Kapitel 6

1 e9783641062019_i0048.jpg Kaeleer

Daemons Nervenkostüm war angeschlagen, als Jaenelle und er am nächsten Morgen das Esszimmer betraten. Die forschenden Blicke der anderen Männer des Ersten Kreises waren ihm keine Hilfe. Dass es Jaenelles Mondzeit war, und er ohnehin nicht mehr hätte tun können, als ihr das Bett zu wärmen, machte keinen Unterschied. Er wusste, welche Erwartungen an einen Gefährten gestellt wurden, und dass den anderen Männern klar war, dass er jene Pflichten nicht erfüllte.

Er versuchte, diese Gedanken beiseite zu schieben. An diesem Tag war es wichtig, besonders wachsam zu sein.

Lucivar stand in der Nähe der Anrichte und schlürfte eine Tasse Kaffee, während Khardeen und Aaron sich die Teller füllten. Leland und Philip, die einzigen anwesenden Personen aus Alexandras Gefolge, aßen ihr Frühstück an einem Ende der Tafel, Surreal und Karla saßen am anderen.

Ein gieriger Blick trat in Jaenelles Augen, als sie die Tasse in Lucivars Hand erspähte. »Wirst du den teilen?«

Lucivar entblößte seine Zähne zu einem Lächeln. »Nein.«

Sie gab ihm einen frostigen Blick, küsste ihn jedoch trotzdem auf die Wange. Daemon hätte Lucivar liebend gerne dafür umgebracht, dass er diesen Kuss erhalten hatte. Es war ein flüchtiger, gewohnheitsmäßiger Kuss gewesen, doch immerhin ein Kuss – was mehr war, als er an diesem Morgen verbuchen konnte. Da Lucivar umzubringen jedoch nicht zur Debatte stand – jedenfalls nicht im Moment –, sah Daemon zu, wie Jaenelle sich zwei Birnenscheiben und einen Löffel Rührei auftat.

Als sie sich von der Anrichte abwandte, spießte Lucivar mit einer Gabel ein Stück Steak auf und ließ es auf ihren Teller fallen. »Du brauchst heute Fleisch. Iss das.«

Sie fauchte ihn an. Lucivar trank seelenruhig seinen Kaffee weiter.

»Lange Nacht?«, erkundigte Daemon sich leise bei Lucivar.

»Ich hatte schon längere«, erwiderte Lucivar mit einem Lächeln, dass beißend wurde, als er Philip und Leland einen raschen Blick zuwarf. Er sprach laut genug, um im gesamten Raum verstanden zu werden. »Wie steht es mit dir, alter Knabe? Du siehst selbst aus, als hättest du eine lange Nacht hinter dir.«

»Zumindest eine interessante Nacht«, entgegnete Daemon vorsichtig. Er würde gewiss nicht zugeben, dass Jaenelle und er Karten gespielt hatten, bevor sie mit trüben Augen ins Bett gefallen waren, um ein paar Stunden lang ruhelos und mit Unterbrechungen zu schlafen.

Jaenelle stieß ein verächtliches Schnauben aus. »An Variante siebenundzwanzig muss etwas Hinterlistiges sein, wenn sie einem Mann solch einen Vorteil verschafft, aber ich bin nicht dahintergekommen … noch nicht.«

Daemon entging nicht, wie Philip wütend die Lippen zusammenpresste – und ihm fiel auf, dass Khardeen und Aaron mit einem Mal ganz Ohr waren.

»Du kennst siebenundzwanzig Varianten?«, fragte Khardeen langsam.

Daemon erwiderte nichts.

»Ja, tut er«, meinte Jaenelle verdrießlich. »Und diese spezielle Variante ist genial. Hinterlistig, aber genial.« Sie betrachtete den Servierteller mit den Steaks, wählte zwei weitere Scheiben aus und ging auf den Tisch zu.

Bevor Daemon selbst nach einem Teller greifen konnte, hielt ihn Khardeen an einem Arm fest, während Aaron den anderen umklammert hielt, und sie drängten ihn aus dem Esszimmer.

»Wir werden später frühstücken«, erklärte Khardeen auf dem Weg in das nächste leere Zimmer. »Zuerst müssen wir uns ein wenig unterhalten.«

»Es ist nicht so, wie ihr denkt«, meinte Daemon. »Es ist nichts.«

»Nichts?«, zischte Aaron, woraufhin Khary sagte: »Wenn du eine neue Variante von Wiege ausgetüftelt hast, die dem Mann einen Vorteil verschafft, ist es deine Pflicht als Bruder des Ersten Kreises, uns andere einzuweihen, bevor der Hexensabbat herausgefunden hat, wie man sie aushebelt.«

Er starrte sie verständnislos an. Hatte er recht gehört?

Aaron lächelte. »Na, was dachtest denn du, was wir anderen Gefährten nachts tun?«

Daemon brach in Gelächter aus.

2 e9783641062019_i0049.jpgKaeleer

Osvald klopfte an Wilhelminas Tür und trat anschließend einen Schritt zurück, die Schachtel mit den Holzschnitzereien fest in beiden Händen.

Es hatte keiner großen Überredungskunst bedurft, Alexandra dazu zu bringen, die meisten ihrer Leute auf den Zimmern zu behalten. Schwieriger war es gewesen, sie dazu zu bewegen, Leland und Philip nach unten zum Frühstück zu schicken, damit es den Anschein hatte, als würden sich die Übrigen lediglich verspäten. Solange so viele aus dem Gefolge abwesend waren, konnte niemand ganz sicher sein, wer tatsächlich fehlte, bis er längst von der Burg verschwunden war.

Natürlich vorausgesetzt, dass die Zauber, die Dorothea und die Dunkle Priesterin vorbereitet hatten, um eine Öffnung in den Schutzschilden des Höllenfürsten zu schaffen, tatsächlich funktionierten.

Nein. Er würde nicht daran zweifeln. Die Zauber, die ihn davor bewahrten, entdeckt zu werden, hatten zur Genüge bewiesen, dass Dorothea und die Dunkle Priesterin wussten, wie mit dem Mistkerl umzugehen war, der an diesem Ort herrschte. Er würde mit dem geringeren der beiden Preise entkommen, doch dieser geringere Preis konnte, richtig eingesetzt, einen ausreichend verlockenden Köder darstellen, um Jaenelle Angelline zu fangen.

