Kapitel 11
1 Kaeleer
Nachdem Morton die Nachricht in die mittlere Schublade gesteckt hatte, sperrte er seinen Schreibtisch mit einem Stirnrunzeln zu. Es beunruhigte ihn, dass die Priesterin der heiligen Stätte große Sorgen erwähnte, ohne genauer darauf einzugehen – insbesondere, da es an der heiligen Stätte einen Dunklen Altar gab; eines der dreizehn Tore, welche die Reiche Terreille, Kaeleer und die Hölle miteinander verbanden.
Im Laufe der Wintermonate waren etliche sorgenvolle – und Besorgnis erregende – Nachrichten der Priesterin bei ihm eingetroffen. Verschwundene Vorräte. Stimmen spät in der Nacht. Anzeichen, dass das Tor ohne Wissen oder Zustimmung der Priesterin geöffnet worden war.
Natürlich hatte die Frau ein Alter erreicht, in dem Unwichtiges unbemerkt in Vergessenheit geraten konnte. Es gab vernünftige Erklärungen für all die beunruhigenden Geschehnisse. Die Vorräte konnten einfach aufgebraucht worden sein, ohne dass man sie ersetzt hatte. Vielleicht hatte sich die junge Priesterin, die in der heiligen Stätte ausgebildet wurde, einen Liebhaber genommen, und die nächtlichen Stimmen rührten von ihren heimlichen Treffen. Das Tor …
Das war allerdings ein Punkt, der ihm Sorgen bereitete – und Karla ebenfalls. Benutzten ein paar Terreilleaner das Tor in Glacia, um heimlich nach Kaeleer zu schlüpfen, anstatt die Dienstbasare über sich ergehen zu lassen? Es hatte immer ein paar wenige gegeben, die mit etwas Glück oder instinktiv in der Lage gewesen waren, die schwarzen Kerzen in der richtigen Reihenfolge anzuzünden und den betreffenden Zauberspruch aufzusagen, um das Tor zwischen den Reichen zu öffnen. In Geschichten hieß es sogar, dass die Macht an jenen uralten Orten manchmal das Bedürfnis eines Geistes, nach Hause zu gehen, erkannte und das Tor zu dem jeweils richtigen Reich öffnete, ob der Betreffende nun den Zauber kannte oder auch nicht. Es war wahrscheinlicher, dass der jeweilige Mensch den Schlüssel in einem alten Text über die Kunst gefunden hatte, doch die andere Version gab in langen Winternächten eine spannendere Geschichte ab.
Er würde also zu dem kleinen Dorf in der Nähe der arcerianischen Grenze reisen, um mit der Priesterin zu sprechen.
Morton überprüfte, ob er ein sauberes Taschentuch bei sich hatte sowie ein paar Silbermünzen, damit er sich in der Schenke etwas zum Abendessen und eine Runde Getränke kaufen konnte. Anschließend benutzte er einen Hauch von Kunst, um sicherzugehen, dass sein Juwel mit dem Ring der Ehre verbunden war, den er um seinen Penis trug.
Er lächelte. Seit Jaenelle dem Hexensabbat ähnliche Ringe gegeben hatte, waren die Männer des Ersten Kreises stillschweigend übereingekommen, ihre Ringe immer zu tragen. Diese zusätzliche Möglichkeit, die Stimmung der Frauen zu entschlüsseln, hatte den Hexen schon viel Ärger bereitet, wohingegen die Männer sich in höchstem Maße darüber freuten.
An der Tür hielt Morton inne und schüttelte den Kopf. Es bestand kein Grund, Karla zu belästigen. Er würde das Dorf aufsuchen, mit der Priesterin sprechen und dann seiner Cousine Bericht erstatten.
Als er das Herrenhaus verließ, welches der Königin als Zuhause diente, kam ihm außerdem in den Sinn, dass Karlas Mondzeit ihr diesen Monat größere Beschwerden als sonst bereitete. Und sie hatte den ganzen Winter hindurch immer wieder an leichten Krankheiten gelitten – Schnupfen, Unwohlsein, erste Anzeichen einer Grippe. Die beiden Heilerinnen, die an Karlas Hof dienten, hatten nichts gefunden, das für diese plötzliche Anfälligkeit verantwortlich sein könnte. Sie hatten angemerkt, dass die Königin vielleicht zu hart gearbeitet und sich verausgabt habe. Karla hatte das von sich gewiesen und gemeint, sie sei ebenfalls Heilerin, noch dazu eine mit grauem Juwel. Würde sie es nicht wissen, wenn etwas nicht in Ordnung sei?
Natürlich würde sie das. Doch während Karla ein Territorium regierte, in dem es Leute gab, die immer noch Lord Hobart und seinen Vorstellungen davon anhingen, wie die Gesellschaft der Angehörigen des Blutes zu sein habe, konnte es leicht sein, dass Karla selbst keine Schwäche zugeben würde, um unangreifbar zu erscheinen. Doch wenn es sich um eine ernsthafte Krankheit handelte, würde sie es zumindest ihm sagen, nicht wahr? Sie würde nicht mithilfe der Kunst eine Krankheit vor den Augen anderer Heilerinnen verbergen, anstatt sich helfen zu lassen, oder?
Morton fluchte, weil er die Antwort auf diese Fragen nur zu gut kannte. Na ja, Jaenelle befand sich auf ihrer Frühlingsreise durch die Territorien und würde in ein paar Tagen auf Scelt eintreffen. Er würde ihr durch Khardeen eine Botschaft zukommen lassen und sie offiziell darum bitten, sich als Heilerin um Karla zu kümmern.
Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, sprang er auf einen der Winde auf und reiste auf diesem Weg durch die Dunkelheit zum Dorf der Priesterin.
2 Kaeleer
Trotz des ungeduldigen Fauchens seines Katzenjungens trottete Kaelas gemächlich weiter. Schließlich war das Junge nur halb so groß wie er und machte nur halb so große Schritte. Selbst bei diesem langsamen Tempo musste KaeAskavi alle paar Schritte laufen, um nicht zurückzufallen.
Dieser Ausflug bereitete Kaelas viel Freude, denn er selbst hatte seinen eigenen Vater nie kennen gelernt. In Arceria war das nicht anders üblich gewesen. Ein kleiner Hexensabbat mochte seine Höhlen dicht beieinander haben, um einander gegenseitig zu beschützen und die unterschiedlichen Kunstfähigkeiten der anderen nutzen zu können. Doch die Männchen hatte man ausgegrenzt, da sie als Bedrohung betrachtet wurden, sobald die Jungtiere auf der Welt waren.
Es stimmte, dass männliche arcerianische Wildkatzen, die keine verwandten Wesen waren, gelegentlich ihre eigenen Jungen töteten, und verwandt zu sein bedeutete nicht, seine wilden Instinkte oder sein Raubtierverhalten abzulegen. Doch die verwandten Männchen hatten sich über diese Ausgrenzung gegrämt – besonders die Kriegerprinzen. Es wurde ihnen gestattet, Fleisch in der Nähe der Höhlen ihres Weibchens zu hinterlassen, und sie konnten ihre Jungen aus der Ferne beobachten, aber es war ihnen niemals erlaubt gewesen, mit ihnen zu spielen oder sie gar in der Jagd oder in der Kunst zu unterweisen.
Da er von der Lady großgezogen worden war und inmitten ihrer Menschenfamilie gelebt hatte, war er noch mehr gegen die Ausgrenzung eingestellt. Die Männchen anderer verwandter Rassen wurden nicht ausgeschlossen, und die Männchen unter den Menschen ganz gewiss nicht! Man gestattete ihnen, mit ihren Jungen zu spielen, sie zu striegeln und ihnen alles Mögliche beizubringen.
Also hatte er sein Weibchen kurz nach der Geburt von Lucivars Kätzchen zur Burg gebracht. Sie hatte erkannt, dass es sich auch bei Lucivar um ein Raubtier handelte, selbst wenn er Flügel hatte und nur zwei Beine. Mit Interesse hatte sie beobachtet, wie Lucivar mit seinem Jungen umgegangen war. Sie hatte mit angesehen, wie der Höllenfürst sich verhalten hatte. Und es war ihr nicht entgangen, dass die Menschenweibchen – und die Lady – es guthießen, wenn diese ausgewachsenen Männchen sich um die Menschenjungen kümmerten.
Aufgrund dieses Besuchs, und weil sein Weibchen sich geehrt gefühlt hatte, da die Lady dem Kätzchen einen Namen gegeben hatte – der in der Alten Sprache Weißer Berg bedeutete – , hatte es ihm kurz nach KaeAskavis Geburt zurückhaltend erlaubt, den Bau zu betreten.
Deshalb erlernte sein Junges die arcerianische Art der Jagd wie auch die Jagdmethoden der Menschen, die Lucivar Kaelas heimlich beigebracht hatte. Da KaeAskavi immer derart viel von Menschen gehört hatte, war seine Neugier geweckt worden – und das war auch der Grund für den heutigen Ausflug.
