Kapitel 10
1 Kaeleer
Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in Ebon Rih kehrte Surreal auf die Burg zurück, warf einen Blick auf Daemon und begab sich sogleich auf die Jagd nach Jaenelle.
Schließlich spürte sie Jaenelle nach langem Suchen auf – wobei im Grunde Graufang Ladvarian aufspürte, der sich bei Jaenelle befand. Sie hielt sich in einem Winkel der Burg auf, der so weit vom Wohnbereich der Familie entfernt war, dass man davon ausgehen konnte, dass dort niemand nach ihr suchen würde.
Jaenelle trat aus einem Zimmer und bemerkte Surreal, die den Gang entlanggeschritten kam. Freude zeichnete sich auf ihren Gesichtszügen ab. »Surreal! Ich habe dich nicht so früh wieder …«
Surreal packte Jaenelle am Arm und schleifte die jüngere Frau in das Zimmer zurück. »Das hier ist ein Gespräch unter Frauen«, fuhr sie Graufang und Ladvarian an. »Geht ein paar Büsche wässern.« Dann schlug sie den beiden erstaunten Vierbeinern die Tür vor der Schnauze zu.
»Surreal!« Jaenelle schüttelte die Hand ab, die sie gepackt hielt. »Ist etwas geschehen in …«
»Was im Namen der Hölle machst du hier?«, rief Surreal.
Jaenelle blickte wachsam und verblüfft zugleich drein. »Im Augenblick lese ich.«
»Ich spreche nicht davon, was du vor fünf Minuten getan hast. Ich spreche von Daemon! Warum tust du ihm das an?«
Jaenelle zuckte zusammen. »Ich tue ihm überhaupt nichts an«, meinte sie abwehrend.
»Genau darum geht es! Verdammt noch mal, Jaenelle, er ist dein Gefährte! Warum genießt du diesen Umstand nicht?«
Im Bruchteil einer Sekunde konnte sie mit ansehen, wie sich eine in die Enge getriebene junge Frau in eine zornige Königin verwandelte.
»Er ist schon genug genossen worden, meinst du nicht auch?«, sagte Jaenelle leise mit ihrer Mitternachtsstimme. »Und ich werde nicht die Nächste in einer langen Reihe von Frauen sein, die ihn zu Intimitäten gezwungen haben.«
»Aber …« Surreal überdachte das Gehörte. Sie hatte nicht erwartet, dass dies der Grund für Jaenelles Widerstand sein könnte – und sie war sich sicher, dass Daemon nicht die leiseste Ahnung hatte, dass er deshalb aus dem Schlafzimmer ausgesperrt wurde. Ach, Süße, dachte sie traurig. Mit den besten Absichten hast du völlig falsch gehandelt. »Das war etwas anderes. Damals war er ein Lustsklave, kein Gefährte.«
»Besteht da tatsächlich solch ein großer Unterschied, Surreal? «
Vergiss nicht, mit wem du sprichst. Denk daran, was sie in Briarwood mit angesehen haben muss – und zu welchen Schlussfolgerungen über Sex sie als Zwölfjährige wohl gekommen ist.
»Den Gefährten an deinem Hof scheint es nicht sonderlich viel auszumachen, ihre Pflichten zu erfüllen. Ganz im Gegenteil! «
»Sie waren nie Lustsklaven. Man hat sie niemals gezwungen. Ja, gut, manchmal wird ein Gefährte um mehr gebeten, als wonach ihm in dem bestimmten Augenblick der Sinn steht, aber wenn ein Mann den Ring der Hingabe annimmt, geht er diese Art von Verhältnis freiwillig und aus eigenem Antrieb ein.«
»Daemon hat ebenfalls aus eigenem Antrieb gewählt«, stellte Surreal gelassen fest. »Und zwar nicht, weil er den Status des Gefährten genießen möchte und gewillt wäre, die Pflichten zu erfüllen, die damit einhergehen, sondern weil er dein Geliebter sein will.« Sie musterte Jaenelle. »Dir liegt doch etwas an ihm, oder?«
»Ich liebe ihn.«
Surreal konnte aus jenen einfachen Worten unendlich tiefe Gefühle heraushören.
»Außerdem«, meinte Jaenelle und verwandelte sich wieder in eine nervöse junge Frau, »bin ich mir gar nicht so sicher, ob er … das … wirklich tun will. Er hat noch nicht einmal versucht, mich zu küssen«, fügte sie trübsinnig hinzu.
Surreal schob sich die Haare hinter die spitzen Ohren. Verflucht, verflucht, verflucht! Wie hatte sich der Boden unter ihren Füßen so schnell in Morast verwandeln können? »Wenn ich die Regeln recht verstehe, an die sich ein Gefährte halten soll, muss dann nicht die Königin den ersten Kuss anregen, damit der Gefährte weiß, dass seine Annäherungsversuche willkommen sind?«
»Ja«, gab Jaenelle widerstrebend zu.
»Und du hast ihn nicht von dir aus geküsst?«
Jaenelle stieß ein entnervtes Fauchen aus und begann auf und ab zu gehen. »Ich bin keine zwölf mehr!«
Surreal stemmte die Hände in die Hüften. »Süße, meiner Meinung nach ist das auch gut so.«
Mit in die Luft geworfenen Armen rief Jaenelle: »Begreifst du denn nicht? Ich weiß überhaupt nicht, wie das alles funktioniert! «
Entgeistert starrte Surreal sie an. »Bist du denn noch nie geküsst worden? Küsse von Familienangehörigen und Freunden zählen nicht«, fügte sie rasch hinzu.
