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AVS-Wachturm, Avalon City, New Avalon
Gefechtsregion New Avalon,
Mark Crucis, Vereinigte Sonnen

21. Juli 3065

Bruchstücke mehrerer, gleichzeitig geführter Gespräche drangen durch den Türspalt aus dem abhörsicheren Raum und machten schnell respektvollem Schweigen Platz, als sich die Tür ganz öffnete. Obwohl ihr Champion und ihr Marshal of the Armies ihr vorausgingen, bemerkte Katrina Steiner-Davion, dass die zwölf übrigen Mitglieder des AVS-Oberkommandos erst Haltung annahmen, als sie den Besprechungsraum betrat. Sie hatten also gewusst, dass die Archon-Prinzessin sie heute besuchen würde. Sie warf schnell einen Blick zu Jackson Davion hinüber, der schon fast eine Anschuldigung enthielt, aber der Marshal war viel zu selbstzufrieden, um sich von einem so gedämpften Zeichen ihres Missfallens stören zu lassen. Wäre ihr Cousin nicht so knöchern ehrenhaft gewesen, hätte Katrina ihn möglicherweise als Bedrohung für ihre Herrschaft über die Vereinigten Sonnen betrachtet.

Jackson wartete unmittelbar neben dem Eingang. Nachdem sie eingetreten war, schloss er die Tür und schaltete den White-Noise-Generator ein. Katrina sammelte derweil Informationen über die restlichen Anwesenden, während sie zu ihrem Platz am vordersten der in Hufeisenform angeordneten Tische ging. Die schlanke Nadel des Wachturms war die Ecke des Militärs in ihrem Königlichen Hof auf New Avalon, und sie hatte die Kommandeure aller wichtigen militärischen Abteilungen der Armee der Vereinigten Sonnen hier zusammengerufen, ebenso wie Repräsentanten der drei für die Marken verantwortlichen Field Marshals. Diejenigen, die geradezu auf die Füße hechteten, merkte sie sich als unehrlich. Die meisten standen mit beiläufigem Respekt und stolzer Haltung auf. Das schien sicherer. Dann gab es noch zwei oder drei, die sich nur langsam und mit berechnetem Trotz erhoben. Eine davon war eine Generalin, die Duke James Sandoval vertrat, den Field Marshal der Mark Draconis, und Katrina stufte sie sofort als heimliche Anhängerin seines aufrührerischen Sohnes Tancred ein. Die Offizierin musste man im Auge behalten.

»Guten Tag«, begrüßte Katrina sie alle und nahm zwischen ihren beiden ranghöchsten Offizieren am mittleren Tisch des Stirnendes Platz.

Dies war eines der größeren Besprechungszimmer des Wachturms. Ein beeindruckender Flachbildschirm nahm eine ganze Wand ein, die drei anderen waren in hellgelbem Holz getäfelt. An den Seitenwänden ragten Fahnenstangen mit den Flaggen aller Distriktzentralwelten der Vereinigten Sonnen und Lyranischen Allianz auf. Neben dem Eingang hing ein Porträt Katrinas zwischen den Fahnen von New Avalon und Tharkad, den Zentralwelten der beiden Sternenreiche unter ihrer Herrschaft. Der Raum roch nach Zigarren und billigem Rasierwasser, ein Geruch, den Katrina trotz der Anwesenheit von vier Frauen im Oberkommando als absolut männlich empfand. Ein Grund unter vielen, warum sie dem Wachturm nur selten einen Besuch abstattete. Er war viel zu erfüllt von martialischer Präzision und berechnender Aggression, als dass sie sich hier hätte wohl fühlen können. Außerdem besaß sie als Archon-Prinzessin genug Sicherheitsberater, Geheimdienstadjutanten und Generäle, die ihr im Prinzenpalais regelmäßig Bericht erstatteten.

Sie nickte, und alle Anwesenden setzten sich mit eingeübt wirkender Präzision. Da sie einen Großteil des Tages in der Gesellschaft uniformierter Offiziere zubringen musste, hatte Katrina sich heute für einen schlichten Hosenanzug von paramilitärischem Schnitt entschieden. Er war elfenbeinweiß mit goldenen Knöpfen und einem Gürtel derselben Farbe. Die zweireihige Jacke ähnelte einer Fechtjacke, und der knielange Rock schmeichelte ihrer schlanken Figur. Sie trug Handschuhe - für eine gewisse weiche Note -, hatte das goldene Haar jedoch zu einem strengen Zopf zurückgebunden, wie er bei Karriereoffizierinnen beliebt war.