Auf einem einsamen Streifzug war KaeAskavi eines Tages in die Nähe eines Menschendorfes in Glacia geraten und hatte ein menschliches Kätzchen kennen gelernt. Anstatt sich vor dem großen Raubtier zu fürchten, hatte sie sich gefreut, und die beiden waren Freunde geworden. Nach vielen heimlichen Treffen während des Sommers hatten die Muttertiere, auf menschlicher wie auf Katzenseite, von der Freundschaft erfahren und waren alles andere als entzückt gewesen.
Also hatte KaeAskavi sich in der Hoffnung an ihn gewandt, dass sein Vater die Freundschaft mit dem jungen Menschenweibchen billigen würde.
Kaelas war in der Lage, die Faszination seines Nachwuchses für das junge Menschenweibchen auf eine Art und Weise nachzuvollziehen, wie es seinem Weibchen nie gelingen würde. KaeAskavi war ein Kriegerprinz, und für Kriegerprinzen war es ausgesprochen schwer, ohne weibliche Begleitung auszukommen. Es würden noch sehr, sehr viele Jahreszeiten vergehen, bevor KaeAskavi oder das kleine Weibchen Ausschau nach einem Partner halten würden. Falls es sich bei dem Menschenjungen um eine geeignete Freundin handelte, weshalb sollte man die beiden dann nicht Zeit miteinander verbringen lassen?
Wobei es natürlich nicht so war, dass er Menschen sonderlich mochte. Er hatte niemals die Jäger vergessen, die seine Mutter umgebracht hatten. Doch manche Menschen waren anders. Zum Beispiel diejenigen, die zur Lady gehörten. Und das Männchen der Lady. Obwohl er nur zwei Beine und sehr kleine Fänge besaß, hatte er etwas Katzenhaftes an sich, und Kaelas wusste ihn zu schätzen.
Also würde er sich dieses kleine Weibchen ansehen, und wenn er der Ansicht war, dass sie von den verwandten Wesen angenommen werden könnte, würde er die Lady bitten, sie ebenfalls zu begutachten. Die Lady würde wissen, ob das Menschenweibchen eine gute Freundin für sein Junges war.
Auf einmal drehte sich der Wind und kam aus der Richtung des Dorfes, das immer noch eine Meile entfernt war.
Kaelas erstarrte. Blut und Tod lagen in der Luft.
*Della!* KaeAskavi machte einen Satz vorwärts.
Mit einem Prankenhieb hatte Kaelas sein Junges umgeworfen.
*Wenn Blut und Tod in der Luft liegen, rennst du nicht darauf zu*, meinte Kaelas streng.
*Dellas Dorf!*
Mithilfe der Kunst ertastete Kaelas die Umgebung. In anderen Gegenden war bereits die Jahreszeit angebrochen, die von den Menschen Frühling genannt wurde, aber hier hatte der Winter noch Fänge – und tiefen Schnee.
*Bau eine Höhle. Rühr dich nicht aus deinem Versteck*, befahl Kaelas.
KaeAskavi fauchte, nahm jedoch sofort eine unterwürfige Haltung ein, als Kaelas auf ihn zutrat.
*Ich kann kämpfen*, sagte KaeAskavi trotzig.
*Du wirst dich verstecken, bis ich dich rufe.* Kaelas ließ einen Moment verstreichen. *Wie sieht der Bau des Menschweibchens aus?*
KaeAskavis Geist sandte ihm das Bild eines kleinen Menschenbaus in seine Gedanken. Er sah offenes Gelände und eine dichte Baumgruppe, bei der KaeAskavi bisher immer auf seine Freundin gewartet hatte.
*Bleib hier*, sagte Kaelas. *Bau die Höhle.*
Kaelas wartete nicht ab, ob KaeAskavi ihm gehorchte. In einen Sichtschutz gehüllt, ging er durch die Luft, um keine Spuren zu hinterlassen, und machte sich auf den Weg in das Dorf. Bei seinem rasanten Tempo brauchte er nur wenige Minuten, um die Entfernung zurückzulegen.
Um das Dorf herum roch es nach Angst, Verzweiflung sowie Blut und Tod. Seine scharfen Ohren machten Kampfgeräusche aus, das Aufeinanderprallen menschlicher Waffen.
Vorsichtig bediente er sich der Kunst, um das Dorf abzutasten. Er fletschte geräuschlos die Zähne, als er einen Kriegerprinzen mit grünem Juwel entdeckte. Etwas an dessen Signatur …
Als er eine Stelle inmitten der Baumgruppe erreichte, von der aus man genau auf den Bau des Menschenweibchens blicken konnte, erklangen ein spitzer Schrei und das Gebrüll eines Mannes. Dann ging ein Fenster auf, und ein junges Menschenweibchen kletterte hindurch und sprang in den Schnee. Doch als es aufstehen wollte, fiel es wieder zu Boden.
Kaelas stürzte aus den Bäumen hervor und lief in dem Moment auf das Menschenjunge zu, als ein eyrischer Krieger um die Hausecke bog. Beim Anblick des jungen Menschenweibchens hob der Eyrier seine blutverschmierte Waffe und machte sich bereit, es zu töten.
Das Menschenmännchen witterte keinerlei Gefahr, bis es von dreihundertfünfzig Kilo geballtem Zorn umgerannt wurde.
Kaelas biss den Arm ab, der die Waffe hielt, während er dem Männchen mit den Pranken den Bauch aufriss. Eine Entladung seiner mentalen Kraft ließ den Geist seines Gegners verglühen und führte das Töten zu Ende.
Er hielt kurz inne, um reinen Schnee zu kauen. Wie die mentale Signatur dieses Menschen haftete auch dessen Fleisch ein übler, verdorbener Geschmack an.
Kaelas schüttelte den Kopf, dann wandte er sich dem Mädchen zu, das den toten Eyrier anstarrte. *Kleines*, knurrte er.
Sie stützte sich vom Boden ab und blickte sich verzweifelt um. »KaeAskavi?«
*Kaelas*, sagte er. Genauso behutsam wie sein eigenes Junges packte er sie in der Mitte und lief mit federnden Schritten in Richtung der schützenden Bäume.
Sie gab keinerlei Geräusch von sich und setzte sich nicht zur Wehr. Er fand ihren Mut bemerkenswert. Und jetzt war sie eine Waise, genau wie er einst eine gewesen war.
Er wählte eine Stelle aus, an der sich der Schnee besonders hoch türmte, setzte das Mädchen in die Luft und grub rasch eine kleine Höhle, in die er das Mädchen legte, bevor er den größten Teil des Eingangs wieder zudeckte. *Bleib hier*, befahl er.
Sie rollte sich zu einer kleinen, zitternden Kugel zusammen.
Er lief zu dem Menschenbau zurück und glitt neben dem Fenster, aus dem das Mädchen gekommen war, durch die Wand. Das Zimmer roch nach ihr – und anderen Dingen, schlechten Dingen.
Die Tür, die in den Rest des Baus führte, stand offen. Er konnte den blutverschmierten Arm eines Weibchens sehen. Da er nicht das geringste Anzeichen von Leben spürte, ging er nicht zu ihr hinüber, um sich zu vergewissern, indem er an ihr schnupperte.
Er wünschte, Ladvarian wäre hier bei ihm. Obwohl Kaelas fast sein ganzes Leben unter Menschen verbracht hatte, verstand er sie bei weitem nicht so gut wie der Hund. Der Hund hätte gewusst, was das kleine Menschenjunge am meisten brauchte.
Einen Augenblick lang dachte er nach. Sie würde menschliches Fell brauchen. Mithilfe der Kunst öffnete er die Schubladen des Kleiderschranks und ließ alles verschwinden, was sich darin befand.
Was sonst würde Ladvarian mitnehmen? Nachdem er sich erneut in dem Zimmer umgesehen hatte, ließ er die dicke Bettdecke verschwinden, die nach Federn roch. Das Junge könnte sich darin einwickeln, um warm zu bleiben. Er musste diesen Ort unbedingt verlassen, doch er überlegte einen weiteren Moment.
Verwandte Wesen wussten nichts mit Dingen anzufangen, aber …
Es lag neben dem Bett. Zuerst packte ihn blinder Hass, doch als er hinüberging, um an der weißen Spielzeugkatze zu schnüffeln, stellte er fest, dass sie aus flauschigem Stoff hergestellt war und nicht aus arcerianischem Pelz, wie er zuerst angenommen hatte. Die Katze roch stark nach dem jungen Menschenweibchen – und, ein wenig schwacher, lag auch der Geruch des Muttertiers darüber. Außerdem haftete eine mentale Note an dem Spielzeug, ein Geruch, den er instinktiv mit der Lady in Verbindung brachte. Der Höllenfürst hatte es Liebe genannt.
Er ließ die Stoffkatze verschwinden und bewegte sich vorsichtig auf die offene Tür zu. Das tote Weibchen hielt immer noch ein Messer umklammert. Es hatte gegen ein Männchen gekämpft, das stärker als es selbst gewesen war, um das Junge zu retten – genau wie seine Mutter sich den Jägern in den Weg gestellt hatte, damit er entkommen konnte.
Während er sie betrachtete, kam ihm in den Sinn, dass es ihr nun nichts mehr ausmachen würde, das kleine Weibchen bei den arcerianischen Katzen zu wissen, wenn sie wüsste, dass ihr Junges bei ihnen sicher und beschützt war.
