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AVS-Wachturm, Avalon City, New Avalon
Gefechtsregion New Avalon,
Mark Crucis, Vereinigte Sonnen
Bruchstücke mehrerer, gleichzeitig geführter Gespräche drangen durch den Türspalt aus dem abhörsicheren Raum und machten schnell respektvollem Schweigen Platz, als sich die Tür ganz öffnete. Obwohl ihr Champion und ihr Marshal of the Armies ihr vorausgingen, bemerkte Katrina Steiner-Davion, dass die zwölf übrigen Mitglieder des AVS-Oberkommandos erst Haltung annahmen, als sie den Besprechungsraum betrat. Sie hatten also gewusst, dass die Archon-Prinzessin sie heute besuchen würde. Sie warf schnell einen Blick zu Jackson Davion hinüber, der schon fast eine Anschuldigung enthielt, aber der Marshal war viel zu selbstzufrieden, um sich von einem so gedämpften Zeichen ihres Missfallens stören zu lassen. Wäre ihr Cousin nicht so knöchern ehrenhaft gewesen, hätte Katrina ihn möglicherweise als Bedrohung für ihre Herrschaft über die Vereinigten Sonnen betrachtet.
Jackson wartete unmittelbar neben dem Eingang. Nachdem sie eingetreten war, schloss er die Tür und schaltete den White-Noise-Generator ein. Katrina sammelte derweil Informationen über die restlichen Anwesenden, während sie zu ihrem Platz am vordersten der in Hufeisenform angeordneten Tische ging. Die schlanke Nadel des Wachturms war die Ecke des Militärs in ihrem Königlichen Hof auf New Avalon, und sie hatte die Kommandeure aller wichtigen militärischen Abteilungen der Armee der Vereinigten Sonnen hier zusammengerufen, ebenso wie Repräsentanten der drei für die Marken verantwortlichen Field Marshals. Diejenigen, die geradezu auf die Füße hechteten, merkte sie sich als unehrlich. Die meisten standen mit beiläufigem Respekt und stolzer Haltung auf. Das schien sicherer. Dann gab es noch zwei oder drei, die sich nur langsam und mit berechnetem Trotz erhoben. Eine davon war eine Generalin, die Duke James Sandoval vertrat, den Field Marshal der Mark Draconis, und Katrina stufte sie sofort als heimliche Anhängerin seines aufrührerischen Sohnes Tancred ein. Die Offizierin musste man im Auge behalten.
»Guten Tag«, begrüßte Katrina sie alle und nahm zwischen ihren beiden ranghöchsten Offizieren am mittleren Tisch des Stirnendes Platz.
Dies war eines der größeren Besprechungszimmer des Wachturms. Ein beeindruckender Flachbildschirm nahm eine ganze Wand ein, die drei anderen waren in hellgelbem Holz getäfelt. An den Seitenwänden ragten Fahnenstangen mit den Flaggen aller Distriktzentralwelten der Vereinigten Sonnen und Lyranischen Allianz auf. Neben dem Eingang hing ein Porträt Katrinas zwischen den Fahnen von New Avalon und Tharkad, den Zentralwelten der beiden Sternenreiche unter ihrer Herrschaft. Der Raum roch nach Zigarren und billigem Rasierwasser, ein Geruch, den Katrina trotz der Anwesenheit von vier Frauen im Oberkommando als absolut männlich empfand. Ein Grund unter vielen, warum sie dem Wachturm nur selten einen Besuch abstattete. Er war viel zu erfüllt von martialischer Präzision und berechnender Aggression, als dass sie sich hier hätte wohl fühlen können. Außerdem besaß sie als Archon-Prinzessin genug Sicherheitsberater, Geheimdienstadjutanten und Generäle, die ihr im Prinzenpalais regelmäßig Bericht erstatteten.
Sie nickte, und alle Anwesenden setzten sich mit eingeübt wirkender Präzision. Da sie einen Großteil des Tages in der Gesellschaft uniformierter Offiziere zubringen musste, hatte Katrina sich heute für einen schlichten Hosenanzug von paramilitärischem Schnitt entschieden. Er war elfenbeinweiß mit goldenen Knöpfen und einem Gürtel derselben Farbe. Die zweireihige Jacke ähnelte einer Fechtjacke, und der knielange Rock schmeichelte ihrer schlanken Figur. Sie trug Handschuhe - für eine gewisse weiche Note -, hatte das goldene Haar jedoch zu einem strengen Zopf zurückgebunden, wie er bei Karriereoffizierinnen beliebt war.
Streng, aber nicht herrisch.
»Heute«, rief Katrina den Raum zur Ruhe, »heute Morgen, um genau zu
sein, erschien der New Avalon Daily mit
einer Schlagzeile, die man mit Sicherheit auf anderen Welten
aufgreifen wird: >Wo ist Victor?< Das ist eine Frage, die ich
mir seit einigen Monaten selbst stelle, nämlich seit
Generalleutnant McDonald meinen Bruder gezwungen hat, Tikonov
aufzugeben und sich wieder in die Lyranische Allianz
zurückzuziehen.«
Auf halber Höhe der linken Tischreihe beugte sich Field Marshal
Stephanie Day vor, die Kommandeurin des Militärischen
Informationsdienstes. »Hoheit, der MI arbeitet daran, aber zur Zeit
ist dies eine Frage von geringerer Wichtigkeit.«
Katrina legte die Hände flach auf die Tischplatte. Ihre
elfenbeinfarbenen Handschuhe schienen über dem dunklen Walnussholz
zu schweben. »Würden Sie das bitte erläutern?«
»Auf über vierzig Welten toben Kämpfe, auf hundert weiteren
herrschen Spannungen, die jederzeit zu Kampfhandlungen eskalieren
können. Seit dem Vierten Nachfolgekrieg war der MI nicht mehr so
überlastet. Euer Geheimdienstministerium arbeitet mit uns zusammen,
wie schon damals, und hat sich bereit erklärt, die Hauptlast der
Suche nach Eurem Bruder zu übernehmen, da er er derzeit ... nicht
an den Kämpfen teilnimmt.«
Days Pause sprach Bände, zumindest für Katrina. Das Attentat auf
Omi Kurita war kurz nach ihrer erfreulichen Gelegenheit, Victor von
dieser Tatsache zu informieren, Allgemeinwissen geworden. Niemand
hatte irgendeinen Zweifel daran, dass die Nachricht vom Ende seiner
>Lotusblume< ihren Bruder schwer getroffen hatte. Sämtliche
Berichte lauteten in diesem Punkt praktisch gleich.