Abscheu machte sich auf Jaenelles Gesicht breit. »Zähne, Zungen und Sabber.«
»Wölfe und Hunde zählen auch nicht.«
Jaenelle stieß ein bitteres Lachen aus und meinte dann trocken: »Ich habe nicht von verwandten Wesen gesprochen.«
Mist. »Hast du keinen einzigen Kuss erhalten, der dir gefallen hat?«
Jaenelle zauderte. »Nun, Daemon hat mich einmal geküsst.«
»Na also …«
»Als ich zwölf war.«
Surreal seufzte. Es gab Küsse und es gab Küsse. Und Daemon wusste genau, wie er ein junges Mädchen zu küssen hatte, ohne die Grenze zu überschreiten – besonders, wenn es sich bei dem jungen Mädchen um Jaenelle handelte. »Er hat dich geküsst, als du zwölf Jahre alt warst«, sagte sie bedächtig.
Jaenelle zuckte mit den Schultern, wobei sie unbehaglich dreinblickte. »Es war zu Winsol, kurz bevor … alles passierte. Er hatte mir ein silbernes Armband geschenkt, und ich dachte, ein Kuss sei eine erwachsenere Art und Weise, um mich zu bedanken.«
»Also gut.« Surreal nickte. »Du hast ihn also geküsst, und dann hat er dich geküsst.«
»Ja.«
»Und er hat nicht gesabbert?«
Ein Lächeln zuckte um Jaenelles Lippen. »Nein, er hat nicht gesabbert.«
»Warum kannst du ihn dann jetzt nicht einfach küssen?«
»Weil ich nicht mehr zwölf bin!«, rief Jaenelle.
»Was hat das damit zu tun?«, schrie Surreal zurück.
»Ich will nicht, dass er mich auslacht!«
»Ich möchte sehr bezweifeln, dass seine erste Reaktion ein Lachen wäre. Ja, ich glaube nicht, dass ihm überhaupt der Gedanke in den Sinn käme.« Surreal hielt inne. Beim Feuer der Hölle, das hier ist so schlimm, als würde man mit einem heranwachsenden Mädchen sprechen!
Sie ließ den Gedanken auf sich einwirken. Wenn man das Alter beiseite ließ und lediglich von der Erfahrung ausging, hatte sie es dann im Grunde nicht tatsächlich mit einem heranwachsenden Mädchen zu tun? Es musste einen Schlüssel geben, den sie umdrehen konnte, irgendeine Methode, die den Anschein erwecken würde, Daemon brauche verzweifelt Hilfe. Wenn er Hilfe benötigte, würde Jaenelle …
»Weißt du, Süße, Daemon ist genauso nervös wie du.«
»Warum sollte Daemon nervös sein?«, wollte Jaenelle argwöhnisch wissen. »Er weiß doch, wie man küsst, und er ist …«
»Eine Jungfrau.«
Jaenelle riss den Mund auf. »Aber … aber er ist …«
»Eine Jungfrau. Zugegeben, vom Küssen versteht er etwas, aber ansonsten gibt es noch vieles anderes, über das er nur in der Theorie Bescheid weiß.«
»Aber … Surreal, das ist unmöglich. Er kann nicht …«
»Vertrau mir, er ist es.«
»Oh.«
»Von daher wirst du verstehen, weshalb er nervös ist«, fuhr Surreal fort, der mittlerweile selbst ein wenig nervös zumute war. Wenn Daemon jemals von dieser kleinen Unterhaltung erfuhr, würde sie als Hauptzutat in einem Kannibaleneintopf enden. »Wenn man es sich recht überlegt, Süße, kannst du zur Not einfach nur daliegen. Doch wenn er nervös ist, weil er Angst hat, vielleicht nicht seinen Mann zu stehen …« Sie winkelte den Ellbogen ab und streckte den Unterarm mit steifem Handgelenk und kerzengeraden Fingern empor, um die Hand kurz darauf kraftlos nach unten hängen zu lassen.
Jaenelle musterte die schlaffe Hand so lange, dass Surreal schon der Schweiß auszubrechen begann. Endlich hauchte sie: »Oh.« Sie riss die Augen auf. »Ooooh!« Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das würde Daemon nicht passieren.«
Dieses naive Vertrauen in Daemons Fähigkeiten war ergreifend. Furcht erregend, aber ergreifend. Und nichts, was Surreal mit der Wirklichkeit zu konfrontieren gedachte.
»Setzen wir uns.« Surreal ging auf ein Sofa zu. »Eine halbe Stunde sollte ausreichen, aber es spricht nichts dagegen, dass wir es uns dabei gemütlich machen.«
»Für was ausreichen?«, fragte Jaenelle und ließ sich am anderen Ende des Sofas nieder.
»Ich werde dir die Grundlagen des Küssens erklären.« Surreals Lächeln wirkte ein wenig angespannt. »Du wirst mir doch wohl zugestehen, dass ich das eine oder andere über das Küssen weiß?«
»Ja, sicher«, erwiderte Jaenelle misstrauisch.
