Kapitel 1
1 Terreille
Dorothea SaDiablo, die Hohepriesterin des Territoriums Hayll, erklomm langsam die Stufen der großen hölzernen Tribüne. Es war ein sonniger Morgen im Frühherbst, und Draega, die Hauptstadt von Hayll, lag so weit im Süden, dass es tagsüber immer noch warm war. Der schwere, schwarze Umhang, der ihren gesamten Körper verhüllte, ließ Dorothea den Schweiß ausbrechen. Unter der weiten Kapuze war ihr Haar feucht, und ihr Hals juckte. Doch das war unwichtig. In ein paar Minuten würde sie den Umhang ablegen können.
Oben angelangt, erblickte sie das große Segeltuch, das über einem unförmigen Umriss ausgebreitet war und die gesamte Vorderseite der Tribüne einnahm. Von der wartenden Menge aus musste das Tuch gut sichtbar sein. Automatisch hielt sie für einen Moment die Luft an. Wie närrisch von ihr, besorgt zu sein! Sie hatte jeden Zauber benutzt, den sie kannte, um das Geheimnis unter dem Segeltuch zu bewahren, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Sie zwang sich, wieder normal zu atmen, und schritt über die Tribüne. Einen knappen Meter hinter dem Tuch blieb sie stehen.
Die Königinnen aus allen Territorien des Reiches Terreille beobachteten sie misstrauisch und voll Groll. Dorothea hatte verlangt, dass jede Territoriumskönigin ihre beiden stärksten Provinzköniginnen und sämtliche Kriegerprinzen mitbrachte, die ihr dienten. Selbstverständlich waren nicht wenige der Königinnen, insbesondere diejenigen aus den Territorien weit im Westen, in der Erwartung angereist, es handele sich um eine Falle.
Nun, die Kanaillen hatten Recht! Doch wenn sie ihnen den Köder nur auf die richtige Art und Weise präsentierte, würden sie bereitwillig und ohne zu überlegen auf ihre List hereinfallen.
Dorothea hob die Arme. Das träge dahinplätschernde Gemurmel der Menge wurde immer leiser, bis es schließlich völlig verstummte. Sie bediente sich der magischen Kunst, um für alle Anwesenden deutlich vernehmbar zu sein, und führte dann den nächsten Zug in einem tödlichen Spiel um die Macht aus.
»Meine Schwestern und Brüder, ich habe euch heute hier versammelt, um euch vor einer schrecklichen Entdeckung zu warnen, die ich kürzlich gemacht habe. Ein Übel, das eine Bedrohung für jeden einzelnen Angehörigen des Blutes im gesamten Reich Terreille darstellt!
In der Vergangenheit habe ich unsagbar grausame Dinge getan. Ich bin für die Ermordung von Königinnen und einigen der tapfersten Männer des Reiches verantwortlich. Ich habe die Angehörigen des Blutes in Angst und Schrecken versetzt, um Terreille unter meine Kontrolle zu bringen. Ich! Eine Hohepriesterin, die besser als jeder andere weiß, dass eine Priesterin keine Königin ersetzen kann, egal, wie geschickt oder wie stark sie in der Kunst sein mag.
Ich werde die traurige Last dieser Taten für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen müssen. Aber hier und heute sage ich euch: Man hat mich benutzt! Als ich vor ein paar Wochen meine Fähigkeiten als Schwarze Witwe einsetzte, um ein Verworrenes Netz aus Träumen und Visionen zu spinnen, zerriss ich versehentlich einen mentalen Schleier, der mich all die Jahrhunderte hindurch umgeben hatte, in denen ich die Hohepriesterin von Hayll gewesen bin. Ich kämpfte mir einen Weg durch diesen mentalen Nebel und erkannte endlich, wovor mich meine Verworrenen Netze schon seit so langer Zeit hatten warnen wollen.
Es gibt tatsächlich jemanden, der die Macht an sich reißen und über ganz Terreille herrschen will; der sich sämtliche Blutleute in diesem Reich unterwerfen möchte. Aber ich bin es nicht! Ich war das Instrument eines monströsen, bösartigen Wesens, das uns zermalmen und verschlingen möchte, das auf die gleiche Weise mit uns spielt wie eine Katze mit der Maus, kurz bevor sie ihr den tödlichen Schlag versetzt. Dieses Ungeheuer hat einen Namen – einen Namen, der seit vielen tausend Jahren gefürchtet wird – und das zu Recht. Unser aller Feind ist der Prinz der Dunkelheit, der Höllenfürst.«
In der Menschenmenge erhob sich unbehagliches Gemurmel.
»Ihr zweifelt an meinen Worten?«, rief Dorothea. Sie riss sich den Umhang vom Leib und schleuderte ihn beiseite. Da fiel ihr das strähnige weiße Haar auf die Schultern, das noch vor wenigen Wochen dicht und schwarz gewesen war. Ihr schlaffes, zerfurchtes Gesicht verzog sich, und Tränen traten in ihre goldenen Augen, als aus dem Gemurmel Rufe des Entsetzens wurden. »Seht, was aus mir geworden ist, während ich mich aus dem Bann seines hinterhältigen Zaubers freikämpfte! Seht mich an! Dies ist der Preis, den ich zahlen musste, damit auch ihr endlich die Gefahr erkennt.«
Dorothea presste sich eine Hand auf die Brust und rang schluchzend nach Atem.
Ihr Haushofmeister trat vor und griff sanft nach ihrem Arm, um sie zu stützen. »Du musst aufhören, Priesterin. Das hier ist mehr, als du ertragen kannst.«
»Nein«, stieß Dorothea röchelnd hervor, die ihre Stimme immer noch mithilfe der Kunst verstärkte. »Ich muss ihnen alles berichten, solange ich noch dazu in der Lage bin. Vielleicht ist das hier meine letzte Gelegenheit. Sobald ihm klar wird, dass ich von seinen Machenschaften weiß …«
Schweigen legte sich über die Zuhörerschaft.
Dorothea ließ die Hand sinken und stand so gerade wie möglich, ohne auf die Schmerzen in ihrer Wirbelsäule zu achten. »Ich war nicht das einzige Instrument des Höllenfürsten. Einigen von euch ist das Unglück widerfahren, Daemon Sadi und Lucivar Yaslana an ihren Höfen zu haben. Möge die Dunkelheit mir verzeihen! Ich schickte diese Ungeheuer in zerbrechliche Territorien, und wegen ihnen sind Königinnen ums Leben gekommen. Manchmal wurden ganze Höfe zerstört. Wie auch Prythian, die Hohepriesterin von Askavi, war ich der Auffassung, wir hätten sie aus freien Stücken in den Dienst an andere Höfe gesandt – in der Hoffnung, die beiden ließen sich vielleicht auf diese Weise zähmen. Doch wir wurden manipuliert und dazu gebracht, sie in genau diese Territorien zu schicken, weil sie die Söhne des Höllenfürsten sind! Sie sind dem Samen dieser Bestie entsprungen und nun zu seinen Werkzeugen der Zerstörung herangewachsen. Die Kontrolle, die Prythian und ich über sie zu haben schienen, war nichts weiter als reine Illusion, ein Trugbild, um den wahren Zweck der beiden zu verbergen.
Vor etlichen Jahren verschwanden sie dann. Die meisten von uns hofften, sie seien umgekommen. Dem ist nicht so. Von ein paar mutigen Brüdern und Schwestern, die jetzt in dem kaeleerianischen Territorium Kleinterreille leben, habe ich erfahren, dass sich nicht nur Yaslana, sondern auch Sadi im Schattenreich aufhält, wo der Höllenfürst schon seit einiger Zeit unter dem Deckmantel des Kriegerprinzen von Dhemlan haust. Die Schlangenbrut ist in ihr Nest zurückgekehrt.
