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Tomoe-Sakade-Gedenkraumhafen,
Nagoshima, Buckminster
Präfektur Buckminster, Militärdistrikt Benjamin,
Draconis-Kombinat
Als der Attentäter die langen farbigen Wimpel rund um Nagoshimas Raumhafen im Wind knallen sah, dachte er sich zunächst nichts dabei. Er hielt sie für sinnentleerte Fröhlichkeit, die Buckminsters Bevölkerung davon überzeugen sollte, dass das DraconisKombinat sie nicht so unterdrückte, wie es regierungsfeindliche Pamphlete behaupteten. Doch bevor er noch an der Gepäckausgabe vorbei war, hatte er schon einen leicht gewalttätigen Protest gesehen, eine Festnahme und mindestens drei Agenten ausgemacht, die entweder für die Interne Sicherheitsagentur Haus Kuritas arbeiteten oder Teil der verdeckten Operationen einer lokalen Behörde waren.
Buckminster war nicht gerade ein
Touristenparadies.
Natürlich war genau dies der Grund, warum er diese Welt als
Abflugpunkt in die Lyranische Allianz ausgesucht und aus seinem
geschrumpften Vorrat die neueste Identität als Zollinspektor Ji
Hendal gewählt hatte. Buckminster war nicht nur eine Grenz-,
sondern auch eine Präfekturzentralwelt, und Haus Kurita hatte hier
starke Militärverbände zum Schutz des Planeten stationiert. Dass
deren Sicherheitsbegriffe in Konflikt mit der einheimischen
Agrargesellschaft kommen würden, spielte dabei keine Rolle. Doch
nach zehn Jahren zertrampelter Ernten - von Mechfüßen in Manövern
oder infolge falschen Alarms - und dem Leben mit Soldaten, die
örtliche Geschäfte, ihre Söhne und Töchter und die Bedürfnisse der
Buckminstrels mit kaum verhohlener Verachtung behandelten, war es
kaum verwunderlich, dass die Welt zur Heimat zahlreicher offener
und versteckter regierungsfeindlicher Gruppierungen geworden
war.
Buckminsters durchschnittlicher Bürger >kooperierte< mit den
Behörden, wenn es nötig war, mied sie aber, so weit er das konnte.
Als niederer Bürokat ohne echte Befugnisse hatte der Attentäter
erwartet, sich leise und unbemerkt durch die Gesellschaft des
Planeten zu schleichen. Diese Vorstellung hielt keine
Stunde.
Die Taxifahrt nach Nagoshima gestattete ihm, sich ganz in seine
neue Rolle einzuleben, und als der Wagen in den Weißkranichdistrikt
einbog, war Ji Hendal ganz darauf vorbereitet, dass ihm die
Menschen, denen er begegnete, höflich aus dem Weg gingen. Er wollte
spärliche Trinkgelder geben, bei jeder sich bietenden Gelegenheit
Fragen nach Verbindungen mit außerplanetaren Geschäften stellen -
beides Vorgehensweisen, die erzwungene Einsamkeit garantierten -
und seinen gefälschten Sicherheitsausweis so oft wie möglich
zücken, um nähere Nachforschungen abzublocken. Das Taxi fuhr ihn
durch ein Geschäftsviertel mit kleinen Läden und noch kleineren
Straßenrestaurants, und der Geruch von gebratenem Schweinefleisch
lies ihm den Magen knurren. Er fragte sich, ob Hendal das Taxi
anhalten und warten lassen würde, um sich eine Bentomahlzeit aus
Nudeln mit Schweinefleisch zu besorgen. Dann sah er die nächsten
Wimpel von Fahnenstangen und Ladenmarkisen flattern. Keine
leuchtenden Grundfarben wie am Raumhafen, sondern Schattierungen
erst von Grün, dann von Gold und Rosa.
Grün, Gold und Rosa.
