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Gaveston's Gorge, New Avalon
Gefechtsregion New Avalon, Mark Crucis,
Vereinigte Sonnen
Das Flussbett des Gaveston wand sich breit, flach und schlammig durch eine Schlucht von spektakulärer Schönheit. Hohe Klippen bildeten die Seitenwände einer lang gestreckten Arena. Laserfeuer loderte über dem Gorge durch die Luft und Raketen glitten auf bogenförmigen Bahnen über drei Kilometer Breite. Tancred Sandoval kämpfte gegen die Strömung des Flusses und watete mit dem Nachtstern auf eine Landzunge aus orangerotem Lehm. Er feuerte eine Gausskugel stromabwärts, eine silberne Faust, die sich in die Eingeweide eines Wachmann der abziehenden 3. Robinson Rangers bohrte. Zertrümmerte Metallkeramik stürzte in den Fluss. Trotzdem war der vierzig Tonnen schwere Mech grundsätzlich in einem besseren Zustand als Tancreds kampfgezeichnete Maschine.
Auf der Schadensanzeige waren mehr als sechzig Prozent der Vektorgrafikdarstellung des Nachtstern durch Panzerungsverlust geschwärzt. Rote Leuchtpunkte warnten vor Problemen, die von geborstenen Wärmetauschern bis zu einem bevorstehenden Gyroskopausfall reichten. Alarmsirenen wetteiferten um seine Aufmerksamkeit und nahmen noch an Lautstärke zu, als der Laser des Wachmann einen bestehenden Schaden ausnutzte und einen Armaktivator durchbohrte. Rings um ihn herum kämpften und fielen die Krieger der 2. Rangers. Tancred bekam allmählich ernste Zweifel, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, direkt nach New Avalon vorzustoßen.
Die 3. Robinson Rangers hatten zwar nie große Loyalität zur Mark Draconis oder den Sandovals gezeigt, trotzdem hätte Tancred nicht erwartet, einmal gegen sie kämpfen zu müssen. Nominell unterstanden sie seinem Befehl als Duke of Robinson, nur hatte Katherine die 3. Rangers schon zu Beginn des Bürgerkriegs abgezogen und zu einer Garnisonseinheit New Avalons bestimmt. Jetzt setzte sie die Einheit im Kampf um den Kontinent Rostock gegen ihre Schwesterformation ein. Offensichtlich war die Loyalität des Regiments zu der Tyrannenprinzessin stärker als die zu ihrem neuen Herzog. Vielleicht hätte es anders ausgesehen, wenn er sich nicht gegen seinen Vater gestellt hätte oder seine Position als Markfürst gefestigt hätte, bevor er Victor zu Hilfe gekommen wäre ... Er verwarf den Gedanken. In dieser Schlacht gab es schon viel zu viele Ungewissheiten. Er konnte nicht noch mehr gebrauchen.
Als hätte er mit dem Gedanken das Zeichen gegeben, rief eine junge Stimme: »Im Anflug!« Eine erneute Serie von Detonationen krachte den Fluss und einen halben Kilometer an beiden Ufern entlang, schleuderte Fontänen braunen Wassers und schwarz verbrannter Erde auf. Ein Centurion Tancreds verlor im Artilleriebeschuss den linken Arm. Der Mech wurde von dem Treffer grob beiseite geschleudert, kam aber schnell wieder hoch. Ein einzelner Pegasus-Schwebepanzer kippte zu schnell in einen frisch aufgerissenen Krater. Der gegenüberliegende Rand verhakte sich unter der Schürze, riss sie auf und das Luftkissen fiel in sich zusammen. Der Panzer schlug auf, prallte ab, dann rollte er sich überschlagend das Flussufer hinab und pflügte durch den nassen, dunklen Lehm, bis er schließlich in den Strom kippte und versank.