»Und dir ist nie in den Sinn gekommen, mich im Laufe des Monats, den ich nun in Kaeleer bin, danach zu fragen?« Dieser Gedanke nagte an ihr.
»Ich habe schon daran gedacht«, nuschelte Jaenelle vor sich hin. »Es schien mir nicht höflich zu sein.«
Oh, Mutter der Nacht! Zumindest erklärte das den glasigen Blick, der Surreal manchmal in den Augen des Höllenfürsten auffiel. Wie viele Nächte musste er schon in seinem Arbeitszimmer gesessen haben, völlig aus der Fassung, weil er es mit einer derart mächtigen Königin zu tun hatte, die sich dennoch Sorgen machte, unhöflich zu sein?
»Ich danke dir für deine Rücksichtnahme, aber da wir Mitglieder derselben Familie sind, hätte ich nichts gegen ein Gespräch unter Frauen einzuwenden gehabt.«
Mit einem Mal schienen tausend Fragen in Jaenelles Augen aufzulodern.
»Aber heute halten wir uns besser an die Grundlagen des Küssens.«
»Soll ich mitschreiben?«, erkundigte Jaenelle sich ernsthaft.
»Nein«, entgegnete Surreal langsam, »aber ich denke, du solltest die Theorie so bald wie möglich in die Praxis umsetzen. «
Geräuschlos schloss Surreal die Tür hinter sich und eilte den Gang
entlang. Sie war sich nicht sicher, ob Jaenelles zutiefst
konzentrierte Miene Gutes für den Mann versprach, auf den sich
diese konzentrierte Aufmerksamkeit richten würde, doch sie hatte
ihr Bestes versucht. Was immer es jetzt noch zu lernen gab, musste
von Daemon kommen – und sie wünschte ihm viel Glück dabei. Für eine
Frau, die inmitten der sinnlichsten Männer aufgewachsen war, die
Surreal je gesehen hatte, war Jaenelle erschreckend schwer von
Begriff, was Sex betraf. Vielleicht hatte erst Daemons Erscheinen
ihr Verlangen geweckt, aber trotzdem wäre zu erwarten gewesen, dass
sie wenigstens den einen oder anderen Hinweis aufgeschnappt
hätte.
Wie im Namen der Hölle fanden zwei Liebende, die beide unerfahren waren, je heraus, was zu tun war?, fragte Surreal sich. Da fiel ihr ein, wie viele Dinge schief gehen konnten, sobald Daemon und Jaenelle erst einmal das Küssen hinter sich gelassen hatten.
Sollte sie vielleicht den Höllenfürsten von ihrer kleinen Unterhaltung in Kenntnis setzen? Vielleicht sollte sie das. Sicherheitshalber.
Sie bog um eine Ecke und kollidierte beinahe mit dem letzten Menschen, dem sie im Moment begegnen wollte.
»Was ist los?«, fragte Daemon.
»Wie, was ist los?« Surreal trat einen Schritt zurück. »Warum sollte etwas los sein?«
»Du siehst blass aus.«
Oh, Mist! »Hm.« Vielleicht sollte sie ihm von der kleinen Unterhaltung erzählen, bloß um ihn ein wenig vorzuwarnen. Daemon, Jaenelle und ich haben uns ein bisschen über Sex unterhalten. Ich glaube, das Ergebnis wird dir Freude bereiten.
Vielleicht besser doch nicht.
»Surreal?« Daemons Stimme klang eine Spur schärfer als zuvor.
Sie atmete tief durch. »Verhalte dich nervös. Das wird helfen. «
Dann war sie an ihm vorbei und lief den Gang entlang. Ein paar Minuten später stürzte sie atemlos in Saetans Arbeitszimmer.
Saetan erstarrte, den Füllfederhalter in der Luft über den Papieren auf seinem Schreibtisch. »Surreal«, meinte er argwöhnisch.
Mit einem leicht verzweifelten Lächeln ließ sie sich in den Sessel vor seinem Schreibtisch gleiten. »Hallo. Ich dachte, ich leiste dir ein wenig Gesellschaft.«
»Warum?«
»Benötige ich einen Grund?«
Anscheinend hatte diese Frage eine ganz besondere Bedeutung für ihn, denn er steckte den Füllfederhalter sorgsam zurück in seine Halterung, legte seine Brille mit den halbmondförmigen Gläsern auf den Tisch, lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte in Richtung der Tür seines Arbeitszimmers, bevor er seinen durchdringenden Blick auf Surreal richtete.
»Solltest du die Absicht haben, mir beim Erledigen meines Papierkrams zuzusehen, schlage ich vor, du bringst deinen Sessel hierher hinter den Schreibtisch«, sagte er freundlich.
Auf diese Weise säße Saetan zwischen ihr und jedem wutentbrannten Mann – also Daemon –, der eventuell durch die Tür kommen könnte. »Welch wunderbarer Einfall!«, erwiderte Surreal. Sie ergriff den Sessel und schleppte ihn um den Schreibtisch herum.