Alles war an seinem Platz. Die drei Männer, die Dorothea abgestellt hatte, um ihm zu helfen, warteten an der Brücke. Neben der Burg befand sich zwar ein Dunkler Altar, doch sie hatte ihn gewarnt, dass die um den Altar gelegte Magie den Höllenfürsten auf der Stelle warnen würden, und es niemals gelingen würde, das Tor rechtzeitig zu öffnen, um entkommen zu können. Folglich würde Osvald Wilhelmina nach Goth bringen, wo Lord Jorval ihm helfen würde, zu einem anderen der Tore zu gelangen.

Am Abend würde er wieder in Terreille sein, zusammen mit seinem Preis, und Alexandra und die anderen Narren, die sie begleiteten, wären immer noch dabei, dem Höllenfürsten Wilhelminas Verschwinden zu erklären … oder sie wären tot.

Lächelnd klopfte Osvald erneut an Wilhelminas Tür. Einen Augenblick später klopfte er fester, da er mittlerweile die Geduld verlor. Sie war in ihrem Zimmer. Dessen hatte er sich diesmal vergewissert. Wieso brauchte sie so lange, die verdammte Tür zu öffnen?

Beinahe war er versucht, einen der einfachen Zwangzauber zu benutzen, die Dorothea für ihn vorbereitet hatte, doch er hatte nur zwei von ihnen und wollte keinen unnötig verschwenden. Andererseits erhöhte jede Minute Verzögerung das Risiko, das jemand auf ihn aufmerksam wurde.

In dem Moment, als er sich dafür entschied, doch einen Zwangzauber einzusetzen, ging endlich die Tür auf. »Guten Morgen, Lady Wilhelmina.« Mit einem Lächeln hob er die Schachtel weit genug empor, um ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken. »Lady Alexandra bat mich darum, dir dies hier zu bringen.«

»Was ist das?« Wilhelmina klang alles andere als erfreut. »Ein Zeichen ihrer Liebe – und eine Geste ihres Wohlwollens. Sie hat vor, bald abzureisen, und befürchtet, dass ihre Sorge um dich falsch verstanden worden sein könnte. Sie hofft, dass du in der kommenden Zeit aufgrund dieses kleinen Erinnerungsstücks im Guten an sie zurückdenken mögest.«

Immer noch wirkte Wilhelmina misstrauisch. »Warum hat sie es mir nicht persönlich gebracht?«

Osvald schenkte ihr einen kummervollen Blick. »Sie hatte Angst, du könntest das Geschenk nicht annehmen, und wollte diese Ablehnung nicht am eigenen Leib erfahren.«

»Oh«, hauchte Wilhelmina leise, deren Argwohn sich langsam in Mitleid zu verwandeln schien. »Ich bin ihr in keiner Weise gram.«

Er hielt ihr die Schachtel entgegengestreckt; zum einen, um Wilhelmina zu verlocken, zum anderen, um sich die Schachtel so weit wie möglich vom Gesicht wegzuhalten. Sobald man den Deckel öffnete, würde ein mit Drogen durchsetzter Nebel aus der Schachtel quellen. Ein überraschtes Aufkeuchen vonseiten Wilhelminas würde dafür sorgen, dass sie genug der überaus starken Droge einatmete. Anschließend wäre sie so gefügig, dass es ihm leicht fallen würde, sie von dem Zimmer und dem Gang wegzubringen, bevor er ihr gewaltsam eine zweite, flüssige Dosis zu schlucken gab.

Geräuschvoll landete etwas im Innern des Zimmers auf dem Boden.

Diese verfluchte gestreifte Katze!

Osvald setzte den ersten Zwangzauber ein und formte den Befehl. Tritt in den Gang und schließe die Tür. Tritt in den Gang und schließe die Tür. Tritt in …

Er lächelte, als Wilhelmina ihm leicht verwirrt Folge leistete.

»Ich soll Bericht erstatten, wie dir das Geschenk gefällt«, sagte er, wobei er entschuldigend klang, ihr derart viel Mühe machen zu müssen.

Sie blieb in der Nähe der Tür, die Hand immer noch fest um den Knauf geklammert.

Insgeheim fluchend, löste er den zweiten Zwangzauber aus. Komm nahe an die Schachtel heran und öffne den Deckel. Komm nahe an die Schachtel heran …

Wilhelmina bewegte sich, als kämpfe sie gegen jeden einzelnen ihrer Muskeln an, doch sie trat auf die Schachtel zu und hob langsam den Deckel.

3 e9783641062019_i0050.jpg Kaeleer

Graufang an ihrer Seite wanderte Surreal in einem der Innengärten umher. Die rätselhaften Bemerkungen, die Jaenelle und Karla während des Frühstücks über eine neue Variante hatten fallen lassen, faszinierten und beunruhigten sie zugleich.

Es gab etliche Varianten des Sexspiels, die dem Mann einen Vorteil verschafften, von daher konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie das gemeint hatten … leider. Daemon wurde von seinem eigenen sexuellen Verlangen verzehrt, und die Anspannung, die es ihn kostete, seine Lust so weit zu bändigen, dass Jaenelle nicht verschreckt wurde, begann allmählich ihren Tribut zu fordern. Surreal war sich nicht sicher, wie lange er noch die unbeschwerte Herzlichkeit ertragen konnte, die Jaenelle den anderen Männern des Ersten Kreises gegenüber an den Tag legte, bevor er um sich schlagen würde. Vielleicht sollte sie mit dem Höllenfürsten reden …

Da stieß Graufang ein Knurren aus. Bevor sie ihn fragen konnte, was los war, stürzte er auf die Mauer zu. Er sprang und kletterte durch die Luft, als erklimme er einen steilen Hügel, erklomm das Dach und war kurz darauf verschwunden.

»Graufang!«, rief Surreal.

*Jemand greift Dejaal an*, kam seine Antwort. *Ich werde ihm helfen.*

Surreal fluchte ungehalten, als sie auf die nächste Tür zulief.

»Surreal!«

Sie wirbelte herum.

Falonar kam vom anderen Ende des Gartens auf sie zugeschritten. »Lucivar schickt mich, um dich zu suchen, weil du nicht beim …«

»Kannst du mir helfen, über das Dach zu kommen?« In Surreals Stimme schwang genug Zorn mit, um ihn innehalten zu lassen. »Graufang meinte, Dejaal werde angegriffen, und der Hurensohn ist einfach ohne mich abgehauen!«

In den zwei Schritten, die er zurücklegen musste, um sie zu erreichen, verwandelte er sich von einem wachsamen Mann in einen Krieger. »Halt dich an mir fest«, befahl er.

Einen Augenblick zögerte Surreal und versuchte abzuwägen, woran sie sich festhalten konnte, ohne seine Flügel zu behindern. Dann schlang sie ihm einen Arm um den Hals und hielt sich mit den Fingern der anderen Hand an seinem breiten Ledergürtel fest.