Streng, aber nicht herrisch.
»Heute«, rief Katrina den Raum zur Ruhe, »heute Morgen, um genau zu sein, erschien der New Avalon Daily mit einer Schlagzeile, die man mit Sicherheit auf anderen Welten aufgreifen wird: >Wo ist Victor?< Das ist eine Frage, die ich mir seit einigen Monaten selbst stelle, nämlich seit Generalleutnant McDonald meinen Bruder gezwungen hat, Tikonov aufzugeben und sich wieder in die Lyranische Allianz zurückzuziehen.«
Auf halber Höhe der linken Tischreihe beugte sich Field Marshal Stephanie Day vor, die Kommandeurin des Militärischen Informationsdienstes. »Hoheit, der MI arbeitet daran, aber zur Zeit ist dies eine Frage von geringerer Wichtigkeit.«
Katrina legte die Hände flach auf die Tischplatte. Ihre elfenbeinfarbenen Handschuhe schienen über dem dunklen Walnussholz zu schweben. »Würden Sie das bitte erläutern?«
»Auf über vierzig Welten toben Kämpfe, auf hundert weiteren herrschen Spannungen, die jederzeit zu Kampfhandlungen eskalieren können. Seit dem Vierten Nachfolgekrieg war der MI nicht mehr so überlastet. Euer Geheimdienstministerium arbeitet mit uns zusammen, wie schon damals, und hat sich bereit erklärt, die Hauptlast der Suche nach Eurem Bruder zu übernehmen, da er er derzeit ... nicht an den Kämpfen teilnimmt.«
Days Pause sprach Bände, zumindest für Katrina. Das Attentat auf Omi Kurita war kurz nach ihrer erfreulichen Gelegenheit, Victor von dieser Tatsache zu informieren, Allgemeinwissen geworden. Niemand hatte irgendeinen Zweifel daran, dass die Nachricht vom Ende seiner >Lotusblume< ihren Bruder schwer getroffen hatte. Sämtliche Berichte lauteten in diesem Punkt praktisch gleich.
»Er hört nicht auf, ein Volksfeind zu sein, nur weil er nicht in einem BattleMech sitzt und kämpft.«
Jackson Davion nahm den Fehdehandschuh auf, wie Katrina es erwartet hatte. »Hoheit, dieser Bürgerkrieg ist mehr als ein persönlicher Zwist zwischen Euch und Eurem Bruder.« Er gehörte zu den wenigen Menschen, denen sie gestattete, ihr vor anderen so offen zu widersprechen. Dies war seine Art, und sie brauchte ihn mehr, als seine Widerborstigkeit sie störte. Er war nicht nur ihr Marshal of the Armies, sondern auch ein Davion - und besaß somit eine gewisse Ausstrahlung. Mit dem rötlichweißen Haar und den tiefblauen Augen, die Katrina und ohne Zweifel auch alle anderen - unwillkürlich an ihren Vater erinnerten, konnte Jacksons Unterstützung ihre Legitimität nur unterstreichen. »Falls ihr Euch erinnert, begann er ohne irgendwelche Hilfe seinerseits. Ein Dutzend Systeme standen in offener Rebellion, bevor Victor öffentlich zum Widerstand gegen Euch aufrief. Er war zu diesem Zeitpunkt noch bei ComStar.«
Sie nickte. »Als Präzentor Martialum.« Selbst im Exil war Victor nicht in der Lage gewesen, das Kriegshandwerk aufzugeben. Hätte er sich nur herausgehalten, wären diese Revolten sicher kurzlebig gewesen und hätten sich nie zu einem richtigen Bürgerkrieg aufgebaut. Davon war sie überzeugt. »Wollen Sie damit etwa sagen, es wäre nicht mein Bruder, der den Widerstand gegen mich anführt?«
Simon Gallagher, ihr Champion, warf die Brille mit den quadratisch eingefassten Gläsern vor sich auf den Tisch und strich die Haarsträhnen glatt, die er über die deutlich sichtbare Glatze kämmte. »Am leichtesten wird man als Anführer akzeptiert, wenn man erkennt, in welche Richtung der Mob marschiert und sich an die Spitze setzt.« Was seinen eigenen Aufstieg innerhalb der AVS ziemlich genau beschrieb. »Euer Bruder mag den Anschein des Anführers erwecken, doch auch ohne ihn würden wir in gut fünfzig Systemen kämpfen.«
»Aber wie viele dieser Kämpfe sind wirklich wichtig?«, fragte Katrina. Sie sah Jackson die Stirn runzeln und kannte seine Antwort, bevor er den Mund öffnete.
»Jeder Widerstand gegen Eure rechtmäßige Regierung ist wichtig, Hoheit, ich verstehe aber, was Ihr meint.« Er hob einen kleinen Griffel und tippte auf die Ecke des Glaseinsatzes in der Tischplatte. Der Sensorschirm leuchtete auf und präsentierte ein Optionenmenü, aus dem Jackson mit ein paar schnellen Bewegungen eine einfache Karte der Inneren Sphäre auswählte, die auf dem Wandbildschirm sichtbar wurde. Die Reiche der Häuser Kurita, Marik und Liao waren ebenso wie die von den Clans besetzten Gebiete als einfarbige Blöcke dargestellt, die sich als Rahmen um die beiden Hälften des Vereinigten Commonwealth legten, das durch die Heirat von Katrinas Eltern geschaffene Großreich. Es erstreckte sich quer über die Innere Sphäre wie eine Sanduhr in Schräglage. Die Lyranische Allianz war das obere Glas, die Vereinigten Sonnen das untere. Zwischen ihnen lag ein kurzes Stück neutraler Systeme, der so genannte Terranische Korridor.
Die Karte hielt zwar keinem Vergleich zu einer Hologrammkarte stand, allein schon durch die rein zweidimensionale Darstellung, doch für die Zwecke der hier Anwesenden genügte sie. Jackson lud die neuesten Daten herunter und die Lichtpunkte der verschiedenen Systeme leuchteten in unterschiedlichen Farben auf. So konnte man den Stand des Bürgerkriegs mit einem Blick erfassen. Die Victor unterstützenden Systeme glänzten gelb, die Katrinas in ruhigem Blau. Rot markierte Welten, auf denen gekämpft wurde oder zumindest schwere politische Unruhe herrschte. Jackson Davion nickte ihr zu. »Die Bürgerkriegssituation stellt sich so dar, Hoheit, dass Ihr als Archon-Prinzessin derzeit mehr Welten kontrolliert als Euer Bruder. Es befinden sich jedoch noch mehr Systeme im Aufstand, als Ihr oder er direkt kontrolliert, und viele dieser Welten haben eine beträchtliche Bedeutung für den Bürgerkrieg. Eine dieser Welten ist Kathil mit seinen Raumwerften, und bis jetzt habt sowohl Ihr als auch Victor einige Regimenter bei dem Versuch verheizt, sie zu halten.«
Katrina wollte nicht an Kathil erinnert werden. Der Planet war ein riesiger Fleischwolf, der jede Einheit zerfetzte, die sie oder Victor einsetzten. Dasselbe galt für Tikonov, zumindest bis jetzt, und für Dalkeith in der Lyranischen Allianz. »Aber es muss hundert Welten geben«, wandte sie ein, »die keine direkte Auswirkung auf den Bürgerkrieg haben.«
»Definiert >direkte Auswirkung<, Hoheit«, antwortete Jackson. »Politische Unterstützung, Truppen, Material ... jede Welt hat Teil am Bürgerkrieg und irgendetwas anzubieten.« Er zeichnete mit dem Griffel einen Pfeil auf die Karte. Er setzte weit entfernt auf Mogyorod an, am äußeren Rand der Lyranischen Allianz, zog von dort erst kurz aufwärts nach Newtown Square und dann in einer weiten Querbewegung nach Winter. »Das war Victors Kurs in der Anfangsphase der Kämpfe. Von Mogyorod aus hat er auf Newtown Square die 39. Avalon-Husaren abgeholt und danach auf Winter die 7. Crucis-Lanciers auf seine Seite geholt.« Jackson zeichnete weiter Pfeile, während er sprach. Einer davon drang bis fast ins Zentrum der Allianz vor. »Von hier aus hat sich seine Streitmacht aufgeteilt. Die Lanciers sicherten die nahen Fabriken auf Inarcs, während Victor sich schließlich nach Coventry vorarbeitete. Ein wichtiges Produktionszentrum, auf dem er sich Truppen und Material beschaffte.«