Doch das ist noch nicht alles! Der Höllenfürst übt einen ungesunden Einfluss auf die meisten Territoriumsköniginnen in Kaeleer aus. Außerdem hat er eine junge Frau völlig unter seine Kontrolle gebracht, bei der es sich um die stärkste Hexe aller Reiche handelt. Mithilfe ihrer Kraft wird er uns überwältigen – es sei denn, wir schlagen zuerst zu. Uns bleibt keine andere Wahl, meine Brüder und Schwestern. Wenn wir nicht den Höllenfürsten und alle, die in seinen Diensten stehen, vernichten, wird die Brutalität, die ich einst als sein Instrument an den Tag legte, im Vergleich zu seinen Taten geradezu harmlos wirken.«
Dorothea hielt einen Augenblick inne. »Viele von euch haben Freunde oder Familienmitglieder, die nach Kaeleer geflohen sind, um der grausamen Barbarei zu entkommen, die Terreille im Würgegriff hält. Seht euch an, was mit denen geschehen ist, die dem Höllenfürsten direkt in die verführerischen Arme gelaufen sind!«
Mithilfe der Kunst fegte sie das Segeltuch hinfort, das die Vorderseite der Tribüne bedeckt hatte. Im nächsten Moment schlug sich Dorothea die Hand vor den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen, als sich die Fliegen von den verstümmelten Leichen erhoben.
Rufe drangen durch die Luft. Ein schriller Schrei wütender Trauer übertönte die übrigen Stimmen. Dann erklang ein anderer und noch einer, sobald die Leute, die der Tribüne am nächsten standen, ein vertrautes Gesicht oder ein besonderes Schmuckstück wiedererkannten.
Erneut bediente sich Dorothea der Kunst und breitete das Segeltuch behutsam wieder über die Toten. Sie musste einige Minuten warten, bis die Schreie zu einem gedämpften Schluchzen geworden waren.
»Wisst dies!«, rief sie. »Ich werde jedes bisschen Kunst, das ich je erlernt habe, jeden Tropfen Stärke, der in mir steckt, dazu verwenden, diesem Ungeheuer entgegen zu treten. Doch sollte ich alleine kämpfen, werde ich gewiss unterliegen. Wenn wir hingegen gemeinsam kämpfen, haben wir die Chance, uns des Höllenfürsten und seiner Knechte zu entledigen. Viele von uns werden in diesem Krieg zugrunde gehen, aber unsere Kinder…« Die Stimme versagte ihr. Erst nach einer kurzen Pause konnte sie fortfahren. »Aber unsere Kinder werden die Freiheit kennen, für deren Erhalt wir so teuer bezahlen mussten.«
Als sie sich abwandte, geriet sie ins Straucheln. Ihr Haushofmeister und der Hauptmann der Wache stützten sie auf dem Weg über die Tribüne und die Stufen hinab. In den Augen der Männer funkelten Tränen, und sie zeigten einen wilden Stolz, während sie Dorothea für die kurze Fahrt zurück zu ihrem Anwesen fürsorglich in ihren offenen Wagen setzten. Als die beiden sie begleiten wollten, schüttelte sie den Kopf.
»Eure Pflichten liegen hier«, hauchte sie matt.
»Aber, Priesterin …«, setzte der Hauptmann der Wache zu einem Protest an.
»Bitte«, erwiderte Dorothea. »Eure Stärke wird mir mehr helfen, wenn ihr hier bleibt.« Sie rief ein gefaltetes Stück Papier herbei und reichte es dem Haushofmeister. »Wenn die Königinnen mich zu sprechen wünschen, dann vereinbart für heute Nachmittag eine Audienz.« Der zweifelnde Gesichtsausdruck des Mannes entging ihr nicht, doch er sagte nichts.
Der Kutscher machte ein leises Schnalzgeräusch in Richtung der Pferde.
Dorothea sank in den Sitz zurück und schloss die Augen, um ihre Schadenfreude zu verbergen. Nun, du verfluchter Hurensohn, ich habe den ersten Zug getan. Von jetzt an wirst du nichts unternehmen können, das sich nicht gegen dich verwenden ließe.
2 Terreille
Trotz der warmen Morgensonne zitterte Alexandra Angelline, während sie darauf wartete, dass Philip Alexander von der hölzernen Tribüne zurückkehrte, wo er die verstümmelten Leichen betrachtete. Sie belegte ihr schweres Wollschultertuch mit einem Wärmezauber, obgleich sie wusste, dass es nichts nutzen würde. Keine äußere Wärmequelle war in der Lage, die Kälte in ihrem Inneren zu besiegen.
Es ist zu früh, dachte sie verzweifelt. Wilhelmina ist erst gestern Morgen durch das Tor gegangen. Sie kann unmöglich hier inmitten der…
Vania und Nyselle, die beiden Provinzköniginnen, die sie mitgebracht hatte, waren bereits zusammen mit ihren Begleitern in die Herberge zurückgekehrt. Sie hatten nicht angeboten, zusammen mit ihr auszuharren. Vor ein paar Jahren – ja, noch vor wenigen Wochen – hätten sie es getan. Damals hatten sie noch an sie geglaubt, trotz ihrer familiären Probleme.
Doch vor ein paar Wochen hatte jemand mysteriöse Botschaften an die dreißig stärksten Hexen auf Chaillot versandt – bloß nicht an sie und ihre Tochter Leland. In den Briefen war dazu eingeladen worden, Briarwood zu besichtigen, und darin wurde auch versprochen, das Rätsel zu lösen, was mit den jungen Mädchen geschehen war, die einst in die Klinik eingewiesen worden und dann spurlos verschwunden waren. Briarwood, das erbaut worden war, um unausgeglichene Kinder zu heilen, hatte schon vor etlichen Jahren seine Tore geschlossen; seit dem Zeitpunkt, als eine geheimnisvolle Krankheit ausgebrochen war und Dutzende Männer aus den Aristokratenfamilien in Beldon Mor, Chaillots Hauptstadt, dahingerafft hatte – eine Seuche, die mit jenem Ort in Verbindung zu stehen schien.
Die geladenen Hexen waren an dem festgesetzten Abend dort erschienen und hatten von den Geheimnissen und Schrecken Briarwoods erfahren. Ein dämonentotes Mädchen namens Rose, das sie auf dem Anwesen herumführte, machte sie unerbittlich mit den dortigen Geistern bekannt. Eine Priesterin fand ihre Cousine, die verschwunden war, als sie beide noch Kinder gewesen waren, in eine Wand eingemauert. Eine Provinzkönigin musste erkennen, was von der Tochter einer Freundin übrig geblieben war.
Ihnen wurden die Spielzimmer gezeigt. Sie sahen die Kabinen mit den schmalen Betten. Und sie wurden in den Gemüsegarten geführt und auch zu dem Mädchen mit nur einem Bein.
Starr vor Entsetzen ob der Gräuel, die ihnen offenbart wurden, folgten sie Rose, die ihnen lächelnd in allen Einzelheiten auseinander setzte, wie und warum jedes einzelne Kind gestorben war. Sie berichtete ihnen von den anderen dämonentoten Kindern, die in das Dunkle Reich gegangen waren, um bei den kindelîn tôt zu leben. Sie zählte die Liste von Briarwoods ›Onkeln‹ auf, den Männern, die diesen Hort der perversen Begierden unterstützt und aufgesucht hatten. Und sie nannte diejenigen gebrochenen Hexen aus aristokratischen Familien, die von ihrer Unausgeglichenheit ›geheilt‹ – und ihrer inneren Kräfte beraubt – und anschließend nach Hause geschickt worden waren.