Erst als sie bereits seinen Flügelschlag spürte, fragte sie sich, ob er in der Lage war, das Gewicht einer weiteren Person durch die Lüfte zu tragen. »Ich werde lernen, auch durch die Luft zu spazieren, damit man mich nicht so durch die Gegend befördern muss«, knurrte sie verdrießlich.

»Es macht mir nichts aus, dich zu tragen«, knurrte Falonar sie an, wobei er sie alles andere als sanft auf dem Dach absetzte.

Surreal biss die Zähne zusammen. Ein Mann nach dem anderen. Und es war der pelzige Graue, der Anspruch auf ihren nächsten Wutanfall hatte. »Kannst du ihn sehen?«, fragte sie, während sie selbst den Hof unter ihnen mit den Augen absuchte.

»Nein. Er könnte …«

Im nächsten Hof wurde explosionsartig die Kraft von Juwelen freigesetzt, und eine Frauenstimme stieß einen gellenden Schrei aus.

Falonar riss Surreal mit solcher Wucht von dem Dach, dass sie ein Bein um das seine schlang, um festeren Halt zu bekommen. Sie knirschte zornig mit den Zähnen, als ihr Körper ihr just zu diesem unpassenden Zeitpunkt signalisierte, wie angenehm es war, den festen männlichen Oberschenkel zwischen ihren Beinen zu spüren. Ihre Laune hob sich dadurch kein bisschen.

»Wenn ihm etwas zustößt, weil er nicht auf mich gewartet hat, werde ich ihm eine Ohrfeige verpassen, dass ihm Hören und Sehen vergeht«, stieß sie mürrisch hervor.

»Warte hier«, meinte Falonar mit einem Blick nach unten in den Hof.

»Legst du wert auf deine Familienjuwelen?«, fuhr Surreal ihn an, wobei sie den Kopf wandte, um sich ebenfalls umsehen zu können. Doch sie zog die Finger aus seinem Gürtel, damit er nicht befürchten musste, sie habe ihre Drohung ernst gemeint.

Im ersten Moment stockte ihr der Atem, dann fluchte sie. Der junge Tiger Dejaal lag reglos im Hof. Ein Lakai wand sich unter Schmerzen. Graufang sprang hin und her, ohne direkt anzugreifen; doch es gelang ihm, den Mann in Schach zu halten, der Wilhelmina, die sich vergeblich zur Wehr setzte, fest gepackt hielt.

Als Surreal den Mann erkannte, stieß sie erneut einen Fluch aus. Osvald. Einer von Alexandras Begleitern. Mutter der Nacht!

»Kannst du das Gleichgewicht halten?«, fragte Falonar einen Augenblick, bevor er sie losließ und von ihr wegtrat.

Zumindest hat er gefragt, dachte Surreal, während sie sich der Kunst bediente, um nicht vom Dach zu rutschen und in die Tiefe zu stürzen.

Graufang sprang tief gebückt nach vorne, als habe er es auf Osvalds Achillessehne abgesehen.

Surreal sah das Aufblitzen von Osvalds Juwel. Sie warf einen grauen Schild um Graufang; schnell genug, um ihm das Leben zu retten, doch nicht rechtzeitig, um ihn davor zu bewahren, durch den Zusammenprall von Grau und Opal umgeworfen zu werden.

Als Wilhelmina sah, wie der Wolf zu Boden ging, stieß sie einen Schrei aus und umkrallte die Hand, die ihren Arm hielt. Osvald wirbelte herum und hieb so fest auf sie ein, dass sie bewusstlos zu Boden stürzte. Dann wandte er sich wieder Graufang zu, der sich zitternd erhoben hatte.

»Sag dem Wolf, er soll sich zurückziehen«, befahl Falonar, der seinen eyrischen Langbogen herbeigerufen hatte und einen Pfeil auf die Sehne legte.

Hastig folgte Surreal seiner Aufforderung – und empfand Erleichterung, als Graufang reagierte. Während das Gejaule und Gebrüll verwandter Wesen alle auf der Burg alarmierten, konnte Surreal die Flut aggressiver männlicher Kraft spüren, die von allen Seiten auf den Hof zuströmte. Und sie erahnte die kalte weibliche Macht, die ihr folgte.

Falonar zielte.

»Schieß dem Mistkerl mitten ins Herz«, flüsterte Surreal.

»Wir wissen nicht, was dort unten vor sich geht«, erwiderte Falonar.

Tatsächlich?, dachte Surreal boshaft. Was müssen wir denn sonst noch herausfinden?

Als sich Osvald wieder Wilhelmina zuwandte, ließ Falonar den Pfeil losschnellen, der zielgenau das linke Knie des Mannes durchschlug.

Schreiend ging Osvald zu Boden.

Falonar packte Surreal am linken Arm und ließ sich mit ihr vom Dach fallen – ohne den Sturz mithilfe seiner Flügel sonderlich zu verlangsamen.

»Pass auf die Frau auf«, sagte Falonar und rannte auf Osvald zu, statt des eyrischen Bogens nun eine mit einer Klinge versehene Stange in der Hand.

»Ich kann …«

»Tu, was ich dir gesagt habe!«

Es war nicht der rechte Zeitpunkt, um die Sache auszudiskutieren. Surreal rief ihr bestes Messer herbei und lief auf Wilhelmina zu. Da packte Osvald mit der linken Hand Wilhelminas Knöchel. Surreal musste über die schlaue Verschlagenheit des Mannes fluchen. Vielleicht wusste jemand anders, wie man es bewerkstelligte, einen Schutzschild um die junge Frau zu legen, solange Osvald Körperkontakt mit ihr hatte, doch sie war dazu nicht in der Lage. Dann sah sie, wie ein kurzes Messer in seiner rechten Hand aufblitzte – und wusste aufgrund der Mischung aus Wut und Triumph, dass das Gift an der Klinge schnell und tödlich wirken würde.

Wieder blitzte etwas im Sonnenlicht auf. Als Osvalds Hand einen Bogen beschrieb, um das Messer in Wilhelminas Bein zu rammen, durchtrennte Falonar ihm die Handgelenksknochen, als handele es sich um weiche Butter. Anschließend fing er die abgetrennte Hand und das Messer mithilfe seiner Stange auf und schleuderte beides von Wilhelmina fort.

Erneut fuhr die Klinge hinab, und Falonar durchtrennte seinem Gegner das Gelenk der Hand, die Wilhelminas Knöchel gepackt hielt.

Einen Augenblick später erreichte Surreal Wilhelmina – und Lucivar und der Großteil der Männer des Ersten Kreises strömten ebenfalls in den Hof. Karla und Gabrielle waren mit dabei.