»Er hört nicht auf, ein Volksfeind zu sein, nur weil er nicht in
einem BattleMech sitzt und kämpft.«
Jackson Davion nahm den Fehdehandschuh auf, wie Katrina es erwartet
hatte. »Hoheit, dieser Bürgerkrieg ist mehr als ein persönlicher
Zwist zwischen Euch und Eurem Bruder.« Er gehörte zu den wenigen
Menschen, denen sie gestattete, ihr vor anderen so offen zu
widersprechen. Dies war seine Art, und sie brauchte ihn mehr, als
seine Widerborstigkeit sie störte. Er war nicht nur ihr Marshal of
the Armies, sondern auch ein Davion - und besaß somit eine gewisse
Ausstrahlung. Mit dem rötlichweißen Haar und den tiefblauen Augen,
die Katrina und ohne Zweifel auch alle anderen - unwillkürlich an
ihren Vater erinnerten, konnte Jacksons Unterstützung ihre
Legitimität nur unterstreichen. »Falls ihr Euch erinnert, begann er
ohne irgendwelche Hilfe seinerseits. Ein Dutzend Systeme standen in
offener Rebellion, bevor Victor
öffentlich zum Widerstand gegen Euch aufrief. Er war zu diesem
Zeitpunkt noch bei ComStar.«
Sie nickte. »Als Präzentor Martialum.« Selbst im Exil war Victor
nicht in der Lage gewesen, das Kriegshandwerk aufzugeben. Hätte er
sich nur herausgehalten, wären diese Revolten sicher kurzlebig
gewesen und hätten sich nie zu einem richtigen Bürgerkrieg
aufgebaut. Davon war sie überzeugt. »Wollen Sie damit etwa sagen,
es wäre nicht mein Bruder, der den Widerstand gegen mich
anführt?«
Simon Gallagher, ihr Champion, warf die Brille mit den quadratisch
eingefassten Gläsern vor sich auf den Tisch und strich die
Haarsträhnen glatt, die er über die deutlich sichtbare Glatze
kämmte. »Am leichtesten wird man als Anführer akzeptiert, wenn man
erkennt, in welche Richtung der Mob marschiert und sich an die
Spitze setzt.« Was seinen eigenen Aufstieg innerhalb der AVS
ziemlich genau beschrieb. »Euer Bruder mag den Anschein des
Anführers erwecken, doch auch ohne ihn würden wir in gut fünfzig
Systemen kämpfen.«
»Aber wie viele dieser Kämpfe sind wirklich wichtig?«, fragte
Katrina. Sie sah Jackson die Stirn runzeln und kannte seine
Antwort, bevor er den Mund öffnete.
»Jeder Widerstand gegen Eure rechtmäßige Regierung ist wichtig,
Hoheit, ich verstehe aber, was Ihr meint.« Er hob einen kleinen
Griffel und tippte auf die Ecke des Glaseinsatzes in der
Tischplatte. Der Sensorschirm leuchtete auf und präsentierte ein
Optionenmenü, aus dem Jackson mit ein paar schnellen Bewegungen
eine einfache Karte der Inneren Sphäre auswählte, die auf dem
Wandbildschirm sichtbar wurde. Die Reiche der Häuser Kurita, Marik
und Liao waren ebenso wie die von den Clans besetzten Gebiete als
einfarbige Blöcke dargestellt, die sich als Rahmen um die beiden
Hälften des Vereinigten Commonwealth legten, das durch die Heirat
von Katrinas Eltern geschaffene Großreich. Es erstreckte sich quer
über die Innere Sphäre wie eine Sanduhr in Schräglage. Die
Lyranische Allianz war das obere Glas, die Vereinigten Sonnen das
untere. Zwischen ihnen lag ein kurzes Stück neutraler Systeme, der
so genannte Terranische Korridor.
Die Karte hielt zwar keinem Vergleich zu einer Hologrammkarte
stand, allein schon durch die rein zweidimensionale Darstellung,
doch für die Zwecke der hier Anwesenden genügte sie. Jackson lud
die neuesten Daten herunter und die Lichtpunkte der verschiedenen
Systeme leuchteten in unterschiedlichen Farben auf. So konnte man
den Stand des Bürgerkriegs mit einem Blick erfassen. Die Victor
unterstützenden Systeme glänzten gelb, die Katrinas in ruhigem
Blau. Rot markierte Welten, auf denen gekämpft wurde oder zumindest
schwere politische Unruhe herrschte. Jackson Davion nickte ihr zu.
»Die Bürgerkriegssituation stellt sich so dar, Hoheit, dass Ihr als
Archon-Prinzessin derzeit mehr Welten kontrolliert als Euer Bruder.
Es befinden sich jedoch noch mehr Systeme im Aufstand, als Ihr oder
er direkt kontrolliert, und viele dieser Welten haben eine
beträchtliche Bedeutung für den Bürgerkrieg. Eine dieser Welten ist
Kathil mit seinen Raumwerften, und bis jetzt habt sowohl Ihr als
auch Victor einige Regimenter bei dem Versuch verheizt, sie zu
halten.«
Katrina wollte nicht an Kathil erinnert werden. Der Planet war ein
riesiger Fleischwolf, der jede Einheit zerfetzte, die sie oder
Victor einsetzten. Dasselbe galt für Tikonov, zumindest bis jetzt,
und für Dalkeith in der Lyranischen Allianz. »Aber es muss hundert
Welten geben«, wandte sie ein, »die keine direkte Auswirkung auf
den Bürgerkrieg haben.«
»Definiert >direkte Auswirkung<, Hoheit«, antwortete Jackson.
»Politische Unterstützung, Truppen, Material ... jede Welt hat Teil
am Bürgerkrieg und irgendetwas anzubieten.« Er zeichnete mit dem
Griffel einen Pfeil auf die Karte. Er setzte weit entfernt auf
Mogyorod an, am äußeren Rand der Lyranischen Allianz, zog von dort
erst kurz aufwärts nach Newtown Square und dann in einer weiten
Querbewegung nach Winter. »Das war Victors Kurs in der Anfangsphase
der Kämpfe. Von Mogyorod aus hat er auf Newtown Square die 39.