Einer der Männer, die Rose erwähnt hatte, war Robert Benedict gewesen, Lelands ehemaliger Gatte und ein wichtiges Mitglied des Rates der Männer. Die Mitgliederzahl jenes Rates war bereits durch die mysteriöse Krankheit stark dezimiert worden.
Als eine Heilerin aus der Gruppe nach der Krankheit gefragt hatte, hatte Rose erneut gelächelt. »Briarwood ist ein süßes Gift, gegen das es kein Heilmittel gibt.«
Alexandra umklammerte ihr Schultertuch, ohne dass ihr Zittern nachgelassen hätte.
Die Wut, die durch Chaillot gefegt war, hatte die Insel in Stücke gerissen. Beldon Mor war zu einem Schlachtfeld geworden. Die Mitglieder des Männerrates, die noch nicht an der Krankheit gestorben waren, wurden grausam hingerichtet. Nachdem zahlreiche Männer aus Aristokratenkreisen vergiftet worden waren, flüchteten sich viele andere in Herbergen oder ihre Klubs, weil sie zu große Angst hatten, etwas zu essen, das eventuell durch die Hände der Frauen in ihren Familien gegangen sein könnte.
Nachdem die erste Rachewelle verebbt war, hatte sich der Zorn der Hexen gegen Alexandra gerichtet. Zwar gaben sie ihr nicht die Schuld an Briarwood, denn die Klinik war erbaut worden, noch bevor sie die Königin von Chaillot geworden war; doch erbittert warfen sie Alexandra Blindheit vor. Sie war so darauf bedacht gewesen, Chaillot vor Haylls Einfluss abzuschirmen und trotz des Männerrats nicht all ihre Macht zu verlieren, dass sie die Gefahr nicht erkannt hatte, die längst existierte. Es sei, so sagten die erbosten Hexen, als werfe eine Frau einem Mann vor, ihre Brust zu betatschen, wenn er schon längst seinen Schwanz zwischen ihren Schenkeln versenkt habe.
Sie verurteilten Alexandra, weil Robert Benedict all die Jahre in ihrem Haus gelebt und sich das Bett mit ihrer Tochter geteilt hatte. Wenn sie schon einer Gefahr nicht gewahr wurde, die tagaus, tagein an ihrem Tisch saß, wie konnte sie dann ihr Volk schützen?
Man legte ihr Robert Benedict und all die jungen Hexen zu Lasten, die in Briarwood den Tod gefunden hatten oder zerbrochen worden waren.
Sie selbst gab sich die Schuld daran, was mit Jaenelle, ihrer jüngeren Enkeltochter, geschehen war. Sie hatte zugelassen, dass dieses eigenartige, schwierige Kind an einen derart schrecklichen Ort gebracht worden war. Zwar hatte sie Briarwoods Geheimnisse nicht gekannt, doch wenn sie Jaenelles bizarre Geschichten nicht abgetan, wenn sie das Flehen des Kindes um Aufmerksamkeit erkannt hätte, statt die Kleine als Ärgernis zu sehen, wäre Jaenelle niemals nach Briarwood geschickt worden. Und wenn Alexandra den Hass nicht auf die leichte Schulter genommen hätte, den das Mädchen Dr. Carvay gegenüber an den Tag gelegt hatte, hätte sie die ganze schreckliche Wahrheit dann vielleicht früher herausgefunden?
Sie wusste es nicht. Aber es war zu spät, um im Nachhinein noch Antworten auf ihre Fragen zu erhalten.
Jetzt hatte sie ein weiteres familiäres Problem am Hals. Vor elf Jahren war Wilhelmina Benedict, Roberts Tochter aus erster Ehe, weggelaufen, nachdem sie behauptet hatte, Robert habe sie sexuell belästigt. Philip Alexander, Roberts unehelicher Halbbruder, hatte seine Nichte gefunden, sich jedoch geweigert, ihren Aufenthaltsort bekannt zu geben. Damals war Alexandra wütend auf ihn gewesen, weil er auch ihr nicht verraten hatte, wo sich Wilhelmina befand. In letzter Zeit fragte Alexandra sich, ob Philip vielleicht eine Ahnung gehabt hatte, was sich wirklich hinter Briarwoods sorgsam aufrecht erhaltener Fassade verbarg; zumal es seinem ungestümen Eintreten zu verdanken gewesen war, dass der Ort letzten Endes geschlossen wurde.
Vor zwei Tagen hatte sie einen Brief von Wilhelmina erhalten, in dem stand, dass sie nach Kaeleer gehen werde, ins Schattenreich. Nun, Wilhelmina war mittlerweile siebenundzwanzig, also kein Kind mehr. Egal. Sie war immer noch Teil der Familie. Immer noch ihre Enkelin.
Alexandra schüttelte den Kopf, um den Strom ihrer Gedanken zu unterbrechen. Da sah sie Philip, der auf sie zukam. Mit angehaltenem Atem blickte sie ihm forschend in die grauen Augen.
»Sie ist nicht unter ihnen«, flüsterte Philip.
Alexandra stieß ein tiefes Seufzen aus. »Der Dunkelheit sei Dank.« Doch sie wusste sehr gut, was Philip nur nicht laut ausgesprochen hatte: noch nicht.
Philip bot ihr seinen Arm an. Sie griff danach, dankbar für die Stütze. Er war ein guter Mann, das Gegenteil seines Halbbruders. Es hatte sie gefreut, als Leland und er traditionsgemäß per Händedruck ihren Vorsatz besiegelt hatten, zu heiraten. Noch glücklicher war sie gewesen, als die beiden sich nach dem Verlobungsjahr tatsächlich zur Ehe entschlossen hatten.
Alexandra blickte zu der Tribüne zurück, auf der Dorothea SaDiablo ihre entsetzliche Rede gehalten hatte. »Glaubst du ihr?«, fragte sie leise.
Philip führte Alexandra durch die Zuschauer, die so sehr unter Schock standen, dass sie nichts tun konnten, als zusammengedrängt dazustehen, bis sie den Mut aufbrachten, sich die verstümmelten Leichen anzusehen. »Ich weiß nicht. Selbst wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was sie sagt … wenn Sadi …« Es schnürte ihm die Kehle zu.
Bis zum heutigen Tage hatte Alexandra Alpträume von Daemon Sadi. Sadi hatte ihr gedroht, als Jaenelle das letzte Mal nach Briarwood gebracht worden war. Er hatte ihr einen Vorgeschmack auf das Grab gegeben. Philips Alpträume handelten gleichfalls von Sadi, was jedoch andere Gründe hatte. Während Daemon Sadi seinen dunklen Kräften freien Lauf gelassen hatte, um den Ring des Gehorsams zu zerbrechen, hatte er die Hälfte der Juwelen tragenden Blutleute in Beldon Mor getötet. Inmitten jenes gewaltsamen Wirbelsturms war Philips Kraft gebrochen worden, und er war auf das grüne Juwel zurückgefallen, das sein Geburtsjuwel war.