Alexandra und ihr Gefolge erschienen auch.

Die Sache ist nicht ganz nach Plan verlaufen, nicht wahr?, dachte Surreal, während sie beobachtete, wie Alexandra sich in dem Innenhof umblickte und leichenblass wurde. Surreal ließ ihr Messer verschwinden und legte Wilhelmina eine Hand auf den Rücken, mit der anderen tätschelte sie Graufang, sobald er zu ihr gehumpelt kam. Dann legte sie einen grauen Schild um sich und die beiden. Wahrscheinlich war es nicht notwendig, doch es gab keinen Anlass, auch nur das geringste Risiko einzugehen. Ihr Blick wanderte zu Falonar, der so Stellung bezogen hatte, dass die Klinge an seiner Stange beim nächsten Mal den Hals des Mistkerls durchtrennen würde. Um Falonar legte sie ebenfalls einen Schild. Sie konnte seine überraschte Freude spüren, als sich ihr Schild um ihn aufbaute – und fragte sich, wovor er sich fürchtete.

Gabrielle stürzte auf den Lakaien zu, um ihm zu helfen, während Karla sich, ohne Osvald zu berühren, der Heilkunst bediente, um die verletzten Blutgefäße zu versiegeln.

»Was ist hier los?«, wollte Alexandra wissen, deren scharfer Tonfall mehr von Angst als von Ärger herzurühren schien. »Wieso greifst du einen meiner Begleiter an?«

»Hast du ihn geschickt?«, fragte Lucivar mit einem eigenartigen Unterton in der Stimme.

»Ich habe ihn geschickt, um Wilhelmina ein Geschenk zu überbringen«, sagte Alexandra.

Lucivars Lachen klang seltsam bitter. »Und der Bastard hat es abgeliefert, nicht wahr?«

»Als ich Lady Wilhelmina das Geschenk überreichte, fühlte sie sich unwohl«, winselte Osvald. »Ich erbot mich, sie zu begleiten, als sie etwas frische Luft schnappen wollte. Dann griff uns dieses Biest an.«

Lucivars Blick wanderte von Osvald zu Falonar. »Wenn der Mistkerl noch einen Ton von sich gibt, schneid ihm die Zunge raus.«

Falonar wirkte schockiert, nickte jedoch.

»Wie kannst du es wagen?«, zischte Alexandra. »Ihr seid so erpicht darauf, dass ich meinen Hof unter Kontrolle halten soll, aber du erlaubst …«

»Halt den Mund!«, fuhr Lucivar sie an. »Mach die Sache nicht noch schlimmer, als sie schon ist.«

Surreal musterte Lucivar. Was ging hier vor sich?

Zitternd rückte Graufang ein Stück näher. *Die Wut der Königin ist schlimm, Surreal. Die Männer haben Angst vor der Wut der Königin. Sogar Kaelas.*

Surreal folgte dem Blick des Wolfes und erspähte eine riesenhafte weiße Raubkatze, die neben einem Tiger auf dem Dach stand. Das war Kaelas? Mutter der Nacht!

*Wer ist der Tiger?*, wollte sie wissen.

*Das ist Jaal. Er ist Dejaals Vater.*

Surreal musste hart schlucken. Der Tiger sah im Vergleich zu Kaelas winzig aus, dabei war er immer noch zweimal so groß wie der junge Tiger, der im Hof lag. *Dejaal ist tot, nicht wahr?*

*Er ist in die Dunkelheit zurückgekehrt*, meinte Graufang traurig.

Wie sollten sie das nur Jaenelle erklären?

Als habe der Gedanke allein sie auf die Bildfläche gerufen, betrat Jaenelle den Hof, Daemon und Saetan an ihrer Seite.

Vielleicht hätte Surreal die Gegenwart der beiden Männer als tröstlich empfunden, wenn der Höllenfürst beim Anblick von Dejaals Leiche nicht aschfahl geworden wäre.

Alexandra setzte an, um etwas zu sagen, doch bevor sie einen Ton hervorbringen konnte, griff sie sich mit beiden Händen an die Kehle und riss entsetzt die Augen auf.

Surreal war sich nicht sicher, welcher der Männer eingeschritten war. Sie wäre dennoch jede Wette eingegangen, dass die Geisterhand, die Alexandra zum Schweigen gebracht hatte, von Daemon stammte.

Alle traten beiseite, als Jaenelle herüberkam und neben Dejaal niederkniete. Die Hand, die das Fell streichelte, war sanft und liebevoll, doch der Blick, den Jaenelle auf Wilhelminas reglosen Körper richtete, als sie schließlich aufblickte …

Was Surreal in ihren uralten Augen sah, ging so weit über kalte Wut hinaus, dass es sich nicht in Worte fassen ließ.

Als Graufang leise winselte, dämmerte ihr, dass es sich sehr wohl in Worte fassen ließ: Dies war, was der Wolf gemeint hatte, als er von der Wut der Königin gesprochen hatte.

Möge die Dunkelheit Erbarmen haben!

Sie sagte das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel, das Einzige, von dem sie hoffte, dass es sie vom Blick jener Augen befreien konnte. »Sie lebt.«

Jaenelle sah zu Karla hinüber, die sich förmlich verneigte, bevor sie zu Wilhelmina ging, um sie zu untersuchen.

»Du hast das Richtige gesagt«, flüsterte Karla Surreal zu, als sie Wilhelmina untersuchte. Dann fluchte sie und fuhr fort: »Was auch immer du sonst tust, halte dich unbedingt an das Protokoll.« Sie holte tief Luft, erhob sich und wandte sich wieder Jaenelle zu. »Wilhelmina hat ein paar blaue Flecken von dem Kampf – und sie steht unter dem Einfluss starker Drogen.«

»Kannst du die Wirkung neutralisieren?«, fragte Jaenelle eine Spur zu leise.

»Ich werde mehr Zeit benötigen, um genau zu bestimmen, welche Droge benutzt wurde«, antwortete Karla ruhig. »Doch es scheint nichts zu sein, das einen bleibenden Schaden hinterlassen wird. Ich empfehle, sie an einen Ort zu bringen, wo sie überwacht wird und sich ausruhen kann. Mit deiner Erlaubnis werde ich sie jetzt auf ihr Zimmer bringen und mich um sie kümmern.«

»Danke, Schwester.«

Karla gab ihrem Cousin Morton einen knappen Wink, woraufhin er Wilhelmina hochhob und Karla zurück in die Burg folgte.