Von Coventry aus zeichnete er einen neuen Pfeil, der zunächst nach Alarion führte und dann aus der Lyranischen Allianz in die Vereinigten Sonnen und nach Tikonov ragte. »Das war die dritte Angriffswelle, in der Victor mindestens zwei weitere Regimenter - von denen wir wissen - auf ihren Garnisonswelten unter seine Fahne geholt hat. Auf Tikonov haben wir seinen Vormarsch gestoppt, und am Ende der vierten Welle ist er aus den Vereinigten Sonnen geflohen, um seine Kräfte neu zu gruppieren. Damals nahmen wir an, er befände sich auf Thorin.« Während er sprach, kehrte Jackson die Richtung des Pfeils durch den Terranischen Korridor wieder um, bis er zwischen den beiden gelben Welten Thorin und Murphrid endete. »Warum Thorin?«, fragte Field Marshal Angela Kouranth. Als Chefin der Abteilung für Militärerziehung war sie in strategischer Planung nicht so firm. »Er hätte auch einfach seitwärts nach Algol ausweichen und in den Vereinigten Sonnen bleiben können.«
Simon Gallagher, allzeit bemüht, sich von Jackson Davion nicht ausstechen zu lassen, übernahm die Antwort. »Die Bevölkerung Thorins und Murphrids im Nachbarsystem steht fest hinter Victor. Außerdem hat er sein Logistiknetz über diese beiden Systeme organisiert.« Gallaghers Hauptanspruch auf militärischen Ruhm beruhte auf seiner Erfahrung im Nachschubwesen. »Und mit der Provinz Skye im Rücken«, fügte er mit einem zögernden Blick auf Katrina hinzu, »hatte Victor einen Schutz gegen größere Offensiven unsererseits. Zumindest bis vor kurzem.«
Katrina nickte zur Bestätigung des versteckten Hinweises auf die jüngste Revolte der Bewegung Freies Skye. »Skye war bereits zur Regierungszeit meiner Mutter eine tickende Zeitbombe. Wir haben schon '56 nur knapp eine Rebellion verhindern können.« Mit wir meinte sie in diesem Fall Victor, doch sie weigerte sich, ihren Bruder als ehemaligen Herrscher des Vereinigten Commonwealth anzuerkennen, bevor es wieder in die Lyranische Allianz und die Vereinigten Sonnen zerfallen war. »Es hat des mysteriösen Todes von Ryan Steiner bedurft, die damaligen Unruhen zu beenden, dann ist jedoch sein Sohn Robert in die Fußstapfen des Vaters getreten. Roberts Eskapaden haben uns viel zu lange daran gehindert, größere Truppenverbände durch Skye zu bewegen.« Natürlich bedeutete der Sieg über die Rebellen auf Hesperus II - drei Tage zuvor - , dass Katrina beinahe in der Lage war, weitere Drohungen aus dieser Richtung zu ignorieren. Und der Preis ...
Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Wer hätte gedacht, dass die Gray Death Legion so schnell untergeht? Aber zumindest hat sie das System gehalten und Roberts Kräfte entscheidend geschwächt, bevor sie zerbrach. Was nur noch einen wunden Punkt übrig lässt.«
»New Syrtis«, kam Gallagher Jackson Davion erneut zuvor. »Ihr glaubt immer noch, Duke George Hasek wird sich auf Victors Seite schlagen?«
Katrina verschränkte die Finger und legte die Hände vor sich auf den Tisch. Ihre eisblauen Augen suchten und fanden die von General Franklin Harris, des Analytikers, der in ihrem Auftrag alle Aktionen des capellanischen Markherzogs überwachte. Er nickte als stumme Antwort auf ihre Frage. »Nein. Er wird sich aber weiter weigern, mich zu unterstützen, was auf dasselbe hinausläuft, Simon. Duke Hasek hat deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass er mich nicht länger als Souveränin seines Volkes betrachtet.« Die Erinnerung an Haseks unverschämten Auftritt auf der Sternenbundkonferenz im Jahr zuvor wurmte sie noch immer. »Er ist Nummer Zwei auf meiner Liste, gleich hinter Victor. Was mich zu meiner anfänglichen Frage zurückbringt: Wo ist Victor?«
»Auf Thorin, scheint es«, erklärte Gallagher.
»So scheint es.« Katrina spießte ihren Champion mit einem Blick auf, der eine vorschnelle Antwort erstickte. »Aber Jackson ist nicht mehr dieser Ansicht.« Sie nickte einmal königlich. »Herein mit ihm«, befahl sie, und Jackson gab über eine nahe Signalanlage ein Zeichen ins Nebenzimmer.
Hinter der Fahne Woodbines öffnete sich eine Geheimtür, und ein älterer Mann betrat das Besprechungszimmer. Er bewegte sich ohne fremde Hilfe, aber mit der Vorsicht eines alten Menschen an die Stirnseite des Raumes, wo er neben Jackson Davion stehen blieb. Das weiße Haar war seit dem letzten Besuch auf New Avalon dünner geworden, doch die blauen Augen glänzten so diamanten wie immer. Er verneigte sich respektvoll vor Katrina und nickte den wenigen anderen im Raum zu, auf deren Gesichtern sich Erkennen spiegelte.
»Für diejenigen von Ihnen, die ihm nie begegnet sind«, stellte Katrina ihn vor, »das ist Quintus Allard. Er war der Geheimdienstminister meines Vaters und hat an einigen unserer größten Erfolge im Vierten Nachfolgekrieg mitgewirkt, bevor er seinem Sohn den Posten übergab. Ich habe Quintus eigens für diese Frage gebeten, seinen Ruhestand zu unterbrechen.« Sie lächelte. »Willkommen daheim, Quintus.«
Er lächelte onkelhaft zurück. »Danke, Katherine. Die Einladung ließ sich kaum abschlagen.«
Sie hielt ihre Gefühle im Zaum und verzichtete auf eine sofortige Entgegnung. Quintus' Aussagen waren meistens mehrdeutig, aber das war nur eines der Probleme, die Katrina in der Gesellschaft des alten Mannes hatte. Noch ärgerlicher war sein stures Beharren auf ihrem Geburtsnamen. Die Änderung zu Katrina, dem Namen ihrer Großmutter, einem der stärksten Archonten, die je über das Lyranische Commonwealth geherrscht hatten, war ihr eine große Hilfe beim Aufbau ihrer frühen Machtbasis gewesen. Quintus' Weigerung, sie Katrina zu nennen, ließ sich als alte Angewohnheit eines Freundes der Familie erklären. Auch wenn sie an dieser Erklärung zweifelte. Katrina sah sich gezwungen, die familiäre Zuneigung zu dem alten Geheimdienstler gegen den Verdacht abzuwägen, dass er heimlich ihre Autorität untergrub - wo immer er konnte.
»Du hast eigene Ansichten über den Aufenthaltsort meines Bruders?«
Quintus nickte. »Victor Steiner-Davion ist nicht auf Thorin.« Seine Stimme klang papierdünn, doch sein Tonfall ließ keinen Zweifel zu.
Field Marshal Day fletschte wütend die Zähne. Trotz ihrer Behauptung von der Zusammenarbeit mit dem MGUO war sich Katrina der jahrhundertealten Rivalität zwischen dem zivilen und militärischen Geheimdienst bewusst. »Wie können Sie da so sicher sein?«, fragte Day.
»So dumm ist Morgan Kell nicht«, erwiderte er. Erzherzog Kell vom Arc-Royal-Defensivkordon war vermutlich Victors wichtigste Stütze in der Lyranischen Allianz. »Des Prinzen Mannen, Tiaret Nevversan, die Auslandslegion ... alle wurden auf Thorin gesichtet. Es gibt zu viele Hinweise auf diese Welt.«
»Möglicherweise will Kell, dass Sie genau das denken.«
