Epiloq
Einsamkeit, Arc-RoyalArc-Royal-Defensivkordon, Lyranische Allianz 26. August 3067
Morgan Kell war nicht zur Stelle, um Victor zu begrüßen, als er auf Arc-Royal eintraf. Stattdessen schickte er eine Videonachricht, in der er ihn bat, so schnell wie möglich zu ihm nach Einsamkeit zu kommen. Morgans Stimme klang angespannt, und seine Züge waren zur nichts sagenden Maske eines Politikers verhärtet, was recht seltsam schien bei einer Nachricht, die nur an Victor persönlich gerichtet war. Es sei denn, entschied er schließlich, es hatten sich noch andere Personen im Raum befunden, als Morgan die Nachricht aufnahm. Personen, vor denen er keine Gefühle zeigen wollte.
Das war an sich schon eine Warnung.
Aber der Transport seiner Schwester durch die Vereinigten Sonnen
sowohl in als auch durch die Lyranische Allianz war nicht ohne
wiederholte Krisenmomente abgelaufen, wenn vereinzelte Adlige oder
übereifrige Kommandeure die Öffentlichkeit aufgewiegelt hatten.
Dann war es für die über Jahre gesammelten Beweise und die
signierten Befehle von Yvonne und Peter, die Katherine restlos und
ohne Vorbehalt in Victors Autorität überstellten, Zeit geworden.
Die meisten Loyalisten waren mit einer abschließenden Trotzgeste
abgezogen und hatten sich danach bedeckt gehalten. Nur an der
Ladestation von Blue Diamond war es zu so etwas wie einer
bewaffneten Konfrontation gekommen, als ein einzelner Jägerpilot
versucht hatte, in einem Selbstmordangriff auf Victors Schiff
persönliche Rache zu nehmen.
Als Victors Limousine die Landungsschiffsrampe hinabglitt,
überzeugte er sich als Erstes, dass der gepanzerte Transporter mit
Katherine dichtauf folgte. Dann schaute er hinüber zu den vier
Kurzstreckenfähren, die in der Nähe aufgesetzt hatten. Auf einem
prangte unübersehbar der Schweifstern ComStars. Ein anderes war mit
dem dreieckigen Hundekopfabzeichen der Kell Hounds geschmückt. Die
beiden letzten trugen das Abzeichen des Wolfsclans. Auch das war
keine große Überraschung.
Phelan Keils Leute hatte in kurzer Zeit hervorragende Arbeit
geleistet. Victor hatte ihnen nur vier Monate Zeit geben können,
und sie hatten es geschafft: Ein brandneuer Gebäudekomplex mitten
im Grüngürteldschungel von Arc-Royal. Offiziell handelte es sich
bei Einsamkeit um eine Forschungsstation, doch die Anlage verfügte
auch über einen hohen Turm, der mit allen Annehmlichkeiten
ausgestattet war, die Katherine sich nur wünschen konnte, ihre
Freiheit ausgenommen. Sie sollte ein Juwelenarmband tragen, das
ihre Position ständig meldete und ihr begrenzten Zugang zur
Umgebung gestattete. Nur um ganz sicherzugehen, dass sie in der
Nähe blieb und niemand sie zu befreien versuchte, stationierten die
Exilwölfe hier eine größere Militäreinheit, einschließlich
Mechtruppen. Und Victor konnte sich nicht vorstellen, dass sich
irgendein Clanner bereit fand, Katherine zu helfen, ganz gleich,
wie lange sie ihn bearbeitete.
Sie fuhren durch das Tor und Victors Fahrer brachte sie in die subplanetare Garage. Dort ließ Victor Katherine in der Obhut von Phelans Wölfen zurück, weil er wusste, dass seine Einmischung sie nur verärgert hätte. Außerdem war Tiaret Nevversan bei ihr.