Die Erinnerung war geblieben, durchdrungen von mit Adrenalin
eingebrannten Details der Flucht des Attentäters durch Schlesien,
den lyranischen Sektor von Solaris City, nur Minuten nach dem Tod
von Ryan Steiner. Steiner hatte sich in seinem Privatbüro mit einem
anderen Mann unterhalten, nur durch fünfhundert Meter Entfernung
und ein Fenster aus so genanntem kugelsicherem Glas vom Attentäter
getrennt. Ein perfekt platzierter Schuss aus einer Loftgren 150,
der eine Panzer brechende Führungsringkugel durch das Fenster und
knapp über Ryan Steiners linkem Ohr in dessen Schädel bohrte - und
das Problem war beseitigt. Anschließend hatte der Attentäter seinen
Bewacher und einen Pechvogel getötet, der als Sündenbock für ihn
herhalten sollte, und war Victor Steiner-Davions Leuten unter der
Nase entwischt.
Die Agenten des Attentäters hatten damals in halb Schlesien bunte
Fahnen in einem falschen Farbcode aufgehängt, um Victors
Geheimdienstsekretariat abzulenken. Blau und Weiß in einer
Siedlung, Orange und Weiß in einer ganz anderen Gegend. Dunkelrot,
Silber und Hellrot genau an der Wohnung seines letzten Opfers
vorbei. Schwarz. Grün. Gold und Rosa. Jetzt war es der Attentäter,
der diese Farben entlang seiner Rückzugsroute erblickte und
versuchte, einen Sinn darin zu erkennen.
Zufall? Er konnte sich nicht erlauben, das zu glauben, selbst wenn
es natürlich möglich war. Schließlich hingen auch viele Wimpel im
Weißkranichdistrikt, die ihm absolut nichts sagten, seltsame
Farbkombinationen, in denen die anderen Fahnen wie
Hintergrundrauschen untergingen. Aber Gold und Rosa zusammen? Und
dort, eine ganze Straßenseite in Blau und Weiß? Sein Mund war
trocken, schmeckte metallisch bitter, und der Attentäter suchte mit
schnellem Blick die Bürgersteige nach Beobachtern ab. Er ging davon
aus, dass der Taxifahrer nichts weiter als das war, als das er
erschien, allein schon, weil er tot war, falls er in einem Wagen
saß, den die ISA für ihn vorgesehen hatte.
Trotzdem warf er nervöse Blicke auf die Türen. Die Rücksitze des
Taxis schienen plötzlich zu schrumpfen, Symptom eines
Verfolgungswahns, den der Attentäter nicht gewohnt war. Er ballte
eine Faust so fest, dass sich die Fingernägel in die Handfläche
gruben und konzentrierte sich auf den Schmerz. Paranoia war etwas
für seine Opfer. Er vertrieb sie durch reine Willensanstrengung.
Dann bog das Taxi in die Straße der Pensionsadresse von Jil
Hendal.
Silber, Dunkelrot, Hellrot - die Farben, die vor Ryan Steiners
Adresse geweht hatten.
»Weiterfahren!«, befahl der Attentäter und gab jeden Versuch auf,
die Rolle Jil Hendals zu spielen. Seine Worte überschlugen sich
wild. »Bremsen Sie nicht ab. Fahren Sie einfach weiter!«
Der Fahrer runzelte die Stirn. »Das ist die Adresse, die Sie mir
genannt haben. Wollen Sie jetzt irgendwo anders hin?«
»Aus der Stadt«, erklärte der Attentäter, dann lehnte er sich in
den leinenbezogenen Sitz, um nachzudenken.
Der Fahrer musste sterben, so viel war klar. Leise, in irgendeiner
einsamen Gasse, wo ihn später ein Hund finden würde. Aber er war
nicht das eigentliche Problem. Einhundertfünfzig Lichtjahre nach
Braunton, nach Zwischenstops auf sieben verschiedenen Welten und
mehr Identitäten, als er je zuvor in sechs Monaten verbraucht
hatte, und trotzdem hatte es nicht gereicht. Sein Feind blieb ihm
einen Schritt voraus, begleitete ihn auf seinem Versuch, das
Draconis-Kombinat zu verlassen.
