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Davion Peace Gardens, Avalon City, New Avalon
Gefechtsregion New Avalon, Mark Crucis,
Vereinigte Sonnen
Katrina hatte für die Ansprache an diesem Morgen bewusst die Davion Peace Gardens ausgewählt. Das auch als Friedenspark bekannte Gelände lag am Fuß des Mont Davion und erstreckte sich um den Hauptcampus des NAIW Richtung Avalon City. Im Frühling, wenn grüne Knospen die kahlen Bäume zu neuem Leben erwachen ließen und bunte Blumen in den Beeten erblühten, war es ein beliebtes Ausflugsziel. Ein frischer Wind strich über das breithalmige Gras und trug die Kälte des nächtlichen Regens ebenso heran wie den Duft früh blühender Krokusse und Narzissen. Die Brise spielte mit einer Strähne von Katrinas goldenem Haar und wehte sie ihr ins Gesicht. Sie strich sie mit geübter Eleganz zurück, ohne den Blick von der kleinen Ansammlung Reporter und Holokameracrews zu nehmen, die auf ihre Archon-Prinzessin warteten.
Sie legte das Stück mit langsamen Schritten zurück, ungehetzt, möglicherweise etwas traurig. Der Kopfsteinpflasterweg führte wie viele andere unter den überhängenden Ästen eines kleinen Wäldchens vorbei. Jeder der verschiedenen Pfade führte zu kleinen Gärten oder Gedankstatuen, die an bestimmte Heldentaten oder Opfer erinnerten. Der Hintergrund für die kurze Ansprache heute war ein Monument aus dunklem Stein und Stahl in der Senke eines grasüberwachsenen Amphitheaters. Eine Gedenkflamme flackerte über den drei Statuen. Ein Wolfshund, blutend und verletzt, sprang einem jungen Mädchen zu Hilfe, das ein in orientalischem Stil ausgeführter schwarzer Panther mit hungrigen Obsidianaugen anstarrte. Es war ein wunderbares, bewegendes Denkmal, das sie sehr bedacht, aber nicht ohne Bedenken ausgewählt hatte, denn es erinnerte an die Rettung ihrer Mutter, Melissa, durch die Kell Hounds im Vierten Nachfolgekrieg. Zugleich war es ein Gedenkstein für den Tod Patrick Keils, des Bruders von Morgan Kell. Doch wenn sie es für die Medien richtig ausspielte, konnte es zeigen, wie tief die Kell Hounds seit jener Zeit gefallen waren.
Katrina blieb vor dem Mahnmal stehen und nahm sich die Zeit, es zu betrachten. Nicht, dass sie erwartete, neuen Sinn in der Darstellung zu finden. Sie überzeugte sich nur davon, die richtige Kleidung gewählt zu haben. Der weiße Hosenanzug und die blau-silberne Bluse boten einen hübschen Kontrast zu dem dunklen Stein und dem auf Hochglanz polierten Stahl. Aber natürlich hatte sie sich davon auch schon am Tag zuvor überzeugt, um nichts dem Zufall zu überlassen.
Jetzt nahm sie sich einen Moment Zeit, damit alle Zuschauer beim Anblick des Denkmals Gelegenheit hatten, sich dessen Geschichte ins Gedächtnis zu rufen. Es war eine wundervolle, tragische Geschichte von persönlichem Opfermut, eine Botschaft, die zu dem passte, worum sie die Menschen New Avalons bitten würde. Nachdem Victor bereits Brunswick kontrollierte und ernsthafte Vorstöße auf die Kontinente Rostock und Albion machte, brauchte sie die Kraft ihres Volkes mehr denn je.
Ein Eingeständnis, das ihr schwer fiel, deshalb
aber nicht minder wahr erschien.