Gavin Dow wartete auf Victor, als er in der Verwaltungsetage aus dem Aufzug stieg. Die grüngelben Augen des Mannes glänzten interessiert, und der Blick verblasste auch nur leicht, als er feststellte, dass Victor allein war. Der Präzentor trug seine neue Robe, breit in Gold und Rot gesäumt, um seine neue Position zu kennzeichnen.
»Guten Tag, Erster Präzentor«, begrüßte Victor
ihn steif und förmlich.
»Es wird möglicherweise einer gewissen Gewöhnung bedürfen, Victor,
aber ich bin sicher, du schaffst das.« Dow lächelte breit und
unternahm keinen Versuch, die Freude über seinen neuen Rang als
höchster Präzentor des Ersten Bereichs zu verbergen. »So wie
immer.«
»Ich habe von deinem waghalsigen Schachzug gehört«, erwiderte
Victor, und Dows Grinsen wurde noch breiter.
Victor hatte noch immer keine vollständigen Berichte über Dows
politische Manöver, außer, dass Prima Mori sich bereit erklärt
hatte, den neuen Titel und die damit verbundene Verantwortung
anzuerkennen, um die Niederlage bei einer Vertrauensabstimmung und
möglicherweise sogar ein zweites Schisma abzuwenden. Offenbar hatte
der Mann seine Zeit als zeitweiliger Präzentor Martialum dazu
genutzt, eine Machtbasis für genau dieses Ziel aufzubauen.
Tatsächlich blieb er damit Victors Vorgesetzter, nachdem er sich
dessen Rückkehr auf den Posten eines autonomen Präzentor Martialum
widersetzt hatte. Zunächst hatte er überhaupt jede Rückkehr Victors
und der wenigen Überlebenden der 244. Division abgelehnt. Er hatte
sich erst zufrieden gegeben, nachdem Victor dem Orden öffentlich
geschworen hatte, unter Gefahr augenblicklicher Bestrafung nie
wieder irgendwelche persönlichen Interessen an den Angelegenheiten
eines Nachfolgerstaats über ComStars Geschäftsinteressen zu
stellen.
»ComStar braucht starke Führungspersönlichkeiten, Victor Davion.
Eines Tages wirst du vielleicht eine solche werden, wenn ich sicher
bin, dass du deine nationalistischen Bindungen endgültig abgelegt
hast.« Victor nickte knapp und wandte sich zu der nahen
Verwaltungszentrale. Hohe Fenster säumten eine Wand des Flurs und
gaben den Blick auf eine dichte Pflanzendecke frei, die erst am
Stahlbeton des Raumhafenfelds endete. »Hat Prima Mori irgendwelche Anweisungen für
mich?«
»Nur die, dass du mich auf die nächste WhittingKonferenz im
November zum Tharkad begleiten sollst. Nachdem der Bürgerkrieg
vorbei ist, Martialum Davion, hielten wir es für wichtig, dass du
als leitendes Mitglied des Ersten Bereichs an die Öffentlichkeit
trittst. Wir werden uns den ComStar-Tisch teilen.« Übersetzung:
Gavin Dow wollte sich als politisches Oberhaupt und tatsächlicher
Leiter ComStars hervortun. Fast hätte Victor es ausgesprochen, aber
er wurde abgelenkt. Die Lifttür glitt wieder auf und Katherine
wurde von Tiaret und einem Wolfsclan-Krieger in den Gang geführt.
Die beiden Männer warteten, bis die Gefangene sie erreicht hatte,
und Dow wechselte eine überaus höfliche Verbeugung mit ihr.
Katherines Tonfall allerdings wirkte alles andere als herzlich. »Es
scheint, unsere Beziehung war doch nicht so fruchtbar«, stellte sie
mit einer Stimme fest, deren Wärme der in ihren eisblauen Augen
entsprach. »Nicht?« Dow zog eine Augenbraue hoch, und seine dunklen
Augen glitzerten belustigt. »Mir hat sie alles gebracht, was ich
wollte.«
»Das dachte ich auch einmal«, gab sie eisig zurück. »Sie sehen,
wohin mich das gebracht hat.« Sie ging an den beiden
ComStar-Offiziellen vorbei, ohne sich nach ihren Wachen umzusehen,
die ihr gemächlich folgten. Sie schenkte diesen beiden Wachen nicht
mehr Beachtung als einem beliebigen Gefolge.