Nur hatte der Feind ihm zu viel Zeit gelassen. Ein Sprung noch, und
er war wieder in der Lyranischen Allianz, mit dem Dreifachen an
Möglichkeiten. Port Moseby bot ihm die besten Chancen ... falls er
es dorthin schaffte. Sobald er es
dorthin schaffte! Das kostete Zeit, und eine Menge Geld, aber er
bezweifelte, dass sein unsichtbarer Verfolger in der Lage war, sein
Geschick und seine Verzweiflung mit einer so sorgfältig
ausgeklügelten Operation kalt zu stellen, wie sie nötig war, um ihn
endgültig zu fangen.
Er würde entkommen. Er würde einen Weg aus der Schlinge finden, die
sich um seinen Hals zuzog, und wer auch immer es war, der
versuchte, ihn in die Ecke zu drängen, würde zum Schluss nichts
weiter finden als die Erkenntnis, versagt zu haben. Und falls der
Feind ihm zu nahe kam, würde der Attentäter ihm beweisen, dass man
auf den Tod nicht Jagd machte.
Dass der Tod immer der Jäger war.
Brunswick City, New Avalon
Gefechtsregion New Avalon, Mark Crucis, Vereinigte Sonnen
Francesca Jenkins starrte durch eines der verspiegelten Fenster der Limousine, und dann durch einen Nebel aus Regen und Dunkelheit auf die vorbeihuschenden Straßen von Brunswick City. Sie schlug sich mit der Faust aufs Bein. Je näher der Abschluss dieser FünfJahres-Mission kam, desto schwerer fiel es ihr, sich zu konzentrieren. Der Schmerz half ihr, sich zusammenzureißen, trotz der begeisterten Vorfreude, die sie abzulenken drohte, Spur zu halten. Ein kleiner Empfänger am rechten Ohr fühlte sich seltsam warm an, als Curaitis' Flüstern auf ihrem Trommelfell vibrierte.
»Bring es, Reg«, sagte er.Sie drückte einen Knopf auf der Gegensprechanlage. »Dritte und Jeffers«, sagte sie dem Fahrer. »Genau so, wie wir es besprochen haben.«
Francesca hatte ihrer Meinung nach den sichereren Teil der Operation übernommen. Sie fuhr hinten in der gepanzerten Limousine, vom Fahrer - einem alten Agentenfreund von Curaitis - durch eine dicke Scheibe aus getöntem Panzerglas getrennt. Niemand außerhalb des Wagens konnte mehr als einen vagen Schatten erkennen. Mit Infrarot mochte es möglich sein, eine unscharfe Silhouette auszumachen, doch mit dem Haar, das unter einer Schirmmütze aufgerollt war und einem dicken Mantel, der ihre Oberweite verdeckte, schien es unmöglich festzustellen, dass nicht Reg Starling im Wagen saß. Francesca saß gekrümmt auf dem Sitz und hielt in einer Hand die ungerahmte Leinwand der letzten Studie Katherines - von der Hand Reg Starlings. Es war das Original von Blutprinzessin IX, gemalt von Valerie Symons. Was für eine Anstrengung, um in den Besitz eines Bildes zu gelangen, das letztlich nur eine hervorragende Fälschung war. Dies musste Katherine in die Enge treiben. Von eigener Hand, wie ein Anstreicher, der sich beim Lackieren des Bodens selbst einschloss.
Sie lächelte, als ihr der passende Vergleich einfiel, dann schlug sie sich wieder aufs Bein. In der Geheimdienstarbeit gab es kaum eine Situation, die gefährlicher war als der Abschluss einer Mission. Die Gefühle auf beiden Seiten waren ins Extrem gesteigert, und falls die erpresste Seite sich irgendwie rächen oder sonst ein Risiko eingehen wollte, war dies der Zeitpunkt dafür. Angesichts der wilden Nachforschungen, mit denen Katherines Leute sie bedrängt hatten, seit die Verhandlungen über die Forderung Reg Starlings begonnen hatten, erwarteten weder Curaitis noch Francesca, dass die Angelegenheit so glatt verlaufen würde, wie sie sich das erhofften.