Bevor sie sich setzen konnte, hob Saetan den Sessel erneut hoch und rückte ihn näher an die Bücherregale, welche die Rückwand der Zimmernische ausfüllten. »Setz dich«, befahl er, wobei er mit den Fingern die Werke auf einem der Regale antippte. Er wählte ein Buch aus und reichte es ihr. »Dies ist eine Geschichte der Dea al Mon. Du solltest ein bisschen mehr über das Volk deiner Mutter erfahren. Außerdem liefert es eine einleuchtende Begründung für den Umstand, dass du hier sitzt, falls jemand kommen und danach fragen sollte.« Er hielt kurz inne. »Erwartest du übrigens jemanden?«
»Nein, ich erwarte niemanden.«
»Ich verstehe. In dem Fall werde ich mich wieder meiner Schreibarbeit widmen, bis du zu Atem gekommen bist. Danach führen wir eine kleine Unterhaltung.«
Surreal schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Heute scheint mein großer Tag für kleine Unterhaltungen zu sein.«
Glücklicherweise murmelte er seine Antwort auf ihre Bemerkung derart leise, dass sie so tun konnte, als habe sie das Murmeln nicht gehört.
2 Kaeleer
Daemon starrte den leeren Gang hinunter, schüttelte den Kopf und setzte dann seinen Weg fort. Er war schon den ganzen Tag unterwegs, erst in den Parkanlagen und nun in dem Korridorlabyrinth der Burg.
Im Laufe des Monats, den er nun in Kaeleer verbracht hatte, hatte er den Ort lieben gelernt. Er fühlte sich auf der Burg wohl, liebte ihre ausufernde Größe und die Einrichtung.
Und nun würde er sie verlassen müssen.
Zu diesem Schluss war er nach einer langen, schlaflosen Nacht gekommen. Oh, andere Männer hatten versucht, ihm mit ihren Geschichten über das Werben um ihre Ladys zu helfen, doch zu seinem Leidwesen war es immer deutlicher geworden, dass für ihn keinerlei Hoffnung bestand. Wenn er nicht den Ring der Hingabe tragen würde und nicht jede einzelne Minute an die Beziehung erinnert würde, die damit einherging, könnte er vielleicht akzeptieren, für Jaenelle bloß ein guter Freund zu sein oder – so wahr die Dunkelheit ihm helfe – ein weiterer älterer Bruder. Vielleicht konnte er jenes Verlangen überwinden, das ihm solche Qualen bereitete, und …
Und was? Zusehen, wie Jaenelle einen anderen Mann erhörte? So tun, als könne er das Feuer löschen, das in seinem Inneren loderte?
Ein Monat war keine lange Zeit für eine Werbung. Doch er hatte bereits so unendlich lange auf das Erscheinen von Hexe gewartet. Dann, als sie ihm den Ring der Hingabe angeboten hatte, hatte er gehofft …
Er würde mit Saetan sprechen, den Ring zurückgeben und herausfinden, ob es einen Hof in einem weit entfernten Winkel des Reiches gab, an dem er die vorgeschriebene Zeit dienen konnte, um in Kaeleer zu bleiben. Er würde …
Da ging eine Tür auf. Jaenelle trat auf den Gang. Sie erbleichte, als sie ihn sah.
Er blieb stehen. Er mochte alles andere aufgeben müssen, doch er würde niemals aufhören, sie zu lieben.
»Ähm, Daemon«, sagte Jaenelle in eigenartigem Tonfall. »Hast du kurz Zeit?«
»Selbstverständlich.« Es kostete ihn Mühe, doch er schenkte ihr ein warmherziges, aufmunterndes Lächeln und folgte ihr in das Zimmer.
Jaenelle stand außer Reichweite von ihm und starrte zu Boden. Sie wirkte nervös und konzentriert – als suche sie nach den richtigen Worten, um ihm schlechte Neuigkeiten zu verkünden.
Sie wird mich bitten, ihr den Ring der Hingabe zurückzugeben. Sobald sich dieser Gedanke in seinem Kopf festgesetzt hatte, begrub er unbarmherzig jegliche Vorstellung einer noblen Opferhaltung, die er eben noch gehegt hatte. So leicht würde er nicht aufgeben! Und den Ring der Hingabe würde er ihr nicht widerstandslos aushändigen.
»Wie schwer kann es schon sein?«, murmelte Jaenelle.
Daemon wartete einfach ab.
Mit einem lang gezogenen Seufzer trat Jaenelle auf ihn zu, legte ihm die Hände auf die Schultern, stellte sich auf die Zehenspitzen und strich mit den Lippen über die seinen. Anschließend zog sie sich hastig wieder außer Reichweite zurück und betrachtete ihn wachsam.
Daemon war sich nicht sicher, was er zu dieser unerwarteten Entwicklung sagen sollte. Als Kuss betrachtet, ließ er einiges zu wünschen übrig. Doch als Kuss von Jaenelle …
Es kostete ihn Überwindung, sich nicht die Lippen zu lecken.
»Bist du nervös?«, fragte Jaenelle, die ihn immer noch argwöhnisch beäugte.
Er würde eine kleine Unterhaltung mit Surreal über rätselhafte Ratschläge führen müssen. Zumindest hatte er so jedoch eine Ahnung, wie die richtige Antwort zu lauten hatte.
»Ehrlich gesagt habe ich schrecklich Angst, ich könnte etwas Dummes sagen oder tun, sodass du mich vielleicht nie wieder küssen willst.«
Vielleicht war das zu dick aufgetragen, denn nun wirkte sie besorgt. Dann warf sie die Hände in einer Geste wütender Hilflosigkeit in die Höhe.