Nachdem er durch die Rückwand des Baus geglitten war, blieb er in der Nähe des toten Eyriers stehen. Mithilfe der Kraft vergrub er die sterblichen Überreste tief im Schnee. Der Schnee war voller Blut, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass man sofort nach diesem Männchen suchen würde. Und bis sie die Leiche ausgruben, würde niemand ahnen, dass der Mensch nicht von seinesgleichen getötet worden war.
Kaelas eilte zu der Baumgruppe zurück und rief nach KaeAskavi. *Komm schnell … und leise!*
Sobald er die behelfsmäßige Höhle erreicht hatte, grub er den Eingang frei. Dann rief er die Bettdecke herbei, legte sie auf den Schnee und verwandte zwei Zauber, die er von der Lady gelernt hatte: ein Wärmezauber auf der Innenseite und einen Zauber, um die Außenseite trocken zu halten. Er hob das Menschenjunge aus der Höhle und wickelte es ungeschickt in die Decke ein.
Das Mädchen starrte nur vor sich hin.
Nervös beschnupperte er es von Kopf bis Fuß. Es war nicht tot, doch er wusste, dass jener starre, leere Blick nichts Gutes verhieß.
Dann spürte er, wie KaeAskavi sich näherte und hob den Kopf. Ihm fiel der leichte Schatten auf, den der von einem helleren Juwel erzeugte Sichtschutz seines Jungen warf, und er stieß ein leises, anerkennendes Knurren aus.
*Della!* KaeAskavi schnüffelte an dem eingewickelten Weibchen.
*Bring das Junge zu meinem Weibchen*, trug Kaelas ihm auf. *Benutze die Winde, sobald du eine Bahn erreichst, auf der du reisen kannst. Das Kleine braucht Hilfe, und zwar schnell!*
*Meine Mutter wird kein Menschenjunges in ihrer Höhle dulden*, wandte KaeAskavi ein.
*Sag ihr, das menschliche Muttertier hat gegen Jäger gekämpft, um ihr Junges zu retten – und ist gestorben.*
Einen Augenblick lang rührte KaeAskavi sich nicht, dann meinte er traurig: *Ich werde es ihr sagen.* Behutsam packte er die Decke mit den Zähnen und trottete mit dem jungen Weibchen von dannen.
Kaelas wartete und überwachte die beiden mithilfe eines mentalen Fadens. Als er spürte, wie KaeAskavi auf den Wind aufsprang, der am nächsten an der Höhle der jungen Katze vorbeiführte, drehte er sich wieder zu dem Dorf um.
3 Kaeleer
Der Kriegerprinz mit dem grünen Juwel blickte zufrieden auf das Blutbad, das er und seine Begleiter angerichtet hatten. Dieses Tor konnte die Dunkle Priesterin von nun an sicher benutzen. Sie hatte bereits die sechzig blasshäutigen, blonden Menschen ausgesucht, welche diejenigen ersetzen sollten, die er und seine Männer soeben niedergemetzelt hatten – Leute, die sie bei den letzten beiden Dienstbasaren erworben hatte. Solange das Dorf bewohnt aussah, und die Leute wie gewöhnlich ihren Alltagsgeschäften nachzugehen schienen, würde gewiss niemandem etwas auffallen. Und wenn ein Besucher tatsächlich gut genug mit dem Dorf vertraut war, um zu bemerken, dass die Einwohner alle Fremde waren, was machte schon ein Toter mehr?
Er wandte sich um, als der Krieger, der sein stellvertretender Kommandeur war, auf ihn zukam. »Hat die alte Priesterin, dieses Luder, die Botschaft versandt?«
Der Krieger nickte. »An Lord Morton, den Cousin und Ersten Begleiter der Königin von Glacia.«
»Und er reagiert für gewöhnlich auf diese Nachrichten?«
»Ja, und normalerweise kommt er allein her.«
»Dann machen wir uns besser darauf gefasst, bald Gesellschaft zu bekommen. Gib fünf Männern mit Langbögen den Befehl, Stellung hinter dem Landenetz zu beziehen.«
Der Krieger ließ den Blick über die Überreste des Gemetzels schweifen. »Wenn Morton das hier sieht, könnte er einfach wieder auf die Winde aufspringen und zurückreisen, um Bericht zu erstatten.«
»Dann werde ich wohl sichergehen müssen, dass ich einen Köder bereithalte, der stark genug ist, um ihn von dem Landenetz zu locken, aber immer noch in Reichweite der Bogenschützen«, sagte der Kriegerprinz. »Die alte Priesterin ist tot?«
»Ja, Prinz.«
Ein matter, schmerzerfüllter Schrei drang an sein Ohr. »Und die junge Priesterin?«
Der Krieger grinste verschlagen. »Sie erhält die angemessene Belohnung dafür, dass sie ihr eigenes Volk verraten hat.«
4 Kaeleer
Daemon folgte Khardeen in das Haus. »Es war sehr nett von dir, mich zum Abendessen einzuladen.«
»Das hat nicht das Geringste mit Nettigkeit zu tun«, erwiderte Khary. »Es ist völlig sinnlos, wenn du alleine vor dich hin brütest, während du auf Jaenelle wartest.«
Er hatte sie auf weiten Strecken ihrer Frühlingsreise durch die Territorien von Kaeleer begleitet, doch als es an der Zeit war, die verwandten Wesen zu besuchen, hatte sie freundlich, aber bestimmt vorgeschlagen, dass er sich schon einmal nach Scelt begäbe, wo sie zu ihm stoßen würde. Sie würden ein paar Tage hier verbringen, bevor sie gemeinsam die restlichen Territorien auf dieser Seite des Reiches bereisten. »Na ja, aber du musstest wirklich keinen ganzen Nachmittag opfern, um mir Maghre zu zeigen. Ich hätte mich auf eigene Faust in dem Dorf umsehen können.«
»Das war auch keine Nettigkeit«, antwortete Khary, nachdem er Kaffee und Kuchen bestellt hatte. Er ließ sich in einem bequemen Sessel am Kamin nieder. »Auf diese Weise bin ich aus dem Haus gekommen. Was das Abendessen betrifft, wird es mir ein Vergnügen sein, mich mit jemandem unterhalten zu können, der mich nicht anfaucht, weil er sich unwohl fühlt.«
»Geht es Morghann ansonsten gut?«, fragte Daemon und machte es sich in dem anderen Sessel gemütlich.
»Oh, es geht ihr gut – jedenfalls für eine Hexe mit dunklen Juwelen, die seit kurzem schwanger ist. Zumindest beteuert Maeve mir das immer wieder.« Kharys Lächeln wirkte ein wenig kläglich. »Aber eine Territoriumskönigin, die aufgrund ihrer Schwangerschaft auf einmal nur noch ganz einfache Kunst betreiben kann, ist keine sonderlich ausgeglichene Lady.«
»Da ihr beide offensichtlich aufgehört habt, den Verhütungstrank zu euch zu nehmen, bist du daran nicht ganz unschuldig«, versetzte Daemon grinsend.
»Aber ich bin nicht derjenige, der das Frühstück nicht bei sich behalten kann! Das scheint einen großen Unterschied zu machen. Und es gibt andere … Schwierigkeiten … mit denen sie im Moment zurechtkommen muss. Hast du von dem Lärm heute Morgen gar nichts mitbekommen? Das überrascht mich, da sich dein Haus nur eine halbe Meile von unserem entfernt befindet. Ich war mir sicher, ganz Maghre habe ihr Geschrei gehört.«
»Hat sie dich angeschrien?«
»Nein, der Dunkelheit sei Dank! Es hat Sonnentänzer erwischt. « Nachdem er sich bei der Dienstmagd bedankt hatte, die das Tablett gebracht hatte, schenkte Khary den Kaffee ein. »Heute Morgen wollte Morghann ausreiten. Maeve, die Heilerin von Maghre, hatte gesagt, es sei in Ordnung. Jaenelle hatte gesagt, es sei in Ordnung, solange Morghann sich wohl genug fühle.«
»Aber?«, wollte Daemon wissen, die Kaffeetasse halb zum Mund geführt.
»Sonnentänzer war nicht der Ansicht, dass es in Ordnung ist. Vielmehr sagte er, da trächtige Stuten nicht geritten würden, sollten seiner Meinung nach trächtige Menschenstuten auch nicht reiten.«
»Oh je«, sagte Daemon – und brach in Gelächter aus. »Kein Wunder, dass du aus dem Haus kommen wolltest.«
Da ging die Tür auf. Morghann warf erst dem Tablett, dann Khary einen verdrießlichen Blick zu. Daemon hingegen schenkte sie ein Lächeln.
Er stellte die Tasse ab und erhob sich, um ihr einen Kuss zu geben. Im Laufe der Monate seit seinem Eintreffen in Kaeleer hatte er diese kleinen liebevollen Gesten zu schätzen – und zu genießen – gelernt.
Amüsiert, aber auch voll Mitleid stellte er fest, dass Khary ebenfalls aufgestanden war, jedoch klugerweise keinerlei Anstalten machte, sich seiner Ehefrau zu nähern.