»Bürger New Avalons«, setzte sie an und verschränkte die Hände vor
der schlanken Taille. »Es ist unmöglich, den Schmerz zu lindern,
den wir alle fühlen, jetzt, da uns die Brutalität des Bürgerkrieges
durch meinen Bruder in voller Härte trifft. Die Störungen unseres
Alltags, die Gefahren für unsere Sicherheit und unser Wohlergehen,
aber auch die Unsicherheit über das, was die Zukunft bringen mag,
lasten auf uns allen. Unser einziger Trost ist das Wissen, dass all
das, was wir heute ertragen müssen, nichts ist im Vergleich zu dem,
was Hunderte von Welten im Verlauf dieses langen und verzweifelten
Konflikts haben erdulden müssen.«
Sie blickte lange und schweigend in die Kamera. »Wir ertragen
Victors Wut darüber, den Kriegsruhm unseres Vaters nicht erreichen
zu können«, stellte sie schließlich fest. »Wir leiden unter seiner
Unfähigkeit, richtig zu regieren, die allzeit hinter dem Bedürfnis
versteckt bleibt, Krieg zu führen. Einen Feind zu finden, den er
angreifen kann. Selbst wenn er ihn sich in der eigenen Familie
suchen muss. So oft haben wir ihm in Freundschaft und Frieden die
Hand angeboten, doch Victors Verfolgungswahn ließ ihn sie
ausschlagen. Wir leiden ...« Wieder setzte Katrina eine Pause ein.
»Wir leiden unter Victors Versagen bei dem Versuch, sich an dem
Mörder Omi Kuritas zu rächen.« Sie senkte beschämt den Blick und
fügte hinzu: »Seiner großen Liebe.«
Wut, Unfähigkeit, Verfolgungswahn, Versagen - Eigenschaften, die
Menschen bei jedem Herrscher verachteten, aber erst recht bei einem
Sohn Hanse Davions. Und Katrina hatte eben so gut wie erklärt, dass
Victor und Omi miteinander geschlafen hatten. Sie wusste, dass es
stimmte wusste es -, konnte es aber
nicht beweisen. Doch wo Beweise fehlten, reichte schon die Anklage
aus. Hatte Victor sie nicht selbst erst kürzlich daran erinnert?
Die Leute würden die notwendigen Schlüsse selbst ziehen.
»Victor kontrolliert Brunswick völlig«, stellte sie fest und gab
damit zu, was die Nachrichten schon vor Tagen berichtet hatten.
»Unsere Truppen waren wegen der vorhergehenden Angriffe unter der
Führung des Renegaten Tancred Sandoval zu verstreut, um das
verhindern zu können. Tatsächlich schien es nötig, Albion und damit
Avalon City zu beschützen, den Regierungssitz der sämtlichen
Vereinigten Sonnen und eines der leuchtenden Vorbilder der ganzen
Inneren Sphäre.«
Sorgsam darauf bedacht, die Lyranische Allianz nicht herabzusetzen,
war Katrina gezwungen, ihre Worte sehr genau zu wählen und New
Avalon auf keinen Fall als die wichtigere Zentralwelt zu
bezeichnen. Natürlich war sie das, solange sie hier war. Aber das konnte sie nicht offen
zugeben.
»Wir müssen uns diesem Angriff auf unsere Heimat mit allen zur
Verfügung stehenden Mitteln widersetzen. Und so wird es jetzt für
Sie alle, meine Ersten Bürger der
Vereinigten Sonnen, notwendig, in diesem Kampf mitzuhelfen!
Mitzuhelfen, Victor daran zu hindern, dieselbe Finsternis über New
Avalon zu bringen, die Stefan Amaris einst über Terra brachte. Wie
die des Großen Usurpators beruht auch Victors Macht auf
Kollaborateuren.« Sie legte ihren
ganzen Abscheu in dieses letzte Wort, bis es vor Verachtung troff
und vor Verderbnis stank.
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»Widersteht ihm, meine Bürger! Und wenn es nur durch zivilen Widerstand geschieht. Setzt euch nicht Victors Zorn aus, das selbstverständlich nicht, aber solange seine Waffen nicht auf euch gerichtet sind, weigert euch, seinen blutigen Feldzug zu unterstützen. Verlasst eure Arbeitsplätze und geht heim. Helft euren Nächsten in dieser schweren Zeit, doch verweigert den Soldaten des Feindes euren Beistand.« Ihr Blick wurde sanfter und sie ließ die Last ihrer Verantwortung für die einfachen Bürger New Avalons durchscheinen. »Ich weiß, ich verlange die Isolation und den wirtschaftlichen Zusammenbruch Brunswicks. Ich weiß, ich verlange von euch, schwere Härten zu ertragen. Doch in euren Händen liegt die Macht, heute ebenso wie je zuvor. Ohne eure Hilfe«, versprach sie, »kann Victors Rebellion nicht gelingen. Es liegt bei euch.«
* * *Nicht, dass Katrina vorhatte, ihr Schicksal und das ihrer beiden hart erkämpften Sternenreiche in die Hände einfacher Bürger zu legen. Nicht, solange sie noch über ihre Armeen verfügte ... und über ihre Verbündeten.