»Ich weiß nicht, was ich tun muss«, sagte sie mit kläglicher Stimme. Dann fügte sie kaum hörbar hinzu: »Surreal hätte mich doch mitschreiben lassen sollen.«
Daemon biss sich auf die Zunge. Ja, er würde sogar ganz bestimmt eine kleine Unterhaltung mit Surreal führen müssen!
Jaenelle begann auf und ab zu gehen. »In Liebesgeschichten klingt immer alles so einfach.«
»Küssen ist auch nicht schwierig«, warf Daemon vorsichtig ein.
Sie warf ihm einen giftigen Blick zu, als sie an ihm vorüberging. »Lucivar hat das Gleiche vom Kochen behauptet«, meinte sie unwirsch. »Die Wölfe haben nicht einmal abgewartet, bis mein Braten aus dem Ofen kam, sondern gruben gleich ein tiefes Loch, um ihn zu verscharren.«
Das klang nach einer interessanten Geschichte. Mit Lucivar würde er demnächst auch einen kleinen Schwatz halten.
»Küssen ist wirklich nicht schwierig«, beharrte Daemon unbeirrt. »Du hast mich doch gerade eben geküsst.«
»Aber nicht sehr gut«, murmelte sie verdrießlich.
Daemon zog es vor, hierauf keine Antwort zu geben. Stattdessen musterte er sie. Frustration. Verlegenheit. Und ein Gefühl, das ihm den Atem verschlug – Begehren. »Warum hast du Surreal gefragt, wie man küsst?«
»Sie hat dir davon erzählt?«
»Nein, das habe ich erraten.« Und aufgrund von Jaenelles halblauter Bemerkung über das Mitschreiben sowie Surreals knapper Anweisung war es ihm nicht schwer gefallen, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Jaenelle knurrte und fauchte ein paar Ausdrücke in einer Sprache, die er dankenswerterweise nicht verstand. Dann flüsterte sie: »Ich wollte dich beeindrucken und außerdem wollte ich nicht, dass du mich auslachst.«
»Das würde mir niemals in den Sinn kommen«, versetzte Daemon trocken. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Mein Schatz, falls es dich irgendwie trösten sollte, lass dir gesagt sein, dass auch ich dich beeindrucken möchte.«
»Tatsächlich?« Sie klang völlig verblüfft.
Unwillkürlich fragte er sich, was in den vergangenen dreizehn Jahren geschehen sein mochte, das sie derart verdutzt auf diese Vorstellung reagieren ließ – doch er wusste es längst. Sie hatte es ihm das erste Mal gesagt, als er an jenem nebligen Ort gelandet war und versucht hatte, Hexe zurückzuholen, damit sie ihren verletzten Körper heilen konnte. Wenn es um körperliche Freuden ging, wollten die Männer sich an der Hülle gütlich tun, ohne mit derjenigen umgehen zu müssen, die darin lebte. Und Jaenelle, deren Erinnerungen an die Schrecken von Briarwood noch viel zu frisch waren, würde sich einem Mann niemals auf diese Weise hingeben.
»Ja, so ist es«, sagte er.
Sie dachte darüber nach. »Kaelas ist schlecht auf dich zu sprechen.«
Es war ein plötzlicher Themenwechsel – und kein willkommener. »Warum?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Weil ich in letzter Zeit nicht gut schlafe und ihn immer trete. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass es deine Schuld ist.«
Na, wunderbar! »Ich habe auch nicht gut geschlafen.«
Beunruhigt wandte sie sich ab.
Genug, dachte Daemon. Es war größtenteils seine Schuld und nicht ihre, dass sie sich im vergangenen Monat so abgequält hatten. Saetan hatte ihm gesagt, dass sie noch nie einen Geliebten gehabt hatte, und dennoch hatte er erwartet, mit offenen Armen in ihrem Bett willkommen geheißen zu werden. Er hatte sich benommen, als sei sie eine erfahrene Frau, die seine Verfügbarkeit nutzen würde.
Das war sein größter Fehler gewesen. Jaenelle war gar nicht in der Lage, irgendjemanden zu benutzen, der an ihrem Hof diente. Nun, sie hatte den ersten unsicheren Schritt auf ihn zu getan. Jetzt war die Reihe an ihm.
Er löste die eisern unterdrückte Aura seiner Sexualität gerade genug, um die Atmosphäre um sie her kaum merklich zu verändern. Allerdings sollte das Gefühl auf keinen Fall so stark sein, dass sie es als das erkannte, was es war.
»Komm her«, sagte er leise.
Erstaunt gehorchte sie ihm.
Er legte leicht die Hände um ihre Taille und zog sie an sich. »Küss mich noch einmal. Und zwar so.« Er strich mit den Lippen sanft und zärtlich über die ihren. »Und so.« Er küsste ihren Mundwinkel. »Und so.« Er küsste ihren Hals.
Sie ahmte jede seiner Handlungen nach – bis sie schließlich seinen Hals küsste. Als ihre Zungenspitze über seine Haut fuhr, hob er ihren Kopf an, bedeckte ihren Mund leicht mit dem seinen und küsste sie richtig. Er küsste sie mit all dem Hunger, der im Laufe des letzten Monats, ja ein ganzes Leben lang in ihm angewachsen war. Er küsste sie, während seine Hände über ihren Rücken und die Hüften fuhren und zärtlich ihre Brüste erkundeten. Er küsste sie, bis sie aufstöhnte. Er küsste sie, bis sie den Mund öffnete, um ihn mit ihrer Zunge tanzen zu lassen. Er küsste sie, bis ihre Hände seinen Rücken emporglitten und sich in seine Schultern krallten. Er küsste sie, bis das Stöhnen zu einem hungrigen Fauchen wurde, und ihre Nägel sich ihm durch das Hemd und das Jackett in seine Haut bohrten.