Ein Dienstmädchen erschien an der Tür. »Möchtest du vielleicht eine Tasse Kräutertee, den Maeve dir zubereitet hat, Lady Morghann?«
»Bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, brummte Morghann.
Nachdem Daemon Khary einen kurzen Blick zugeworfen hatte, setzte er sein strahlendstes Lächeln auf. »Liebling«, wandte er sich an Morghann, »ich bin so froh, dass du dich zu uns gesellt hast.«
»Wieso?«, fragte Morghann düster, während sie sich setzte.
»Weil Jaenelle in zwei Monaten Geburtstag hat, und ich dich wegen eines Geschenks um Rat fragen wollte.«
Während sie ihre Ideen diskutierten, wurde Morghann derart von dem Thema in Anspruch genommen, dass es ihr gar nicht auffiel, dass sie Kräutertee anstatt von Kaffee trank. Sie knabberte sogar an einem Stück Nusskuchen; was bedeutete, dass die Männer ebenfalls welchen essen konnten, ohne Gefahr zu laufen, das Tablett an den Kopf geworfen zu bekommen.
Nach einer Stunde erhob Morghann sich wieder. »Jetzt muss ich mich aber um meine Korrespondenz kümmern. Ich sehe dich dann beim Abendessen?«
»Ich freue mich schon darauf«, erwiderte Daemon.
Sie küsste ihn auf die Wange – und gab Khary anschließend einen Kuss, der um einiges großzügiger ausfiel.
Khary wartete eine Minute, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Dann hob er die Kaffeetasse, als wolle er damit anstoßen. »Das hast du fabelhaft gemacht, Prinz Sadi. Vielen Dank.«
Daemon hob ebenfalls seine Tasse. »Es war mir ein Vergnügen, Lord Khardeen.«
5 Khardeen
Morton trat zwei Schritte von dem Landenetz weg und erstarrte. Es war ihm unmöglich, den Blick von den Leichen abzuwenden, die im Schnee lagen.
Was im Namen der Hölle hatte sich hier zugetragen?
Er konnte ein leichtes Summen spüren, das von seinem Ring der Ehre ausging und sich beinahe wie eine Frage anfühlte. Daraufhin erholte er sich genug von dem ersten Schock, um mithilfe seines Juwels einen Schild zu erschaffen. Beinahe hätte er den Schild aktiviert, der sich in dem Ring befand, doch dann zögerte er. Das würde die übrigen Männer herbeirufen – und Karla ängstigen. Er wollte weder das eine noch das andere tun. Jedenfalls noch nicht.
Morton versuchte, die Umgebung mental abzutasten, konnte jedoch nichts entdecken, das darauf hindeutete, dass er in Gefahr schwebte. Allerdings konnte er mehrere Menschen ganz in der Nähe spüren, die noch am Leben waren.
Im ersten Moment wollte er loslaufen und den Überlebenden helfen, doch hielt seine Ausbildung ihn zurück. Was auch immer hier geschehen sein mochte, war mehr, als dass er damit alleine fertig werden könnte. Und nachdem er nun eine Minute hier verbracht hatte, beschlich ihn das Gefühl, dass noch etwas anderes an diesem Ort nicht stimmte, abgesehen von dem Blutbad.
Er trat einen Schritt zurück und wollte auf die Winde aufspringen, um das nächste Dorf zu erreichen und Hilfe zu holen.
Als er einen weiteren Schritt zurückwich, kam ein Eyrier um die Ecke eines Gebäudes gebogen und erblickte ihn.
»Lord Morton?«, rief der Eyrier.
Morton erkannte den Kriegerprinzen mit dem grünen Juwel nicht wieder. Er spannte sich an, bereit, die Flucht zu ergreifen und auf die Winde aufzuspringen.
»Lord Morton!« Der Eyrier erhob eine Hand und eilte auf ihn zu. »Der Dunkelheit sei Dank, dass du Yaslanas Botschaft erhalten hast!«
Der Name ließ Morton ein Stück auf den Eyrier zugehen. »Was ist hier geschehen?«
»Wir wissen es nicht mit Sicherheit«, antwortete der Eyrier und blieb einen guten Meter vor ihm stehen. »Yaslana stieß auf Spuren, die von dem Dunklen Altar wegführen. Er nahm ein paar der Männer mit sich und folgte ihnen.« Er warf einen Blick über Mortons Schulter, das Gesicht voll Sorge. »Hast du keine Heilerinnen mitgebracht?«
»Nein, ich …«
Es geschah zu schnell. Ein Blitz der grünen Juwelenkraft des Eyriers zerschmetterte Mortons Schild, und im gleichen Augenblick wurde er von drei Pfeilen getroffen. Der mitternachtsschwarze Schild aus Jaenelles Ring der Ehre legte sich blitzartig um ihn. Zwei weitere Pfeile trafen den Schild und verwandelten sich in Staub.
Mithilfe der Kunst blieb er aufrecht stehen. Innerlich verfluchte er seine eigene Torheit, den Schild nicht von Anfang an aktiviert zu haben. Doch nun konnten sie ihm nichts mehr anhaben, sie konnten ihn noch nicht einmal daran hindern, zurück zu dem Landenetz zu gelangen und mithilfe der Winde diesem Ort zu entkommen. Und seine Wunden waren zwar schmerzhaft, doch nicht ernst. Er hatte einen Pfeil in je einem Bein und einen in der linken Schulter, der jedoch hoch genug war …
Da kroch ihm tödliche Kälte in die Glieder, und er wusste, was das zu bedeuten hatte: Gift in den Pfeilspitzen. Doch wie wirksam war es?
Die Antwort auf seine Frage konnte er an dem grausamen Lächeln des Eyriers ablesen.
Er sank in die Knie. Keine Zeit, alle zu warnen, die er warnen musste. Keine Zeit. Also konzentrierte er sich darauf, derjenigen Person eine Warnung zu senden, die ihm immer am meisten bedeutet hatte.
Als der Tod seinen Körper heimsuchte, nahm Morton seine ganze Kraft zusammen und sandte ein letztes Wort. *Karla!*
6 Kaeleer
Karla saß an ihrem Toilettentisch; mit der einen Hand stützte sie sich auf dem Tisch ab, die andere hielt sie in den Unterleib gepresst. Die Krämpfe dauerten normalerweise nicht so lange an und waren auch nicht derart schmerzhaft.
»Da bist du ja«, sagte Ulka mitfühlend und stellte eine dampfende Tasse vor ihr ab. »Mit diesem Mondzeittrank wird es dir gleich besser gehen.«
»Danke, Ulka«, murmelte Karla. Sie hatte Ulka aus dem gleichen Grund in ihren Dritten Kreis aufgenommen, aus dem sie auch andere Hexen aus Glacias Adelsfamilien angenommen hatte – um die Leute zu besänftigen, nachdem sie ihren Onkel Hobart in die Verbannung geschickt hatte. Und obgleich sie persönlich Ulka nicht sonderlich leiden konnte, musste sie doch zugeben, dass sich die Frau den Winter über eifrig bemüht hatte, eine gute Gesellschafterin zu sein. Zwar hatte sie viel zu viel Aufhebens um geringfügige Krankheiten gemacht, aber sie hatte einen guten Instinkt bewiesen, wenn es darum ging zu entscheiden, wann sie Klatsch und Tratsch zum Besten geben sollte und wann sie besser schwieg.
Sobald das Gebräu sich genug abgekühlt hatte, trank Karla einen großen Schluck. Sie schnitt eine angewiderte Grimasse und stellte die Tasse wieder ab. Der Trank hatte einen eigenartigen, ranzigen Nachgeschmack. Beim Feuer der Hölle, waren ein paar der Kräuter schimmlig geworden? Andererseits hatten ihr viele Dinge den Winter über nicht richtig geschmeckt. Vielleicht war sie auch nur von den köstlichen Tränken verwöhnt, die Jaenelle immer anfertigte. Es war jedoch egal, wie das Zeug schmeckte; wenn es weiter in der Tasse blieb, würde es ihre Schmerzen nicht lindern.
Als sie erneut nach der Tasse griff, blickte sie in den Spiegel. Ein Schauder lief ihr den Rücken hinab, als sie die aufmerksame Erwartung in Ulkas Augen erblickte. »Du hast Gift hineingemischt, nicht wahr?«, fragte Karla matt.
»Ja.« Ulka klang selbstgefällig und zufrieden.
Karla spürte, wie ihr Körper sich träge aufraffte, gegen das Gift anzukämpfen. Da sie eine Schwarze Witwe war, vertrug sie Gift besser als die meisten Leute, doch selbst eine Schwarze Witwe konnte einem Gift erliegen, das ihr Körper nicht erkannte oder aushielt.