Tancred blinzelte sich den Schweiß aus den Augen, fasste die Steuerknüppel fester und schaltete die Partikelkanone zum verbliebenen Gaussgeschütz hinzu, bevor er erneut auf den abziehenden Wachmann schoss. Ein Luchs war zur Unterstützung seines Kameraden eingetroffen und unterstützte ihn mit frischer Panzerung und einer PPK. »Bataillon Drei«, rief Tancred über den allgemeinen Kanal, weil er zu beschäftigt war, Major Hershen direkt anzuwählen. »Graben Sie diese verdammte Artillerie aus ihren Verstecken!«
»Das entblößt unsere östliche Flanke«, antwortete Hershen. Er war ein guter Offizier, doch die Probleme, mit denen die 2. Rangers in diesem Bürgerkrieg zu kämpfen hatten, hatten ihn vorsichtig werden lassen. »Die 3. könnten uns in die Seite fallen.«
»Sollen sie.« Tancred rang mit der Steuerung, als die gleißende Energiepeitsche einer PPK sich in die Panzerung des rechten Mechbeins grub und in den Titanstahlknochen schnitt. Das Metall hielt, es war jedoch geschwächt. »Ardan Sortek ist überfällig. Wir müssen diese Artillerie irgendwie zum Schweigen bringen.«
Hershen war noch immer unschlüssig. »Colonel?«,
rief er nach seinem Vorgesetzten.
Colonel Theodor Mikul griff gerade noch rechtzeitig ein, bevor
Tancred Major Hershen den Befehl entzog. »Der Duke hat Ihnen eine
Order erteilt, Jon! Wenn Sie seine Anweisungen noch einmal im Feld
in Frage stellen, degradiere ich Sie persönlich zum Lieutenant und
versetze Sie in Field Marshal Fortunas Feldlager!« Es war kein
Zufall, dass kein MechKrieger in Mai Fortunas Planungsstab mehr zum
aktiven Gefechtseinsatz herangezogen wurde, und Major Hershen nahm
die Drohung genauso ernst, wie Mikul sie gemeint hatte. Er führte
die Befehlskompanie seines Bataillons persönlich zu einem
weiträumigen Umgehungsmanöver auf die steile Klippenwand des Gorge
zu, wo sich die sprungfähigen Einheiten die fünfhundert Meter hohe
Felswand hinaufarbeiten konnten, um die dort positionierten
feindlichen Geschütze auszuschalten.
Tancred wartete das nächste Bombardement ab. Erst nachdem der
Granaten- und Raketenhagel das Schlachtfeld aufgerissen hatte,
befahl er: »Mikul, ziehen Sie die Jägerdeckung zurück. Die
Maschinen sollen den 3. Rangers in zwo Minuten in den Rücken
fallen.« Der Colonel führte den Befehl aus, bevor er dagegen
argumentierte, und als er es tat, benutzte er eine Privatverbindung
mit seinem Duke. »Das wird uns teuer zu stehen kommen.«
Das wusste Tancred. Die Luftherrschaft über Rostock musste
tagtäglich neu erkämpft werden, und es war höchst riskant, die
Piloten abzulenken, bevor sie den Luftraum gesichert hatten. »Wenn
wir Bat 3 verlieren, wird das noch teurer. Wir müssen Zeit
erkaufen.«
»Glaubt Ihr wirklich, Sortek schafft es?«, fragte Mikul.
Der fünfundneunzig Tonnen schwere Nachtstern war in den weichen Lehm eingesunken und
saß fest. Tancred wiegte den Metallgiganten vor und zurück, um ihn
frei zu bekommen, dann watete er das letzte Stück durch das trübe
Wasser zum Kiesufer. »Ardan war Hanse Davions Champion«, erinnerte
er seinen Regimentskommandeur. »Er weiß überhaupt nicht, wie das
geht: scheitern.«
»Ja, Sir«, bestätigte der Colonel gehorsam, dann unterbrach er die
von einem hämmernden Rattern überdeckte Verbindung.
Tancred erkannte das Geräusch einer leichten Autokanone, die von
Mikuls Cockpit gerade Panzerung scheuerte. Sein Blick zuckte in die
linke Hälfte des Sichtschirms, und er sah das rot-schwarz lackierte
Kanonenboot des Colonels schwanken,
aber nicht stürzen. Der überschwere Kampfkoloss stolperte an den
Rand des Wassers und schleuderte eine Menge dunklen Schlamm auf,
wie er inzwischen die untere Hälfte aller Mechs der 2. Rangers
bedeckte.