Da erkannte er, dass er weiter gegangen war, als er im Augenblick vorgehabt hatte. Er ließ seine Hände zurück zu ihrer Taille gleiten und verfiel wieder auf die leichten, zarten Küsse vom Anfang.
Sie knurrte, als sie spürte, wie er sich von ihr zurückzog – und in dem Geräusch lag nicht nur Hunger, sondern auch Wut. »Du willst mich nicht?«, fragte sie mit ihrer Mitternachtsstimme.
Er zog ihre Hüften gerade nahe genug an sich heran, um sie seine Antwort spüren zu lassen. »Doch, ich will dich.« Er gab einen Augenblick lang nach, suchte ihren Hals mit seinen Lippen und sog so fest, dass er an der Stelle ein rotes Mal hinterließ. Dann zwang er sich, aufzuhören und hauchte kleine Schmetterlingsküsse von ihren Wangen bis zur Schläfe hinauf. »Aber das hier ist nur Spiel, bloß ein Appetitanreger.«
»Nur ein Spiel?«, fragte Hexe misstrauisch.
»Mhmm«, erwiderte er und leckte über die Stelle an ihrer Stirn, an der sich das winzige spiralförmige Horn befinden würde, wenn sie sich im Abgrund aufhielten. »Hier ist nicht der richtige Ort für mehr als bloßes Spiel.«
»Warum?«
»Weil ich mein erstes Mal gerne im Bett erleben würde.«
Auf der Stelle verrauchte ihr Zorn. »Oh! Ja, das wäre bequemer«, sagte Jaenelle.
Wirst du mich heute Abend in dein Bett einladen? Er wusste genau, dass er sie nicht derart direkt fragen durfte, aber fragen musste er. »Darf ich heute Abend zu dir kommen?« Als er spürte, wie sie sich verspannte, legte er ihr schnell einen Finger auf die Lippen. »Keine Worte. Ein Kuss ist Antwort genug.«
Ihre Antwort ließ nichts zu wünschen übrig.
3 Kaeleer
Daemon stützte sich mit den Händen auf der Frisierkommode ab und schloss die Augen.
Tief durchatmen, verdammt noch mal, dachte er grimmig. Einfach nur durchatmen!
Wie im Namen der Hölle waren Männer in der Lage, das erste Mal hinter sich zu bringen? Vielleicht war bei einem Jüngling die erwartungsvolle Aufregung so groß, dass er jegliche Zweifel vergaß. Das erste Mal mochte auch einfacher sein, wenn die Frau nicht etwas derart Besonderes war – oder wenn die folgende Stunde nicht darüber entschied, ob die Frau, die man verzweifelt wollte, die eigenen Gefühle erwiderte.
Er kannte viele Dutzend Arten, eine Frau zu küssen, zu liebkosen, zu erregen und sie sich danach sehnen zu lassen, ihn in ihrem Bett zu haben.
Doch jetzt fiel ihm keine einzige ein.
Daemon richtete sich auf und band erneut den Gürtel seines Morgenmantels zusammen, den er über den seidenen Pyjamahosen trug … und fluchte herzhaft.
Er hätte einfach folgen sollen, wohin jene Küsse sie am Nachmittag geführt hatten, hätte dem Hunger nachgeben sollen, den er in Jaenelle geweckt hatte, hätte handeln sollen, anstatt zurückzuweichen und sich auf diese Weise die vergangenen Stunden zu bescheren, in denen er nachgegrübelt und schlussendlich in Panik verfallen war.
Doch er war zurückgewichen, weil er für sich wie auch für sie mehr als nur Sex wollte – und jetzt hoffte er inständig, dass er beim Betreten ihres Schlafzimmers …
Er musste über die bittere Ironie lächeln, die darin lag, dass genau das, was er nie mit einer Frau gemacht hatte und nie hatte tun wollen, genau das, was er jetzt mehr als alles andere auf der Welt wollte, vielleicht die eine Sache war, zu der er nicht in der Lage sein könnte.
Schließlich setzte er sich in Bewegung, da er befürchtete, dass Jaenelle es als Zurückweisung auffassen könnte, wenn er sie noch länger warten ließ.
Als er an die Verbindungstür zwischen den beiden Schlafzimmern klopfte, deutete er das gedämpfte Geräusch, das ihm entgegendrang, als Einladung und betrat Jaenelles Gemach.
Das einzige Licht in dem Raum stammte von dem Feuer im Kamin sowie von etlichen Duftkerzen, die hier und dort im Zimmer verteilt standen. Die Tagesdecke des riesigen Bettes war zurückgeschlagen. Auf einem Tisch am Kamin standen zugedeckte Teller, zwei Gläser und eine Flasche Sekt.