Quintus zuckte die Achseln. »In diesem Fall würde ich erwarten, dass er noch offensichtlicher vorginge. Morgan Kell ist ein guter Kommandeur und Menschenführer, aber er ist kein ausgebildeter Geheimdienstler. Diese Form der Subtilität ist ihm fremd.« Katrina unterbrach den sich anbahnenden Streit, bevor er ausuferte. Außerdem konnte sie darauf verzichten, dass Quintus Morgan Keils Qualitäten pries. »Und wo ist Victor dann?«
»Ich zögere, Vermutungen zu äußern, Hoheit.« »Dann zögere nicht länger. Ich habe dich extra hierher kommen lassen, damit du sie äußerst.«
Er zuckte nicht mit der Wimper. »Die offensichtlichen Alternativen sind Murphrid, Arc-Royal und Alarion. Murphrid als Nachbarsystem Thorins, Arc-Royal, weil Morgan Kell den Planeten mit den meisten Truppen beschützen kann. Alarion aus demselben Grund unter Verwendung der zu Victor stehenden Einheiten. Da sie alle drei offensichtlich sind, bezweifle ich, dass irgendjemand in der Lage wäre, eine begründete Wahl zwischen ihnen zu treffen.«
»Und was die nicht offensichtlichen Welten betrifft«, fragte Katrina, »könnten wir ebenso gut blind einen Pfeil auf die Karte werfen?«
»Bei allen bis auf eine«, stellte Allard fest. Seine Stimme war leise und vermutend. »Es gibt eine Welt, die beinahe zu leicht auszuschließen ist.«
»New Avalon?«, warf Stephanie Day in übertrieben ernstem Ton ein, der den alten Analytiker verspottete.
Quintus überging die Beleidigung und schüttelte den Kopf. »Tikonov. Woher wissen wir, dass Victor tatsächlich abgereist ist?«
Eine interessante Theorie, fand Katrina. Das tiefe Stirnrunzeln bei der Hälfte ihres Oberkommandos zeigte, dass Quintus den Offizieren gerade einiges zu denken gegeben hatte, was eine Entscheidung weiter hinauszögerte. Allmählich kam sie zu dem Schluss, der alte Mann würde zwar genug beitragen, um zu beweisen, dass er keine Bedrohung darstellte, aber nicht genug, um ihr wirklich nützlich zu sein.
Sie nickte. »Danke, Quintus. Wir wissen deine Ansichten zu schätzen.«
»Meine Familie war Haus Davion immer zu Diensten«, stellte er mit einer weiteren Verbeugung fest. Dann zog er sich mit derselben betont vorsichtigen Bewegungsweise zurück, mit der er den Raum betreten hatte.
Katrina wartete, bis sich die schwere Tür hinter ihm geschlossen hatte. »So, und wie viel von dem, was er sagt, glauben wir?« Sie achtete darauf, in ihrer Stimme keinen Verfolgungswahn mitschwingen zu lassen, nur die gebotene Vorsicht vor nicht verifizierten Informationen.
Jackson Davion tippte mit dem Griffel auf das dunkle Holz der Tischplatte. »Euer Vater vertraute Quintus bedingungslos. Gibt es irgendeinen Grund für uns, das nicht zu tun?«
»Der Mann hat das Misstrauen mit der Muttermilch eingesogen und kann in der Zeit drei Lügen erfinden, in der andere einmal einatmen«, schnappte Katrina.
»Warum habt Ihr ihn dann überhaupt hergeholt?«, wollte Field Marshal Kouranth wissen.
»Weil ich Quintus Allard da haben will, wo ich ihn im Auge behalten kann. Seine Familie könnte uns zu viele Probleme bereiten, aber sie wird es sich zweimal überlegen, solange er sich auf New Avalon befindet.«
Das ließ Jackson Davion überrascht zusammenzucken, doch Katrina schenkte dem keine Beachtung. Sie stand auf, stemmte die Arme auf den Tisch und sah sich unter ihren Stabsoffizieren um. Zufällig was sonst endete ihr Blick bei General Tahmezed aus der Mark Draconis. »Es wird Zeit, diejenigen in den Griff zu bekommen, die meinen Bruder unterstützen könnten.« Sie schaute General Harris an. »Oder die, die sich zum eigenen Nutzen gegen mich wenden könnten.«
»Sind wir wieder bei New Syrtis?«, fragte Jackson und kam mit leicht verärgerter Stimme Gallagher zuvor.
»Sie haben den größten Teil der letzten Woche damit zugebracht, mir zu erklären, wie Victor neutralisiert worden ist, Jackson. Sehen Sie die Lage immer noch so?« Katrina war klar, dass jeder hier im Raum seine eigenen Ziele verfolgte. Sie selbst auch. Indem sie Jacksons Neigung zu Analyse und Kompromiss ansprach, hatte sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollte. Zur Antwort nickte er, wenn auch zögernd.
»Dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich drängenderen Problemen zuzuwenden. Ja, Quintus ist eine Geisel, die zur Sicherstellung des Wohlverhaltens seiner Familie dient. Das braucht Ihnen nicht zu gefallen, doch Sie wissen selbst, dass es notwendig ist. Seine Familie könnte sich hinter Victor oder George Hasek stellen. Beides wäre unannehmbar.«
Jackson beugte sich vor. »Ihr wollt also eine Konfrontation mit den Allards wie auch den Haseks?«
»Die Allards sind kaltgestellt«, erklärte sie. »Und George Hasek hat mir die Konfrontation aufgezwungen. Glücklicherweise verfügen wir über einen ausgearbeiteten militärischen Plan für die Befriedung der Mark Capeila. Ist er ausgereift?«
Er nickte steif. »Er ist seit Monaten ausgereift. Allerdings beruht er auf der Annahme, dass Hasek mindestens eines seiner Regimenter auf New Syrtis zu einem Angriff auf Euch benutzt.«
»Dann locken wir eine Einheit fort.«
»Oder holen sie auf unsere Seite«, warf Gallagher wie aufs Stichwort ein und sicherte sich augenblicklich die Aufmerksamkeit aller Offiziere im Raum. Er lächelte dünn. »Die Vanguard Legion auf New Syrtis ist ein Söldnerregiment unter dem Befehl von Duke Hasek, aber unter Kontrakt mit der AVS. Die Einheit ist traditionell steinerfeindlich, doch sie hat einen neuen Kommandeur. Ich würde sagen, der Zeitpunkt ist perfekt, seine Loyalitäten auf die Probe zu stellen.«
»Dann kaufen wir sie«, nickte Field Marshal Carlos Post von der Abteilung Söldnerbeziehungen langsam. »Wir können ein paar sehr ... zuvorkommende ... Bedingungen in den Kontrakt aufnehmen. Falls Colonel Dean mit sich reden lässt.«
Gallagher stand auf. »Darum kümmere ich mich, Hoheit. Ich habe noch keinen Söldner getroffen, der für Mechersatzteile nicht bereit gewesen wäre, den eigenen Bruder zu verkaufen.«
»Ich schon«, antwortete Katrina, und dachte dabei vor allem an Morgan Kell. Außerdem sah sie keinen Grund, Gallagher zu deutlich zuzustimmen.
»Ja, wir werden ihnen neue Bauteile und Vorräte anbieten«, sprach er weiter. »Und neue Mechs, einen angenehmen Dienst, doppelte Gefechtszulage - was immer nötig ist, um uns den Schlüssel zu New Syrtis zu erkaufen. Ich sorge dafür, Hoheit.«
Katrina sah von Jackson Davion, dem diese Strategie sichtlich missfiel, zu Simon Gallagher, der Feuer und Flamme dafür war. Aus genau diesem Grund hatte sie Simon zu ihrem Champion ernannt. Als diplomatische Möglichkeit, Jackson zu umgehen, wenn es nötig wurde.
»Kümmern Sie sich darum, Simon. Bringen Sie mir George Hasek. Das gibt Jackson die Freiheit, meinen Bruder zu besiegen und diesen Bürgerkrieg endlich zu beenden.« Katrina lächelte still. Jeder sollte so eingesetzt werden, wie es seinen Stärken entsprach. Genau so hatte sie es von Anfang an geplant.
Sie setzte sich wieder hin, lehnte sich zurück und schaute ihren Offiziersstab an. »Was steht sonst noch an?«