Während sie das Spiegelbild der anderen Frau anstarrte, dämmerte es ihr allmählich. All die leichten Krankheiten, all das Essen, das ein wenig eigenartig geschmeckt hatte. Und Ulka war immer da gewesen, ach so hilfreich besorgt. »Du hast den Winter über viele Dinge leicht vergiftet.«
»Ja.«
Gift, das ihren Körper geschwächt, sie jedoch nie krank genug gemacht hatte, um Verdacht zu erregen – obgleich sie in dem Verworrenen Netz, das sie letzten Herbst erschaffen hatte, vor ihrem eigenen Tod gewarnt worden war. Oh, sie war vorsichtig gewesen! Sie wusste zu viel über Gifte, um es nicht zu sein. Dass sie nicht in der Lage gewesen war, diese Gifte zu entdecken, bedeutete, dass die entsprechenden Pflanzen nicht aus Glacia stammen konnten. Die Säfte dieser Gewächse hätte sie auf der Stelle bemerkt, egal, welche Anstrengungen man unternommen hätte, um sie zu verbergen.
Mühsam erhob Karla sich. Im einen Augenblick waren ihre Beine voll feuriger Dornen, im nächsten fühlten sie sich völlig taub an. Sie ließ graue Kraft durch ihren Körper strömen, um das Gift zu bekämpfen, wobei sie die Schmerzen hinnahm, die ihr ihre eigene Macht während ihrer Mondzeit verursachte.
Als eine heftige Welle des Schmerzes sie durchflutete, konnte sie spüren, wie sie der mitternachtsschwarze Schild umgab, der in Jaenelles Ring verborgen war.
»Warum?«, wollte Karla wissen. Wie konnte sie dieses Miststück so falsch eingeschätzt haben? Was war ihr entgangen?
Ulka verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Ich dachte, ich würde eine wichtige Lady an deinem Hof sein. Ich hätte im Ersten Kreis sein sollen, nicht im Dritten.«
»Eine Hexe, die ihre Königin vergiftet, ist nicht geeignet, um im Ersten Kreis zu dienen«, versetzte Karla trocken. »Es ist eine Frage der Loyalität.«
»Ich war loyal!«, fuhr Ulka sie an. »Aber dir gegenüber loyal zu sein, hat mir überhaupt nichts gebracht. Und dann wurde mir ein verlockenderes Angebot unterbreitet. Wenn du fort bist und Lord Hobart wieder über Glacia herrscht, werde ich in der Tat eine wichtige Lady sein.«
»Du wirst nichts weiter als die Hure eines Mannes sein«, sagte Karla entschieden.
Ulka schnitt eine hässliche Grimasse. »Und du wirst tot sein! Und glaube ja nicht, sie werden das Töten nicht zu Ende führen, um sicherzugehen, dass sie euch alle loswerden!«
Der Ring, den Jaenelle ihr gegeben hatte, gab ein scharfes warnendes Prickeln von sich. Sekunden später füllte Mortons Warnruf ihren Geist.
*Karla!*
*Morton? Morton!*
Nichts. Nur Leere an der Stelle, an der jemand gewesen war, solange sie zurückdenken konnte.
Eine andere Art von Kälte stieg in Karla empor – eine Kälte, die ihren Körper nährte und ihr Kraft verlieh. »Ihr habt Morton umgebracht«, sagte sie eine Spur zu gelassen.
»Ich nicht«, erwiderte Ulka. »Aber mittlerweile müsste er tatsächlich tot sein.«
Die eyrische Stange mit den Klingen, die Lucivar ihr gegeben hatte, lag in ihren Händen und zischte durch die Luft, bevor Ulka sich der Gefahr bewusst geworden war. Die tödlich scharfen Klingen glitten genauso leicht durch Ulkas Beinknochen wie durch ihr Wollkleid.
Blut quoll hervor. Schreiend fiel Ulka zu Boden.
Karla taumelte, fing sich jedoch. Sie konnte ihren Körper nicht lange genug auf diese Weise benutzen und gegen das Gift ankämpfen, bis …
Bis was? Wer würde sie nun, da Morton tot war, schnell genug erreichen können? Egal. Sie würde versuchen, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Und ihr stand mehr Kraft zur Verfügung, als ihre Feinde ahnen konnten, da sie die Kraft ihrer grauen Juwelen nicht benutzen musste, um den Schild aufrecht zu erhalten.
Karla blickte auf Ulka hinab und hob die Stange mit den Klingen. »Tja, du Miststück, ich mag nicht in der Lage sein, das Töten zu Ende zu führen, aber ich werde verdammt noch mal sicherstellen, dass du niemandem mehr etwas nutzt, wenn du dämonentot wirst.«
Sie trennte zuerst Ulkas Hände und dann ihren Kopf ab. Mit dem letzten Stich vergrub sie eine Klinge in Ulkas Magen und durchschnitt ihr die Wirbelsäule.
Karla wich unsicher ein paar Schritte von der Blutlache zurück, die immer größer wurde. Dann sank sie zu Boden und legte sich vorsichtig hin, den rechten Arm um den Bauch gelegt, in der linken Hand die klingenbewehrte Stange.
In ihrem Verworrenen Netz hatte sie ihren eigenen Tod gesehen und alles, was in ihrer Macht stand, getan, um etwas an diesem Teil der Vision zu ändern. Doch wenn sie jetzt sterben musste, würde sie es akzeptieren.
Dunkle Macht überspülte sie und wärmte ihre eiskalten Glieder. Sie konnte spüren, wie sich ein machtvoller Faden um sie wickelte, und erkannte, dass es sich um einen heilenden Faden handelte, der ihr half, das Gift zu bekämpfen.
Schützend von Jaenelles Kraft umgeben, wandte sie sich nach innen, um sich auf das Schlachtfeld zu konzentrieren, zu dem ihr eigener Körper geworden war.
7 Kaeleer
Daemon fauchte ohnmächtig vor Wut, als er das Prickeln spürte, das von Jaenelles Ring der Ehre ausging. Er hatte noch nicht gelernt, all die Informationen zu deuten, die sich dem Ring entnehmen ließen. Er erkannte, dass es sich bei diesem speziellen Gefühl um einen Hilferuf handelte, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, woher der Ruf kam. »Kannst du …« Er wandte sich zu Khardeen um.
Die extreme Leere in Kharys Blick sowie das Gefühl, dass er konzentriert lauschte, hielten Daemon davon ab, seinen Satz zu beenden.
»Morton«, sagte Khary leise. »Und Karla!« Er stürzte auf die Tür zu.
Daemon hielt ihn zurück. »Nein, du wirst hier gebraucht!«
»So funktioniert es nicht«, erwiderte Khary scharf. »Wenn einer von uns Hilfe braucht …«
»Schluckt ihr alle den Köder?«, gab Daemon ebenso scharf zurück. »Du hast hier eine schwangere Königin, die sich nicht verteidigen kann, ohne eine Fehlgeburt zu riskieren. Du gehörst hierher. Ich werde mich um Karla kümmern – und um Morton.« Er betrachtete Khary. »Wer sonst wird den Ruf noch gehört haben?«
»Jeder im Ersten Kreis, der im westlichen Teil von Kaeleer lebt. Der Ring besitzt eine große Reichweite, aber darüber hinaus wird die Warnung nicht zu vernehmen sein. Doch jeder Mann, der den Hilferuf gespürt hat, wird ein Warnsignal an die Mitglieder des Ersten Kreises versenden, die sich in seiner Reichweite befinden.«
»Dann gib so schnell wie möglich folgende Botschaft weiter: ›Bleibt, wo ihr seid. Seid auf der Hut.‹« Daemon hielt inne. »Und mach Jaenelle ausfindig.«
»Ja«, sagte Khary erbittert. »Die Königinnen müssen beschützt werden. Besonders sie.«
Daemon nickte und lief aus dem Haus. Im Freien fluchte er. Von hier aus konnte er keinen der Winde erreichen.
Er begann, die Auffahrt entlang zu laufen, drehte sich dann zu dem Geräusch donnernder Pferdehufe um. Sonnentänzer kam neben ihm zum Stehen.
*Ich habe den Ruf vernommen*, erklärte Sonnentänzer. *Du musst auf den Winden reisen?*
»Ja.«
*Ich kann schneller laufen. Steig auf.*
Er griff in Sonnentänzers Mähne und schwang sich auf den bloßen Rücken des Kriegerprinzen.
Es war ein kurzer, aber qualvoller Ritt. Der Hengst wählte den schnellsten Weg zu den nächsten Winden, ohne auf etwaige Hindernisse zu achten, und Daemons Beine zitterten, als er von Sonnentänzers Rücken glitt. Bevor er etwas sagen konnte, drehte sich der Hengst um die eigene Achse und war verschwunden.
*Kämpfe gut! *, rief Sonnentänzer, während er zurück zum Anwesen von Khary und Morghann galoppierte.
»Darauf kannst du dich verlassen«, erwiderte Daemon entschieden. Er sprang auf den schwarzen Wind auf und wandte sich gen Glacia.
8 Kaeleer
Kaelas sprang mühelos auf das Dach eines Menschenbaus und sah gerade noch, wie Morton zu Boden ging. Er fletschte geräuschlos die Zähne. In seinem Innern kämpften Angriffslust und instinktive Vorsicht miteinander. Er glitt in die Tiefe bis zu seinem roten Juwel, wo die anwesenden Männer mit den Flügeln ihn nicht entdecken konnten, und öffnete seinen Geist, um Morton behutsam einen mentalen Faden zuzusenden.