»Heute Abend können wir eine Kutsche nehmen«, schlug Philip vor. »Wenn wir auf den dunklen Winden reisen, sind wir morgen wieder zu Hause.«
»Noch nicht. Ich möchte, dass du mit Dorotheas Haushofmeister sprichst. Sieh zu, ob du eine Audienz für mich arrangieren kannst.«
»Du bist eine Königin!«, stieß er erzürnt hervor. »Du hast es nicht nötig, eine Priesterin um eine Audienz zu bitten, egal wer …«
»Philip!« Sie drückte seinen Arm leicht. »Ich bin dir dankbar für deine Loyalität, aber im Moment sind wir Bittsteller. Ich kann mir fortan keinerlei Überheblichkeit mehr erlauben. Im Grunde bezweifle ich, dass Dorothea nicht mehr das Ungeheuer sein soll, das sie immer war. Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass der Höllenfürst eine weitaus größere Bedrohung darstellt.« Sie erschauderte. »Wir müssen nach Kaeleer reisen und Wilhelmina finden. Allerdings sollten wir vorher so viel Wissen über den Feind sammeln wie irgend möglich – ganz gleich, woher wir unser Wissen nehmen.«
»Na gut«, meinte Philip. »Was ist mit Vania und Nyselle? Werden sie uns begleiten?«
»Sie werden bleiben oder gehen, ganz wie es ihnen beliebt. Was ich tue, wird ihnen gewiss egal sein.« Sie seufzte. »Wer hätte auch nur vor einem Monat geahnt, dass ich eines Tages mit dem Gedanken spielen könnte, mich mit Dorothea zu verbünden? «
3 Terreille
Kartane SaDiablo schlenderte durch die gepflegte Gartenanlage, wobei er versuchte, nicht auf die forschenden oder mitleidigen Blicke der wenigen Leute zu achten, die sich noch hier draußen befanden.
Er hatte gewartet, bis Dorotheas Kutsche außer Sichtweite war, bevor er sich von der Tribüne abwandte. Die verstümmelten Leichname, die zur Schau gestellt worden waren, kümmerten ihn nicht. Beim Feuer der Hölle, Dorothea hatte Leuten regelmäßig Derartiges – oder Schlimmeres – angetan, wenn ihr der Sinn nach ein wenig Zerstreuung gestanden hatte! Daran schien sich jedoch niemand mehr zu erinnern. Andererseits war vielleicht keiner der Narren hier jemals Zeuge der entsetzlichen Launen der Hohepriesterin geworden.
Doch der Haushofmeister und der Hauptmann der Wache … hirnlose Schwächlinge! Ihnen hatten tatsächlich Tränen in den Augen gestanden, als sie ihr in den Wagen geholfen hatten! Wie konnten sie annehmen, sie hätte all die Jahrhunderte im Bann eines Zaubers gestanden und hätte das Leiden ihrer Opfer nicht in vollen Zügen genossen?
Oh, selbstverständlich hatte sie aufrichtig und reumütig geklungen! Er glaubte ihr allerdings dennoch kein einziges Wort. Kein Mann, der Dorothea je im Bett zu Diensten hatte sein müssen, hätte ihr die Geschichte abgekauft. Daemon ganz bestimmt nicht.
Daemon. Der Sohn des Höllenfürsten. Das erklärte einiges, was seinen so genannten Cousin betraf. Hatte Dorothea all die Jahre davon gewusst, als Daemon an ihrem Hof fälschlich als Bastard aufgezogen worden war? Sie musste es gewusst haben, was wiederum bedeutete, dass der Höllenfürst der Hohepriesterin von Hayll gewiss nicht in Liebe verbunden war.
Und hier kam wieder Kartane mit seinen eigenen Interessen ins Spiel.
Die mysteriöse Krankheit, die vor fast dreizehn Jahren ausgebrochen war, verzehrte ihn allmählich. All die anderen Männer, die sich an Briarwood erfreut hatten, lagen längst unter der Erde. Nur die Tatsache, dass er Hayllier war, also einem langlebigen Volk entstammte, hatte ihn als Einzigen überleben lassen. Und er war nie mehr nach Chaillot zurückgekehrt. Doch er konnte spüren, wie ihm nun die Zeit davonlief.
Seitdem vor ein paar Wochen die Verbindung bekannt geworden war, die zwischen der Krankheit und Briarwood bestand, hatte er nachzudenken begonnen – immer dann, wenn sein Geist nicht von Alpträumen zerfressen wurde, und er einen klaren Gedanken fassen konnte. Jedes Mal kam er zu demselben Schluss: Nur in Kaeleer gab es Heilerinnen, die vielleicht mächtig genug waren, um seine Krankheit aufhalten oder heilen zu können, bevor sie ihn dahinraffte, und die obendrein nichts von der Ursache jener Seuche ahnten. Wahrscheinlich dienten die Heilerinnen an den Höfen der Territoriumsköniginnen, die unter der Kontrolle des Höllenfürsten standen, wenn Dorothea nicht auch in dieser Hinsicht gelogen hatte. Folglich musste er etwas finden, mit dessen Hilfe sich die Unterstützung des Höllenfürsten erkaufen ließe. Dank Dorotheas kleiner Rede befand er sich nun im Besitz von Informationen, die den Prinzen der Dunkelheit seiner Meinung nach sehr interessieren dürften.
Zufrieden mit seiner Entscheidung, lächelte Kartane. Er würde ein paar Tage länger nach weiteren Informationen suchen und anschließend dem Schattenreich einen kurzen Besuch abstatten.
4 Terreille
Schwungvoll ließ sich Alexandra Angelline in den Sessel sinken. Sie war erleichtert, dass Dorothea sich für ein privates Empfangszimmer anstelle eines formellen Audienzsaals entschieden hatte. Dieses Treffen würde auch ohne einen Hof voll höhnisch feixender Hayllier schwierig genug sein.
Mit Dorothea allein zu sein, hatte allerdings auch seine Nachteile. Alexandra hatte gehört, dass Haylls Hohepriesterin einst eine attraktive Frau gewesen war. Der Schatten dieser Schönheit war zwar immer noch vorhanden, aber nun ging Dorothea gebückt, denn ihre Wirbelsäule war verkrümmt. Die braunen Handrücken waren von Altersflecken übersät, und das Gesicht und die Haare …
Letzten Endes ergeht es uns allen so, dachte Alexandra, während sie beobachtete, wie Dorothea Tee in zierliche Tassen goss. Doch wie musste es sich anfühlen, eines Abends als Frau in den besten Jahren ins Bett zu gehen und am nächsten Morgen als hässliches altes Weib aufzuwachen?
»Ich bin dir … dankbar … dass du mir eine Audienz gewährt hast.« Alexandra brachte die Wörter nur mit Mühe hervor.
Dorotheas Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Sie reichte Alexandra eine Teetasse. »Es überrascht mich, dass du überhaupt darum gebeten hast.« Das Lächeln erlosch. »In der Vergangenheit waren wir nicht gerade enge Freundinnen, und wenn man bedenkt, was deiner Familie zugestoßen ist, hast du allen Grund, mich zu hassen.« Sie zögerte, trank einen Schluck Tee und fuhr dann leise fort: »Es war nicht meine Idee, Sadi nach Chaillot zu schicken, aber ich entsinne mich nicht, wer es vorgeschlagen hat, und weshalb ich meine Zustimmung erteilt habe. Über gewissen Erinnerungen liegt immer noch ein Schleier, den ich nicht zu durchdringen vermag.«
Alexandra führte die Tasse an den Mund, setzte sie jedoch anschließend wieder ab, ohne davon getrunken zu haben. »Du glaubst, der Höllenfürst steckt dahinter?«
»Ja, das tue ich. Sadi ist eine schöne, grausame Waffe, und sein Vater weiß gut mit ihm umzugehen. Ihr Ziel haben sie jedenfalls erreicht.«
»Welches Ziel?«, fragte Alexandra erbost. »Sadi hat meine Familie zerstört und meine jüngste Enkelin ermordet. Was wurde damit erreicht?«
Dorothea lehnte sich zurück und nippte erneut an ihrem Tee. »Du vergisst, dass der Leichnam des Mädchens nie gefunden wurde, Schwester«, gab sie leise zu bedenken.