»Ich kann nur hoffen, dass er ein Wunder in der Tasche hat, wenn er
endlich auftaucht«, stellte Mikul gehetzt fest. Ein Bushwacker und ein Nachtschatten schoben sich vor und schirmten sie
eine Weile gegen die 3. Rangers ab.
»Ich würde sagen, wir können mit dem zusätzlichen Bataillon
zufrieden sein, das er uns versprochen hat.«
Mikul war von dem Granatenhagel des Autokanonentreffers noch immer
verunsichert. »Hängt ganz davon ab, welche Einheit,
oder?«
Nur zu wahr, dachte Tancred. Ardan
Sortek war von New Syrtis eingetroffen, wo er die 2. Ceti-Husaren
und die Überreste der Davion Light Guards für einen Vorstoß
geradewegs auf New Avalon eingesammelt hatte. Er war vor drei Tagen
durch die Raumblockade gebrochen, eine Woche hinter Tancreds
Einsatzgruppe, und in einer kurzen, von Störungen unterbrochenen
Funkmitteilung heute Morgen hatte er ein Bataillon zur
Unterstützung für den Kampf in der Schlucht versprochen. Falls die
Light Guards tatsächlich so schwer angeschlagen waren, wie es die
Berichte behaupteten, würden sie allerdings keine nennenswerte
Hilfe sein.
Er schob sich aus dem Schatten der beiden Abschirmmechs Mikuls und
tauschte Langstreckenfeuer mit zwei Maelstrom-BattleMechs aus. Der Schusswechsel
kostete ihn weitere Panzerung und einen Impulslaser. Es gelang ihm
jedoch, eine Gausskugel in das Ellbogengelenk eines Mahlstrom zu rammen, das sich unter dem Einschlag
in eine moderne Skulptur aus verbogenen Metallstreben und zerfetzen
Myomersträngen verwandelte. Der Wachmann, mit dem er zuvor gekämpft hatte, hatte
sich hinter eine schützende Felsformation zurückgezogen, aber zwei
waghalsige Fulcrum-Schwebepanzer
scheuchten ihn schnell wieder ins Freie. Mikul bombardierte die
mittelschwere Maschine mit seinen Magnetkanonen, trieb sie weiter
zurück und lieferte den äußerst gefährdeten Schwebern
Deckungsfeuer. Einer der Panzer schaffte es nicht mehr zurück in
die Sicherheit der eigenen Linien, schaltete aber vor dem Ende
immerhin noch einen gegnerischen Mantikor aus. Tancred beobachtete den gemeinsamen
Rückzug der Mahlströme und des
Luchs und wartete auf die drohende
Meldung.
»Im Anflug!«
Und wieder. Die Artilleriegeschosse regneten auf die 2. Rangers
herab, füllten die Luft mit einem tödlichen Hagel aus
Steinsplittern und Schrapnell. Ein Teil der rasiermesserscharfen
Metallsplitter schlug in das geschwächte Bein des Nachtstern, zertrümmerte den Knieaktivator und ließ
das Metallglied einfrieren. »Ich werde hier ganz langsam zu Tode
geschunden«, beschwerte sich Tancred. »Ziehen Sie die Reserve vor,
falls ich mich zurückziehen muss.« Oder falls die Geschütze der 3.
Rangers ihn zu Boden schickten.
»Können vor Lachen«, antwortete Mikul und wich hastig dem
Raketenhagel eines LSR-Werfers aus. »Hershens Flanke bricht
zusammen und ich habe ihm die Reserve zu Hilfe
geschickt.«
Tancred zählte die Symbole auf der Sichtprojektion und überprüfte
die Kenndaten, um Mikuls Einschätzung zu überprüfen. Sie traf den
Nagel auf den Kopf. Major Hershens Vorsicht war berechtigt gewesen.