Surreal kauerte weiterhin neben Graufang, da sie die Aufmerksamkeit jener Saphiraugen nicht durch irgendeine Bewegung zurück auf sich lenken wollte.

»Was ist mit mir?«, wimmerte Osvald.

Falonar warf Lucivar einen Blick zu und fragte auf diese Weise stillschweigend, ob er dessen Befehl ausführen und dem Mann die Zunge abschneiden sollte. Kaum merklich schüttelte Lucivar den Kopf.

Jaenelle überquerte den Hof und blickte mit einem Lächeln auf Osvald hinab. »Um dich werde ich mich persönlich kümmern. «

Da sprang Lucivar vor. »Lady, bei allem Respekt, Dejaal war unser Bruder, und wir Männer haben das Recht …«

Jaenelle brachte ihn mit einer einfachen Handbewegung zum Schweigen. Einen Augenblick lang stand sie nur da, doch Surreal konnte spüren, wie sie Energie verströmte und mit ihren magischen Sinnen die Umgebung abtastete – doch es war Surreal klar, dass niemand, der hellere Juwelen als Grau trug, auch nur das Geringste davon mitbekommen würde.

»An der Brücke nach Halaway warten drei Männer«, verkündete Jaenelle. In ihren Augen lag ein schreckliches Glitzern, als sie Osvald ansah. »Drei Fremde. Es ist mir gleichgültig, was ihr mit ihnen anstellt.«

Unsichtbare Kräfte ließen Osvald aufrecht in der Luft schweben. Als Jaenelle kehrtmachte und den Hof verließ, schwebte er hinter ihr her, wobei er fortwährend seine Unschuld beteuerte.

»Kalush und Morghann sind auf dem Weg hierher«, meinte Gabrielle, der die Tränen in die Augen stiegen. »Wir werden bei Dejaal bleiben, bis …«

Lucivar wies auf Alexandra und warf Falonar einen Blick zu. »Du wirst mit Surreal diese … Leute … auf ihre Zimmer geleiten. « Er hielt kurz inne. »Sollten sie auch nur den geringsten Widerstand leisten, bringt sie um.«

»Mit Vergnügen«, antwortete Surreal. Falonar nickte nur.

Lucivar verließ den Innenhof, gefolgt von den übrigen Kriegerprinzen des Ersten Kreises. Als Daemon sich ebenfalls zum Gehen wandte, sagte Saetan: »Nein, du bleibst bei mir.«

Rasch trieb Surreal ihre Gefangenen – und Falonar und Graufang – von dem Hof. Sie wusste nicht, was der Höllenfürst vorhatte, doch sie zog es vor, nicht anwesend zu sein, wenn er es ausführte.



Daemon trat zur Seite, als Morghann und Kalush auf den Hof stürzten.

»Verschwinden wir von hier«, meinte Saetan, in dessen rauer Stimme unterdrückte Trauer mitschwang – und etwas, das vielleicht sogar Angst war.

Es war jene Angst – und die Sorge um seinen Vater –, die Daemon dazu bewogen, Saetan zu folgen. Doch selbst diese Dinge reichten nicht aus, um ihn seinen eigenen Zorn vergessen zu lassen.

Als sie sich langsam vom Innenhof entfernten, sagte Daemon: »Ich mag nicht Lucivars Talent im Umgang mit Waffen haben, aber ich kann ganz gut mit einem Feind fertig werden.«

Saetan blieb stehen. »Vergiss nicht, mit wem du sprichst, Prinz. Wenn irgendwer weiß, welches Raubtier in dir steckt, dann ich.«

»Warum hast du mich dann aufgehalten?« »Lucivar benötigt deine Hilfe nicht, um mit den Kerlen fertig zu werden, die an der Brücke auf den Bastard warten – besonders nicht angesichts der Männer, die ihn begleiten. Aber ich brauche dich sehr wohl. Im Moment brauche ich jeden Tropfen deiner Kraft und jeden Funken Talent, der in dir steckt, um mit Jaenelle umgehen zu können. Beim Feuer der Hölle, Daemon! Ist dir nicht klar, was hier vorgefallen ist?«

Es kostete Daemon große Anstrengung, nicht die Geduld zu verlieren. »Alexandra hat ein Intrigenspiel eingefädelt und wollte ihre eigene Enkelin entführen lassen.«

Langsam schüttelte Saetan den Kopf. »Alexandra hat mit Dorothea und Hekatah zusammengearbeitet, um ihre eigene Enkelin entführen zu lassen.«

Daemon ließ die Worte in ihrer ganzen Tragweite auf sich einwirken – und erkannte, was passieren könnte, sobald Jaenelle davon erfuhr. »Mutter der Nacht!«

»Und möge die Dunkelheit Erbarmen haben«, fügte Saetan hinzu. »Wir haben es mit einer zornigen Königin zu tun, die mittlerweile so tief in den Abgrund hinabgestiegen ist, dass wir nicht in der Lage sind, sie auf diesem Wege zu erreichen – oder das abzuwenden, was sie in ihrer momentanen emotionalen Verfassung vielleicht entfesseln wird.«

»Was kann ich tun?«, fragte Daemon, obgleich er mit schrecklicher Gewissheit ahnte, was der Höllenfürst als Nächstes sagen würde.

»Wir müssen als Haushofmeister und Gefährte das tun, wozu uns das Protokoll in Situationen wie dieser das Recht gibt.«

»Im Protokoll wird nicht von einer Königin ausgegangen, die doppelt so stark ist wie ein Kriegerprinz mit schwarzem Juwel!«

Saetans Hand zitterte ein wenig, als er sich das Haar zurückstrich. »Genauer gesagt sechs Mal so stark wie wir beide zusammen.«

»Was?«, meinte Daemon matt. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab.

»Es ist unmöglich, Jaenelles Kraft genau zu ermessen. Doch angesichts der Zahl ihrer schwarzen Geburtsjuwelen, die Mitternachtsschwarz wurden, als sie der Dunkelheit ihr Opfer darbrachte, würde ich vermuten, dass sie auf dem Höhepunkt ihrer Kraft etwa sechs Mal so stark ist wie wir beide zusammen.«

»Mutter der Nacht!« Eine Minute lang musste Daemon sich auf seine Atmung konzentrieren. »Wann wolltest du mich davon in Kenntnis setzen? Oder hattest du vor, es mir ganz zu verschweigen?«

Saetan wand sich sichtlich. »Ich wollte, dass ihr beiden … euch aneinander gewöhnt habt, bevor ich es dir sage. Doch nun …«

Eine Krafteruption erschütterte die Burg und ließ die beiden Männer zu Boden stürzen.