Avalon-Husaren abgeholt und danach auf Winter die 7.
Crucis-Lanciers auf seine Seite geholt.« Jackson zeichnete weiter
Pfeile, während er sprach. Einer davon drang bis fast ins Zentrum
der Allianz vor. »Von hier aus hat sich seine Streitmacht
aufgeteilt. Die Lanciers sicherten die nahen Fabriken auf Inarcs,
während Victor sich schließlich nach Coventry vorarbeitete. Ein
wichtiges Produktionszentrum, auf dem er sich Truppen und Material
beschaffte.«
Von Coventry aus zeichnete er einen neuen Pfeil, der zunächst nach
Alarion führte und dann aus der Lyranischen Allianz in die
Vereinigten Sonnen und nach Tikonov ragte. »Das war die dritte
Angriffswelle, in der Victor mindestens zwei weitere Regimenter -
von denen wir wissen - auf ihren Garnisonswelten unter seine Fahne
geholt hat. Auf Tikonov haben wir seinen Vormarsch gestoppt, und am
Ende der vierten Welle ist er aus den Vereinigten Sonnen geflohen,
um seine Kräfte neu zu gruppieren. Damals nahmen wir an, er befände
sich auf Thorin.« Während er sprach, kehrte Jackson die Richtung
des Pfeils durch den Terranischen Korridor wieder um, bis er
zwischen den beiden gelben Welten Thorin und Murphrid endete.
»Warum Thorin?«, fragte Field Marshal Angela Kouranth. Als Chefin
der Abteilung für Militärerziehung war sie in strategischer Planung
nicht so firm. »Er hätte auch einfach seitwärts nach Algol
ausweichen und in den Vereinigten Sonnen bleiben können.«
Simon Gallagher, allzeit bemüht, sich von Jackson Davion nicht
ausstechen zu lassen, übernahm die Antwort. »Die Bevölkerung
Thorins und Murphrids im Nachbarsystem steht fest hinter Victor.
Außerdem hat er sein Logistiknetz über diese beiden Systeme
organisiert.« Gallaghers Hauptanspruch auf militärischen Ruhm
beruhte auf seiner Erfahrung im Nachschubwesen. »Und mit der
Provinz Skye im Rücken«, fügte er mit einem zögernden Blick auf
Katrina hinzu, »hatte Victor einen Schutz gegen größere Offensiven
unsererseits. Zumindest bis vor kurzem.«
Katrina nickte zur Bestätigung des versteckten Hinweises auf die
jüngste Revolte der Bewegung Freies Skye. »Skye war bereits zur
Regierungszeit meiner Mutter eine tickende Zeitbombe. Wir haben
schon '56 nur knapp eine Rebellion verhindern können.« Mit
wir meinte sie in diesem Fall Victor,
doch sie weigerte sich, ihren Bruder als ehemaligen Herrscher des
Vereinigten Commonwealth anzuerkennen, bevor es wieder in die
Lyranische Allianz und die Vereinigten Sonnen zerfallen war. »Es
hat des mysteriösen Todes von Ryan Steiner bedurft, die damaligen
Unruhen zu beenden, dann ist jedoch sein Sohn Robert in die
Fußstapfen des Vaters getreten. Roberts Eskapaden haben uns
viel zu lange daran gehindert, größere
Truppenverbände durch Skye zu bewegen.« Natürlich bedeutete der
Sieg über die Rebellen auf Hesperus II - drei Tage zuvor - , dass
Katrina beinahe in der Lage war, weitere Drohungen aus dieser
Richtung zu ignorieren. Und der Preis ...
Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Wer hätte gedacht, dass die
Gray Death Legion so schnell untergeht? Aber zumindest hat sie das
System gehalten und Roberts Kräfte entscheidend geschwächt, bevor
sie zerbrach. Was nur noch einen wunden Punkt übrig
lässt.«
»New Syrtis«, kam Gallagher Jackson Davion erneut zuvor. »Ihr
glaubt immer noch, Duke George Hasek wird sich auf Victors Seite
schlagen?«
Katrina verschränkte die Finger und legte die Hände vor sich auf
den Tisch. Ihre eisblauen Augen suchten und fanden die von General
Franklin Harris, des Analytikers, der in ihrem Auftrag alle
Aktionen des capellanischen Markherzogs überwachte. Er nickte als
stumme Antwort auf ihre Frage. »Nein. Er wird sich aber weiter
weigern, mich zu unterstützen, was auf dasselbe hinausläuft, Simon.
Duke Hasek hat deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass er mich
nicht länger als Souveränin seines
Volkes betrachtet.« Die Erinnerung an Haseks unverschämten Auftritt
auf der Sternenbundkonferenz im Jahr zuvor wurmte sie noch immer.
»Er ist Nummer Zwei auf meiner Liste, gleich hinter Victor. Was
mich zu meiner anfänglichen Frage zurückbringt: Wo ist
Victor?«
»Auf Thorin, scheint es«, erklärte Gallagher.
»So scheint es.« Katrina spießte ihren Champion mit einem Blick
auf, der eine vorschnelle Antwort erstickte. »Aber Jackson ist
nicht mehr dieser Ansicht.« Sie nickte einmal königlich. »Herein
mit ihm«, befahl sie, und Jackson gab über eine nahe Signalanlage
ein Zeichen ins Nebenzimmer.
Hinter der Fahne Woodbines öffnete sich eine Geheimtür, und ein
älterer Mann betrat das Besprechungszimmer. Er bewegte sich ohne
fremde Hilfe, aber mit der Vorsicht eines alten Menschen an die
Stirnseite des Raumes, wo er neben Jackson Davion stehen blieb. Das
weiße Haar war seit dem letzten Besuch auf New Avalon dünner
geworden, doch die blauen Augen glänzten so diamanten wie immer. Er
verneigte sich respektvoll vor Katrina und nickte den wenigen
anderen im Raum zu, auf deren Gesichtern sich Erkennen
spiegelte.
»Für diejenigen von Ihnen, die ihm nie begegnet sind«, stellte
Katrina ihn vor, »das ist Quintus Allard. Er war der
Geheimdienstminister meines Vaters und hat an einigen unserer
größten Erfolge im Vierten Nachfolgekrieg mitgewirkt, bevor er
seinem Sohn den Posten übergab. Ich habe Quintus eigens für diese
Frage gebeten, seinen Ruhestand zu unterbrechen.« Sie lächelte.