Die 3. Rangers rückten vor und versuchten, Tancreds Offensive zu
stoppen, indem sie alle Schweber zurück auf die Südseite des
Flusses zogen und mit ihnen einen Gegenschlag der Mechs
unterstützten. Tancred fluchte wie ein Rohrspatz, wenn auch leise,
um das stimmaktivierte Helmmikro nicht einzuschalten. Die meisten
seiner Panzer hatten Kettenantrieb und waren nicht in der Lage,
ihre Position so schnell zu ändern wie die des Gegners. Er selbst
saß auf der falschen Seite des träge strömenden Gaveston fest. Er
schwenkte den Nachtstern zurück auf die
trüben Fluten zu, marschierte bis zu den Metallknöcheln in den
Fluss und versuchte, den Mech in Bewegung zu halten, um nicht zu
tief in Lehm und Schlamm einzusinken. Auf halbem Weg durch den
Strom musste er abbremsen. Ein fabrikneu wirkender Destruktor bewegte sich stromaufwärts und drohte,
ihn vom gegenüberliegenden Ufer abzudrängen. »Lieutenant General
McBride«, flüsterte er, als er die Maschine des gegnerischen
Kommandeurs erkannte. »Haben Sie sich doch noch entschieden
mitzuspielen?«
Wie zur Antwort griff der Destruktor
aus maximaler Entfernung mit Extremreichweiten-PPKs an. Ein
bläulich weißer Blitzschlag prallte vom Wasser ab und brach in
Dutzend kleine Lichtbögen auf, die über den Fluss hüpften und
tanzten wie Wasser auf einer heißen Herdplatte, bevor sie
zerplatzten. Tancred sandte eine Gausskugel in die Brustpartie der
Maschine und brachte dem Mech McBrides damit den ersten erkennbaren
Schaden in diesem Gefecht bei. Während er darauf wartete, dass die
Magnetspulen der Kanone wieder aufgeladen wurden und der
Lademechanismus eine neue Kugel in die Kammer beförderte, spürte er
den Verlust des Gaussgeschützes im linken Mecharm deutlicher als je
zuvor. Er hielt den Feuerknopf so krampfhaft durchgedrückt, dass
der Finger schmerzte.
Endlich fiel die frische Nickeleisenkugel aus der Zuführung, die
Kondensatoren entluden sich in die Spulen entlang des Geschützlaufs
und beschleunigten die massive Metallkugel auf
Überschallgeschwindigkeit. Sie schoss als silberner Schemen aus der
Mündung, und Tancred feuerte augenblicklich die PPK hinterher,
deren künstlicher Blitzschlag der Kugel gleißend nachsetzte. Beide
schlugen mit vernichtender Gewalt ins Ziel ein, zertrümmerten
Metallkeramikpanzerung zu nutzlosen Scherben und schnitten eine
tiefe, glühende Kerbe in eine Rumpfseite.
Ein harter Schlag, doch das Antwortfeuer des Destruktor war mehr, als der angeschlagene
Nachtstern aushalten konnte.
Partikelströme tanzten über den linken Mechrumpf, brannten die
wenigen Kilogramm noch verbliebenen Schutzpanzers weg und
zerkochten Myomer in halb zerschmolzene Seilstränge. Dann
durchschlug eine Gausskugel das zertrümmerte Kniegelenk und brach
das Bein wie einen morschen Ast entzwei. Eine zweite traf die
untere Rumpfmitte, schlug in das bereits beschädigte
Gyroskopgehäuse und verwandelte den Kreiselstabilisator in einen
Schrotthaufen.
Für den überschweren Kampfkoloss gab es nur noch einen Weg:
abwärts. Tancred gab die Steuerung frei und hielt sich an den
Armstützen der Pilotenliege fest. Der Nachtstern krachte erst auf den ruinierten Stumpf
des rechten Beins, was ihm half, die Wucht des Sturzes teilweise
abzufangen, während er in den Fluss kippte und sich auf die rechte
Seite drehte, das Cockpit halb im schmutzigbraunen Wasser. Tancreds
Sicherheitsgurte hielten ihn auf dem Platz.