Daemon hatte das Gefühl, sich verzweifelt an einem sich auflösenden Uferstreifen festzuhalten, während Zentimeter von ihm entfernt eine Flut tobte, die ihn nicht nur mitreißen, sondern zermalmen würde.

Die Hand des Höllenfürsten packte ihn und hielt ihn fest.

Der Kraftwirbel verschwand wieder, so schnell, wie er aufgetaucht war – und das jagte ihm mehr Angst ein als der Ausbruch an sich. Wenn Jaenelle derart viel Energie freisetzen und in kürzester Zeit wieder in sich aufnehmen konnte …

»Jaenelle«, stieß Daemon hervor, während er sich rasch erhob. Er streckte seine Sinne aus und strich auf seiner Suche nach ihr an einem Punkt in der Burg vorbei, an dem eisige Kälte herrschte. Obwohl er sich auf der Stelle zurückzog, zwang ihn der stechende Schmerz beinahe in die Knie. Das wiederum ließ ihn noch schneller losstürmen.

»Daemon! Nein!« Saetan gab sich Mühe, so schnell wie möglich aufzustehen.

Daemon lief durch die Gänge. Er musste nicht länger suchen. Die Gänge wurden immer kälter, je weiter er sich dem Zimmer näherte, in dem sie jene Kräfte freigesetzt hatte.

»Daemon!«

Er hörte, dass Saetan hinter ihm herlief und ihn einzuholen versuchte, doch er hatte bereits die Tür zu dem Zimmer erreicht. Mithilfe der Kunst öffnete er sie und trat ein.

Die scharfe Kälte im Inneren fügte ihm körperliche Schmerzen zu, doch das fiel ihm kaum auf, weil er nicht verstand, was er erblickte, als er sich in dem Zimmer umsah. Erst als ihm klar wurde, dass die seltsamen roten Tupfen an den Fenstern gefrorene Blutstropfen waren, gelang es seinem Geist, den Rest zu identifizieren …

»Daemon.«

… und er begriff, was Lucivar ihm über Jaenelles erzwungene Heirat erzählt hatte. Sie hat ihn im ganzen Zimmer verteilt.

»Daemon.«

Obwohl er das Flehen in Saetans Stimme hörte, war er nicht in der Lage, darauf einzugehen. Eine eigenartige Taubheit legte sich auf seine Gefühle … und ohne fühlen zu müssen, konnte er denken.

Er wusste, warum Saetan nicht gewollt hatte, dass er dieses Zimmer zu Gesicht bekäme. Die besonderen Aufgaben eines Gefährten verboten es ihm, im Umgang mit seiner Königin gehemmt zu sein. Ein Gefährte war ihr gegenüber freiwillig verletzlich wie kein anderer Mann bei Hofe. Ein Gefährte, der Angst vor seiner Königin hatte, taugte nichts im Bett.

Doch Daemon hatte diese Seite an ihr schon zuvor zu sehen bekommen. Oh, es war nur ein rascher Einblick gewesen, doch er hatte längst gewusst, dass es sich hierbei um eine weitere Facette von Hexe handelte.

Und diese Seite ließ sich nicht nur durch große Wut an die Oberfläche bringen, sondern auch durch heftige sexuelle Erregung. Konnte er damit leben? Konnte er den Tanz der Lust weiterführen, sobald er einmal diese Seite an ihr zum Vorschein gebracht hatte? Konnte er mit Hexe schlafen?

Die Hitze, mit der er diese Frage bejahte, ließ seine emotionale Lähmung in Flammen aufgehen. An ihre Stelle trat die eiskalte Anerkennung dessen, was sich seinem Blick darbot.

Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Daemon«, sagte Saetan sanft, wobei er ihn nicht aus den Augen ließ.

Daemon lächelte. »Schade um die Tapete. Es war ein reizendes Muster.«

4 e9783641062019_i0051.jpg Kaeleer

Tja«, meinte Surreal und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich gehe einmal davon aus, dass keiner der so genannten Gäste darauf erpicht sein wird, im Moment sein Zimmer zu verlassen. Was meinst du?«

»Nein«, entgegnete Falonar, der klang, als sei ihm nicht wohl in seiner Haut. »Ich denke nicht.«

»Genau.« Surreal lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand. »Verflucht!«

»Bist du … dabei… verletzt worden?«, fragte Falonar, womit er die Krafteruption meinte, welche die Burg in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Er berührte Surreal kurz an der Schulter, bevor er einen Schritt zurückwich.

Surreal schüttelte den Kopf. Hatte die Kraftwoge sie verwundet? Nein. In Angst und Schrecken versetzt? Oh ja!

Doch die Leute, die sich häufig in Jaenelles Gegenwart befanden, lebten nicht in ständiger Angst. Im Grunde war das Verhalten, das Karla und Lucivar vorhin in dem Innenhof an den Tag gelegt hatten, eher als vorsichtig, nicht als ängstlich, zu bezeichnen – und diese Vorsicht war ihnen ansonsten in keiner Weise anzumerken.

Bis auf weiteres schob Surreal diesen Gedanken beiseite. Stattdessen knurrte sie Falonar an und entschied, sich um etwas Einfacheres zu kümmern – etwa die Arroganz, mit der er Befehle von sich gegeben hatte, nachdem sie den Innenhof erreicht hatten. »Ich wäre mit dem Mistkerl durchhaus fertig geworden.«

Falonar sah verletzt aus. »Es ist das Anrecht eines Mannes, zu verteidigen und zu beschützen.«

Surreal fletschte die Zähne. »Die Leier kenne ich nun schon zur Genüge …«

»Dann sollest du darauf hören, Lady.«

»Warum? Weil ich armes kleines Ding nicht in der Lage bin, in einem Kampf klarzukommen?«, versetzte sie mit giftiger Süße.

»Weil du gefährlich bist«, gab er ungehalten zurück. Er entfernte sich ein paar Schritte von ihr, fluchte und kam dann wieder auf sie zu. »Deshalb obliegt die Verteidigung den Männern, Lady Surreal. Weil ihr Frauen gefährlicher seid, wenn man euch reizt – und im Blutrausch seid ihr erbarmungslos. Wenn ich zuerst falle, muss ich mich im Nachhinein wenigstens nicht um dich kümmern.«

Surreal schwieg, nicht sicher, ob er ihr soeben ein Kompliment gemacht oder sie beleidigt hatte. Sie war beinahe so weit einzuräumen, dass er eventuell nicht völlig Unrecht hatte, als er sie anfuhr: »Du hast dir einen denkbar miesen Zeitpunkt ausgesucht, um mich fertig zu machen. Es wird schlimm genug werden, Yaslana gegenüberzutreten, ohne jetzt auch noch auf Messers Schneide tanzen zu müssen.«

Das war nun mit Sicherheit eine Beleidigung! »Da du so empfindest, Süßer, gehe ich dir besser aus dem Weg.« Sie stieß sich von der Wand ab.