»Willkommen daheim, Quintus.«
Er lächelte onkelhaft zurück. »Danke, Katherine. Die Einladung ließ
sich kaum abschlagen.«
Sie hielt ihre Gefühle im Zaum und verzichtete auf eine sofortige
Entgegnung. Quintus' Aussagen waren meistens mehrdeutig, aber das
war nur eines der Probleme, die Katrina in der Gesellschaft des
alten Mannes hatte. Noch ärgerlicher war sein stures Beharren auf
ihrem Geburtsnamen. Die Änderung zu Katrina, dem Namen ihrer
Großmutter, einem der stärksten Archonten, die je über das
Lyranische Commonwealth geherrscht hatten, war ihr eine große Hilfe
beim Aufbau ihrer frühen Machtbasis gewesen. Quintus' Weigerung,
sie Katrina zu nennen, ließ sich als alte Angewohnheit eines
Freundes der Familie erklären. Auch wenn sie an dieser Erklärung
zweifelte. Katrina sah sich gezwungen, die familiäre Zuneigung zu
dem alten Geheimdienstler gegen den Verdacht abzuwägen, dass er
heimlich ihre Autorität untergrub - wo immer er konnte.
»Du hast eigene Ansichten über den Aufenthaltsort meines
Bruders?«
Quintus nickte. »Victor Steiner-Davion ist nicht auf Thorin.« Seine
Stimme klang papierdünn, doch sein Tonfall ließ keinen Zweifel
zu.
Field Marshal Day fletschte wütend die Zähne. Trotz ihrer
Behauptung von der Zusammenarbeit mit dem MGUO war sich Katrina der
jahrhundertealten Rivalität zwischen dem zivilen und militärischen
Geheimdienst bewusst. »Wie können Sie da so sicher sein?«, fragte
Day.
»So dumm ist Morgan Kell nicht«, erwiderte er. Erzherzog Kell vom
Arc-Royal-Defensivkordon war vermutlich Victors wichtigste Stütze
in der Lyranischen Allianz. »Des Prinzen Mannen, Tiaret Nevversan,
die Auslandslegion ... alle wurden auf Thorin gesichtet. Es gibt zu
viele Hinweise auf diese Welt.«
»Möglicherweise will Kell, dass Sie genau das denken.«
Quintus zuckte die Achseln. »In diesem Fall würde ich erwarten,
dass er noch offensichtlicher vorginge. Morgan Kell ist ein guter
Kommandeur und Menschenführer, aber er ist kein ausgebildeter Geheimdienstler. Diese Form der
Subtilität ist ihm fremd.« Katrina unterbrach den sich anbahnenden
Streit, bevor er ausuferte. Außerdem konnte sie darauf verzichten,
dass Quintus Morgan Keils Qualitäten pries. »Und wo ist Victor
dann?«
»Ich zögere, Vermutungen zu äußern, Hoheit.« »Dann zögere nicht
länger. Ich habe dich extra hierher kommen lassen, damit du sie
äußerst.«
Er zuckte nicht mit der Wimper. »Die offensichtlichen Alternativen
sind Murphrid, Arc-Royal und Alarion. Murphrid als Nachbarsystem
Thorins, Arc-Royal, weil Morgan Kell den Planeten mit den meisten
Truppen beschützen kann. Alarion aus demselben Grund unter
Verwendung der zu Victor stehenden Einheiten. Da sie alle drei
offensichtlich sind, bezweifle ich, dass irgendjemand in der Lage
wäre, eine begründete Wahl zwischen ihnen zu treffen.«
»Und was die nicht offensichtlichen Welten betrifft«, fragte
Katrina, »könnten wir ebenso gut blind einen Pfeil auf die Karte
werfen?«
»Bei allen bis auf eine«, stellte Allard fest. Seine Stimme war
leise und vermutend. »Es gibt eine Welt, die beinahe zu leicht
auszuschließen ist.«
»New Avalon?«, warf Stephanie Day in übertrieben ernstem Ton ein,
der den alten Analytiker verspottete.
Quintus überging die Beleidigung und schüttelte den Kopf. »Tikonov.
Woher wissen wir, dass Victor tatsächlich abgereist ist?«
Eine interessante Theorie, fand
Katrina. Das tiefe Stirnrunzeln bei der Hälfte ihres Oberkommandos
zeigte, dass Quintus den Offizieren gerade einiges zu denken
gegeben hatte, was eine Entscheidung weiter hinauszögerte.
Allmählich kam sie zu dem Schluss, der alte Mann würde zwar genug
beitragen, um zu beweisen, dass er keine Bedrohung darstellte, aber
nicht genug, um ihr wirklich nützlich zu sein.
Sie nickte. »Danke, Quintus. Wir wissen deine Ansichten zu
schätzen.«
»Meine Familie war Haus Davion immer zu Diensten«, stellte er mit
einer weiteren Verbeugung fest. Dann zog er sich mit derselben
betont vorsichtigen Bewegungsweise zurück, mit der er den Raum
betreten hatte.
Katrina wartete, bis sich die schwere Tür hinter ihm geschlossen
hatte. »So, und wie viel von dem, was er sagt, glauben wir?« Sie
achtete darauf, in ihrer Stimme keinen Verfolgungswahn mitschwingen
zu lassen, nur die gebotene Vorsicht vor nicht verifizierten
Informationen.
Jackson Davion tippte mit dem Griffel auf das dunkle Holz der
Tischplatte. »Euer Vater vertraute Quintus bedingungslos. Gibt es
irgendeinen Grund für uns, das nicht zu tun?«
»Der Mann hat das Misstrauen mit der Muttermilch eingesogen und
kann in der Zeit drei Lügen erfinden, in der andere einmal
einatmen«, schnappte Katrina.
»Warum habt Ihr ihn dann überhaupt hergeholt?«, wollte Field
Marshal Kouranth wissen.