»Der Duke!«, rief jemand über die Hauptfrequenz. »Der Duke liegt am
Boden!«
Auf der Sichtprojektion sah Tancred, wie sich mehrere Piloten aus
dem Kampf lösten, um ihm zu Hilfe zu kommen, dann brach mit lautem
Knallen ein Funkenregen unter einer Abdeckung hervor, und sämtliche
Außensensoren fielen aus. Mit einem an der Unterseite der Liege
befestigten Feuerlöscher erstickte er das Feuer in der Elektrik. Er
hörte Wasser plätschern, erkannte, dass das Cockpit undicht war,
und sah gleich darauf an der unteren rechten Kanzelwand den
Wasserspiegel steigen. Doch all das war nicht so bedrohlich wie der
heranmarschierende Destruktor. Durch
den aus dem Wasser ragenden Teil des Kanzeldachs sah Tancred Jason
McBride auf sich zustampfen, am Flussufer entlangwuchten und
Ausschau nach Lebenszeichen des Nachtstern halten. Der Kommandeur der 3. Robinson
Rangers wartete mit Gaussgeschützen, die auf Tancred gerichtet
waren. Gab er ihm eine Chance oder rief er einen Artillerieangriff
herab?
»Mikul«, befahl er ruhig. »Halten Sie die Leute im Griff. Machen
Sie es ihnen nicht zu leicht, unsere Flanke aufzurollen.«
Unerklärlicherweise geriet der Angriff der 3. Rangers plötzlich ins
Stocken. Der Destruktor zog sich
zurück, erst im Rückwärtsgang, dann drehte er um und verschwand aus
Tancreds Sichtfeld. Der Duke of Robinson runzelte die Stirn. Hatte
der Pilot sich von dem konzentrierten Aufmarsch der 2. Rangers
einschüchtern lassen? Oder machte er das Gelände für den nächsten
Artillerieschlag frei, der inzwischen überfällig war. Die Antwort
auf diese Fragen erhielt er Sekunden später.
»Mechs auf dem Kamm«, meldete Hershen warnend. »Zwei Lanzen ...
Eine Kompanie ... Davion Light Guards!« Die Stimme des Majors hatte
noch nie so wundervoll geklungen. »Es sind unsere Leute. Da kommen
sie!«
Auch ohne Sichtschirm brauchte Tancred keine Bestätigung zu
verlangen. Durch den nicht überfluteten Teil des Kanzeldachs konnte
er die leichten und mittelschweren Mechs der Light Guards entlang
der Schluchtwand heranpreschen und auf den Flammenzungen der
Sprungdüsen herabfliegen sehen. Mindestens zwei Kompanien stiegen
in die Luft und ließen sich fünfhundert Meter tief fallen, bevor
sie die Sprungdüsen wieder zündeten und den Sturz rechtzeitig
abfingen.
»Wurde auch Zeit«, bemerkte Mikul.
»So läuft das eben«, erwiderte Tancred und entspannte sich, so weit
man das seitlich in den Gurten hängend überhaupt konnte. »Die
Kavallerie kommt immer erst in der letzten Sekunde.«
»Falls dies stimmt, was bedeutet es für die Aussicht, dass Prinz
Victor kommt?«
Tancred verzog das Gesicht. Unsicherheit breitete sich wieder in
ihm aus. Auf diese Frage hätte er verzichten können. Er hätte ganz
wunderbar darauf verzichten können.
»Wir werden sehen«, antwortete er und bemühte sich, unbesorgt zu
klingen. »Und hoffentlich hat Ardan Sortek ein paar Antworten für
uns.«
Tancred traf sich im Schatten der Schluchtwand mit Ardan Sortek, durch den Schatten und die aufkommende abendliche Brise vor der schlimmsten Nachmittagshitze geschützt. Während Colonel Mikul einen Sicherheitskordon um das Feldlager organisierte und weit reichende Streifen mit der Davion Light Guard koordinierte, wechselte er aus schweißnasser Kühlweste und Shorts in eine trockene Felduniform. Die Light Guards hatten noch eine Kompanie auf den Klippen, nicht-sprungfähige Maschinen, für die es keinen sicheren Abstieg gab. Sie verteilten sich als Ausgucke über die Hochebene.
