstes Winsol.«
Natürlich hatte er verstanden, warum sie ihn in den folgenden Wochen nicht in ihr Bett eingeladen hatte. Es hatte ihn nicht gewundert, dass sie immer ›beschäftigt‹ war, wenn er bei ihr vorbeischaute, um ein wenig Zeit mit den Jungen zu verbringen.
Die gute Freundin hatte ihm weit mehr als die Geliebte gefehlt, aber jene Stunden in ihrem Bett hatte er ebenfalls schmerzlich vermisst!
Dann, nur ein paar Tage vor den Überfällen in Glacia, waren sie zwei Tage nach Amdarh gefahren, um Zeit fern von allen anderen miteinander zu verbringen und zu versuchen, ihre Beziehung wiederaufzubauen. Und sie hatten einander geliebt. Doch sobald er sie berührte, war ihm klar, dass sie ihn zwar wollte, jedoch dennoch versuchte, sich emotional von ihm zu distanzieren. Sie setzte alles daran, nicht ein weiteres Mal verletzt zu werden. Selbst als sie sich auf dem Höhepunkt ihrer sexuellen Erfüllung befand, hatte er es gewusst.
Nun, da er den Regen anstarrte, wünschte er sich fast, er hätte an Winsol Ja gesagt. Beinahe wünschte er sich, er hätte sie bei ihrer Ankunft in Amdarh gebeten, mit ihm vor eine Priesterin zu treten. Und er wünschte sich, er könnte sie noch ein einziges Mal lieben, um die Traurigkeit fortzuwischen, die beim letzten Mal über ihr gehangen hatte, als sie zusammen im Bett waren.
Doch seit Tagen wuchs die Überzeugung in ihm, dass es dazu keine Gelegenheit mehr geben würde.
Es gab so vieles, was er ihr in jener Nacht in Amdarh hätte sagen sollen. Er hatte ihr nie richtig gesagt, wie viel sie ihm bedeutete, wie sehr er sie liebte. Das hätte er nachholen sollen. Jetzt hatte er ihr nichts als Worte zu bieten, doch zumindest so viel konnte er ihr geben.
Er wandte sich von dem Fenster ab, ging zum Schreibtisch und setzte einen Brief auf.