Das musste Victor seiner Schwester lassen: Sie hielt sich unter der
anhaltenden Erniedrigung der Gefangenschaft besser, als er erwartet
hätte. Natürlich sah sie sich selbst nicht als richtige Gefangene.
Sie betrachtete sich immer noch nur als abgesetzt und auf dem Wege,
sich die ihr zustehende Macht zurückzuholen. Aber heute wollte
Victor ihr die Tür dazu versperren und den Schlüssel
wegwerfen.
Ein Teil dieser Überlegungen musste sich auf seinem Gesicht
gespiegelt haben. »Es wird nicht ganz so einfach werden, wie du
erwartest«, stellte Dow fest, während er Katherine
hinterherblickte. Als Victor ihn fragend anschaute, schüttelte der
Erste Präzentor den Kopf. »Du wirst erwartet, Martialum Davion. Wir
sehen uns auf Tharkad.« Gavin Dow verneigte sich mit gefalteten
Händen, lächelte dünn und machte sich auf den Weg zum Aufzug, um zu
seiner Raumfähre zurückzukehren.
Victor nahm diese zweite Warnung mit einem Stirnrunzeln zur
Kenntnis und folgte Katherine in die Verwaltungszentrale, einen
runden Raum, der eher wie ein Konferenzzimmer denn wie ein
Arbeitsplatz wirkte. Metalltische waren in einem zur Türe hin
offenen Halbkreis arrangiert, und hinter ihnen befanden sich
Sitzplätze für Besucher. Alles in allem eher ein Hörsaal oder ein
Raum für Vorstellungsgespräche. Vielleicht gehörte das für
Clanwissenschaftler zu den wichtigen
Verwaltungstätigkeiten.
Morgan Kell wartete unmittelbar hinter der Tür und streckte Victor
die gesunde Hand entgegen, kaum dass er den Raum betreten hatte.
»Wir stehen vor einem neuen Problem«, bemerkte er mit gedämpter
Stimme, aber das hätte Victor auch an Phelans saurer Miene erkennen
können.
Der Khan der Exilwölfe lehnte sich mit trotzig verschränkten Armen
an einen Tisch zurück und starrte wütend einen anderen ClanKrieger
an, der in zeremonieller Kleidung in der Nähe stand, einschließlich
des Vollhelms in der Form eines riesigen Wolfskopfes. Galen Cox
stand mit Isis Marik etwas abseits. Galen schien in Gedanken
versunken, Isis war sichtlich besorgt. Tiaret trat schützend vor
Katherine, bemerkte Victor. Offenbar war ihr etwas aufgefallen, was
ihm bis jetzt entging. Victor wandte sich an den maskierten
Krieger.
»Bist du aus einem bestimmten Grund hier?«
»Das will ich meinen«, erwiderte der Mann mit harter, trockener
Stimme, und Victor versteifte sich unwillkürlich, als er sie
erkannte. Der Krieger nahm den Helm ab und hielt ihn mit Würde in
der Armbeuge. Victor hatte geglaubt, auf jede Überraschung
vorbereitet zu sein, doch er konnte nur entgeistert starren, als er
sich hier auf Arc-Royal Vladimir Ward gegenübersah, dem Khan des
anderen Wolfsclans.
Zu spät wurde ihm klar, dass er sich die Insignien der
Wolfsclan-Raumfähren auf dem Landefeld hätte genauer anschauen
müssen. Ohne Zweifel hatte eine von ihnen dieselben Rangabzeichen
getragen wie die pelzbesetzten Schulterklappen an Vlads
zeremonieller Uniform.