Sortek wartete in einem hastig aufgestellten Zelt. Er war ebenfalls raus aus den MechKriegerklamotten und damit beschäftigt, sich abzutrocknen. Auf einem Klapptisch lag ein offener Kühlbeutel mit Wasser, isotonischer Limonade und Fruchtsaft. »Warm«, erklärte er mit einer Kopfbewegung zu den Getränken, als Tancred ins Zelt trat. »Aber wenigstens flüssig.«
»Danke.« Tancred nahm sich einen Behälter Apfelsaft, der in der Hitze Rostocks vermutlich noch am erträglichsten schmeckte. Außerdem brauchte sein Körper etwas Handfesteres als Wasser. »Und danke, Ardan.« Mehr würde er über die Rettung in letzter Sekunde nicht ins Gespräch einschmuggeln können, also hielt er seinen Dank knapp und direkt.
Sortek war nahezu dreiundsiebzig, doch er hatte weder die Kraft noch die glatten Gesichtszüge verloren, die Hanse Davion veranlasst hatten, ihn regelmäßig mit freundschaftlichem Spott als Milchgesicht zu bezeichnen. Nur das kurze struppige Haar verriet sein Alter, denn es war inzwischen schlohweiß. Tancred konnte nur hoffen, irgendwann genau so zu altern.
»Haben Sie etwas von Victor gehört?«, fragte Sortek. Tancred schüttelte den Kopf und ließ sich auf einen Faltstuhl fallen. »Nicht, seit wir von Nueva Valencia aufgebrochen sind. Hier auf New Avalon arbeitet ComStar für Katherine und gestattet uns keinen Zugang zu HPG-Nachrichten.«
»Das ist nicht alles«, stellte Sortek fest. »Wir haben uns verspätet, weil wir auf eine ComGuard-Einheit getroffen sind. Die hier stationierte 299. Division unterstützt sie ebenfalls.« Der ältere Krieger schaute ihn mit einem dünnen Lächeln an, das keine Sekunde die harten braunen Augen erreichte. »Können sie einen geborgenen Excalibur und einen einarmigen Husar gebrauchen?«
»Jederzeit.« Tancred nahm einen Schluck warmenApfelsaft. »Sie nicht?«
»Der Excalibur ist zu schwer für die
Light Guards.
Und was den Husar betrifft ... Wir sind
momentan in
der wenig beneidenswerten Lage, mehr Maschinen als
Piloten zu besitzen.«
Tancred verstand, was das bedeutete. Die Light
Guards hatten bei den Kämpfen auf New Syrtis schwere
Verluste erlitten und eine beträchtliche Anzahl von
MechKriegern verloren. »Wir werden sie einem guten Zweck zuführen.
Um ehrlich zu sein, ich könnte
den Excalibur selbst gebrauchen,
nachdem ich meinen
Nachtstern verloren habe.«
Ardan schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Wir haben
noch ein paar Reservemaschinen, einschließlich meines
Ausweichmechs. George Hasek hat uns nicht ganz
mit leeren Händen abziehen lassen.« Ohne Zweifel
steckte eine Geschichte hinter der leisen Verbitterung
in seinen Worten. »Ich habe eine neue Variante des
Templer entworfen und zwei Maschinen
mitgebracht.
Ich schätze, er wird Ihnen gefallen.«
Tancred nickte und versuchte, sich an die Spezifikationen des
neuesten OmniMechs der Vereinigten Sonnen zu erinnern.