Die sanften Klänge einer leichten, beruhigenden
Symphonie füllten ihre Privaträume im Prinzenpalais, kämpften gegen
ihre schlechte Laune an und verloren, als sie das unsichtbare
Musiksystem plötzlich ausschaltete. Sie ging mit entschlossenem
Schritt durch den Salon, ließ die Doppeltür in ihr Boudoir links
liegen und stürmte stattdessen ins Wohnzimmer. Sie lief quer durchs
Zimmer bis zu dem weißen Eichenschrank vor einer mit
elfenbeinfarbener Seide bezogenen Couch. Dort angekommen schob sie
eine Rolltür auf, hinter der ein kleiner Trividbetrachter zum
Vorschein kam, und schob einen Datenkristall in den
Leseschlitz.
Der Kristall war von einem Händlerkurier abgeliefert worden, und
Katrina wusste, von wem er stammte. Dass sich der Bildschirm mit
grauem Rauschen füllte, war die Bestätigung. Sie betrachtete die
Innenseite des goldenen Armbands, das sie von Vlad erhalten hatte,
und berechnete anhand der dort verzeichneten >Kontrollmarken<
den Sicherheitscode für das heutige Datum. Sowie sie die letzten
Ziffern in eine kleine Tastatur eingetippt hatte, öffnete das Gerät
die Aufzeichnung endgültig, und sie erinnerte sich in Gedanken noch
einmal daran, dass sie den Kristall unmittelbar nach Betrachten der
Nachricht in ihren persönlichen Safe legen oder vernichten
musste.
»Sein Angriff auf Arc-Royal ist angelaufen«, flüsterte sie in einer Mischung aus Vorfreude und Drang. »Die Wölfe werden Phelan und Morgan Kell zwingen, vom Tharkad abzuziehen.« Es war Teil ihres neuesten Plans, den sie kurz nach Richard Dehavers mysteriösem Verschwinden insgeheim mit ihrem Champion Simon Gallagher ausgetüftelt hatte. Genau genommen war dieser Plan nicht mehr als der Rückgriff auf ursprüngliche Absichten. Die Lyranische Allianz von Gegnern zu befreien, damit Nondi alle verfügbaren Truppen sammeln und in einer Lawine lyranischer Einheiten die Vereinigten Sonnen stürmen konnte. Sie sollten Tikonov und Kathil überrennen, die Standardsprungpunkte des Systems sichern - und Victor saß dann hier in der Falle, ihrer Gnade ausgeliefert.
Natürlich konnte Katrina die Kavallerie auch irgendwo im Raum der Vereinigten Sonnen treffen, falls sie zu spät eintraf, und die Flotte würde den Archon zurück zur Allianz-Zentralwelt eskortieren. Angesichts der starken Bedrohung für New Avalon war Katrina durchaus bereit, eine Ausweichstrategie ins Auge zu fassen. Sie brauchte nur Vlads früheres Angebot aufzugreifen und ihren Anspruch auf die Abrechnung mit den Wolf-Renegaten auf Arc-Royal zurückzuziehen. Katrina hatte ihm die Meinungsänderung vor mehreren Monaten übermittelt. Es widerstrebte ihr zwar, auch nur in einem so unbedeutenden Punkt Schwäche einzugestehen, doch es würde ihr schon etwas einfallen, wie sie Vlad für seine Anstrengungen belohnen konnte - zu ihren Gunsten. Sie war nicht bereit, sich in die Schuld irgendeines Mannes zu begeben, und schon gar nicht eines möglichen Lebenspartners.