»Khan Ward«, stellte er ruhig fest und bemühte sich, das geistige
Gleichgewicht wiederzufinden. »Ich wurde nicht darüber informiert,
dass man dir freies Geleit nach Arc-Royal gewährt hat.« Er schaute
hinüber zu Phelan, der den Kopf schüttelte.
»Ich habe weder um Safcon gebeten, noch habe ich es erhalten. Falls
ich gezwungen bin, mir den Weg freizukämpfen, werde ich das tun.«
Vlads Blick streifte Phelan nur kurz, und die Feindseligkeit, die
zwischen den beiden Männern aufblitzte, hätte Victor nach der Waffe
greifen lassen, hätte er denn eine getragen. Phelan war bewaffnet,
mit einem am rechten Oberschenkel befestigten Holster, doch er
hielt die Hände weit davon entfernt. Vlad schaute wieder zu Victor.
»Das hat nichts mit unserer Angelegenheit zu tun, Victor
Davion.«
»Wüsste nicht, dass wir irgendeine Angelegenheit zu besprechen
haben«, antwortete Victor und bemerkte Vlads überlegenes Grinsen
über den Verzicht auf ein Satzsubjekt. Für Clanbegriffe war das ein
Zeichen für geistige Nachlässigkeit.
»Es besteht kein Anlass, etwas zu besprechen. Ich bin gekommen, um
deine Gefangene zu übernehmen.« »Du forderst mich zu einem Test um
Katherine heraus?« Victor war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte
nicht die leiseste Ahnung, warum sich ein Khan der Clans auch nur
für den Sturz seiner Schwester interessieren sollte.
»Eine Herausforderung? Pos.« Vlad schien für den Gedanken durchaus
offen. »Falls du das vorziehst.« Der Blick seiner dunklen Augen
glitt von Victor zu Katherine.
Victor bemerkte die unausgesprochene Alternative und fragte nach.
»Oder?«
»Krieg«, erwiderte Vlad. »Ich habe dich bereits einmal gewarnt,
dass meine Wölfe sich nicht an den Großen Widerspruch gebunden
fühlen, den Waffenstillstand von Tukayyid aber einhalten werden.
Dieser Waffenstillstand ist im Mai dieses Jahres ausgelaufen. Bist
du bereit, für deine ehemaligen Reiche zu sprechen und sie so
schnell zurück in die Schlacht zu werfen? Ich bin es.«
Victor schaute sich hastig zu den anderen im Raum um. Phelan wirkte
bereit zum Kampf, aber für Phelan war das der Normalzustand. Morgan
wartete mit stoischer Ruhe ab. Victor drehte sich wieder zu Vlad
um. »Du versprichst uns Frieden im Austausch gegen
Katherine?«
»Ich verspreche nichts außer einem Angriff, falls du mir nicht
überlässt, was zu holen ich gekommen bin. Glaubst du mir das,
Victor Davion, oder glaubst du es mir nicht?«
Victor glaubte ihm. Er brauchte Phelans verstecktes Nicken
eigentlich nicht, um zu wissen, dass Vlad bereit war, den Worten
Taten folgen zu lassen. Es war ihm auch sehr bewusst, dass er dem
Ersten Bereich sein Wort gegeben hatte, sich nicht in
Angelegenheiten einzumischen, die nichts mit ComStars Geschäften zu
tun hatten, und Katherines Gefangenschaft auf Arc-Royal fiel
eindeutig in diesen Bereich. Selbst wenn es möglich gewesen wäre,
Vlads Bezugnahme auf den Waffenstillstand von Tukayyid als
ComStar-Angelegenheit auszulegen, konnte er Peter und Yvonne nicht
zu einem neuen Krieg zwingen, solange es noch irgendeine andere
Möglichkeit gab. Ohne es zu wissen, hatte Vlad ihn in die äußerste
Ecke gedrängt.
»Pos, ich glaube es dir«, erwiderte er mit einem Schulterzucken.