»Weil ich Quintus Allard da haben will, wo ich ihn im Auge behalten kann. Seine Familie
könnte uns zu viele Probleme bereiten, aber sie wird es sich
zweimal überlegen, solange er sich auf New Avalon
befindet.«
Das ließ Jackson Davion überrascht zusammenzucken, doch Katrina
schenkte dem keine Beachtung. Sie stand auf, stemmte die Arme auf
den Tisch und sah sich unter ihren Stabsoffizieren um. Zufällig
was sonst endete ihr Blick bei General
Tahmezed aus der Mark Draconis. »Es wird Zeit, diejenigen in den
Griff zu bekommen, die meinen Bruder unterstützen könnten.« Sie
schaute General Harris an. »Oder die, die sich zum eigenen Nutzen
gegen mich wenden könnten.«
»Sind wir wieder bei New Syrtis?«, fragte Jackson und kam mit
leicht verärgerter Stimme Gallagher zuvor.
»Sie haben den größten Teil der letzten Woche damit zugebracht, mir
zu erklären, wie Victor neutralisiert worden ist, Jackson. Sehen
Sie die Lage immer noch so?« Katrina war klar, dass jeder hier im
Raum seine eigenen Ziele verfolgte. Sie selbst auch. Indem sie
Jacksons Neigung zu Analyse und Kompromiss ansprach, hatte sie ihn
genau da, wo sie ihn haben wollte. Zur Antwort nickte er, wenn auch
zögernd.
»Dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich drängenderen Problemen
zuzuwenden. Ja, Quintus ist eine Geisel, die zur Sicherstellung des
Wohlverhaltens seiner Familie dient. Das braucht Ihnen nicht zu
gefallen, doch Sie wissen selbst, dass es notwendig ist. Seine
Familie könnte sich hinter Victor oder George Hasek stellen. Beides
wäre unannehmbar.«
Jackson beugte sich vor. »Ihr wollt also eine Konfrontation mit den
Allards wie auch den Haseks?«
»Die Allards sind kaltgestellt«, erklärte sie. »Und George Hasek
hat mir die Konfrontation aufgezwungen. Glücklicherweise verfügen
wir über einen ausgearbeiteten militärischen Plan für die
Befriedung der Mark Capeila. Ist er ausgereift?«
Er nickte steif. »Er ist seit Monaten ausgereift. Allerdings beruht
er auf der Annahme, dass Hasek mindestens eines seiner Regimenter
auf New Syrtis zu einem Angriff auf Euch benutzt.«
»Dann locken wir eine Einheit fort.«
»Oder holen sie auf unsere Seite«, warf Gallagher wie aufs
Stichwort ein und sicherte sich augenblicklich die Aufmerksamkeit
aller Offiziere im Raum. Er lächelte dünn. »Die Vanguard Legion auf
New Syrtis ist ein Söldnerregiment unter dem Befehl von Duke Hasek,
aber unter Kontrakt mit der AVS. Die Einheit ist traditionell
steinerfeindlich, doch sie hat einen neuen Kommandeur. Ich würde
sagen, der Zeitpunkt ist perfekt, seine Loyalitäten auf die Probe
zu stellen.«
»Dann kaufen wir sie«, nickte Field Marshal Carlos Post von der
Abteilung Söldnerbeziehungen langsam. »Wir können ein paar sehr ...
zuvorkommende ... Bedingungen in den Kontrakt aufnehmen. Falls
Colonel Dean mit sich reden lässt.«
Gallagher stand auf. »Darum kümmere ich mich, Hoheit. Ich habe noch
keinen Söldner getroffen, der für Mechersatzteile nicht bereit
gewesen wäre, den eigenen Bruder zu verkaufen.«
»Ich schon«, antwortete Katrina, und dachte dabei vor allem an
Morgan Kell. Außerdem sah sie keinen Grund, Gallagher zu deutlich
zuzustimmen.
»Ja, wir werden ihnen neue Bauteile und Vorräte anbieten«, sprach
er weiter. »Und neue Mechs, einen angenehmen Dienst, doppelte
Gefechtszulage - was immer nötig ist, um uns den Schlüssel zu New
Syrtis zu erkaufen. Ich sorge dafür, Hoheit.«
Katrina sah von Jackson Davion, dem diese Strategie sichtlich
missfiel, zu Simon Gallagher, der Feuer und Flamme dafür war. Aus
genau diesem Grund hatte sie Simon zu ihrem Champion ernannt. Als
diplomatische Möglichkeit, Jackson zu umgehen, wenn es nötig
wurde.
»Kümmern Sie sich darum, Simon. Bringen Sie mir George Hasek. Das
gibt Jackson die Freiheit, meinen Bruder zu besiegen und diesen
Bürgerkrieg endlich zu beenden.« Katrina lächelte still. Jeder
sollte so eingesetzt werden, wie es seinen Stärken entsprach. Genau
so hatte sie es von Anfang an geplant.
Sie setzte sich wieder hin, lehnte sich zurück und schaute ihren
Offiziersstab an. »Was steht sonst noch an?«
Ich entsinne mich nicht allzu genau an die Schlachten auf Murphrid oder irgendwo sonst während der Zeit meines inneren Exils. Ich habe die Berichte gelesen und erinnere mich auch, über Morgan Antworten abgeschickt zu haben, aber ich weiß keine Einzelheiten mehr. Ich bin nicht sicher, ob ich das als Folge des Schocks oder als Erfolg werten soll.
- Aus Ursache und Wirkung, Avalon Press. New Avalon, 3067Hawkinsgut, Murphrid
Freedom-Theater, Lyranische Allianz
28. Juli 3065
Unter starkem Seitenstechen und mit vor Anstrengung heftig protestierenden Beinen mühte sich Victor Steiner-Davion ab, einen gleichmäßigen Rhythmus beizubehalten, als der Winzerpfad eine sanfte Böschung hinaufführte. Er atmete im Rhythmus der Laufschritte und sog literweise süße Morgenluft an den unsichtbaren Stahlringen vorbei, die seine Brust einschnürten. Lose Reben peitschten ihm gegen die bloßen Arme, wenn er vom Pfad abwich, aber weit ging das ohnehin nicht. Wie die Wände eines Labyrinths schlössen ihn die hohen, von Wein überwucherten Spaliere ein.