Etwas in Dorotheas erwartungsvollem Blick ließ Alexandra erzittern. »Das hat nichts zu bedeuten. Er ist sehr geschickt darin, Leute verschwinden zu lassen.« Sie stellte die Tasse zurück auf die Untertasse. Der Tee war unberührt. »Ich bin nicht hergekommen, um über die Vergangenheit zu sprechen. Wie groß ist die Gefahr, die vom Höllenfürsten ausgeht?«
»Daemon Sadi ist seines Vaters Sohn. Beantwortet das deine Frage?«
Es gelang Alexandra nicht, ein Schaudern zu unterdrücken. »Und du glaubst wirklich, dass er die Angehörigen des Blutes in Terreille ausrotten möchte?«
»Ich bin mir ganz sicher.« Dorothea berührte ihren weißen Haarschopf. »Ich habe einen hohen Preis gezahlt, um mir absolut sicher zu sein.«
»Meine andere Enkelin, Wilhelmina Benedict, ist gerade nach Kaeleer gegangen«, flüsterte Alexandra.
Dorothea versteifte sich. »Wann genau?«
»Sie ist gestern durch das Tor gereist.«
»Mutter der Nacht!« Dorothea sank in ihrem Sessel zusammen. »Es tut mir so Leid, Alexandra. So unendlich Leid.«
»Prinz Philip Alexander und ich haben vor, nach Kaeleer zu reisen, sobald dieser so genannte Dienstbasar vorbei ist und wieder Besucher gestattet sind. Hoffentlich wird es uns gelingen, sie ausfindig zu machen. Vielleicht können wir die Königin, bei der sie einen Dienstvertrag unterschrieben hat, dazu bewegen, sie freizulassen.«
»Sie schwebt in viel größerer Gefahr«, meinte Dorothea besorgt.
»Es besteht kein Grund, weshalb sie auch nur die geringste Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte.« Alexandras Furcht verlieh ihrer Stimme einen gereizten Klang. »Außerdem besteht für sie kein Anlass, einen Vertrag außerhalb Kleinterreilles anzunehmen.«
»Es gibt zwei Gründe: der Höllenfürst und die Hexe, die er beherrscht. Wenn ihr Wilhelmina nicht bald findet, wird sie in seinen dunklen Armen landen, und dann ist jegliche Hoffnung für sie dahin.«
Trotz der Wärme im Zimmer lief Alexandra ein eiskalter Schauder über den Rücken.
Lange Zeit musterte Dorothea sie wortlos. »Ich sagte dir bereits: Sadi und der Höllenfürst haben ihr Ziel erreicht. Niemand sucht ewig nach einem Leichnam, wenn es gilt, sich um die Lebenden zu kümmern. Und die Leiche deiner Enkeltochter wurde nie gefunden.«
Alexandra starrte Dorothea an. »Willst du damit etwa sagen, dass Jaenelle die mächtige Hexe ist, die der Höllenfürst kontrolliert? Jaenelle?« Sie lachte verbittert. »Beim Feuer der Hölle, Dorothea, Jaenelle war nicht einmal in der Lage, die einfachsten Grundlagen der Kunst zu meistern.«
»Wenn du zwischen den Zeilen der … nicht leicht zugänglichen … Schriften liest, die von der Geschichte des Blutes handeln, wird dir aufgehen, dass es ein paar wenige Frauen – sehr wenige, der Dunkelheit sei Dank! – gegeben hat, die ungeheure Kraftreserven besaßen, die sie selbst nicht anzapfen konnten. Sie benötigten ein … emotionales … Band, um ihre Kräfte zu kanalisieren und auf diese Weise nutzbar zu machen. Allerdings hatten sie nicht immer die Wahl, auf welche Art und Weise ihre Kräfte eingesetzt wurden. « Dorothea legte kunstvoll eine Pause ein. »Die Gerüchte, die in letzter Zeit bezüglich des kleinen Spielzeugs des Höllenfürsten nach Kleinterreille dringen, beschreiben diese Hexe als ›exzentrisch‹ und ›ein wenig unausgeglichen‹. Klingt das vertraut?«
Alexandra verschlug es den Atem. Es befand sich einfach nicht genug Luft in dem Zimmer. Wieso konnte sie auf einmal nicht mehr atmen?
»Wenn du meine Hilfe annimmst, werde ich dir, soweit es mir irgend möglich ist, zur Seite stehen.« Dorothea bedachte sie mit einem traurigen Blick. »Du kannst es nicht ignorieren, Alexandra. Egal, was du denken oder glauben möchtest, du kannst nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die Gespielin des Höllenfürsten, die Daemon Sadi ihm verschafft hat, den Namen Jaenelle Angelline trägt.«
5 Terreille
Dorothea zog die dunklen, schweren Vorhänge auf und starrte hinaus in den nächtlichen Garten. Sie fühlte sich körperlich und seelisch ausgelaugt. Oh, wie gerne sie den Männern ihres Ersten Kreises deren erbärmlich hoffnungsvollen Blick aus den Augen gekratzt hätte! Sie klammerten sich an jede Ausrede, die ihr Verhalten die letzten Jahrhunderte über erklären würde. Sie wollten unbedingt glauben, dass ein Mann sie grausam gemacht hatte, dass ein Mann ihre Gedanken manipuliert und unter seine Kontrolle gebracht hatte, dass ein Mann hinter ihrem Aufstieg zur Macht und der darauf folgenden Verderbtheit steckte, die es ihr ermöglicht hatte, die meisten anderen Territorien von Terreille zu schwächen und sich untertan zu machen.
Ihr selbst wollten sie am liebsten überhaupt nichts davon zu Lasten legen. Sie wollten, dass sie ein Opfer war, damit sie sich nicht schämen mussten, ihr gedient zu haben. Auf diese Weise konnten sie so tun, als hätten sie ihr aus einem Gefühl der Ehre heraus gehorcht, nicht aus Habgier und Angst.
Tja, sobald Kaeleer fiel, würden an ihrem Hof einige Veränderungen stattfinden. Vielleicht würde sie die Narren sogar auf dem Schlachtfeld sterben lassen, damit sie an ihrem verfluchten Ehrgefühl ersticken konnten.
»Deine heutige Vorstellung war phänomenal, Schwester«, erklang eine schroffe, aber immer noch mädchenhafte Stimme. »Ich hätte es nicht besser hinbekommen.«
Dorothea drehte sich nicht um. Ihr wurde jedes Mal übel, wenn sie Hekatah, die dämonentote Dunkle Priesterin und selbst ernannte Hohepriesterin der Hölle, ansah. »Es waren deine Worte, nicht meine. Von daher überrascht es mich nicht, dass du zufrieden bist.«
»Du bist immer noch auf mich angewiesen«, knurrte Hekatah, die auf einen Sessel in der Nähe des Kaminfeuers zuschlurfte. »Vergiss das nicht.«
»Das vergesse ich nie«, erwiderte Dorothea leise, ohne den Blick vom Garten abzuwenden.
Hekatah hatte damals, als Dorothea noch eine junge Hexe war, die neben den Priesterinnenpflichten auch die Kunst der Schwarzen Witwen erlernte, ihr Potenzial erkannt. Daraufhin hatte Hekatah Dorotheas Ehrgeiz und ihren Träumen von der Macht Nahrung gegeben und ihr die möglichen Rivalinnen aufgezeigt, die ihr bei der Verwirklichung ihrer Ziele in die Quere kommen könnten. Schließlich hatte Hekatah ihr geholfen, jene anderen Hexen aus dem Weg zu räumen. Die Dunkle Priesterin war immer da gewesen, bei jedem Schritt, den sie getan hatte, um sie zu führen und zu beraten.
Dorothea entsann sich nicht des genauen Zeitpunkts, als sie erkannt hatte, dass Hekatah sie umgekehrt ebenso brauchte. Die wechselseitige Abhängigkeit ließ die beiden einander verachten, doch ihr gemeinsamer Traum, eines Tages die Reiche zu beherrschen, fesselte sie aneinander.