Jaenelle stand in der Mitte des Raumes, die Finger fest ineinander verflochten. Die Spitzen von etwas, das nach einem hauchdünnen Nachthemd aus schwarzer Spinnenseide aussah, lugte unter dem Saum eines dicken, abgewetzten Morgenmantels hervor – den sie gewiss an regnerischen Abenden trug, wenn sie es sich in ihrem Zimmer gemütlich machte und ein Buch las. Sie wirkte eher wie ein einsames Mädchen, das sich verlaufen hat, als wie eine liebeshungrige Frau.
Einen Augenblick lang musterte sie ihn eingehend. »Du siehst aus, wie ich mich fühle.«
»Unwohl und völlig verängstigt?« Er zuckte zusammen und wünschte sich, dies nicht gesagt zu haben.
Sie nickte. »Ich dachte … etwas zu essen …« Sie warf den zugedeckten Tellern einen Blick zu und wurde blass. Dann fiel ihr Blick auf das Bett, und sie erbleichte noch heftiger. »Was sollen wir bloß tun?«, flüsterte sie.
Er hatte ihnen beiden keinen Gefallen getan, als er ihnen Zeit zum Nachdenken verschafft hatte. »Versuchen wir es mit den Grundlagen«, schlug er vor. »Wir fangen ganz einfach an.« Er tat einen Schritt vorwärts und breitete die Arme aus. »Eine Umarmung.«
Sie dachte kurz über seine Worte nach. »Das klingt eigentlich ganz leicht«, sagte sie und fiel ihm in die Arme.
Er schloss die Augen und hielt Jaenelle fest umschlungen; hielt sie einfach nur in seinen Armen und atmete ihren Duft ein.
Nach einer Weile zuckten seine Finger. Das weiche Gewebe ihres abgewetzten Morgenmantels und die Art, wie ihr Haar an seiner Hand entlang strich, waren mehr als einladend.
Seine Arme spannten sich an und zogen sie noch näher an sich, während er ihr mit der Hand über den Rücken strich – einfach, weil es sich so wunderbar anfühlte.
Sie stieß ein Seufzen aus. Die Anspannung in ihrer Muskulatur ließ ein wenig nach, und sie lehnte sich ganz an ihn.
Er dachte nicht an Verführung, als seine Hände anfingen, über ihren Körper zu wandern – oder als ihre Hände scheu den seinen streichelten.
Er dachte nicht an Verführung, als sein Körper sich daran ergötzte, wie anders sich die seidene Haut an ihrem Hals für seinen Mund anfühlte als der Stoff ihres Morgenmantels unter seinen Händen.
Er dachte nicht an Sex, als er erst seinen und dann ihren Morgenmantel öffnete, sodass nur noch jener Hauch von Spinnenseide ihrer beider Haut voneinander trennte; oder als nicht einmal mehr die Spinnenseide zwischen ihnen lag.
Er dachte nicht an Sex, als sich sein Mund auf den ihren senkte und dunkle, heiße Begierde in ihrem Innern entfachte.
Und in ihrem Bett, während er in ihr war, sich im Einklang mit ihr bewegte und ihrem wohligen Stöhnen lauschte, war er überhaupt nicht mehr in der Lage, zu denken.
4 Terreille
Dorothea hielt einen Brief in die Höhe. »Anscheinend hat Kartane die Bekanntschaft von Lord Jorval und Lord Hobart gemacht. «
Hekatahs Lippen verzogen sich zu einem schrecklichen Grinsen. »Welch nützliche Männer! Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass Kartane kein Glück beim Höllenfürsten hatte.«
»Allem Anschein nach nicht«, antwortete Dorothea, die versuchte, unbeteiligt zu klingen, obgleich die Wut über Kartanes Verrat ihr Blut zum Kochen brachte. »Er meint, Lord Hobart wäre um jegliche Unterstützung vonseiten Haylls dankbar, um seiner Nichte Glacia wieder zu entreißen. Kartane hat vor, als Verbindungsmann in Kleinterreille zu bleiben.«
»Es klingt, als habe dein Sohn endlich begriffen, wem er Loyalität schuldet.«
Dorothea zerknüllte den Brief. »Er ist nicht mein Sohn. Nicht mehr. Er ist bloß noch ein Werkzeug wie jedes andere auch.«
5 Kaeleer
Lucivar ging auf das gegenüberliegende Ende des Gartens zu, der von einer niedrigen Mauer umgeben war und an die eine Seite seines eyrischen Horstes grenzte. Marian las Daemonar eine Gutenachtgeschichte vor, und die Wölfe hatten sich in dem Zimmer eingefunden, um ebenfalls zuzuhören. Was auch immer Prothvar ihm zu sagen hatte, würde also nicht belauscht werden.
Vor zwei Wochen hatte Saetan Surreal mit einer kurzen – und seltsam unklaren – Nachricht zurück nach Ebon Rih geschickt und Lucivar unverblümt zu verstehen gegeben, er solle sich von der Burg fern halten. Lucivar hatte lediglich gehorcht, weil Saetan den Brief als Haushofmeister unterschrieben hatte. Nach zwei Wochen Schweigen hatte Andulvar als Hauptmann der Wache Prothvar zur Burg gesandt, um den Haushofmeister um genauere Informationen zu bitten. Nun war Prothvar hier und wollte ihn abseits von den anderen sprechen. »Gibt’s ein Problem?«, wollte Lucivar im Flüsterton wissen.