Falonar streckte die Hand aus und berührte sie am Arm. »Surreal … Du hattest Recht, ich hätte den Mistkerl umbringen sollen. Jetzt werde ich die Konsequenzen meines Irrtums tragen müssen.« Er zögerte. Dann fügte er leise hinzu: »Er hätte dich oder Lady Benedict mit dem vergifteten Messer töten können.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Du hattest keine Ahnung von dem Messer, und er hat keine von uns umgebracht, also …«

»Was ändert das schon?«, erwiderte Falonar hitzig. »Durch meinen Fehler hatte er die Gelegenheit dazu.«

Surreal musterte ihn. »Du glaubst, man wird dich bestrafen? «

»Ganz bestimmt. Ungewiss ist nur, wie hart die Bestrafung ausfallen wird.«

»Nun, da habe ich ein Wörtchen mitzureden. Sobald Lucivar die Frage stellt …«

»Es wird keine Debatte geben«, meinte Falonar unwirsch. »Er ist der Kriegerprinz von Ebon Rih. Ich diene ihm. Er wird tun, was er für richtig hält.« Er senkte den Blick. »Lieber würde ich mich öffentlich auspeitschen lassen, als nach Terreille zurückgeschickt zu werden.«

»Es besteht nicht der geringste Grund, dich überhaupt zu bestrafen!«

Falonar lächelte bitter. »So ist es nun einmal, Lady Surreal.«

Na, das werden wir ja sehen, dachte Surreal.

5 e9783641062019_i0052.jpg Kaeleer

Daemon beobachtete, wie Saetan sich ein großes Glas Brandy einschenkte. »Kannst du das trinken?«, erkundigte Daemon sich, wobei er darauf achtete, dass die Neugier in seiner Stimme nicht allzu offenkundig war.

»Ich bekomme grauenvolle Kopfschmerzen davon«, gestand Saetan und goss Daemon ebenfalls ein Glas ein. »Aber ich möchte bezweifeln, dass der Brandy das ohnehin schon vorhandene Kopfweh noch schlimmer machen wird, von daher …« Er hob sein Glas, um mit Daemon anzustoßen und leerte es dann zur Hälfte. »Dejaal war Prinz Jaals Sohn.«

Den Kriegerprinzen zu erwähnen, schien ein abrupter Themenwechsel zu sein. »Lucivar hat die Männer gefunden?«

»Und er hat die Informationen erhalten, die wir haben wollten, bevor sie hingerichtet wurden.«

Daemon musterte seinen Vater. Etwas stimmte hier nicht ganz. Da er nicht wusste, welche Fragen er stellen sollte, fasste er einfach seine eigene Besorgnis in Worte. »Jaenelle ist nicht hier, oder?«

Saetan schüttelte den Kopf. »Sie ist zum Schwarzen Askavi gereist – und hat darum gebeten, erst einmal allein gelassen zu werden.«

»Wirst du dich nach ihren Wünschen richten?«, wollte Daemon behutsam wissen.

Saetans Blick war fest und viel zu wissend. »Wir werden uns nach ihren Wünschen richten. Wenn sie von Kälte erfüllt bleiben muss, um die Entscheidungen zu treffen, die getroffen werden müssen, wäre es grausam, sie dazu zu zwingen, etwas zu fühlen, bevor sie so weit ist.«

Daemon nickte. Es gefiel ihm nicht, aber er konnte es akzeptieren. Seine Gedanken kehrten zu den drei Männern zurück, die auf Osvald gewartet hatten, um ihm bei Wilhelminas Entführung zu helfen. »Diese Männer standen in den Diensten von Hekatah und Dorothea?«

»Sie haben für sie gearbeitet.«

Er konnte spüren, wie Saetan ihm auswich, also drängte er weiter: »Lucivar hat die Männer hingerichtet?« Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Lucivar jemanden umbrachte. Das konnte es also nicht sein, was Saetan beunruhigte. War eine offizielle Hinrichtung etwas anderes?

»Die anderen Männer des Ersten Kreises zogen ihr Anrecht zurück, irgendeinen Teil der Rechnung zu begleichen, welche die Männer ihnen für den Tod ihres Bruders schuldeten«, meinte Saetan.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Daemon gedehnt.

Nach kurzem Zögern trank Saetan den Brandy aus und antwortete: »Es bedeutet, dass sie jene Männer Jaal … und Kaelas überließen.«

6 e9783641062019_i0053.jpg Kaeleer

Innerlich vor Wut bebend, bedachte Surreal die vier Männer im Arbeitszimmer des Höllenfürsten mit zornigen Blicken. Fauchend hatte sie sich Zutritt zu der kleinen Gesprächsrunde verschafft, nur um ins Gesicht gesagt zu bekommen, dass sie geduldet werden würde, solange sie sich nicht einmischte. Ihre Meinung sei weder erwünscht noch erforderlich.

Wenn es sich um irgendwelche anderen Männer gehandelt hätte, hätte sie ihnen ihre Meinung dazu an den Kopf geworfen oder mit der Spitze ihres Dolches in die Haut geritzt. Doch Lucivar wirkte, als sei er schon genug gereizt worden und würde nicht zögern, sie in hohem Bogen aus der Tür zu werfen – ohne die Tür vorher zu öffnen. Und Saetan und Andulvar Yaslana gehörten nicht zu der Sorte Männer, die ihre Autorität als Haushofmeister beziehungsweise Hauptmann der Wache anfechten ließen.

Was sie jedoch wirklich kränkte, war der Umstand, dass Falonar sie keines Blickes gewürdigt hatte, seitdem es ihr gelungen war durchzusetzen, dass sie in dem Zimmer bleiben konnte. Sie hatte gedacht, er wäre dankbar, wenn jemand für ihn Partei ergriff. Doch er …

Nun, das war großartig. Einfach wunderbar! Sie musste schließlich nicht dort sein und ihre Zeit wegen eines dickschädeligen Mannes vergeuden, der ihre Anwesenheit ohnehin nicht zu schätzen wusste.

Als sie Lucivar ansah, erhaschte sie den amüsierten Blick in seinen goldenen Augen. Sie wusste, dass er ihr jetzt befehlen würde zu bleiben, wenn sie zu gehen versuchte. Anstatt sich also selbst um ihrer eigenen Sturheit willen zu verfluchen, verfluchte sie Lucivar. Da bemerkte sie, wie seine Heiterkeit noch wuchs, weil er es wusste – der Mistkerl!