Das Erste, was er spüren konnte, war der Schild der Lady. Das war kein Problem, denn die Lady hatte auch den verwandten Wesen einen Ring der Ehre anfertigen lassen. Also verfügte er über den gleichen Schutz und, was im Moment noch wichtiger war, er war in der Lage, ungehindert an jenem Schild vorbeizuschlüpfen.
In dem Augenblick, in dem er es tat, wusste er, dass Mortons Körper gestorben war; doch er konnte Morton immer noch sehr schwach im Innern spüren. Morton war ein Bruder am Hof der Lady, und sie passten aufeinander auf. Das war wichtig. Folglich würde er seinen Bruder aus den Fängen des Feindes befreien und dann entscheiden, was als Nächstes zu tun war.
In der entgegengesetzten Richtung erblickte er die heilige Stätte, in der sich der Dunkle Altar befand. Ganz in der Nähe davon stand ein alter Baum, der nicht mehr zu neuem Leben erwachen würde. Die blassen Menschen hätten ihn gefällt und in ihrem Feuer verbrannt. Jetzt würden sie ihn jedoch nicht mehr brauchen.
Mithilfe der Kunst öffnete er die Tür der heiligen Stätte und ließ sie hin- und herschwingen, als habe man sie nicht richtig zugeklinkt.
Er sprang von dem Dach und beschrieb einen Kreis um die Menschenhöhlen, wobei er durch die Luft ging, um keine Spuren zu hinterlassen. Nur weil sein Sichtschutz ihn unsichtbar machte, war das noch lange kein Grund, unvorsichtig zu sein. Das hatten ihm die Fangspiele mit Lucivar gezeigt.
Bei dem Gedanken an Lucivar kam ihm noch etwas in den Sinn: Man durfte einem Feind niemals seine gesamte Kraft zeigen, bis man sie tatsächlich benötigte.
Sein Geburtsjuwel war der Opal. Mortons Juwel war ebenfalls der Opal. Ja, das würde die Menschen mit den Flügeln vielleicht verwirren.
Er fletschte die Zähne, was beinahe wie ein katzenartiges Lächeln wirkte, und traf den toten Baum mit seiner Juwelenkraft. Der Stamm explodierte. Brennende Äste flogen in allen Richtungen durch die Luft. Ein weiterer Kraftstoß ließ die Fenster in den Menschenhöhlen um die heilige Stätte zerbersten. Dann ließ ein opalener Machtblitz genug Schnee aufwirbeln, dass ein kleiner Schneesturm entstand. Schließlich richtete er die Kraft seiner Juwelen auf die Tür der heiligen Stätte, die daraufhin krachend ins Schloss fiel.
Der eyrische Kriegerprinz mit dem grünen Juwel war bei dem ersten Kraftstoß herumgewirbelt, das Gesicht wutverzerrt. Andere Männer stießen Schreie aus. Als die Tür der heiligen Stätte zufiel, fing der Eyrier zu laufen an, wobei er Befehle brüllte.
»Was ist mit dem Bastard hier?«, wollte einer der anderen Männer wissen.
Der Kriegerprinz zögerte einen Augenblick. »Lasst ihn liegen, der läuft uns nicht davon. Wir führen das Töten zu Ende, nachdem wir uns um unsere neuen Gäste gekümmert haben.«
Kaelas pirschte sich vorwärts, sämtliche Sinne auf die Menschen mit den Flügeln gerichtet. Mit einem großen Satz war er bei Morton.
Als er die Leiche beschnupperte, wich er verwirrt zurück. Morton roch nach vergiftetem Fleisch. Er wollte seine Zähne nicht in vergiftetes Fleisch graben. Doch er musste Morton von den Männern mit den Flügeln wegbringen.
Er bewegte sich erneut vorwärts und strich gegen den Schild der Lady. Kaelas konnte spüren, wie sich der Schild selbst in dem Ring der Ehre, den er trug, wiedererkannte und ihn einließ. Er legte einen engen Schild um Mortons linken Arm, sodass der Schild zwischen ihm und dem vergifteten Fleisch war, als er den Arm zwischen die Zähne nahm. Zufrieden benutzte er die Kraft, um Morton in der Luft schweben zu lassen, dann dehnte er seinen eigenen Sichtschutz aus, bis er sie beide umfasste, und stürzte zu den Bäumen zurück.
Unter den Bäumen verlangsamte er sein Tempo ein wenig, blieb jedoch erst stehen, als er das Versteck erreicht hatte, das KaeAskavi gegraben hatte. Er ließ Mortons Arm los und betrachtete die Höhle. Der Menschenkörper würde problemlos ohne die spitzen Stöcke – die Pfeile – hineinpassen, die aus ihm hervorragten. Doch die Heilerin würde die Stöcke benötigen, um die Pfeilspitzen zu entfernen, nicht wahr?
Nach kurzem Überlegen bediente er sich der Kunst, um die Schäfte zu halbieren. Er schob Morton in die Höhle und legte die abgesäbelten Schäfte neben ihn. Dann zögerte er ein weiteres Mal.
Er hatte noch nie gesehen, wie menschliche Angehörige des Blutes zu Dämonentoten wurden. Von daher wusste er nicht, wie lange es dauern würde, bis Morton erwachte und das tote Fleisch zurückforderte. Doch ihm war klar, dass Morton glauben würde, der Feind habe ihn hierher gebracht, wenn er an einem fremden Ort erwachte.
Kaelas drückte eine Vorderpfote in den Schnee neben Mortons Kopf, sodass ein tiefer Abdruck blieb. Dann legte er einen Schild über den Abdruck, sodass er nicht achtlos weggefegt werden konnte. Morton würde den Abdruck hoffentlich sehen und begreifen.
Er war äußerst zufrieden, wie er es geschafft hatte, die komplizierte Denkweise zu meistern, die man im Umgang mit Menschen an den Tag legen musste. Beim Zudecken des Höhleneingangs ließ er ein kleines Luftloch. Ein toter Mensch brauchte keinen Sauerstoff, aber die frische Luft würde Morton anzeigen, an welcher Stelle er sich am einfachsten frei graben konnte.
Nun galt es, sich um die bösen Menschen mit den Flügeln zu kümmern.
Nachdem Kaelas einen Aufruf an die arcerianischen Krieger und Kriegerprinzen mit dunklen Juwelen ausgesandt hatte, machte er sich auf den Rückweg zu dem Dorf.
9 Kaeleer
Daemon ließ sich so nahe wie möglich bei Karlas Haus von den Winden fallen, ohne von dem offiziellen Landenetz Gebrauch zu machen. Sobald er auf der Straße erschien, legte er einen Sichtschutz und einen schwarzen Schutzschild um sich. Er lief ein paar Straßen weiter, bog um eine Ecke und blieb stehen.
Die Straße war voll erbittert kämpfender Männer. Kraftblitze von Juwelen ließen die Luft nach einem Gewitter riechen. Menschen, welche die Kraft ihrer Juwelen bereits aufgebraucht oder nie welche getragen hatten, kämpften mit herkömmlichen Waffen. Ein paar Frauen kämpften verzweifelt, aber ohnmächtig gegen die Angreifer.
So vertraut! Es hätte nicht der Verwesungsspuren in manchen der mentalen Signaturen bedurft, um zu erkennen, dass Dorothea ihre Hand im Spiel hatte. Er hatte es schon zu oft in Terreille erlebt. Menschen, deren Ehrgeiz ihre Fähigkeiten bei weitem überstieg, waren gewillt, ihr eigenes Volk gegen Haylls ›Unterstützung‹ zu verkaufen. Die Kämpfe sorgten dafür, dass die stärksten Männer und Frauen, die am ehesten in der Lage gewesen wären, sich gegen Dorothea zur Wehr zu setzen, auf einen Schlag verschwanden. Und die Leute, die übrig blieben …
Diesmal musste er nicht subtil vorgehen. Es war nicht nötig, die Qualen tanzend zu umgehen, die Dorothea ihm zufügen würde, sobald sie Verdacht schöpfte, dass er sich eingemischt hatte. Doch es war ihm zur zweiten Natur geworden, verschlagen vorzugehen. Abgesehen davon löste ein lautloses Raubtier die größte Angst aus.
Mit einem kalten, grausamen Lächeln auf den Lippen ließ Daemon die Hände in seine Hosentaschen gleiten und schlängelte sich – unsichtbar und unauffindbar – zwischen den Trauben Kämpfender hindurch, eine Spur der Verwüstung hinter sich herziehend.
Er betrat Karlas Anwesen. Die Schlacht musste hier ausgebrochen sein und sich anschließend auf die Straßen ausgeweitet haben. Während er über Leichen stieg, griff er sich diejenigen mentalen Signaturen heraus, die er mit Dorothea verband, und brachte die entsprechenden Kämpfenden so schnell und sauber um, dass deren Gegner im ersten Augenblick völlig verblüfft erstarrten.
Ein Kriegerprinz, der das Rangabzeichen des Hauptmanns der Wache trug, versuchte in der Nähe der Treppe, sich gegen andere Männer zur Wehr zu setzen. Er bediente sich des letzten Restes seiner Juwelenkraft, um sich vor den Angriffen dreier Männer zu schützen, deren Energien noch völlig unverbraucht waren.
Drei kurze Blitze schwarzer Macht. Drei Männer fielen.