Es war natürlich ein recht einfaches Labyrinth. Die Weinberge des Hawkinsguts, des größten Winzerguts auf Murphrid, erstreckten sich über einige Dutzend Quadratkilometer, aber die Reben wuchsen auf Stahlgittern, die in langen, parallelen Reihen angeordnet waren. Victor konnte eine Reihe hinauf und dann die nächste hinab laufen. Kein sehr abwechslungsreicher Weg, doch er suchte auch nicht nach Herausforderungen. Genau genommen suchte er nach gar nichts. Er »ersuchte nur, mit Kai mitzuhalten.
Kai Allard-Liao, Victors langjähriger Freund und Thronerbe der Kommunalität St.Ives, lief in der benachbarten Zeile gleichauf mit dem Prinzen und nickte ihm bei jeder Lücke im Spaliersystem aufmunternd zu. Auf dem Rest der Strecke war von Kai wenig mehr als ein Aufblitzen des Trainingsanzugs in Elfenbein und Gold zwischen den von der Lese ausgedünnten Reben zu sehen. Die morgendlichen Läufe waren Kais Idee gewesen, um Victor wieder in Form zu bringen. Die Weinberge waren ein ausgezeichneter Ort dafür. Nach der Abreise der Erntehelfer bestand kaum Bedarf für Schutzvorkehrungen. Die vom Wein überwachsenen Spaliere waren hoch genug, beide Läufer zu verbergen, und ein paar an den Eingängen postierte Sicherheitsleute garantierten ihre Privatsphäre.
Victor strengte sich an, die Schritte zu verlängern und einen langen, gleitenden Laufstil zu erreichen, der Boden verschlang. Allmählich erinnerte sich sein Körper: die Füße flach überm Boden lassen und leicht auf der Ferse aufsetzen, um den Schwung zu halten. Die Arme locker. Kein Grund, mit übertriebenem Pumpen oder verkrampft geballten Fäusten unnötig Energie zu verschwenden. Linker Fuß, rechter Fuß, ein Schritt folgt auf den nächsten. Er brauchte nicht über die Bewegungen nachzudenken, tat es aber trotzdem. Es war besser als die Alternative: an etwas anderes zu denken.
Das Laufen schien sicherer. Laufen war weiter nichts als Technik und Ausdauer. Es hatte keine politischen Konsequenzen, wenn er den Weg nicht einhielt. Kein Leben hing davon ab, dass er einem knappen Zeitplan entsprach. Es gab keine Logistikprobleme über Munition und Panzerung oder Transportmöglichkeiten für ein Infanterieregiment. Dachte er an den Bürgerkrieg, musste er sich dem Problem stellen, dass auf Thorin und einem Dutzend anderer Welten der Lyranischen Allianz und Vereinigten Sonnen seine Truppen schachmatt gesetzt waren. Er müsste sich an Tikonov erinnern, seine erzwungene Abreise und, schlimmer noch, den Grund dafür. Er müsste sich an Katherines oh so unschuldige Miene erinnern, als sie ihm ihr Bedauern über Omis Tod ausgesprochen hatte ...
Er stolperte und schlug fast lang hin. Ein paar Sekunden fiel er mehr als er lief, dann fand er sein Gleichgewicht wieder.
»Alles in ... Ordnung da ... drüben?«, fragte Kai imRhythmus seines gleichmäßigen Atems.
»Bestens.« Völlig außer Form hatte Victor Mühe, un
ter den heftigen Seitenstichen wieder gleichmäßig voranzukommen.
Omi ... »Einfach großartig«,
murmelte
er mehr bei sich.
»Gut«, antwortete Kai. Durch eine Lücke im Spalier
sah er zu Victor hinüber. »Wer zuerst ... am Ziel ist.« Beinahe
hätte Victor die Herausforderung nicht angenommen. Kai würde ihn
locker besiegen. Er war
besser in Form und hatte die längeren Beine. Doch der
gleichmäßige Trott verführte zu unerwünschten Gedanken,
unerwünschten Erinnerungern. Er entschied
sich für das Wettrennen, mobilisierte seine Reserven
und konzentierte sich auf die nächste Lücke, an der
sich mehrere Wege zu einer Lichtung anboten. Sie
schien sehr weit entfernt. Jetzt pumpte Victor heftig
mit den Armen und trieb sich an. Sein Atem ging flach
und schnell, als er den Hang hinaufrannte. Er konnte
Kai zwischen den Spalierstäben nicht sehen. Er musste
wohl schon weit voraus sein. Es machte Victor nichts
aus, zu verlieren, doch tief in ihm glühte Widerstand
auf - gegen den Gedanken, einen Wettkampf zu verlieren, ohne sein
Bestes gegeben zu haben.
Er lief schneller.
Die Lichtung war ein kleiner freier Bereich, der bei
Murphrids Frühlese als Arbeitszentrum gedient hatte.
Hierhin hatten die Erntehelfer die Trauben gebracht,
bevor die auf Paletten gestapelten Kiepen von einem
kleinen Gabelstapler zum Weingut gebracht wurden.
Dort stand eine Holzbank für Ruhepausen und ein mit
dem Bewässerungssystem verbundenes Standrohr endete in einem
Trinkwasserhahn. Victor spurtete auf die
Lichtung und bremste stolpernd ab. Sein Schwung
trug ihn über den freien Bereich in den nächsten Spalierweg. Mit
rudernden Armen kam er zum Stehen. Er
ging zurück und sah Kai, der gerade in lockerem Lauf
ankam.
»Du ... bist ... gar nicht... gelaufen«, keuchte Victor
und stützte sich mit beiden Händen auf den Knien ab. Kai grinste,
und seine asiatischen Gesichtszüge wirkten für einen Moment beinahe
teuflisch. »Sieht aus, als
hättest du gewonnen«, stellte er mit weit leichterer Atmung als
sein Freund fest. Er schlenderte ein paar Mal
um die Lichtung, um sich abzukühlen.
Victor ließ sich hart auf die Bank fallen. »Gemein,
Kai. Das war wirklich gemein.«
Er sog in langen Zügen die Luft ein, um das Brennen in der Brust zu
lindern, und hielt sich mit einer
Hand die Seite. Die Luft hier schmeckte nach warmen
Weintrauben, unter den Füßen der Erntearbeiter sah
man zerquetschte Früchte, die in der Sonne liegen geblieben waren.
Der harte Boden war von einem rotvioletten Fleckenmuster bedeckt.