»Meinst du wirklich, diese Königinnen glauben nach den Dingen, die wir getan haben, um in Terreille an die Macht zu gelangen, dass der Höllenfürst an allem schuld war?«
»Wenn du die Überredungszauber richtig eingesetzt hast, besteht kein Anlass, weshalb sie daran zweifeln sollten«, sagte Hekatah mit falscher Süße in der Stimme.
»An meinen Fähigkeiten, was die Kunst betrifft, gibt es nichts auszusetzen, Priesterin!« Erbost wandte Dorothea sich zu der anderen Frau um.
»Deine Fähigkeiten haben dir nicht geholfen, Sadis Zauber zu entgehen, mit dem er dich belegt hat, oder?«
»Genauso wenig wie deine Fähigkeiten dich beschützt haben oder dir halfen, den erlittenen Schaden zu beheben.«
Verärgert zischte Hekatah, und Dorothea drehte sich wieder zum Fenster. Die treffsichere Spitze bereitete ihr kurzzeitig Genugtuung.
Vor sieben Jahren hatte Hekatah versucht, Jaenelle Angelline in ihre Gewalt zu bringen und Lucivar Yaslana zu eliminieren. Ihr Plan war entgegen aller Erwartungen fehlgeschlagen, und die heftige Rückkoppelung, welche die Auseinandersetzung nach sich gezogen hatte, hatte es ihr endgültig unmöglich gemacht, als Lebende durchzugehen. Seit jenem Tag sah sie wie ein vertrockneter Leichnam aus. In den ersten beiden Jahren hatte sie darauf bestanden, lediglich viel frisches Blut trinken zu müssen, damit sich ihr Körper wieder regenerieren könne. Dem war aber nicht so. In gewissem Sinne waren die Dämonentoten Geister, die noch über zu viel geistige Macht verfügten, um in die Dunkelheit einzugehen, und die deshalb weiterhin in ihrem toten Fleisch hausten. Während ihre mentalen Kräfte fortdauerten und sich erneuern ließen, musste der Körper durch das Trinken von Blut erhalten werden. Doch nichts würde Hekatah ihre Schönheit zurückgeben. Der Lebensfunke hatte ihr totes Fleisch verlassen, und die letzten sieben Jahre hatten zum langsamen Verfall eines Körpers geführt, der bereits vor 50 000 Jahren gestorben war.
»Sie werden glauben, der Höllenfürst sei für all die Grausamkeiten in Terreille verantwortlich«, sagte Hekatah, die in Dorotheas Rücken so nahe an das Fenster trat, dass sie sich in der nächtlich dunklen Scheibe spiegelte. »Sie wollen es glauben. Er ist ein Mythos, eine furchterregende Geschichte, die man sich seit tausenden von Jahren zuraunt. Und selbst diejenigen, die unsicher sind, was ihn betrifft, werden keinerlei Zweifel an Yaslanas und Sadis Schuld hegen. Die Vorstellung, wie die drei sich zusammentun und sich einer starken Hexe als Werkzeug bedienen, wird ausreichen, um Terreille im Kampf gegen Kaeleer zu vereinen. Letzten Endes ist es völlig egal, warum diese Toren sich dem Kampf anschließen, solange sie nur mit in die Schlacht ziehen.«
»Heute Nachmittag haben wir eine widerwillige Verbündete gewonnen: Alexandra Angelline, die Königin von Chaillot.« Dorotheas Lippen verzogen sich zu einem boshaften Grinsen. »Sie war schockiert, als sie erfuhr, dass ihre jüngste Enkelin dank Daemon Sadi all die Jahre unter dem Joch des Höllenfürsten stand.«
Hekatah runzelte die Stirn. »Sie ist eine Närrin, aber sie ist dennoch nicht dumm. Wenn sie Jaenelle überzeugt, ihr dabei behilflich zu sein, ihre Herrschaft über Chaillot aufrechtzuerhalten…«
Dorothea schüttelte den Kopf. »Sie bezweifelt, dass Jaenelle auch nur über die geringste Macht verfügt. Das konnte ich in ihren Augen sehen. Ich habe ihr ein Märchen über Frauen erzählt, die ungenutzte Sammelbecken purer Macht sind – das allerdings hat sie ebenfalls nicht glauben wollen. Sie kann sich vorstellen, dass Sadi und der Höllenfürst Jaenelle aus ihren eigenen perversen Beweggründen haben wollten; aber sie wird auch weiterhin nur das über Jaenelle Angelline glauben, was sie glauben möchte. Bei ihrer Ankunft in Kleinterreille wird Lord Jorval sie bereits erwarten und ihr seine Hilfe anbieten. Er wird gewiss nicht erwähnen, dass Jaenelle inzwischen die Königin des Schwarzen Askavi ist. Und ich gehe einmal nicht davon aus, dass Alexandra auf jemanden von der Burg hören wird.«
Hekatah lachte schadenfroh.
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie uns gerne sämtliche Informationen zukommen lassen wird, die für uns von Nutzen sein könnten, sobald sie einmal Prinz Saetan Daemon SaDiablo, dem Höllenfürsten, begegnet ist.«
»Und wenn er von ihrem Verrat erfährt …« Hekatah zuckte mit den Schultern. »Tja, nach dem Krieg hätten wir uns ihrer ohnehin entledigen müssen.«
Dorothea starrte ihr gemeinsames Spiegelbild in der Fensterscheibe an. Einst waren sie wunderschöne Frauen gewesen. Nun sah Hekatah aus wie eine Leiche, an der sich die Würmer gütlich getan hatten, und sie …
Sadi hatte einen Zauber gewirkt, der ihren Körper altern ließ und ihn entstellte, ohne jedoch ihre sexuellen Gelüste zu vermindern. Die Angehörigen des Blutes nannten Daemon den Sadisten, doch bis zu jenem Zauber hatte sie das Ausmaß seiner Grausamkeit unterschätzt. Er hatte ihre unersättliche Begierde gekannt – wie auch nicht, da er sie in jungen Jahren hatte befriedigen müssen? Außerdem hatte er gewusst, wie sehr es sie demütigen würde, anstatt jener aufregenden Mischung aus Lust und Angst den blanken Ekel in den Augen der Männer zu sehen, die sie ritt. Und nachdem sie nun vor aller Welt ihre tränenreiche Beichte abgelegt hatte, würde sie nicht einmal mehr diesem Zeitvertreib frönen können.
»Du hast deine Lieblingsköniginnen darüber informiert, dass sie in nächster Zeit von ihren allzu … phantasievollen … Vergnügungen Abstand nehmen müssen?«, erkundigte sich Hekatah.
»Ich habe es ihnen gesagt«, erwiderte Dorothea gereizt. »Ob sie sich tatsächlich zurückhalten werden, ist eine andere Sache.«
»Jene, die es nicht tun, werden wir aus dem Weg räumen müssen.«
»Und wie sollen wir das erklären?«
Hekatah gab ein ärgerliches Schnauben von sich. »Ganz offensichtlich standen sie ebenfalls unter dem Zauberbann des Höllenfürsten. Dein heldenhafter Befreiungskampf hat dazu geführt, dass auch zahlreiche deiner Schwestern befreit wurden, aber unglücklicherweise eben nicht alle. Sobald wir ein oder zwei von ihnen umgebracht haben, werden die anderen die Botschaft schon verstehen und sich dementsprechend verhalten. «
»Und nach unserem Sieg?«
»Nach unserem Sieg können wir verdammt noch einmal tun und lassen, was wir wollen. Wir werden über die Reiche herrschen, Dorothea. Nicht nur Terreille, sondern alle – Terreille, Kaeleer und die Hölle!«
Um diese Aussicht in Ruhe genießen zu können, entgegnete Dorothea etliche Minuten lang nichts. Schließlich erkundigte sie sich zögernd: »Meinst du wirklich, dass die Furcht vor dem Höllenfürsten ausreichen wird, einen Krieg zu entfachen? Glaubst du wirklich, es wird funktionieren?«
Das, was noch von Hekatahs Lippen übrig war, verzog sich zu einem schrecklichen Grinsen. »Das letzte Mal hat es doch auch funktioniert.«
6 Kaeleer
Die Königin von Arachna ließ sich neben der erschöpften goldhaarigen Frau nieder, die auf dem Boden saß und mit dem Rücken an einem abgeflachten Felsblock lehnte.