Als er die Treppe hinaufglitt, sah Daemon den scharfen Blick des Jägers in den Augen des Kriegerprinzen. Es war der Moment, in dem der Mann erkannte, das etwas sehr Gefährliches die Stufen empor schlich.
Da stürzte ein Krieger, der Weiß trug, auf den Kriegerprinzen zu, sodass dieser gezwungen war, sich dem Feind zuzuwenden, der ihn angriff.
Daemon ging die Treppe hinauf. Selbst in erschöpftem Zustand würde es dem Kriegerprinzen ein Leichtes sein, mit dem angreifenden Krieger fertig zu werden, und es würde ihn ein wenig länger beschäftigt halten.
Nach Karlas Gemach musste er nicht lange suchen. Der Ring der Ehre führte ihn unbeirrbar dorthin, wobei das Pulsieren an seinem Glied ihn ausreichend reizte, um seine Wut noch weiter zu schüren, obgleich er sich ohnehin längst im Blutrausch befand.
Die Tür stand offen. Eine zerstückelte Frau lag auf dem blutdurchtränkten Teppich. Fünf Männer sandten einen Kraftstoß nach dem anderen gegen einen Schild, der eine andere Frau umgab: Karla.
Er wusste nicht, wer die Männer waren – und es war ihm auch egal. Nachdem er aus der Tiefe von Schwarz geschöpft hatte, schlüpfte er unter den inneren Barrieren der Männer hindurch und setzte eine eiskalte Wut frei, die ihre Körper zu grauem Staub werden ließ und das Töten zu Ende führte, indem sie die mentalen Kräfte der Männer aufzehrte.
Noch bevor sie zu Boden fielen, hatte er das Zimmer durchquert. Er kniete neben Karla nieder und streckte vorsichtig die Hand aus.
Der Schild, der sie umgab, verströmte einen wilden, tödlichen Hunger.
Wie sollte er den Schild durchdringen, und was mochte er entfesseln, wenn er es falsch anstellte? Daemon atmete tief ein und brachte seine Hand noch näher an den Schild.
Ein Flackern von Kraft an seiner Handfläche. Ein Schmecken. Ein Akzeptieren.
Seine Hand durchdrang den Schild unbeschadet.
»Karla«, sagte er, als sich seine Hand um ihren Arm legte. »Karla!« Ihr krächzender, schwer gehender Atem verriet ihm, dass sie noch lebte. Doch wenn sie in einen derart tiefen Heilschlaf verfallen war, dass sie ihn nicht hören konnte …
»Küsschen«, flüsterte Karla mit rauer Stimme.
Erleichterung durchfuhr ihn. Er beugte sich über sie, sodass sie ihn sehen konnte, ohne den Kopf zu bewegen. »Küsschen.«
»Vergiftet«, sagte sie. »Kann es nicht identifizieren. Schlimm.«
Daemon schob ihr Gewand beiseite und legte ihr die linke Hand auf die Brust, wobei er behutsam einen mentalen Faden aussandte. Seine Fähigkeiten in der Heilkunst waren begrenzt, doch mit Giften kannte er sich aus. Und er erkannte zumindest einen Teil dieses Giftes.
»Finger weg von … meinen … Titten«, meinte Karla.
»Jetzt werd aber nicht zickig«, erwiderte Daemon sanft und ließ den mentalen Faden weiter ihr Inneres erforschen. Ihr Körper bekämpfte das Gift viel besser, als er es für möglich gehalten hätte, aber sie würde nicht überleben, wenn sie nicht mehr Hilfe bekam, als er ihr bieten konnte. Er zögerte. »Karla …«
»Ungefähr … drei Stunden übrig. Körper … kann nicht länger kämpfen …«
Die Reise auf den schwarzen Winden von Scelt hatte beinahe zwei Stunden gedauert. Pandar und Centauran lagen näher, aber er kannte Jonah oder Sceron nicht so gut wie Khardeen. Von daher wusste er nicht, ob die Heilerinnen der Satyrn oder der Zentauren mit diesem Gift würden umgehen können.
Abgesehen davon befand sich Jaenelle aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Weg nach Scelt. Letzteres gab den Ausschlag.
»Ich bringe dich fort von hier.« Er machte sich daran, Karla hochzuheben. Da bemerkte er, dass sie noch immer die klingenbewehrte Stange umklammert hielt. »Lass die Stange los, Liebes.«
»Muss die Klingen … säubern. Darf keine … Waffe weglegen … ohne die Klingen zu reinigen. Lucivar … würde mich … umbringen.«
Beinahe hätte Daemon ihr kurz und bündig seine Meinung dazu gesagt, doch ein Blick auf die zerstückelte Frau am Boden ließ ihn seine Kritik an Lucivars Unterrichtsmethoden hinunterschlucken. »Ich werde die Klingen reinigen. Und ich verspreche dir, ich werde Lucivar kein Sterbenswörtchen verraten, dass du es nicht selbst gemacht hast.«
Der Anflug eines Lächelns umspielte Karlas Lippen. »Könnte dich beinahe… mögen…. wenn du nicht so männlich wärst.«
»Meine Königin mag es ganz gern so«, erwiderte Daemon trocken. Er ließ die klingenbewehrte Stange verschwinden, hob Karla vorsichtig empor und wandte sich zum Gehen.
Der Hauptmann der Wache versperrte die Tür. »Was machst du mit meiner Königin?«
»Ich bringe sie von hier fort«, antwortete Daemon ruhig. »Man hat sie vergiftet. Sie benötigt dringend Hilfe.«
»Wir verfügen über Heilerinnen.«
»Würdest du ihnen trauen?« Daemon erkannte das kurze Zögern. »Ich liege nicht mit dir im Streit, Prinz. Zwing mich nicht, über deine Leiche zu gehen.«
Der andere Mann musterte ihn eindringlich, wobei sein Blick an dem Ring mit dem schwarzen Juwel hängen blieb. »Du bist der Gefährte von Lady Angelline.«
»Ja.«
Der Mann trat zur Seite. Als Daemon an ihm vorüberging, sagte der Hauptmann der Wache leise: »Bitte pass auf sie auf.«
»Das werde ich.« Daemon hielt inne. »Hast du Morton gesehen? «
Der Hauptmann der Wache schüttelte den Kopf.
Es blieb keine Zeit, über Morton nachzudenken oder darüber, was ihm zugestoßen sein mochte. »Wenn du ihn siehst, richte ihm aus, dass ich Karla nach Scelt bringe. Sag es aber niemandem außer Morton.«
Der Mann nickte. »Hier entlang. Hinter dem Haus steht eine mit Juwelenkraft betriebene Kutsche, die euch schneller zu den Winden bringen wird.«
Während der Hauptmann der Wache die Kutsche lenkte, hielt Daemon Karla in den Armen und nutzte jene kostbaren Augenblicke, um sie mit schwarzen Schilden zu belegen, die sie auf ihrer Reise mit den Winden schützen sollten. Sie hielten ein paar Meter von der Stelle entfernt an, an der er gelandet war.
»Möge die Dunkelheit dich umarmen, Prinz«, sagte der Hauptmann der Wache.
»Dich ebenso.« Daemon schlang die Arme um Karla, sprang auf den schwarzen Wind auf und hielt so schnell wie möglich auf Scelt zu.
Auf halbem Wege legte er eine kurze Pause ein, um Khary eine Botschaft zu senden. *Ich befinde mich zusammen mit Karla auf dem Rückweg. Sie ist vergiftet worden. Wir brauchen eine Heilerin und Schwarze Witwe. Die beste Heilerin, die ihr habt.*
*Jaenelle befindet sich bereits auf dem Weg hierher*, lautete Kharys Antwort.
Mehr musste er nicht wissen. Er sprang erneut auf den schwarzen Wind auf und setzte seine Reise fort. Ihm war klar, dass der Sand in dem Stundenglas viel zu schnell nach unten rann.
10 Kaeleer
Mit ihrem Sichtschutz bewehrt kauerten Kaelas und zwanzig arcerianische Männchen auf den Dächern der Menschenhöhlen und beobachteten, wie die bösen Menschen mit den Flügeln in dem Dorf umhergingen. Manche der Höhlen waren nun erleuchtet, da es Nacht geworden war, und er konnte riechen, dass Essen gekocht wurde.
*Fleisch?*, wollte einer der arcerianischen Krieger wissen.
*Nein*, entgegnete Kaelas. Er konnte spüren, wie eine Welle des Zorns die anderen Männchen durchlief. *Das Fleisch schmeckt nicht.*
* Wir sind zum Jagen gekommen, ohne anschließend Fleisch in die Höhlen heimbringen zu können?*, fragte ein anderes Männchen gereizt.
*Wir haben der Lady versprochen, kein Menschenfleisch zu jagen*, gab ein junges Männchen zögernd zu bedenken.
*Diese Menschen haben ein Männchen umgebracht, das zur Lady gehörte*, sagte Kaelas bestimmt. *Sie haben die blassen Menschen umgebracht, die zu Lady Karlas Rudel gehörten. *
Erneut ging eine Woge der Wut durch die Raubkatzen, diesmal war sie jedoch gegen die bösen Menschen mit den Flügeln gerichtet. Die arcerianischen Katzen wussten nicht viel mit den Menschen anzufangen, doch sie mochten Lady Karla und verehrten die Lady. Für diese beiden würden sie auf die Jagd gehen und ohne Beute in ihre Höhlen zurückkehren.