Ich entsinne mich nicht allzu genau an die Schlachten auf Murphrid oder irgendwo sonst während der Zeit meines inneren Exils. Ich habe die Berichte gelesen und erinnere mich auch, über Morgan Antworten abgeschickt zu haben, aber ich weiß keine Einzelheiten mehr. Ich bin nicht sicher, ob ich das als Folge des Schocks oder als Erfolg werten soll.

- Aus Ursache und Wirkung, Avalon Press. New Avalon, 3067

 

Hawkinsgut, Murphrid
Freedom-Theater, Lyranische Allianz

 

28. Juli 3065

Unter starkem Seitenstechen und mit vor Anstrengung heftig protestierenden Beinen mühte sich Victor Steiner-Davion ab, einen gleichmäßigen Rhythmus beizubehalten, als der Winzerpfad eine sanfte Böschung hinaufführte. Er atmete im Rhythmus der Laufschritte und sog literweise süße Morgenluft an den unsichtbaren Stahlringen vorbei, die seine Brust einschnürten. Lose Reben peitschten ihm gegen die bloßen Arme, wenn er vom Pfad abwich, aber weit ging das ohnehin nicht. Wie die Wände eines Labyrinths schlössen ihn die hohen, von Wein überwucherten Spaliere ein.

Es war natürlich ein recht einfaches Labyrinth. Die Weinberge des Hawkinsguts, des größten Winzerguts auf Murphrid, erstreckten sich über einige Dutzend Quadratkilometer, aber die Reben wuchsen auf Stahlgittern, die in langen, parallelen Reihen angeordnet waren. Victor konnte eine Reihe hinauf und dann die nächste hinab laufen. Kein sehr abwechslungsreicher Weg, doch er suchte auch nicht nach Herausforderungen. Genau genommen suchte er nach gar nichts. Er »ersuchte nur, mit Kai mitzuhalten.