»Fünfundachtzig Tonnen?« »Und er bewegt sich und kämpft, als hätte
er noch
fünfzehn mehr.«
»Na, zusätzliches Gewicht können wir hier auf jeden
Fall gebrauchen. Um ehrlich zu sein, Ardan, hätten Sie
nicht die Light Guards und die 2. Ceti mitgebracht, wir
wären hier in trauriger Verfassung.« Er stieß den Atem
lautstark aus. »Die 1. Crucis haben es geschafft, die
Davion Heavy Guards von Galax zu retten, und sie
geben Katherine in Brunswick gut zu tun, aber selbst
mit Ihren zwei Regimentern verfügen wir nicht einmal über die
Hälfte dessen, was Katherine auf diesem Kon
tinent unter Waffen hat.«
Ardan schaute zur Seite. »Ein Regiment«, korrigierte
er Tancred leise. »Mehr habe ich nicht. Minimale
Unterstützung.«
Das brachte das Gespräch für ein paar Sekunden
zum Erliegen. »Aber die 2. Ceti-Husaren«, stammelte
Tancred. »In Ihrer letzten Nachricht haben Sie gesagt,
Sie bringen ...«
»Sie sind hier. Aber wir haben auf dem Anflug ein
Drittel ihrer Mechs und den größten Teil der Panzer
verloren. Die VSS Luden Davion hat uns
eingeholt,
kurz bevor wir die schützende Lufthülle erreicht hatten. Sie hat
vier Landungsschiffe abgeschossen. Keine
Überlebenden.«
Einfaches Nachrechnen genügte für den Rest der
Geschichte. »Und die Davion Light Guards?« »Was Sie hier gesehen
haben, ist alles, was uns geblieben ist. Ein Bataillon. Begrenzte
Panzer- und Infanterieunterstützung, aber gute Luft/Raumreserven.
Ich
habe auch einzelne Elemente der Vanguard Legion mit
dabei, einer Söldnereinheit, die für New Syrtis gekämpft hat. Gute
Leute, Tancred. Ich wünschte, ich
hätte Platz für mehr von ihnen gehabt.«
Allmählich brauchte man eine Tabelle, um noch den
Überblick über die Beteiligten zu behalten. Tancred an
der Spitze der angeschlagenen 2. Robinson Rangers,
der 1. Crucis-Lanciers und der Davion Heavy Guards.
Ardan Sortek mit den Überresten der Davion Light
Guards, einer Söldnertruppe und zwei Bataillonen der
2. Ceti-Husaren. Nicht gerade eine ebenbürtige Streitmacht,
verglichen mit Katherines sechs Sollstärke-Einheiten.
Und die Probleme auf New Avalon versprachen, nur
noch größer zu werden.
»Falls wir nicht mehr haben, wird das eben reichen müssen«, stieß
Tancred plötzlich entschieden aus. »In den Wildnisgebieten Rostocks
können wir uns auf Dauer halten, vor allem, wenn wir einen
Nachschubkorridor nach Brunswick etabliert haben. Diese Öffnung hat
Katherine uns gelassen, indem sie ihre Ein
heiten in Albion konzentriert hat.«
»Natürlich. Sie wird alles, was sie unterbringen
kann, auf der Isle of Avalon sammeln, bis wir ihr das
Palais unter dem Hintern anzünden.« Ardan klang
ebenso angewidert von dem Gedanken, die Isle of
Avalon zu stürmen und das Davion-Erbe niederzureißen, wie Tancred
sich fühlte. »Wir werden es
durchziehen, Tancred, solange wir können. Aber Sie
wissen selbst, dass nur eines diesen Kampf zu unseren Gunsten
wenden kann.«
Das wusste Tancred allerdings. Und es war der
Grund, aus dem er New Avalon so früh angegriffen
hatte, ohne die Garantie irgendeiner Verstärkung. Er lächelte
traurig. »Haben Sie etwas von Victor gehört?«, wiederholte er
Sorteks Frage von kurz zuvor.
Es gibt einen alten militärischen Aberglauben. Man soll niemals mitten im Krieg Paraden und Ordensverleihungen abhalten. Sie erwecken in den einfachen Soldaten ein trügerisches Gefühl der Überlegenheit, das in der nächsten Niederlage zu leicht einstürzen kann. Derartige Zeremonien werden üblicherweise von Generälen oder Politikern abgehalten, die glauben, sich als Führungspersönlichkeiten profilieren zu müssen, und ganz allgemein werden sie als überflüssiges Gehabe betrachtet. Aber keine Regel ohne Ausnahmen.
- Aus Ursache und Wirkung, Avalon Press. New Avalon, 3067