Ein paar spätherbstliche
Wespen summten auf der Suche nach Nahrung vorbei. Kai blieb stehen,
zuckte mit den Schultern und begann mit Dehnübungen. »Du hast dich
heute gut gehalten, soweit ich das sehen konnte.« Wenn auch
sicherlich nicht, soweit er gehört hatte. »Wir dürften
etwa drei Kilometer gelaufen sein.«
»So schwer ist das nicht«, stellte Victor fest, der endlieh wieder
bei Atem war. »Man braucht nur einen Fuß vor den anderen zu
setzen.«
Sein Freund nickte. Durch das Laufen war Kais Haut noch etwas
dunkler als sonst und hob sich deutlich von dem fast weißen
Trainingsanzug ab. Er hatte die grauen Mandelaugen seiner Mutter
geerbt, aber die schlaksige Statur und das lockere Lächeln waren
ein unübersehbares Vermächtnis seines Vaters. Victor erinnerte sich
an Justin Allard. Ein entschiedener, jedoch freundlicher Mann
voller Hingabe für seine Nation und Familie.
»Vermisst du deinen Vater?«, fragte er plötzlich.
Kai blinzelte überrascht. »Was ist denn das für eine Frage?« Er
nickte trotzdem. »Jeden Tag«, gab er zu. »An manchen Tagen mehr als
an anderen.« Victor wäre damit zufrieden gewesen, aber Kai sprach
weiter. »Du denkst an Omi, nicht wahr?« Die Worte kamen zögernd,
sanft. »Ich habe meinen Vater sehr geliebt, doch ich glaube,
zwischen einem Mann und einer Frau ist das etwas
anderes.«
»Omi und ich haben kaum Zeit miteinander verbracht«, antwortete
Victor, zog die dünne Jacke aus und warf sie neben sich.
»Das spielt keine Rolle.« Kai machte den Oberkörper frei und
bereitete sich mit ein paar letzten Dehnungen auf den
Sparringskampf vor. »Omi Kurita war das Beste, was dir je passiert
ist, und erzähl mir nicht, ihr zwei hättet nie über eine gemeinsame
Zukunft gesprochen. So leichthin investiert man solche Gefühle
nicht in jemanden.«
Wohl wahr. Victor schnitt eine Grimasse, als die Wunde wieder
aufriss und frischer Schmerz in ihm aufwallte. Er und Omi hatten
sich auf Outreach kennen gelernt, während die Innere Sphäre
versucht hatte, eine Verteidigungsstrategie gegen die Clan-Invasion
zu finden. Vom ersten Augenblick an hatte er eine enorme Anziehung
gespürt, doch ihrer beider Herkunft hatte die Beziehung extrem
belastet. Ein SteinerDavion und eine Kurita? Freundschaft war schon
problematisch genug, weil sich beide Familien entschieden gegen
eine Annäherung zwischen den beiden jungen Menschen aussprachen.
Dass sie es geschafft hatten, trotz aller Opposition ihre
Freundschaft zu etwas zu entwickeln, das über diesen Begriff weit
hinausging, hatten sie beide als Beweis dafür betrachtet, dass sie
eine Zukunft hatten. Und die hatten sie wirklich gehabt, bis ein
Attentäter ihm Omis Hand für immer
geraubt hatte.
Natürlich steckte Katherine dahinter, und es war
nicht das erste Mal, dass sie sich für ihre Zwecke eines
Meuchelmörders bedient hatte. Zum ersten Mal - so
weit Victor davon wusste - war das geschehen, als sie
seine und ihre Mutter hatte umbringen lassen. Möglicherweise hatte
sie sogar denselben Mann eingesetzt,
um ihren Bruder Arthur aus dem Weg zu räumen. Allerdings gestand
Victor sich ein, dass zumindest dies
reine Spekulation war. Aber durchaus denkbar. Arthur
war viel zu beliebt geworden, um Katherines Eifersucht zu
entgehen.
Und Omi? Omis Tod war nichts weiter als kleinliche
Rache. Eine Möglichkeit, Victor schlimmer zu treffen
als irgendwie sonst. Theodore Kurita, Omis Vater und
der Koordinator des Draconis-Kombinats, hatte die
Nachricht ein halbes Jahr geheim gehalten. Doch Katherine hatte
davon gewusst. Sie hatte die Information
für sich behalten und ihr Wissen ohne Zweifel genossen, bis sie den
größtmöglichen Schaden damit anrichten konnte. All das war Victor
bewusst, aber das änderte nichts an der Wirkung. Omis Tod hatte
ihn
so schwer getroffen, dass seine Offiziere auf Tikonov
schließlich gezwungen gewesen waren, einzuschreiten
und ihn in Sicherheit zu schaffen.
Dabei bedeutete >in Sicherheit< Victor vom größten
Teil seiner persönlichen Eskorte zu trennen und auf
Murphrid einzuquartieren, im Nachbarsystem Thorins. Ein einzelnes
Bataillon der 23. Arkturusgarde war
seine Leibwache - und war vollauf damit beschäftigt,
ein ganzes Regiment von Katherines Loyalisten in die
Wildnis der Großen Tundra zu locken. Ein paar Sicherheitsleute und
Kau waren alles, was Victor wirklich
beschützte. Sich in voller Sicht verstecken, so hatte
Morgan Kell es genannt. Bis jetzt funktionierte es. Der
Bürgerkrieg hatte Murphrid kaum berührt, und fast
hätte man glauben können, die Kämpfe seien eine Erfindung der
Medien.
Fast.
Als Victor sich schließlich von der Bank stemmte, beendete Kai
seine Dehnübungen. Er stellte sich
Victor gegenüber und verbeugte sich, dann nahm er
Kampfhaltung an. Victor machte es ihm nach, ohne
den Blickkontakt auch nur einen Sekundenbruchteil
aufzugeben. Auf den zufälligen Beobachter hätte das
Paar einen unausgewogenen Eindruck gemacht, denn
Kai war acht Zentimeter größer als der eher kleinwüchsige Prinz.
Mit einem Nicken zeigte Victor, dass
er bereit war, und Kai griff an. Ohne Matten und
Schutzvorrichtungen beschränkte sich der Zweikampf
auf leichten Kontakt und beide verließen sich für die
Wertung auf das Ehrgefühl des Gegners. Der erste
halbe Punkt war eindeutig. Kai sprang geduckt vor,
täuschte einen Rückhand-Fausthieb auf Victors Kopf
an und erwischte ihn mit einem seitlichen Tritt an der
Hüfte.