Kai Allard-Liao, Victors langjähriger Freund und Thronerbe der Kommunalität St.Ives, lief in der benachbarten Zeile gleichauf mit dem Prinzen und nickte ihm bei jeder Lücke im Spaliersystem aufmunternd zu. Auf dem Rest der Strecke war von Kai wenig mehr als ein Aufblitzen des Trainingsanzugs in Elfenbein und Gold zwischen den von der Lese ausgedünnten Reben zu sehen. Die morgendlichen Läufe waren Kais Idee gewesen, um Victor wieder in Form zu bringen. Die Weinberge waren ein ausgezeichneter Ort dafür. Nach der Abreise der Erntehelfer bestand kaum Bedarf für Schutzvorkehrungen. Die vom Wein überwachsenen Spaliere waren hoch genug, beide Läufer zu verbergen, und ein paar an den Eingängen postierte Sicherheitsleute garantierten ihre Privatsphäre.

Victor strengte sich an, die Schritte zu verlängern und einen langen, gleitenden Laufstil zu erreichen, der Boden verschlang. Allmählich erinnerte sich sein Körper: die Füße flach überm Boden lassen und leicht auf der Ferse aufsetzen, um den Schwung zu halten. Die Arme locker. Kein Grund, mit übertriebenem Pumpen oder verkrampft geballten Fäusten unnötig Energie zu verschwenden. Linker Fuß, rechter Fuß, ein Schritt folgt auf den nächsten. Er brauchte nicht über die Bewegungen nachzudenken, tat es aber trotzdem. Es war besser als die Alternative: an etwas anderes zu denken.

Das Laufen schien sicherer. Laufen war weiter nichts als Technik und Ausdauer. Es hatte keine politischen Konsequenzen, wenn er den Weg nicht einhielt. Kein Leben hing davon ab, dass er einem knappen Zeitplan entsprach. Es gab keine Logistikprobleme über Munition und Panzerung oder Transportmöglichkeiten für ein Infanterieregiment. Dachte er an den Bürgerkrieg, musste er sich dem Problem stellen, dass auf Thorin und einem Dutzend anderer Welten der Lyranischen Allianz und Vereinigten Sonnen seine Truppen schachmatt gesetzt waren. Er müsste sich an Tikonov erinnern, seine erzwungene Abreise und, schlimmer noch, den Grund dafür. Er müsste sich an Katherines oh so unschuldige Miene erinnern, als sie ihm ihr Bedauern über Omis Tod ausgesprochen hatte ...

Er stolperte und schlug fast lang hin. Ein paar Sekunden fiel er mehr als er lief, dann fand er sein Gleichgewicht wieder.