»Nimm sie mit.« Aus den Augenwinkeln beobachtete er Katherines
Gesicht, während er seine Zustimmung gab, und sah das Aufflackern
des Triumphs in ihren Augen. Was hatte sie getan, das Vlad
veranlasste, sie zu holen? Vermutlich würde er es nie erfahren.
»Wenn sie dein Preis ist, Vlad, dann nimm sie und werde glücklich
mit ihr. Du hast ein gutes Geschäft
gemacht - heute.«
Der Stich traf. Victor hatte den Wolfskhan so gut wie beschuldigt,
sich wie ein Händler zu benehmen, eine Beleidigung, die Vlad nicht
entgangen war. Seine Züge liefen vor Wut dunkel an. Doch der
ClanKrieger hatte sein Ziel erreicht, und er zwang sich zu einem
herausfordernden Grinsen, das Victor mitteilte, Vlad habe seine
Bemerkung zwar übergangen, er würde sie aber nicht
vergessen.
Als Präzentor Martialum hätte Victor es anders auch nicht haben
wollen.
»Bist du noch bei Sinnen?«, war Phelans erste Frage, kaum dass sich die Tür hinter Vlad Ward und {Catherine geschlossen hatte.
»Vielleicht nicht«, antwortete Victor. »Falls du eine bessere Lösung für all unsere Probleme weißt, habe ich sie nicht gehört.«
Morgan Kell überhörte die darunter liegende Bedeutung nicht, die Victor in seine Antwort gelegt hatte. »Lösung?« Er blickte Victor fragend an. »Wie das?«
»Auch als Gefangene wäre Katherines Anwesenheit hier auf Arc-Royal für uns immer ein Problem geblieben, oder?« Er wartete auf zustimmendes Nicken von allen Anwesenden. »Jetzt ist sie von den Clans aufgenommen worden.« Er betonte das Wort nachdrücklich. »Phelan, wie hat sich die Aufnahme in der Inneren Sphäre auf deine Glaubwürdigkeit ausgewirkt?«
»Es ist verdammt schwierig, auch nur um das kleinste Zugeständnis zu kämpfen.« In den braunen Augen dämmerte Verstehen. »Nicht schlecht, Victor. Das könnte für Katherine schlimmer werden, als eingesperrt zu sein.« Er rieb sich den Nacken. »Trotzdem schmerzt es, Vlad einfach mit ihr abziehen zu lassen, nach allem, was wir durchgemacht haben, um sie zu stürzen.«
»Stimmt«, gab Victor zu. »Und ich habe mit dem Gedanken gespielt, mich zu weigern, bis ich an die Strafe dachte, die Katherine für ihre Verbrechen jetzt wird zahlen müssen. Ich weiß nicht, was er an ihr findet, oder was diese beiden miteinander getrieben haben, aber ich kenne nur eine Möglichkeit für Vlad, aus Katherine einen echten Nutzen zu ziehen.«
Diesmal kam Morgan seinem Sohn zuvor. »Er wird
eine Kriegerin aus ihr machen müssen.«
Victor nickte. »Ich schätze, es wird ihr gut tun, etwas über
Kriegerehre zu lernen. Phelan ist schnell aufgestiegen, aber selbst
bei den Clans muss man erst einmal gehorchen lernen, bevor man
führen kann. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung für Katherines
Rehabilitation.«
»Und vielleicht auch nicht«, warnte ihn Morgan, der die
offensichtliche Freude seines Sohnes bei der Vorstellung Katherines
in einer Clannerausbildung nicht teilte. »Aber ich glaube trotzdem,
du hast die richtige Entscheidung getroffen.«
Victor war derselben Meinung. Und er war froh, endlich die
offiziellen Angelegenheiten abgeschlossen zu haben und sich einen
Augenblick der Ruhe unter Freunden zu gönnen. Isis begrüßte ihn mit
einer lockeren Umarmung. Sie war nach Arc-Royal vorausgereist, um
beim Entwurf von Katherines goldenem Käfig zu helfen. Galen Cox
wirkte viel zu ernst für ein Wiedersehen nach zwei Jahren der
Trennung.