*Schlimm?*, fragte die gewaltige goldene Spinne mit ihrer sanften Stimme.
Jaenelle Angelline strich sich seufzend das Haar aus dem Gesicht. Ihre Saphiraugen verengten sich ein wenig, als sie in den frühmorgendlichen Sonnenschein blickte und erneut die zarten Bahnen des Verworrenen Netzes musterte, das sie im Laufe der Nacht gewoben hatte. »Ja, es ist schlimm. Es wird Krieg geben. Krieg zwischen den Reichen.«
*Du ihn aufhalten kannst?*
Langsam schüttelte Jaenelle den Kopf. »Nein. Keiner kann ihn aufhalten.«
Die Spinne bewegte sich unruhig hin und her. Die Luft um die junge Frau schmeckte nach Trauer – und einer wachsenden kalten Wut. *Früher schon Krieg gab zwischen den Zweibeinern. Diesmal schlimmer?*
»Sieh es dir selbst an.«
Die arachnianische Königin folgte der formellen Einladung und öffnete ihren Geist den Träumen und Visionen in dem riesenhaften Verworrenen Netz, das Jaenelle zwischen dem Felsen und einem benachbarten Baum gesponnen hatte.
So viel Tod. So viel Leid und Kummer. Und ein kriechender Schandfleck, ein Makel, der die Überlebenden besudelte.
Sie zog sich wieder von den Träumen und Visionen zurück und betrachtete das Netz insgesamt. Dabei fielen ihr zwei eigenartige Dinge auf. Zum einen befand sich ein zierlicher Silberring mit einem mitternachtsschwarzen Juwel in der Mitte des Netzes. Juwelensplitter wurden so gut wie nie in ein Verworrenes Netz gewoben, weil die Zauberkraft, die jene Netze entstehen ließ, ohnehin mächtig – und gefährlich – genug war; und dieses bestimmte Juwel gehörte Jaenelle, die Hexe war, der lebende Mythos, Fleisch gewordene Träume. Die andere Merkwürdigkeit war das Dreieck. Viele Fäden waren mit dem Ring verbunden, darüber befanden sich jedoch drei Fäden, die ein Dreieck um den Ring bildeten.
Fasziniert fuhr die Spinne fort, das Netz zu studieren. Sie kannte dieses Dreieck. Kraft, Leidenschaft, Mut. Treue, Ehre, Liebe. Beinahe konnte sie die männliche Note schmecken, die jenen Fäden anhaftete.
»Wenn Kaeleer auf Terreilles Herausforderung eingeht und in den Krieg zieht«, flüsterte Jaenelle, »werden die Angehörigen des Blutes in beiden Reichen untergehen. Sämtliche Angehörigen des Blutes. Selbst die verwandten Wesen.«
*Manche überleben werden. So es immer ist.*
»Nicht dieses Mal. Oh, es wird ein paar geben, die den Krieg körperlich überleben, aber …« Jaenelles Stimme versagte. Sie atmete tief durch. »All meine Schwestern, all meine Freunde werden tot sein. Sämtliche Königinnen werden tot sein. Alle Kriegerprinzen.«
*Alle?*
»Es werden keine Königinnen übrig sein, die das Land heilen und die Angehörigen des Blutes zusammenhalten könnten. Das Morden wird weitergehen, bis keiner mehr übrig ist. Die Hexen werden so unfruchtbar wie das Land sein. Das Geschenk der Macht, das man uns vor langer Zeit machte, wird letztendlich die Waffe sein, die uns zerstört, wenn Kaeleer in den Krieg gegen Terreille zieht.«
*Es muss gekämpft werden*, entgegnete die Spinne. *Man muss aufhalten den kriechenden Makel.*
Jaenelle lächelte bitter. »Krieg wird ihn nicht aufhalten. Ich weiß, wer die Samen genährt hat, und wenn sich das Kommende dadurch verhindern ließe, dass man Dorothea und Hekatah umbringt, würde ich sie auf der Stelle zerstören. Doch es würde nichts aufhalten, nicht mehr. Es würde die Sache lediglich verzögern, und das wäre sogar noch schlimmer. Dies ist der richtige Ort und die richtige Zeit, um die Angehörigen des Blutes von dem Makel zu reinigen.«
*Du von Wegen sprichst ohne Ziel*, schalt die Spinne. *Du kämpfen ist unmöglich sagst, aber gekämpft werden muss. Du verwirrt? Vielleicht du Netz falsch liest!*
Jaenelle wandte sich der Spinne zu und bedachte sie mit einem belustigten Blick. »Und wo habe ich gelernt, ein Verworrenes Netz zu weben? Wenn ich es falsch lese, dann vielleicht, weil man es mir nicht richtig beigebracht hat?«
Die Spinne bediente sich der Kunst, um ein schroffes, summendes Geräusch von sich zu geben, das scharfe Missbilligung ausdrücken sollte. *Es nicht an der lehrenden Spinne liegt, wenn die Aufmerksamkeit der kleinen Spinne mehr gilt Fangen einer Fliege als Unterricht.*
Jaenelles silbernes, samtweiches Lachen erfüllte die Luft. »Ich habe niemals versucht, eine Fliege zu fangen! Und ich habe der Lehrerin sehr wohl meine Aufmerksamkeit geschenkt. Immerhin war es die damalige Königin der Traumweberinnen.«
Die arachnianische Königin beruhigte sich wieder und wirkte besänftigt.
Als Jaenelle ihre Saphiraugen erneut dem Netz zuwandte, verschwand ihre Heiterkeit jedoch schlagartig. »Terreille wird in den Krieg ziehen.«
*Dann auch Kaeleer.*
»Dieses Netz zeigt zwei mögliche Pfade«, sagte Jaenelle kaum hörbar.
*Nein*, erwiderte die Spinne bestimmt. *Ein Netz, eine Vision. So es immer ist.*
»Zwei Pfade«, beharrte Jaenelle. »Laut des zweiten Pfades zieht Kaeleer nicht gegen Terreille in den Krieg, und die Königinnen und Kriegerprinzen überleben und können das Schattenreich heilen und beschützen.«
*Wer dann kämpft gegen Terreille?*
Jaenelle zögerte. »Die Königin der Dunkelheit.«
*Aber du Königin bist!*
Jaenelle stieß scharf die Luft aus. »Ein Krieg, der die Reiche reinwäscht, alte Rechnungen begleicht, das Geschenk der Macht zurücknimmt. Es gibt einen Weg. Es muss einen Weg geben, doch das Netz kann ihn mir aufgrund dessen nicht zeigen. « Sie wies mit dem Finger auf das Dreieck. »Das ist nicht das Dreieck der Königin.« Ihr Finger glitt die linke Seite des Dreiecks entlang. »Dieser Faden ist der Höllenfürst.« Sie fuhr den unteren Faden nach. »Und jener Faden ist Lucivar.« An der dritten Dreiecksseite geriet ihr Finger ins Zögern. »Aber der Faden hier ist nicht Andulvar. Er sollte es sein, da er der Hauptmann der Wache ist, aber es ist ein anderer. Jemand, der noch nicht hier ist, jemand, der mich zu den Antworten führen kann, die ich benötige, um den anderen Pfad zu beschreiten. «
*Der Faden dir nicht seinen Namen verrät?*
»Er sagt, der Spiegel werde kommen. Was für eine Antwort soll das …« Jaenelle versteifte sich. Sie richtete sich ein Stück auf, bis sie an dem Felsblock lehnte. »Daemon«, flüsterte sie. »Daemon!«
Die Spinne bewegte sich unruhig hin und her. Hexe hatte die Luft um sie her mit tiefer Freude erfüllt, als sie jenen Namen flüsterte – doch unter der Freude lag eine Spur von Angst.