»Alles in ... Ordnung da ... drüben?«, fragte Kai im

Rhythmus seines gleichmäßigen Atems.
»Bestens.« Völlig außer Form hatte Victor Mühe, un
ter den heftigen Seitenstichen wieder gleichmäßig voranzukommen. Omi ... »Einfach großartig«, murmelte
er mehr bei sich.
»Gut«, antwortete Kai. Durch eine Lücke im Spalier
sah er zu Victor hinüber. »Wer zuerst ... am Ziel ist.« Beinahe hätte Victor die Herausforderung nicht angenommen. Kai würde ihn locker besiegen. Er war
besser in Form und hatte die längeren Beine. Doch der
gleichmäßige Trott verführte zu unerwünschten Gedanken, unerwünschten Erinnerungern. Er entschied
sich für das Wettrennen, mobilisierte seine Reserven
und konzentierte sich auf die nächste Lücke, an der
sich mehrere Wege zu einer Lichtung anboten. Sie
schien sehr weit entfernt. Jetzt pumpte Victor heftig
mit den Armen und trieb sich an. Sein Atem ging flach
und schnell, als er den Hang hinaufrannte. Er konnte
Kai zwischen den Spalierstäben nicht sehen. Er musste
wohl schon weit voraus sein. Es machte Victor nichts
aus, zu verlieren, doch tief in ihm glühte Widerstand
auf - gegen den Gedanken, einen Wettkampf zu verlieren, ohne sein Bestes gegeben zu haben.
Er lief schneller.
Die Lichtung war ein kleiner freier Bereich, der bei
Murphrids Frühlese als Arbeitszentrum gedient hatte.
Hierhin hatten die Erntehelfer die Trauben gebracht,
bevor die auf Paletten gestapelten Kiepen von einem
kleinen Gabelstapler zum Weingut gebracht wurden.
Dort stand eine Holzbank für Ruhepausen und ein mit
dem Bewässerungssystem verbundenes Standrohr endete in einem Trinkwasserhahn. Victor spurtete auf die
Lichtung und bremste stolpernd ab. Sein Schwung
trug ihn über den freien Bereich in den nächsten Spalierweg. Mit rudernden Armen kam er zum Stehen. Er
ging zurück und sah Kai, der gerade in lockerem Lauf
ankam.
»Du ... bist ... gar nicht... gelaufen«, keuchte Victor
und stützte sich mit beiden Händen auf den Knien ab. Kai grinste, und seine asiatischen Gesichtszüge wirkten für einen Moment beinahe teuflisch. »Sieht aus, als
hättest du gewonnen«, stellte er mit weit leichterer Atmung als sein Freund fest. Er schlenderte ein paar Mal
um die Lichtung, um sich abzukühlen.
Victor ließ sich hart auf die Bank fallen. »Gemein,
Kai. Das war wirklich gemein.«
Er sog in langen Zügen die Luft ein, um das Brennen in der Brust zu lindern, und hielt sich mit einer
Hand die Seite. Die Luft hier schmeckte nach warmen
Weintrauben, unter den Füßen der Erntearbeiter sah
man zerquetschte Früchte, die in der Sonne liegen geblieben waren. Der harte Boden war von einem rotvioletten Fleckenmuster bedeckt. Ein paar spätherbstliche
Wespen summten auf der Suche nach Nahrung vorbei. Kai blieb stehen, zuckte mit den Schultern und begann mit Dehnübungen. »Du hast dich heute gut gehalten, soweit ich das sehen konnte.« Wenn auch sicherlich nicht, soweit er gehört hatte. »Wir dürften
etwa drei Kilometer gelaufen sein.«
»So schwer ist das nicht«, stellte Victor fest, der endlieh wieder bei Atem war. »Man braucht nur einen Fuß vor den anderen zu setzen.«
Sein Freund nickte. Durch das Laufen war Kais Haut noch etwas dunkler als sonst und hob sich deutlich von dem fast weißen Trainingsanzug ab. Er hatte die grauen Mandelaugen seiner Mutter geerbt, aber die schlaksige Statur und das lockere Lächeln waren ein unübersehbares Vermächtnis seines Vaters. Victor erinnerte sich an Justin Allard. Ein entschiedener, jedoch freundlicher Mann voller Hingabe für seine Nation und Familie.
»Vermisst du deinen Vater?«, fragte er plötzlich.
Kai blinzelte überrascht. »Was ist denn das für eine Frage?« Er nickte trotzdem. »Jeden Tag«, gab er zu. »An manchen Tagen mehr als an anderen.« Victor wäre damit zufrieden gewesen, aber Kai sprach weiter. »Du denkst an Omi, nicht wahr?« Die Worte kamen zögernd, sanft. »Ich habe meinen Vater sehr geliebt, doch ich glaube, zwischen einem Mann und einer Frau ist das etwas anderes.«
»Omi und ich haben kaum Zeit miteinander verbracht«, antwortete Victor, zog die dünne Jacke aus und warf sie neben sich.
»Das spielt keine Rolle.« Kai machte den Oberkörper frei und bereitete sich mit ein paar letzten Dehnungen auf den Sparringskampf vor. »Omi Kurita war das Beste, was dir je passiert ist, und erzähl mir nicht, ihr zwei hättet nie über eine gemeinsame Zukunft gesprochen. So leichthin investiert man solche Gefühle nicht in jemanden.«
Wohl wahr. Victor schnitt eine Grimasse, als die Wunde wieder aufriss und frischer Schmerz in ihm aufwallte. Er und Omi hatten sich auf Outreach kennen gelernt, während die Innere Sphäre versucht hatte, eine Verteidigungsstrategie gegen die Clan-Invasion zu finden. Vom ersten Augenblick an hatte er eine enorme Anziehung gespürt, doch ihrer beider Herkunft hatte die Beziehung extrem belastet. Ein SteinerDavion und eine Kurita? Freundschaft war schon problematisch genug, weil sich beide Familien entschieden gegen eine Annäherung zwischen den beiden jungen Menschen aussprachen. Dass sie es geschafft hatten, trotz aller Opposition ihre Freundschaft zu etwas zu entwickeln, das über diesen Begriff weit hinausging, hatten sie beide als Beweis dafür betrachtet, dass sie eine Zukunft hatten. Und die hatten sie wirklich gehabt, bis ein Attentäter ihm Omis Hand für immer
geraubt hatte.
Natürlich steckte Katherine dahinter, und es war
nicht das erste Mal, dass sie sich für ihre Zwecke eines
Meuchelmörders bedient hatte. Zum ersten Mal - so
weit Victor davon wusste - war das geschehen, als sie
seine und ihre Mutter hatte umbringen lassen. Möglicherweise hatte sie sogar denselben Mann eingesetzt,
um ihren Bruder Arthur aus dem Weg zu räumen. Allerdings gestand Victor sich ein, dass zumindest dies
reine Spekulation war. Aber durchaus denkbar. Arthur
war viel zu beliebt geworden, um Katherines Eifersucht zu entgehen.
Und Omi? Omis Tod war nichts weiter als kleinliche
Rache. Eine Möglichkeit, Victor schlimmer zu treffen
als irgendwie sonst. Theodore Kurita, Omis Vater und
der Koordinator des Draconis-Kombinats, hatte die
Nachricht ein halbes Jahr geheim gehalten. Doch Katherine hatte davon gewusst. Sie hatte die Information
für sich behalten und ihr Wissen ohne Zweifel genossen, bis sie den größtmöglichen Schaden damit anrichten konnte. All das war Victor bewusst, aber das änderte nichts an der Wirkung. Omis Tod hatte ihn
so schwer getroffen, dass seine Offiziere auf Tikonov
schließlich gezwungen gewesen waren, einzuschreiten
und ihn in Sicherheit zu schaffen.
Dabei bedeutete >in Sicherheit< Victor vom größten
Teil seiner persönlichen Eskorte zu trennen und auf
Murphrid einzuquartieren, im Nachbarsystem Thorins. Ein einzelnes Bataillon der 23. Arkturusgarde war
seine Leibwache - und war vollauf damit beschäftigt,
ein ganzes Regiment von Katherines Loyalisten in die
Wildnis der Großen Tundra zu locken. Ein paar Sicherheitsleute und Kau waren alles, was Victor wirklich
beschützte. Sich in voller Sicht verstecken, so hatte
Morgan Kell es genannt. Bis jetzt funktionierte es. Der
Bürgerkrieg hatte Murphrid kaum berührt, und fast
hätte man glauben können, die Kämpfe seien eine Erfindung der Medien.
Fast.
Als Victor sich schließlich von der Bank stemmte, beendete Kai seine Dehnübungen. Er stellte sich
Victor gegenüber und verbeugte sich, dann nahm er
Kampfhaltung an. Victor machte es ihm nach, ohne
den Blickkontakt auch nur einen Sekundenbruchteil
aufzugeben. Auf den zufälligen Beobachter hätte das
Paar einen unausgewogenen Eindruck gemacht, denn
Kai war acht Zentimeter größer als der eher kleinwüchsige Prinz. Mit einem Nicken zeigte Victor, dass
er bereit war, und Kai griff an. Ohne Matten und
Schutzvorrichtungen beschränkte sich der Zweikampf
auf leichten Kontakt und beide verließen sich für die
Wertung auf das Ehrgefühl des Gegners. Der erste
halbe Punkt war eindeutig. Kai sprang geduckt vor,
täuschte einen Rückhand-Fausthieb auf Victors Kopf
an und erwischte ihn mit einem seitlichen Tritt an der
Hüfte.