Curaitis war in seiner Rolle als Starlings Mittelsmann äußert verwundbar. Angeblich war er geschickt worden, um für einen kleinen Bruchteil des Geldes die Übergabe durchzuführen. Er nahm den Kontakt auf, führte Katherines Mann ein Stück die Straße entlang, während er sich nach Beobachtern umsah. Dann rief er sie - als Reg Starling - an, damit sie das Bild lieferte. Der Wortlaut der Nachricht >Bring es< war ein Code, mit dem er ihr mitteilte, dass er leichte Überwachung festgestellt hatte, die Operation aber trotzdem durchziehen wollte. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Curaitis und der Mann der Gegenseite standen zusammen in einem Pulk Feiernder. Der Treffpunkt an der Ecke Dritte und Jeffers lag mitten im Nachtclubviertel von Brunswick City. Auch wenn der Kampf um die Kontrolle über den Kontinent noch tobte, hatten die Davion Heavy Guards die Stadt vor zwei Monaten erobert. Das machte sie zum perfekten Ort für die Übergabe, denn Dehaver hatte es schwer, Unterstützung einzuschmuggeln und in Stellung zu bringen. Als die Limousine sich der Ecke näherte, warf Francesca ihren ersten und einzigen Blick auf den Agenten, der Katherine so gekonnt abgeschirmt hatte.
Richard Dehaver.
Der Geheimdienstmann war ein paar Zentimeter größer als Curaitis.
Das blasse Gesicht wirkte besorgt, die Augen waren zwei düstere
Gruben in sonst eigentlich recht hübschen Zügen. Das vom
Nieselregen nasse Haar war dunkel und nach hinten gekämmt. Er trug
eine Matrosenjacke und hatte beide Hände in den Tasehen vergraben.
Ohne Zweifel hielt er in der einen eine Waffe. Neben ihm lag ein
großer Seesack, wie ihn Soldaten benutzten, auf dem nass-schwarzen
Bürgersteig, vermutlich gefüllt mit zehn Millionen Kronen. »Es
dreht sich alles um persönliche Wertmaßstäbe«, flüsterte Francesca
bei sich, aber dann sah sie Curaitis nicken, als der in den Kragen
seines Trenchcoats eingenähte Sender/Empfänger ihm die Worte in den
Ohrhörer übermittelte.
Er hatte das System offen gestellt. »Ich habe Anweisung, das
Original in Besitz zu nehmen«, erklärte Dehaver mit einer Stimme,
die über die Verbindung leise, aber verständlich zu hören
war.
Das hatten sie erwartet. Trotzdem hielt sich Curaitis an seine
vorgeblichen Instruktionen. »Das Bild war nicht Teil des
Angebots.«
»Ich würde meinen, zehn Millionen Kronen sind genug, dem Kunden bei
diesem Geschäft gewisse Rechte einzuräumen.« Dehaver deutete mit
einer Kopfbewegung zur wartenden Limousine. Ein vorbeikommender
Fußgänger prallte schwankend mit ihm zusammen, und er stieß ihn
weg. »Nennen Sie es ein Zeichen guten Willens. Immerhin kann er
jederzeit ein neues malen. Das soll nur beweisen, dass Herr
Starling keine Dummheiten im Sinn hat, bevor er New Avalon
verlässt. Sie brauchen es nicht einzupacken.«
»In diesem Wetter?«, fragte Francesca und erinnerte sich an Regs
exzentrische Eigenheiten. »Auf gar keinen Fall.« Sie wartete,
während Curaitis die trotzige Antwort weitergab.