Prothvars Zähne glänzten, als sich sein Mund zu einem anzüglichen Lächeln verzog. »Nicht, solange du dich von der Burg fern hältst. Soviel ich mitbekommen habe, ist es im Moment ziemlich ungemütlich dort, wenn man Juwelen trägt, die dunkler als Rot sind.«
»Mutter der Nacht«, murmelte Lucivar und massierte sich den Nacken. Was im Namen der Hölle war geschehen? »Vielleicht sollte der Höllenfürst Daemon eine Zeit lang hierher schicken.«
»Oh, ich denke nicht, dass es klug wäre, zu versuchen, Daemon von der Burg zu entfernen.«
Lucivar starrte Prothvar einen Augenblick lang an. Dann machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. »Nun, es war höchste Zeit.«
»Für beide.«
»Warum ist Saetan dann beunruhigt?«
»Weil das … fröhliche Treiben trotz Daemons Versuchen, das Schlafzimmer abzuschirmen, teilweise durch die Schilde dringt und die Burgbewohner, die dunkle Juwelen tragen, unruhig werden lässt. Und keiner der beiden Männer möchte das Thema Jaenelle gegenüber anschneiden und sie bitten, selbst Schilde aufzubauen, da sie zur Zeit nichts als ihren Gefährten im Sinn hat – und Saetan möchte, dass es noch eine Weile so bleibt, von Daemon mal ganz zu schweigen.«
»Tja«, meinte Lucivar gut gelaunt, »wenn Saetan eine Pause von dem Trubel auf der Burg benötigt, könnte er jederzeit einen Abend – oder auch zwei – bei Sylvia verbringen.«
»Also, Lucivar«, versetzte Prothvar tadelnd, »du weißt doch ganz genau, dass die beiden nur gute Freunde sind.«
»Natürlich sind sie das.« Beim Anblick des Mondes überschlug Lucivar rasch im Kopf die Tage und bedachte dann Prothvar mit einem strengen Blick. »Hat jemand mit Daemon über einen Verhütungstrank gesprochen?«
»Darum hat man sich gekümmert. Ich hatte den Eindruck, dass Daemon später einmal gerne Kinder hätte, dass er im Moment aber lieber ungestört das Bett seiner Lady genießen möchte.«
»In dem Fall sollte sich Saetan sehr bald eine Atempause gönnen.« Lucivar sah zu den Lichtern zurück, welche die Fenster seines Horstes erhellten, und freute sich darauf, das Bett seiner eigenen Lady zu genießen, sobald Daemonar eingeschlafen war. Doch er erkundigte sich höflich: »Möchtest du mit hineinkommen? Ich habe etwas Yarbarah.«
»Nein danke«, entgegnete Prothvar. »Ich muss noch Andulvar Bericht erstatten.« Er wünschte Lucivar eine gute Nacht, breitete die Flügel aus und erhob sich in die Lüfte.
Als Lucivar zu seinem Horst zurückging, konnte er einen einzelnen Wolf heulen hören. Er grinste. Da das Geräusch aus der Richtung von Falonars Zuhause kam, war nicht schwer zu erraten, wo Surreal die Nacht verbrachte.
Surreal kuschelte demnach mit Falonar im Bett, Jaenelle mit Daemon, und Marian …
Sie stand im Türrahmen zur Küche, als er das Haus betrat, und lächelte auf jene verhaltene Art, die ihn jedes Mal erregte und sein Herz schneller schlagen ließ.
»Ich wollte gerade Tee machen«, sagte sie. »Es ist kalt heute Nacht.«
Er erwiderte das Lächeln und gab ihr einen langen, leidenschaftlichen Kuss. »Ich weiß eine bessere Methode, um uns aufzuwärmen.«
6 Kaeleer
Die arachnianische Königin schwebte in der Luft vor ihrem Verworrenen Netz aus Träumen und Visionen – dem Netz, das sie an das Netz von Hexe geknüpft hatte. Die kalte Jahreszeit war beinahe angebrochen. Es wurde Zeit, dass die Traumweberinnen sich in ihre Höhlen und Erdlöcher zurückzogen, doch sie musste sich dieses Netz vorher noch einmal ansehen … nur um sicherzugehen.
Zuerst betrachtete sie das Verworrene Netz von Hexe.
Ein kleiner Faden war dunkel, dunkel, dunkel. Der erste Tod.
Es würde mehr Tode geben. Viel mehr.
Dann sah sie sich ihr eigenes Verworrenes Netz an.
Doch nicht vor der warmen Jahreszeit. Selbst die Menschen blieben normalerweise während der kalten Jahreszeit in ihren Höhlen.
Also dann. Sie konnte sich in ihren eigenen Bau in der heiligen Höhle zurückziehen, wo sie sich ausruhen und zarte Träume träumen würde. Beim nächsten Jahreszeitenwechsel würde sie mit dem braunen Hund Ladvarian sprechen. Er war das Verbindungsglied zwischen den verwandten Wesen und den menschlichen Angehörigen des Blutes. Die verwandten Wesen gehorchten ihm, und die Menschen hörten ihm zu. Und sie benötigte ihn für das, was getan werden musste.
Denn wenn sich die Erde das nächste Mal erwärmte, würde sie all ihre Kraft und ihre Fähigkeiten brauchen – und all die Kraft und Fähigkeiten, die der braune Hund für sie zu sammeln in der Lage war –, um Kaeleers Herz zu retten.