»Du bist nicht bei der Sache«, bemerkte er und kehrte an den Ausgangspunkt zurück. »Meine Mutter könnte dich besiegen.« Wieder nickten sie einander zu. Diesmal griff Victor halbherzig an.

»Deine Mutter trainiert seit dreißig Jahren Tai Chi Chu'an«, erwiderte er und stolperte nach hinten, als Kais Fuß unmittelbar vor seinem Gesicht vorbeizuckte. Er gab seinem Freund den Punkt, dann trat er zurück, um sich wieder vorzubereiten. »Ich habe einfach viel um die Ohren.«

Diesmal versuchte Kai einen Schwinger, den Victor abfing. Er warf den Freund zur Seite. Sie drängten einander hin und her, über die Kreuzung. Kai hatte den Vorteil der größeren Reichweite, während Victor versuchte, ihn mit schnellen, kurzen Attacken zu überwältigen.

»In einer Woche kommt Isis«, erinnerte ihn Kai. »Vielleicht hat sie ein paar Neuigkeiten für dich.« Isis Marik war auf Luthien Omis Gast gewesen. Die Tochter vom Generalhauptmann der Liga Freier Welten, Thomas Marik, war wie Kai und Victor Mitglied des Hochadels der Inneren Sphäre und mit ihnen befreundet. Victor schüttelte den Kopf. »Sie sollte besser nicht hierher kommen.« Er hechtete vor und stoppte die Gerade, als sie Kais Brustkorb berührte.

Der trat einen Schritt zurück. »Warum nicht? Wir können ihre Sicherheit gewährleisten.«
»Das ist es nicht.« Victor atmete tief ein und ließ die Luft in einem langen Seufzer wieder entweichen. »Ich bin sicher, sie hat Informationen über Omis Tod, Kai. Ich weiß nur nicht, ob ich schon so weit bin, sie zu hören.«
»Hast du Cranston ... Cox, meine ich! ... deshalb nach Luthien geschickt? Weil du nichts weiter davon hören willst?«
Victor grinste, weil Kai über Galen Cox' Namen stolperte. Nachdem er fast zu einem Opfer der Pläne Katherines geworden war, hatte sein Adjutant sich über Jahre hinter einem falschen Namen verstecken müssen. Erst auf der letzten Sternenbund-Konferenz hatten sie die Tarnung aufgedeckt. Victor selbst verwechselte von Zeit zu Zeit die Namen, so lange hatte er Galen als Jerrard Cranston gekannt.
»Ich habe Galen nach Luthien geschickt, um bei den Nachforschungen zu helfen. Damals glaubte ich, eine Erleuchtung zu haben, wo der Attentäter sich verstecken könnte.« Victor erinnerte sich noch gut daran, wie absolut sicher er sich plötzlich gewesen war, dass der Attentäter auf Luthien untergetaucht war. »Ich habe mich wohl schuldig gefühlt und wollte mir selbst beweisen, dass ich etwas beitragen konnte. Irgendetwas.«
Kai hatte schon zum nächsten Angriff angesetzt, nun aber stockte er. »Schuldig? Warum solltest du Schuldgefühle haben, Victor?«
»Es ist derselbe Attentäter, Kai. Der, den meine Leute nach dem Tod meiner Mutter auf Solaris VII gefangen hatten. Derselbe, den wir eingesetzt haben, um an Ryan Steiner Vergeltung zu üben. Unmittelbar danach ist er uns entkommen. Wir wissen, dass er in der '57erOffensive im Widerstand auf Zürich aktiv war. Das ist der Mann, der Omi auf Mogyorod angegriffen hat. Hätte ich es für möglich gehalten, dass er jemals wieder nahe genug an Omi herankommen könnte, um ihr ein Leid zu tun, ich hätte sie niemals zur Sicherheit nach Tukayyid und weiter nach Hause geschickt.«
»Tukayyid und Luthien sind zwei der sichersten Orte, die ich mir für Omi vorstellen konnte. Was hättest du mehr tun können?«
»Ich hätte den Hurensohn umbringen können, als ich die Gelegenheit dazu hatte!« Victor ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. »Ich hätte es tun können. Niemand hätte mich daran gehindert.«
»Glaubst du ernsthaft, das hätte Katherine aufhalten können?«, fragte Kai leise. »Glaubst du wirklich, er wäre der einzige käufliche Mörder, den es gibt?«
Victors Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war, und ließ eine gähnende Leere zurück. »Ich weiß es nicht, Kai.« Selbst für seine eigenen Ohren klangen die Worte unsicher, hohl. »Möglicherweise hätte es nicht den geringsten Unterschied gemacht. Vielleicht würde Omi auch heute noch leben. Ich weiß es nicht.« Er ging zum Rand der Lichtung. Momentan war er nicht mehr in der Lage weiterzukämpfen.
Kai schnappte sich Hemd und Trainingsjacke, warf sie sich über die Schulter und schlug den Weg zurück zum Gutshaus ein. »Keiner von uns weiß wirklich irgendetwas, Victor. Uns bleibt nur, irgendwie damit fertig zu werden, was das Leben uns in den Weg stellt. Aus persönlicher Erfahrung kann ich dir aber eines sagen: Wenn du dich nicht gehörig vorsiehst, können dich diese Spekulationen, was hätte sein können, umbringen. Wenn du es nicht schaffst, genügend Abstand zu gewinnen, holen sie dich ein und werfen dich um. Und dagegen ist ein Atlas ein Fliegengewicht.«
Victor nickte. Das war eine ziemlich treffende Beschreibung seines Gemütszustands. Am Boden. »Ich versuche, Abstand zu gewinnen, Kai. Ich versuche es wirklich.« Er holte sich seine Jacke. »Ich weiß nur nicht, wie. Noch nicht.«
Kai verschwand hinter dem von Weinreben überwucherten Spalier und ließ Victor allein auf der Lichtung zurück.
»Das ist kein großes Geheimnis, Victor«, rief er gerade laut genug, dass sein Freund ihn hörte. »Du machst einfach einen Schritt nach dem anderen.«

BattleTech 61: Finale
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