Saetan lehnte mit verschränkten Armen an seinem Ebenholzschreibtisch. »Prinz Falonar, bitte erläutere dein Vorgehen heute Morgen.«

Seine Stimme klang höflich, mit nur einer Spur von Neugierde. Unwillkürlich fragte Surreal sich, ob das ein schlechtes Zeichen war.

Falonar gehorchte. Surreals Meinung nach war die trockene Auflistung der Geschehnisse alles andere als eine Erläuterung, doch die anderen Männern schienen sich nicht daran zu stören.

Als Falonar zu Ende gesprochen hatte, blickte Saetan zu Andulvar und Lucivar, um dann wieder Falonar anzusehen. »Du hast aus Besonnenheit einen Irrtum begangen«, meinte Saetan ruhig. »Das ist zwar eigentlich verständlich – im Falle eines Kriegerprinzen jedoch untragbar. Besonnenheit ist ein Luxus, den du dir nicht leisten kannst.«

Falonar musste hart schlucken. »Ja, Sir.«

»Du siehst ein, dass eine Disziplinierungsmaßnahme erforderlich ist?«

»Ja, Sir.«

Saetan nickte, sichtlich zufrieden. Er blickte zu Lucivar. »Dies ist deine Entscheidung.«

Falonar wandte sich Lucivar zu.

Lucivar musterte ihn einen Moment lang. »Fünf Tage extra Wachdienst, von morgen an.«

Anstatt erleichtert zu wirken, sah Falonar aus, als habe man ihn soeben geohrfeigt.

»Gibt es sonst noch etwas, das wir zu besprechen hätten?«, fragte Saetan.

Lucivar blickte zu Surreal, dann zu Saetan, der nach einer kurzen Pause kaum merklich mit dem Kopf nickte.

Nachdem Lucivar die Tür des Arbeitszimmers geöffnet hatte, wartete er.

Falonar verneigte sich vor Saetan und Andulvar und verließ den Raum. Da es so üblich zu sein schien, verneigte sich Surreal ebenfalls vor den beiden Männern und folgte dann Falonar so schnell aus dem Zimmer, sodass sie ihm auf die Fersen trat.

Fluchend beschleunigte er sein Tempo, um dann in der Mitte der Eingangshalle ruckartig stehen zu bleiben.

Surreal holte ihn ein. »Nun, das war doch gar nicht …« Die Abscheu und Wut, die über sein Gesicht huschten, als Lucivar auf sie zukam, verschlugen ihr die Sprache.

»Fünf Tage extra Wachdienst sind eine Beleidigung«, stieß Falonar hervor.

Surreal krallte die Hände in ihre lange Tunika, um nicht nach ihm zu schlagen. Narr! Tor! Er sollte dankbar sein, dass es nicht schlimmer gekommen war.

»Es ist keine Beleidigung«, erwiderte Lucivar freundlich. »Es ist nur gerecht. Du hast einen Fehler begangen, Falonar. Deshalb musst du eine gewisse Strafe erhalten. Du hast gehandelt, aber du hast dich lähmen lassen, weil du zu besonnen warst.«

»Mir ist klar, welche Konsequenzen meine Vorsicht nach sich hätte ziehen können.«

»Ja, das weiß ich. Und deshalb ist diese Disziplinarmaßnahme gerecht.« Lucivars Lippen verzogen sich zu einem trägen, arroganten Lächeln. »Gräm dich nicht. Du wirst noch etliche Male zusätzlichen Wachdienst schieben, bevor dein erstes Jahr hier um ist. Bei mir war das jedenfalls so.«

Falonar starrte ihn entgeistert an. »Bei dir?«

Das Lächeln wurde breiter. »Kaum zu glauben, dass ich zu besonnen gewesen sein soll, was? Aber ich wollte in Kaeleer bleiben und meiner Königin dienen. Also hielt ich mein Temperament wo weit wie möglich im Zaum – jedenfalls für meine Verhältnisse. Und landete öfter vor den beiden Herren im Arbeitszimmer, als mir lieb sein konnte.« Lucivar hielt inne. »Das hier ist Kaeleer. Hier betrachtet man das Temperament eines Kriegerprinzen als Gewinn für den jeweiligen Hof.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Falonar das Gesagte verdaut hatte. »Zusätzlicher Wachdienst wirkt wie eine sehr milde Strafe angesichts der Tatsache, dass eine Hexe hätte sterben können«, meinte er dann höflich.

»Nun, das ist nur die eine Seite deiner … Strafe«, entgegnete Lucivar. Er nickte in Surreals Richtung. »Bis Sonnenaufgang darfst du dich um sie kümmern. Da sie aussieht, als würde sie vor Wut vergehen, wenn sie nicht bald einen Mann anschreien darf, kannst ebenso gut du dieser Mann sein.« Sein Lächeln wurde noch süffisanter. »Natürlich könntest du anbieten, ihr das Bett zu wärmen, und abwarten, ob dir das Milde einbringt. «

Falonar verschluckte sich, während Surreals Atmung wie ein Teekessel klang, der am Überkochen war.

»Du siehst es als Strafe an, eine Nacht mit mir zu verbringen? «, rief Surreal. »Du Mistkerl! Du … Ich würde es eine Belohnung nennen!«

Lucivar zuckte die Schultern. »Wie du meinst. Denkt nur daran, dass ihr die offizielle Genehmigung des Haushofmeisters einholen müsst, solltet ihr euch entschließen, die ›Bestrafung‹ länger als heute Nacht durchzuführen. Er hat angekündigt, bis Sonnenaufgang auf die Formalität der Disziplinarmaßnahme zu verzichten, doch nicht danach. Und das ist ein Bereich, in dem man Saetan besser nicht reizen sollte.«

Nachdem er fort war, beäugten Surreal und Falonar einander.

»Anscheinend habe ich mein … Interesse … an dir nicht so … verhalten … geäußert, wie ich dachte, wenn es Lucivar aufgefallen ist«, sagte Falonar.

Oder dem Höllenfürsten, dachte Surreal. Sie hatte nicht das Gefühl, dass dem Mann in seiner Rolle als Familienpatriarch in dieser Hinsicht viel entging.

»Tja«, sagte Falonar argwöhnisch. »Wirst du mich nun also anschreien?«

Surreal schenkte ihm ein Lächeln. »Nun, Süßer, anschreien werde ich dich vielleicht nicht. Aber mit dem richtigen Ansporn könnte es dir durchaus gelingen, mich zum Schreien zu bringen.«