Der Wind änderte leicht die Richtung und wehte einen anderen Geruch zu ihnen herüber.
*Wir werden die Tiere nehmen, die den blassen Menschen gehört haben*, meinte Kaelas. *Die Menschen brauchen sie nicht mehr. Es wird unser Lohn sein.* Er war froh, dass ihm diese spezielle Menschenvorstellung eingefallen war. Sollte die Lady ihn anfauchen, weil sie Tiere aus einem Menschendorf erbeutet hatten, konnte er diesen Ausdruck verwenden.
*Lohn?*, wiederholten zwei Männchen. Dann fragte ein anderes: *Ist das eine Menschenidee?*
*Ja. Wir töten die schlechten Menschen und können dann das gute Fleisch mit zu unseren Höhlen nehmen.*
Zufrieden konzentrierten sich die arcerianischen Raubkatzen wieder auf ihre Beute.
Kaelas beobachtete die Männchen mit den Flügeln eine Minute lang. *Wir müssen schnell jagen … und leise.*
*Schnell töten*, pflichteten die anderen ihm bei.
Kaelas betrachtete den Kriegerprinzen mit dem grünen Juwel, der auf einen Bau in der Nähe der heiligen Stätte zuging. Aber keinen schnellen Tod für diesen hier.
11 Kaeleer
Jaenelle erwartete Daemon bereits, als er Kharys und Morghanns Anwesen erreichte.
»Sie blutet zu stark, als dass es sich lediglich um ihre Mondblutung handeln könnte«, stieß er schroff hervor, als er, gefolgt von Morghann, Khary und Maeve, der Heilerin des Dorfes, in das Gästezimmer stürzte. »Und es ist nicht viel Zeit übrig.«
Jaenelle legte eine Hand auf Karlas Brust und starrte auf etwas, das nur sie sehen konnte. »Es wird reichen«, sagte sie betont ruhig.
Morghann breitete eine Schicht Handtücher auf dem Bett aus.
Daemon bedachte sie mit einem eiskalten Blick, während er Karla auf das Bett legte. Machte die Frau sich mehr Sorgen um ihre kostbare Bettwäsche als um eine Freundin, die vergiftet worden war?
»Es wird sie weniger stören, wenn wir ab und an ein Handtuch wechseln, als wenn wir jedes Mal das Bett frisch beziehen«, sagte Morghann leise. In ihren Augen war deutlich zu lesen, dass ihr seine Überlegungen nicht verborgen geblieben waren – und wie sehr diese Gedanken sie verletzt hatten.
Für eine Entschuldigung war keine Zeit. Morghann und Maeve zogen Karla den blutigen Morgenmantel und das Nachthemd aus und wischten ihr rasch das Blut von der Haut. Jaenelle achtete nicht auf die körperliche Pflege der Patientin, sondern konzentrierte sich weiterhin auf die magische Heilung.
In dem Moment, als Daemon ihr sagen wollte, was er über das Gift wusste, fiel sein Blick auf seinen bluttriefenden Ärmel. Erinnerungen daran, wie er einst von Jaenelles Blut durchtränkt gewesen war, stürzten auf ihn ein. Er riss sich das Jackett und anschließend das Hemd vom Leib. Khary nahm ihm beides ab und reichte ihm ein nasses Tuch.
Als er sich das Blut von der Haut schrubbte, meinte Jaenelle: »Man hat zwei Gifte verwandt. Eines davon kenne ich nicht.«
Daemon gab Khary das Tuch zurück und trat an das Bett. »Eines der beiden stammt von einer Pflanze, die nur in Südhayll wächst.«
Jaenelle blickte auf, ihre Augen waren leer und eisig. »Kennst du ein Gegenmittel?«, fragte sie mit einer eigenartigen Gelassenheit, die ihm Angst einjagte.
»Ja, aber die Kräuter, die ich besitze, sind schon etliche Jahre alt. Ich weiß nicht, ob sie noch wirksam genug sind.«
»Ich kann sie wirksam genug machen. Stell das Gegengift her, Daemon.«
»Was ist mit dem anderen Gift?«, erkundigte er sich, während er daran ging, sich eine Arbeitsfläche auf dem Nachttisch frei zu räumen.
»Es ist Hexenblut.«
Ein kalter Schauder überlief ihn. Hexenblut wuchs nur an Orten, an denen eine Hexe gewaltsam zu Tode gekommen war – oder wo man sie begraben hatte. Es war ein äußerst bösartiges, tödliches Gift – das kaum identifizierbar war.
»Du kannst es spüren?«, fragte Daemon vorsichtig.
»Ich bin in der Lage, Hexenblut in jeglicher Form zu erkennen«, erwiderte Jaenelle mit ihrer Mitternachtsstimme.
Eine weitere Erinnerung drang auf ihn ein. Jaenelle, wie sie das Beet Hexenblut anstarrte, das sie in einer versteckten Nische auf dem Anwesen der Angellines gepflanzt hatte. Wusstest du, dass sie einem die Namen der Verstorbenen sagen, wenn man auf die richtige Art und Weise zu ihnen singt?
Verrieten die Pflanzen Hexe selbst als getrocknetes Gift noch die Namen derer, die gestorben waren?
Daemon unterdrückte diese Erinnerungen, schloss sie in seinem Herzen ein und konzentrierte sich darauf, das Gegengift herzustellen.
»Maeve«, meinte Jaenelle, »bereite ein paar einfache Umschläge vor. Wir werden einen Teil des Giftes herausholen müssen. Morghann, ich möchte, dass du das Zimmer verlässt. Komm auf keinen Fall zurück, bis ich es dir sage.«
»Aber …«
Jaenelle sah sie nur an.
Morghann verließ eilends das Zimmer.
»Darf ich bleiben?«, fragte Khary leise. »Ihr drei werdet mit der Heilung beschäftigt sein. Da könnt ihr ein freies Paar Hände gebrauchen, falls ihr etwas benötigt.«
»Das hier wird nicht leicht sein, Lord Khardeen«, warnte Jaenelle.
Khary erbleichte ein wenig. »Sie ist auch meine Schwester.«
Jaenelle nickte ihr Einverständnis, beugte sich dann über das Bett und flüsterte so leise, dass niemand außer Daemon es mit anhören konnte: »Arme oder Beine, Karla?«
Falls sie eine Antwort erhielt, war sie privater Natur – Schwester an Schwester. Doch es war der Beginn eines Heilungsprozesses, der so grauenhaft war, dass Daemon inständig hoffte, dergleichen nie mehr wieder miterleben zu müssen.
12 Kaeleer
Kaelas lauschte den Geräuschen, die aus dem Zimmer drangen, und fletschte geräuschlos die Zähne. Der eyrische Kriegerprinz mit dem grünen Juwel war gerade dabei, sich mit der jungen Priesterin zu paaren. Ihre Schreie beunruhigten Kaelas. Sie klangen nicht wie die Geräusche, welche die Lady von sich gab, wenn sie mit Daemon zusammen war. In den Lauten, die er hier vernahm, lagen Angst und Schmerzen.
Beinahe wäre er durch den grünen Schild geschlüpft, den das Männchen um das Zimmer gelegt hatte, und hätte Mortons Tod auf schnelle Art und Weise gerächt, anstatt des langsamen, qualvollen Sterbens, das er seinem Mörder zugedacht hatte. Doch da rief das Weibchen: »Aber ich habe euch geholfen! Ich habe euch geholfen!«
Kaelas entsann sich KaeAskavis kleiner Freundin, die jetzt eine Waise war, und all der anderen blassen Menschen, die zu Lady Karlas Rudel gehört hatten und nun tot waren, und wich einen Schritt zurück. Das Weibchen hatte sein eigenes Nest beschmutzt, hatte vergiftetes Fleisch in die Höhle gebracht. Es hatte das Männchen mit den Flügeln als Partner verdient.
Er legte einen roten Schild um das Zimmer und sperrte die beiden Menschen somit ein, wobei er sorgfältig darauf achtete, den grünen Schild nicht zu berühren und auf diese Weise das Männchen zu alarmieren. Er fügte einen roten mentalen Schild hinzu, sodass der Flügelmann nicht in der Lage wäre, sein Rudel zu warnen, falls er merken sollte, dass er in der Falle saß.
Nachdem Kaelas wieder aus dem Gebäude geschlichen war, hielt er kurz inne und lauschte. Die Menschen mit den Flügeln waren in der Überzahl, aber das machte nichts. Der Kriegerprinz mit dem grünen Juwel war der einzige Flügelmann, der ein dunkles Juwel trug, und es war bereits gefangen. Kaelas war die einzige Raubkatze hier, die Rot trug, doch die opalenen, grünen und saphirnen Schilde würden die anderen schützen, während sie die Flügelmenschen mit Klauen und Fängen angriffen.
*Jetzt*, sagte Kaelas.
Geräuschlos und unsichtbar verteilten die Raubtiere sich und gingen auf die Jagd.