»Nicht ganz das Wiedersehen, das ich mir erhofft hatte, Jer...
Verzeihung, Galen.« Victor grinste verlegen. »Es wird eine Weile
dauern, bis ich mich umgewöhnt habe.«
»Für uns beide, Victor, auch wenn Hohiro mir dabei geholfen hat. Er
nennt mich >Galen<, seit Katherine unser Geheimnis auf der
letzten Whitting-Konferenz ausgeplaudert hat.« Er trat näher und
streckte die Hand aus. »Ich werde mich schon wieder an meinen Namen
gewöhnen.«
Victor erwiderte den kurzen Händedruck. »Es ist besser so. Galen
Cox ist leider das einzige Opfer Katherines, das wir wieder
auferstehen lassen können.« Das löste natürlich einen neuen
Trauerschub aus, doch allmählich lernte Victor, mit dem Schmerz zu
leben. Wenigstens überschattete er nicht länger die Erinnerung an
all die guten Zeiten, die er mit Omi Kurita verlebt
hatte.
»Ich habe den Vorabbericht gelesen, den du geschickt hast«, stellte
er mit etwas leiserer Stimme fest. Isis legte ihm die Hand auf den
Arm und bot ihm Trost, was er dankbar annahm. »Er ist tot? Es gibt
keinen Zweifel?«
Galen nickte und bestätigte das Ende des Attentäters. »Minoru hat
mir seinen Kopf gezeigt.«
»Dann ist es endlich vorbei«, flüsterte Victor.
»Nein, Victor«, widersprach Galen und klang trauriger, als Victor
ihn je gehört hatte, selbst nach Omis Tod. »Es wird alles sehr viel
komplizierter.« Einen Moment lang sagte er nichts, dann zog er ein
kleines Lesegerät aus der Tasche und balancierte es auf der flachen
Hand.
Er reichte es wortlos seinem Freund.
Victor schaltete das Gerät ein, und auf dem Bildschirm erschien ein
zentrierter, hervorgehobener Text. Er sah nach einem Eintrag aus
irgendeinem medizinischen Bericht aus, und die Bedeutung blieb ihm
für drei verwirrende Sekunden verschlossen. Dann legte sich eine
eisige Hand um sein Herz und drückte zu, während er an den Anfang
des Berichts blätterte und den Namen las.
Omi Kurita.
Es war ihr Autopsiebericht.
Als Victor seine Stimme wiederfand, war sie kaum mehr als ein
Krächzen. »Wie zuverlässig ist diese Information?«, war alles, was
er herausbrachte. Er blätterte sehr viel langsamer wieder vor und
suchte nach der hervorgehobenen Eintragung.
Galen schaute zu Boden. »Victor, ich habe ihn selbst entdeckt. Aber
da ist noch mehr ... Theodore Kurita hat mir freie Hand gegeben,
bei den Nachforschungen zu helfen, doch er hätte diesen Bericht
verschwinden lassen können. Oder ihn abändern. Er wollte, dass ich
ihn finde, Victor. Er wollte, dass du ihn siehst, damit du es
erfährst, ohne dass er eine offizielle Erklärung herausgeben
muss.«
Schweigen lag mehrere Sekunden lang über dem Raum. Alle warteten
darauf, dass er die Nachricht mit ihnen teilte oder sie
hinausschickte. Isis Marik drückte schließlich leicht seinen Arm.
»Victor?«
»Hast du davon gewusst?« Er schaute Isis an und las nur Sorge in
den rehbraunen Augen. Er reichte ihr das Lesegerät. »Isis, hast du
davon gewusst?« Sein Atem ging keuchend, als er auf die Antwort
wartete. Seine Brust war so zugeschnürt, dass er kaum Luft bekam.
Er versuchte, einen Schritt zu gehen, doch die Beine gehorchten ihm
nicht. Er hielt sich an einem nahen Tisch fest.