»Sie können das Bild in den Seesack stecken.« Dehaver machte eine
entsprechende Kopfbewegung. »Ich vermute ohnehin, Sie werden eine
von mir gelieferte Tasche nicht allzu lange bei sich behalten
wollen.« Curaitis wartete nicht auf Francescas Antwort. »Sonst noch
Wünsche?«
»Er könnte es signieren.«
Francesca fühlte ein hoffnungsvolles Zucken um die Mundwinkel, und
wusste, dass es nicht ihr Grinsen war. Es war das Grinsen Reg
Starlings. »Er will noch einen Beweis,
dass ich ... dass Reg Starling im Wagen sitzt. Erklären Sie sich
einverstanden, aber behalten Sie ihn im Auge.«
Sie nahm die Leinwand und zog einen Stift aus der Jacke. Mit großer
Geste fälschte sie Reg Starlings Namen auf der Rückseite des
Bildes. Auf ihr Zeichen hob Curaitis den Seesack hoch, kam zum
Wagen und reichte ihn durch die ein Stück weit geöffnete Tür,
während Francesca sich auf der anderen Seite des Fonds in den
Schatten drückte. Während er draußen wartete, riss sie die grüne
Plastikhülle zurück, die den Stoffsack vor dem Wetter schützte,
dann schüttete sie das Geld auf den Boden und den freien Sitz. Ihr
Atem stockte, und ihr wurde einen Moment lang schwindlig, als sie
die Geldbündel hastig abschätzte. Zehn Millionen Kronen! Sie
vergewisserte sich, dass alles einen korrekten Eindruck machte.
Dann zog sie den Sack über die Leinwand und erlaubte Curaitis, ihn
wieder abzuholen.
Nachdem die Tür fest geschlossen und verriegelt war, zählte sie die
Bündel nach. Fünfzig Stück zu je zweihunderttausend Kronen. Sie
blätterte zwei zufällig ausgewählte Bündel durch, um sich zu
vergewissern, dass kein Falschgeld als Füllmaterial in der Mitte
steckte, dann schwenkte sie einen kleinen Sensor darüber, um nach
Abhörgeräten, Peilsender und anderen unerwünschten und unangenehmen
Überraschungen zu suchen.
»Es sieht alles sauber aus«, stellte sie fest. Dann drückte sie auf
den Knopf der Gegensprechanlage. »Abfahrt.« Sie lehnte sich in die
Lederpolster zurück. Als sich die Limousine vom Bordstein
entfernte, warf Francesca in plötzlicher Sorge um Curaitis einen
Blick zurück. Doch er war findig und durchaus nicht schutzlos, also
beruhigte sie sich mit dem Gedanken an das, was sie erreicht
hatten. »Wir haben es geschafft«, flüsterte sie ihm zu.
Nur war das Geld keineswegs sauber, und Francesca war noch keine
zwanzig Meter weit, da setzte die chemische Reaktion ein.
Die Plastikhülle hatte nicht nur den nächtlichen Nieselregen
abgehalten, sie hatte auch wie eine Barriere verhindert, dass sich
Sauerstoff und Wasserdampf mit dem Stickstoff vermischten, mit dem
der Seesack gefüllt war. Sobald Francesca die Geldbündel auf den
Sitz kippte, etwa im selben Augenblick, in dem ihr von der
plötzlichen Stickstoffkonzentration in der Fahrzeugkabine
schwindlig wurde, griff der Sauerstoff die ultradünne, nur wenige
Moleküle dicke Natriumbeschichtung an, die ein NAIW-Angestellter
sorgfältig auf mehrere der Papierschleifen aufgetragen hatte, mit
denen die Bündel zusammengehalten wurden. Der Sauerstoff zersetzte
das alkalische Metall, und die exothermische Reaktion verwandelt
sich unter Abgabe von Wasserstoff und Hitze zu einer Schicht
Ätznatron.