Vlad Wards Miene wärmte ihr Herz allerdings nicht, als sein Hologrammbild den kleinen Bildschirm füllte. Er starrte sie mit unverhohlener Wut an. »Katrina«, erklärte er mit knapper, kalter Stimme und gebrauchte weder Titel noch Nachnamen. »Ich bin nicht bereit, deine Bitte zu erfüllen.«
Das war nicht das, was sie erwartet hatte. »Du hast den gesamten Defensivkordon als an deinem Krieg beteiligt beansprucht und mir damit die Gelegenheit, die abgeschworenen Wölfe anzugreifen, verweigert. Ich habe das als Gleichgestellter akzeptiert, wie ich es versprochen hatte. Jetzt ...« Sein Blick wurde noch schärfer. »Jetzt willst du diesen Gegner aufgeben, nur weil du dich beim Batchall überschätzt hast? Falls du zu niedrig geboten hast, zieh Reserven heran. Falls du keine Reserven hast, nur eine schlechte Kommandeurin setzt alle verfügbaren Kräfte aufs Spiel, wenn sie weiß, dass selbst die nicht reichen. Hast du ernsthaft geglaubt, du brauchtest nur zu pfeifen und meine Wölfe würden springen? Bin ich ein Stravag-Sölder, den du mit politischer oder privater Münze bezahlen kannst, um mir dann vorzuschreiben, wann und wo ich kämpfen darf?«
Katrina sank auf das Sofa. Unter Vlads Ausbruch gaben ihr die Knie nach. Nichts von dem, was er sagte, hatte bei ihren Überlegungen eine Rolle gespielt. Tatsächlich war sie kaum in der Lage, diesem Gedankengang zu folgen. Er konnte jetzt nicht eingreifen, weil sie nicht schon vorher zugegeben hatte, ihn zu brauchen? Sie sollte ihre Position als gleichberechtigte Partnerin dadurch zementieren, dass sie ihm ihre Unterlegenheit bewies? Was war das für eine Logik?
Clan-Logik, wie es schien.
Vlads rotes Gesicht lief vor Wut dunkel an, die Narbe stand als
bleicher Strich über das halbe Gesicht deutlich hervor. »Wie es
scheint, musst du noch viel über uns lernen. Falls du mir wahrhaft
ebenbürtig bist, Katrina, werden wir das in Kürze wissen. Meine
Wölfe werden sich nicht einmischen. Es liegt allein bei dir, deine
Feinde zu besiegen. Oder nicht. Ich überlasse diesen Krieg
dir.«
Katrina erkannte die Ironie in Vlads Abschlussbemerkung, die mit
dem Schluss ihrer Nachricht übereinstimmte, doch sie fand das nicht
im Mindesten amüsant. Sie erhob sich langsam von der Couch,
streckte die Knie durch, riss die Schultern nach hinten, dann ging
sie hinüber zum Lesegerät und löschte den Datenkristall. Danach zog
sie ihn sorgfältig aus dem Gerät, drehte sich ruhig um und
schleuderte ihn quer durch den Raum.
Sie setzte sich wieder, zog die Beine unter den Körper und starrte
ins Leere. Viel hatte sich wirklich nicht geändert, außer dass ihre
auf New Avalon stehenden Einheiten eine etwas schwerere Last tragen
mussten. Sie würden New Avalon für sie gewinnen und danach Tharkad
zurückerobern, oder der Tharkad würde sich in ihrem Namen erheben
und früher oder später den Vereinigten Sonnen zu Hilfe kommen. Mit
ein wenig Glück konnte sie auf beiden Zentralwelten gewinnen, und
sobald Katrina sie sicher in der Hand hatte, würde ihr niemand je
wieder gefährlich werden können. Und was Vlad betraf ...
Falls er nicht bereit war, ihr zu helfen, kam sie eben ohne ihn
aus. Später, wenn er wieder dazu bereit war, sie als ebenbürtig
anzuerkennen, wollte sie ihn dafür bezahlen lassen, dass er sie
hier im Stich gelassen hatte. Früher oder später musste es dazu
kommen. Das war sicher. Etwas, gegen das sie beide machtlos waren,
zwang sie zueinander, und Katrina konnte warten.
Wenn es sein musste.
November und Dezember
3066, das war die Härteprobe, in der Katherines Aufruf zum
Widerstand uns einige verzweifelte Verteidigungsschlachten
aufzwang. Keine RKG, kein Regiment entkam unbeschadet, und wir
verloren zwei Einheiten ganz, auch wenn ich zugebe, dass die Davion
Light Guards schon auf New Syrtis so gut wie aufgerieben worden
waren.
Es war keine fröhliche Weihnacht.