»N-nein«, stammelte Isis, nachdem sie den Text überflogen hatte.
Ihre Stimme klang schwach und verängstigt, beinahe kindlich. »Nein,
Victor, ich schwöre. Ich habe es nicht gewusst.«
Sie wollte ihm das Gerät zurückgeben, er winkte ab und deutete auf
Morgan und Phelan. Victor brauchte es nicht mehr. Die Buchstaben
hatten sich in seinen Geist eingebrannt und er konnte kaum an etwas
anderes denken. Der Text hatte im Abschnitt über familiäre
Krankheitsgeschichte und Besonderheiten gestanden. »Deutliche
Spuren einer früheren Schwangerschaft. Vernarbung indikativ für
natürliche Geburt.« Geburt.
Das musste passiert sein, während er auf dem Feldzug gegen die
Clans gewesen war, sofern Isis nichts von einer Schwangerschaft
Omis wusste. Es passte alles zusammen. Einschließlich eines
Versprechens, das Omi ihm vor fünf Jahren gegeben hatte.
»Es gibt einiges zu besprechen zwischen uns«, hatte sie auf
Mogyorod gesagt. »Wichtige Dinge. Persönliches. Vielleicht ...« Omi
hatte die Arme um sich geschlungen. Sie hatte an ihr Baby gedacht.
»Victor, ich würde es nie wagen, mich in das Angedenken deines
Bruders einzumischen, aber möglicherweise weiß ich etwas, das
deinen Schmerz lindern kann.« Sie hatte ihr typisch
geheimnisvolles, zögerndes Lächeln aufgesetzt. »Obwohl ich nicht
versprechen kann, dass es dein Leben nicht furchtbar
verkompliziert.«
Damals hatte er geglaubt, sie wollte eine offizielle Heirat
vorschlagen. Jetzt war ihm klar, dass sie bereit gewesen war, ihm
auf jede ihr zur Verfügung stehende Art neue Hoffnung für die
Zukunft zu geben. Und dann hatte der Attentatsversuch sie getrennt
und Omi hatte ihr Geheimnis für sich behalten.
Sie hatte es mit ins Grab genommen.
»Victor«, fragte Galen leise und holte ihn aus dem langen
Schweigen. »Victor, ist alles in Ordnung?«
Alle starrten ihn an. Galen traurig, Isis mit einer gewissen
Nervosität. Morgan und Phelan schienen zwischen einem Hilfsangebot
und moralischer Entrüstung zu schwanken. Tiaret ... wirkte
zufrieden. Natürlich war sie zufrieden. Bei den Clans war das
höchste Ziel eines Kriegers, durch die Verwendung seines Erbguts
für die Herstellung von Nachkommen unsterblich zu werden. Tiaret
empfand es ohne Zweifel als gerechtfertigt, dass Victor endlich
einen Nachkommen hatte. Nicht zum ersten Mal ertappte er sich
dabei, der Elementarin in Gedanken für ihre Sichtweise zu
danken.
»Ich fühle mich ...«Er stockte und dachte einen Augenblick länger
nach. »Ich fühle mich gut. Wirklich. Ich glaube, der Gedanke
gefällt mir, dass etwas von meinem Leben mit Omi da draußen
weiterlebt. Schließlich sollte das für uns alle eine Zeit sein, in
die Zukunft zu blicken.« Er lächelte schwach und richtete sich auf.
Die Beine waren noch unsicher, hielten ihn aber aufrecht. »Ich muss
erst einmal mein eigenes Leben wieder in den Griff bekommen, aber
wenigstens gibt es jetzt etwas, auf das ich mich freuen kann. Das
bedeutet, ein Teil von uns, von Omi und mir, hat überlebt. Und
schließlich sind wir das hier alle.« Er nickte den Keils, Galen und
Isis zu.
»Überlebende.«
Michael A. Stackpole Geisterkrieg
Heyne SF 06/6271