Die äußere Schicht zersetzte sich, der Sauerstoff drang zur
darunter gelegenen zweiten Schicht vor. Die bestand aus Kalium, ein
Metall derselben Gruppe, nur noch reaktionsfreudiger. So viel
reaktionsfreudiger, dass es beim ersten Funken der Reaktion aus der
darüber liegenden Schicht, der es traf, mit gleißend gelblich
weißem Licht verbrannte. Wie ein Streichholz an der Lunte einer
Bombe lief dieses winzige Feuer durch die chemisch behandelten
Geldscheine. Die Chemobombe detonierte mit einer
Zündgeschwindigkeit von über viertausend Metern in der Sekunde, und
die übrigen Geldbündel taten es ihr nach.
Francesca hätte es vielleicht rechtzeitig bemerken können, hätte
sie eine der drei glutheißen Papierschleifen angefasst oder
gesehen, wie sich die glänzende Oberfläche plötzlich fahlweiß
verfärbte. Doch das tat sie nicht. Etwas weniger feuchte Luft in
der Fahrzeugkabine hätte ihr dreißig Sekunden zusätzlich
verschaffen können. Ein anderer Plan, bei dem sie sich weniger
Sorgen um die verletzliche Position von Agent Curaitis hätte machen
müssen, hätte unter Umständen auch einen anderen Ausgang
ermöglicht.
Wie dem auch sei, Francesca Jenkins befand sich noch keine zehn
Sekunden auf dem Weg in die Sicherheit, bis der Fonds der Limousine
in Flammen aufging.
Curaitis hatte auf einen offenen Angriff gewartet. Er wusste, Dehaver hatte etwas vorbereitet. Sie hatten entsprechende Reservepläne ausgearbeitet. Falls nötig, würde >Reg Starling< aus der Limousine springen, das Geld zurücklassen, in einen nahen Club sprinten und sich einer schnellen Geschlechtsumwandlung unterziehen. Es war eigentlich nicht nötig, dass sie die Lösegeldzahlung auch behielten, es reichte, dass sie erfolgt war und Curaitis über seine verbliebenen Kontakte im Sekretariat beweisen konnte, dass sie erfolgt war. Er brauchte Francesca und sich nur noch zehn Minuten am Leben zu halten.
Er schaffte es halb.
Die Explosion krachte wie ein gewaltiger Donnerschlag durch die
Nacht, lange Flammenzungen brachen in rotorange farbenen Fontänen
durch die Heckfenster der Limousine. Dann riss das Dach des
gepanzerten Wagens auf und schälte sich zurück wie von einem
überdimensionalen Dosenöffner gezogen. Curaitis sah den Wagen unter
der Wucht der Detonationen hart einfedern. Dann wurde er fünf Meter
in die Luft gehoben, bevor er zurückfiel und auf brennenden Reifen
landete.
Zu Curaitis' Glück wurde auch Dehaver von der frühen Detonation der
Bombe überrascht. Er erholte sich schnell und zog eine kurzläufige
Gyrojetpistole aus der Jackentasche. Doch Curaitis war bereits in
Bewegung. Er wirbelte davon, duckte sich unter dem Schuss weg und
spürte, wie das Geschoss am Kragen der Jacke zerrte. Das Fauchen
des Gyrojets dröhnte ihm im Ohr, die Hitze des Mündungsfeuers
verbrannte ihm den Nacken. An all das würde er sich später
erinnern. Lebenslanges Training und die Mithilfe der Davion Heavy
Guards retteten ihm das Leben. Er stieß Dehaver um und landete auf
ihm, während mehrere Passanten plötzlich Pistolen zogen und sich um
ihn drängten, um ihn vor Scharfschützen oder anderen Agenten des
Sekretariats abzuschirmen. Ein Unbekannter zog eine Waffe und
zielte in die falsche Richtung: Auf die Guard-Infanteristen. Das
brachte ihm zwei Kaliber-.45-Kugeln in der Brust ein.
Curaitis entwaffnete den gegnerischen Agenten mit einem brutalen
Hebel, der Dehaver das Handgelenk brach und die Gyrojetwaffe auf
das nasse Pflaster scheppern ließ. Dehaver schrie vor Schmerz auf,
erstickte den Schrei aber sofort und biss die Zähne so fest
zusammen, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten.