»Ich muss fort«, sagte Jaenelle und sprang auf. »Ich muss noch ein paar Territorien besuchen, bevor ich auf die Burg zurückkehre.« Zögernd warf sie der Spinne einen Blick zu. »Mit deiner Erlaubnis würde ich dies hier gerne eine Zeit lang aufheben.«
*Deine Netze willkommen sind bei den Traumweberinnen. *
Jaenelle hob die Hand und legte mithilfe der Kunst einen Schutzschild um die Fäden des Verworrenen Netzes. Sie sah zu der Spinne hinab. »Möge die Dunkelheit dich umarmen, Schwester.«
*Und dich, Schwester Königin*, entgegnete die Spinne förmlich.
Die arachnianische Königin wartete, bis Jaenelle auf einen der Winde, den mentalen Wegen durch die Dunkelheit, aufgesprungen war. Dann bediente sie sich der Kunst, um behutsam auf das Verworrene Netz zuzuschweben.
Ein Netz, eine Vision. So war es immer. Doch wenn Hexe ein Netz spann …
Die Spinne gehorchte ihren Instinkten und strich vorsichtig mit einem Bein über einen dünnen Faden, der lose von dem Ring mit dem mitternachtsschwarzen Juwel hing. Das Verworrene Netz zeigte ihr den zweiten Pfad.
Ruckartig zog sich die Spinne zurück. *Nein! *, rief sie, wobei sie den mentalen Kommunikationsfaden so weit wie möglich aussandte. *Nein! Kein zweiter Pfad. Keine Lösung! Du diesen Pfad nicht gehen darfst!*
Sie erhielt keine Antwort. Nicht einmal ein kurzes Aufflackern des mächtigen Geistes von Hexe zum Zeichen, dass sie die Worte der Spinne vernommen hatte.
*Du diesen Pfad nicht gehen darfst*, wiederholte die Spinne traurig, da sie klar vor sich sah, was an seinem Ende lag.
Vielleicht aber auch nicht. Hexe war besser im Weben Verworrener Netze als alle anderen Schwarzen Witwen, doch selbst Hexe konnte nicht immer sämtliche Aromen der einzelnen Fäden erspüren.
Als sich die arachnianische Königin wieder zu dem Netz umdrehte, spürte sie ein leichtes Zerren. Sie ging durch die Luft und folgte dem Zerren bis zu einem Faden in der Nähe des Netzendes, das an dem Baum festgemacht war. Behutsam strich sie mit einem Bein über den Faden.
Hund. Der braun-weiße Hund, den sie in dem ersten Netz erblickt hatte, das sie nach der kalten Jahreszeit gesponnen hatte. Sie hatte Hexe gebeten, den Hund Ladvarian auf die Insel der Weberinnen zu bringen. Sie hatte diesen Krieger kennen lernen wollen – und sie hatte gewollt, dass er sie kennen lernte.
Sie zog an Ladvarians Faden und konnte spüren, wie die Vibration durch das gesamte Netz lief. Viele der Fäden, die an dem Ebenholzring befestigt waren – die Fäden der verwandten Wesen –, begannen hell zu leuchten. Die menschlichen Fäden erstrahlten ebenfalls, allerdings nicht so hell. Das musste sie sich unbedingt merken. Und das Dreieck …
Das Bein immer noch an Ladvarians Faden, wanderte die Spinne in Gedanken zu der geheimen Höhle, der heiligen Kaverne in der Mitte der Insel. Dorthin waren die arachnianischen Königinnen stets gegangen, um auf ihre Träume zu hören – und Faden für Faden an den besonderen Netzen zu weben, die Träume an Fleisch banden und die der erste Schritt bei der Erschaffung von Hexe waren.
Kleine Netze. Größere Netze. Manchmal hatte nur ein Volk, ein einziger Träumer Hexe ins Leben geträumt. Bei anderen Gelegenheiten waren die Träumer von verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Bedürfnissen gekommen, die zusammengefunden hatten und in den einen Traum eingeflossen waren.
Wenn die Zeit eines Traums im Fleisch abgelaufen war, und er nicht länger in den Reichen umging, zerschnitt die arachnianische Königin respektvoll die Ankerfäden, die das Netz an den Höhlenwänden festhielten. Sie rollte die Spinnenseide zu einer Kugel zusammen, legte sie in eine Nische und ließ dann mittels der Kunst Kristalle über die Öffnung wachsen. Es gab viele verschlossene Nischen, viel mehr, als die menschlichen Angehörigen des Blutes ahnten. Die verwandten Wesen waren eben von jeher die stärkeren Träumer gewesen.
Es gab ein Netz in der Höhle, das vor langer, langer Zeit begonnen worden war. Von Generation zu Generation hatten die arachnianischen Königinnen über einen der Ankerfäden des Netzes gestrichen, hatten den Träumen gelauscht und dann weitere Fäden hinzugefügt. So viele Träumer hatten dieses eine Netz gewirkt, so viele Träume waren darin zusammengeflossen und zu einem einzigen geworden. Vor fünfundzwanzig Jahren, laut menschlicher Zeitrechnung, war dieser Traum endlich Fleisch geworden.
Im Zentrum jenes besonderen Netzes befand sich ein Dreieck. Drei starke Träumer. Drei Fäden, die man derart oft verstärkt hatte, dass sie nun fest und kräftig waren.
Und jede Königin hatte dasselbe erfahren, während sie das freiwillig dargebrachte Fleisch ihrer Vorgängerin in sich aufnahm: Denk an dieses Netz. Kenne es. Kenne jeden einzelnen Faden.
Die Spinne konzentrierte sich wieder auf das neu erschaffene Netz, das sich vor ihr befand.
Fleisch gewordene Träume. Ein in der Dunkelheit genährter Geist, von Träumern geformt. Und ein Verworrenes Netz, das ebenfalls in einer Höhle voll uralter Macht gespeist und versteckt wurde und jenen Geist zum passenden Fleisch führte.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte die Spinne in ihren Netzen aus Träumen und Visionen schreckliche Dinge gesehen und sich gefragt, ob jener Geist tatsächlich das richtige Fleisch gefunden habe. Waren vielleicht ein paar der Fäden zu alt gewesen? Nein, es hatte seinen Grund, warum dieser Geist in dieses Fleisch gegossen worden war. Die Schmerzen und die Wunden waren nicht die Schuld der Träume gewesen – oder der Träumer.
Die Spinne presste Seide aus ihrem Körper und befestigte sie an Ladvarians Faden.
So, so. Hexe würde den zweiten Pfad wählen, ohne zu erkennen, dass sie auf diese Weise zwar Kaeleer und ihre Lieben rettete, aber gleichzeitig Kaeleers Herz zerstörte.
Es musste aber eine Möglichkeit geben, ebenfalls Kaeleers Herz zu retten.
Die arachnianische Königin wob an einem Ankerfaden zwischen dem Baumstumpf und einem kräftigen Ast und begann, ihr eigenes Verworrenes Netz zu spinnen.