»Du bist nicht bei der Sache«, bemerkte er und kehrte an den Ausgangspunkt zurück. »Meine Mutter könnte dich besiegen.« Wieder nickten sie einander zu. Diesmal griff Victor halbherzig an.
»Deine Mutter trainiert seit dreißig Jahren Tai Chi Chu'an«, erwiderte er und stolperte nach hinten, als Kais Fuß unmittelbar vor seinem Gesicht vorbeizuckte. Er gab seinem Freund den Punkt, dann trat er zurück, um sich wieder vorzubereiten. »Ich habe einfach viel um die Ohren.«
Diesmal versuchte Kai einen Schwinger, den Victor abfing. Er warf den Freund zur Seite. Sie drängten einander hin und her, über die Kreuzung. Kai hatte den Vorteil der größeren Reichweite, während Victor versuchte, ihn mit schnellen, kurzen Attacken zu überwältigen.
»In einer Woche kommt Isis«, erinnerte ihn Kai. »Vielleicht hat sie ein paar Neuigkeiten für dich.« Isis Marik war auf Luthien Omis Gast gewesen. Die Tochter vom Generalhauptmann der Liga Freier Welten, Thomas Marik, war wie Kai und Victor Mitglied des Hochadels der Inneren Sphäre und mit ihnen befreundet. Victor schüttelte den Kopf. »Sie sollte besser nicht hierher kommen.« Er hechtete vor und stoppte die Gerade, als sie Kais Brustkorb berührte.
Der trat einen Schritt zurück. »Warum nicht?
Wir können ihre Sicherheit gewährleisten.«
»Das ist es nicht.« Victor atmete tief ein und ließ die Luft in
einem langen Seufzer wieder entweichen. »Ich bin sicher, sie hat
Informationen über Omis Tod, Kai. Ich weiß nur nicht, ob ich schon
so weit bin, sie zu hören.«
»Hast du Cranston ... Cox, meine ich! ... deshalb nach Luthien
geschickt? Weil du nichts weiter davon
hören willst?«
Victor grinste, weil Kai über Galen Cox' Namen stolperte. Nachdem
er fast zu einem Opfer der Pläne Katherines geworden war, hatte
sein Adjutant sich über Jahre hinter einem falschen Namen
verstecken müssen. Erst auf der letzten Sternenbund-Konferenz
hatten sie die Tarnung aufgedeckt. Victor selbst verwechselte von
Zeit zu Zeit die Namen, so lange hatte er Galen als Jerrard
Cranston gekannt.
»Ich habe Galen nach Luthien geschickt, um bei den Nachforschungen
zu helfen. Damals glaubte ich, eine Erleuchtung zu haben, wo der
Attentäter sich verstecken könnte.« Victor erinnerte sich noch gut
daran, wie absolut sicher er sich plötzlich gewesen war, dass der
Attentäter auf Luthien untergetaucht war. »Ich habe mich wohl
schuldig gefühlt und wollte mir selbst beweisen, dass ich etwas
beitragen konnte. Irgendetwas.«
Kai hatte schon zum nächsten Angriff angesetzt, nun aber stockte
er. »Schuldig? Warum solltest du Schuldgefühle haben,
Victor?«
»Es ist derselbe Attentäter, Kai. Der, den meine Leute nach dem Tod
meiner Mutter auf Solaris VII gefangen hatten. Derselbe, den wir
eingesetzt haben, um an Ryan Steiner Vergeltung zu üben.
Unmittelbar danach ist er uns entkommen. Wir wissen, dass er in der
'57erOffensive im Widerstand auf Zürich aktiv war. Das ist der
Mann, der Omi auf Mogyorod angegriffen hat. Hätte ich es für
möglich gehalten, dass er jemals wieder nahe genug an Omi
herankommen könnte, um ihr ein Leid zu tun, ich hätte sie niemals
zur Sicherheit nach Tukayyid und weiter nach Hause
geschickt.«
»Tukayyid und Luthien sind zwei der sichersten Orte, die ich mir
für Omi vorstellen konnte. Was hättest du mehr tun
können?«
»Ich hätte den Hurensohn umbringen können, als ich die Gelegenheit
dazu hatte!« Victor ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. »Ich
hätte es tun können. Niemand hätte mich daran gehindert.«
»Glaubst du ernsthaft, das hätte Katherine aufhalten können?«,
fragte Kai leise. »Glaubst du wirklich, er wäre der einzige
käufliche Mörder, den es gibt?«
Victors Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war, und ließ eine
gähnende Leere zurück. »Ich weiß es nicht, Kai.« Selbst für seine
eigenen Ohren klangen die Worte unsicher, hohl. »Möglicherweise
hätte es nicht den geringsten Unterschied gemacht. Vielleicht würde
Omi auch heute noch leben. Ich weiß es nicht.« Er ging zum Rand der
Lichtung. Momentan war er nicht mehr in der Lage
weiterzukämpfen.
Kai schnappte sich Hemd und Trainingsjacke, warf sie sich über die
Schulter und schlug den Weg zurück zum Gutshaus ein. »Keiner von
uns weiß wirklich irgendetwas, Victor. Uns bleibt nur, irgendwie
damit fertig zu werden, was das Leben uns in den Weg stellt. Aus
persönlicher Erfahrung kann ich dir aber eines sagen: Wenn du dich
nicht gehörig vorsiehst, können dich diese Spekulationen, was hätte
sein können, umbringen. Wenn du es nicht schaffst, genügend Abstand
zu gewinnen, holen sie dich ein und werfen dich um. Und dagegen ist
ein Atlas ein
Fliegengewicht.«
Victor nickte. Das war eine ziemlich treffende Beschreibung seines
Gemütszustands. Am Boden. »Ich versuche, Abstand zu gewinnen, Kai.
Ich versuche es wirklich.« Er holte sich seine Jacke. »Ich weiß nur
nicht, wie. Noch nicht.«
Kai verschwand hinter dem von Weinreben überwucherten Spalier und
ließ Victor allein auf der Lichtung zurück.
»Das ist kein großes Geheimnis, Victor«, rief er gerade laut genug,
dass sein Freund ihn hörte. »Du machst einfach einen Schritt nach
dem anderen.«