»Sie bringen mich nicht um«, knurrte er zwischen gefletschten
Zähnen hervor. »Für wen Sie auch arbeiten, Sie wollen mich
lebend.«
Curaitis kochte vor Wut und ohnmächtiger Enttäuschung, doch er
konnte das Knistern der Flammen nicht ausblenden, die immer noch
aus der Limousine schlugen. Der zusätzliche Druck auf Dehavers
Handgelenk war eine unbewusste Reaktion. »Es sei denn, wir arbeiten
für sie«, zischte er, um dem anderen
Mann Angst einzujagen.
Einen Moment lang klappte es. Dehavers seelenlose Augen zuckten vor
Schmerz und Panik nach allen Seiten. Offensichtlich fragte er sich,
wie Katherine eine so gut organisierte Operation zustande gebracht
hatte, ohne dass er davon wusste. Dann befand er, es sei unmöglich.
»Victor«, stellte er fest. Ohne Hass. Ohne irgendeine
Gefühlsregung.
Curaitis kniete sich auf Dehavers Rücken. Er zog die Laserpistole
aus dem Holster auf dem Rücken und hielt dem Agenten die Mündung an
den Schädelansatz.
»So ist es«, bestätigte er. »Victor.«
Er schaute durch die Beine der Wachsoldaten, brachte es nicht
fertig, nicht hinüber zu dem lodernden Wagen zu schauen. Zwei Leute
waren dabei, die Flammen an der Kleidung eines Mannes zu ersticken,
bei dem es sich nur um den Fahrer handeln konnte. Das Heck der
Limousine brannte noch immer so heiß, dass Teile der Karosserie
orangerot glühten. Dort hinten gab es nichts mehr zu retten.
Curaitis konnte froh sein, falls er später noch ein paar verkohlte
Knochensplitter und etwas Asche seiner Partnerin fand. Suchen würde
er. Das zumindest schuldete er ihr, und noch sehr viel mehr, wenn
er nur gewusst hätte, wie er es hätte bezahlen können.
»Francesca ...«, flüsterte er traurig.
Verdammt.
»Ich kann sie Ihnen liefern«, erklärte Dehaver. Curaitis brauchte
eine Weile, um zu begreifen, dass der Mann ihm nicht Francescas
Rückkehr anbot. Dehaver hatte seine Fähigkeit, einem entschlossenen
Verhör standzuhalten, bereits abgewogen und erkannt, dass ihm nur
eine Wahl blieb. »Katrina.« Er sprach den Namen mit giftigem
Flüsterton aus. »Vor den richtigen Leuten kann ich sehr überzeugend
sein.«
Curaitis zerrte ihn auf die Füße, ohne den Druck der Pistole einen
Sekundenbruchteil zu verringern. »Sie werden reden«, versprach er.
»Sie werden mir alles sagen, was ich wissen will. Aber falls Sie
sich einbilden, sie bekämen jemals jemanden zu sehen, der Ihr
Urteil vielleicht revidieren könnte, haben Sie sich getäuscht. Das
Gesetz wird sich mit Ihrem Fall nicht beschäftigen. Nur ich.« Er
wirbelte Dehaver herum und spießte ihn mit einem Blick aus blauem
Eis auf. »Ich bin der einzige Mensch«, versprach er mit kalter,
tonloser Stimme, »mit dem Sie je wieder reden werden.«
Als ich hörte, dass Phelan Kell im Einsatz vermisst war, weigerte ich mich zu glauben, er könne tot sein. Nicht einmal, als sich die vermuteten Piraten als die Clan-Invasoren entpuppten. Ich habe meinen Vetter immer für einen Unruhestifter gehalten, das stimmt, aber als MechKrieger sucht er seinesgleichen. Ich habe ihm das vermutlich nie gesagt. Möglicherweise habe ich ihm nie zugetraut, über seine Selbstzweifel hinauszuschauen und es als Kompliment zu betrachten statt als Versuch, ihn zu werten.
- Aus Ursache und Wirkung, Avalon Press. New Avalon, 3067