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Prinzenpalais, Avalon City, New
Avalon
Gefechtsregion New Avalon, Mark Crucis, Vereinigte Sonnen
Katrina Morgan Steiner-Davion betrat den menschenleeren Großen Thronsaal des Prinzenpalais' allein. Ihre Leibgarde schickte sie fort. Die Torflügel ragten fast fünf Meter hoch auf, aus massivem Avalon-Rotholz geschnitzt, und auf ihrer Frontseite trugen sie das goldene Relief eines knieenden Kriegers, der ein riesiges Breitschwert über dem Kopf erhob. Der Umhang des Kriegers war zerrissen und zum Teil verbrannt, sein Kopf gesenkt, die Schultern hingen herab wie unter einem unsichtbaren Gewicht, doch hinter ihm ging die Sonne auf. Katrina hatte das Relief immer als erhabenes, triumphales Kunstwerk gesehen. Jetzt nicht mehr. Jetzt gemahnte es sie an die Last der Niederlage, die sie selbst mit aller Kraft abzuwenden versuchte.
Auf ihre leichte Berührung hin schwangen die Türflügel glatt und lautlos zurück. Schwert und Krieger teilten sich exakt in der Mitte, und die beiden Hälften klappten nach beiden Seiten auf. Sie hatte sich nie gefragt, wie so schwere Türen - jeder Flügel musste eine halbe Tonne wiegen - sich auf eine so winzige Berührung hin öffnen konnten. Wie so vieles in ihren Jahren auf New Avalon hatte sie es einfach als gegeben hingenommen. War das ihr größter Fehler gewesen, dass sie sich nie für solche Kleinigkeiten interessiert hatte? Ihr Bruder hatte immer in den winzigsten Details eine Menge entdeckt, was ihn beschäftigte. Andererseits hatte Victor es auch geschafft, zwei Sternenreiche zu verlieren, weil er sich nicht auf das Wesentliche konzentriert hatte, während Katrina in nur zehn Jahren eine Machtfülle errungen hatte, die sie mehrmals in Reichweite der Herrschaft über die gesamte Innere Sphäre gebracht hatte.
Aber immer wieder hatte man ihr diese Erfüllung aus den Händen gerissen. Der Traum vom Titel der Ersten Lady. Ihre Lyranische Allianz. Und jetzt auch das Reich ihres Vaters. Alles verloren.
Vorerst.
Ihre hohen Absätze knallten laut auf dem Marmorboden des
Thronsaals. Rote und blaue Schlieren zogen sich in Wirbeln durch
den goldenen Stein, dessen perfekt quadratische Platten sich
nahtlos ineinander fügten, so dass der gesamte Hallenboden den
Eindruck eines riesigen fünfzig mal zweihundert Meter großen
Marmorblocks erweckte. Sie hob den Blick zum Balkon, der den
riesigen Saal an drei Seiten einrahmte. Bei offiziellen Empfängen
hatte Hanse Davion den Balkon stets für die Bürger New Avalons
geöffnet. Er bot Sitzplätze für zweitausend Besucher. Im Hauptraum
der Halle konnten fünftausend weitere in respektvoll angeordneten
Sitzreihen Platz nehmen. Die Davions hatten sich noch nie mit
Kleinigkeiten zufrieden gegeben. Ebensowenig wie sie.
Der Weg zur Empore am gegenüberliegenden Ende des Saals gewährte
ihr mehrere Minuten bittere Gedanken über all jene, die sie im
Stich gelassen hatten. Ihre Tante Nondi, in der Schlacht um Tharkad
City gefallen. Richard Dehaver, verschwunden. Der Verlust ihrer
Markfürsten, James Sandoval und George Hasek. Dann Jackson Davion.
Und Vlad, der sie verraten hatte, als sie seine Hilfe am
dringendsten brauchte. Das Versagen Simon Gallaghers ... Nun, den
würde ihre Leibgarde bald vorführen.
»Aber das sind nicht meine einzigen Anhänger«, stellte sie mit
lauter Stimme fest. »Victor hat noch einiges zu lernen.«
Die Empore stellte eine kreisrunde Plattform dar, eine unbequem
hohe Stufe über dem Saalboden. Vorsichtig, um das enge, mit
Silberfäden durchwirkte Kleid nicht zu zerreißen, stieg Katrina
hinauf und blieb vor den drei Thronen stehen. Hinter ihnen befand
sich ein großes, kreisrundes Fenster. Es hatte einen Durchmesser
von zehn Metern und schaute nach Norden, so dass die Sonne diesen
Teil des Saals von morgens bis abends mit Licht erfüllte. Bei
Nachmittagsempfängen fing das schwere Panzerglas das Licht ein und
warf es mit leuchtender Fülle in den Raum, so dass die
Herrscherfamilie in goldenem Glanz gebadet wurde, wie Götter in
sterblichen Hüllen. Ein hoher Thron war für den ersten Prinzen der
Vereinigten Sonnen reserviert, ein zweiter für seine Gemahlin, und
der dritte, kleinere für den Thronfolger. Katrina zitterte und sah
für einen Moment Hanse Davion und Melissa wieder auf ihren Plätzen,
und ihren Bruder Victor auf dem Thron des Reichserben, von wo aus
sie zu dritt über ihr Leben zu Gericht saßen.
Victor, auf dem Platz, der ihr zugestanden hätte. Dieser Gedanke genügte, die Illusion zerplatzen zu lassen, und Katrina trat mit schnellem, festem Schritt vor, um die Hand auf die Armlehne des prächtigen Herrscherthrons zu legen, auf dem ihr Vater einst gesessen hatte, und der seit sieben Jahren ihr gehörte. Nach ihrer Thronbesteigung hatte sie eine breite Decke aus gekämmtem Winterfuchspelz darüber legen lassen, allzeit warm, weich und anschmiegsam. Jetzt trat sie langsam zurück und zog die Fuchspelzdecke ab. Sie glitt lautlos beiseite und gab den darunter liegenden Sessel aus getriebenem Gold und Leder frei. Katrina legte sich den Pelz um die Schultern und versank in diesem Luxus.
»All das wird eines Tages wieder mir gehören. So oder so werde ich zurückkehren und mir holen, was mir zusteht.«
Sie trat am Thron vorbei, stieg an der Rückseite der Empore hinab und ging hinüber zum Fenster. Es gab den Blick hinter dem Palais frei, wo sich der Mont Davion zu einer Hochebene weitete, die dem Militär als Sammelpunkt und Behelfsraumhafen diente. Während abendlicher Empfänge füllte der Start eines Landungsschiffes von diesem Feld das Thronsaalfenster mit dem Gleißen einer aufgehenden Sonne. Wie ein Logenplatz in einer Mecharena auf Solaris VII bot dieser Standort Katrina den besten Ausblick auf die Schlacht, die unter ihr tobte ... nur belief sich ihr Einsatz auf weit mehr als nur Geld, und ihre Champions hatten bereits so gut wie verloren.
Die 22. Avalon-Husaren hielten den Raumhafen, aber nur, weil sie das Feld nach Simon Gallaghers Rückzugsbefehl als Erste erreicht hatten. Zu diesem Zeitpunkt hätte Katrina noch entkommen können, um mit dem einzigen wartenden Landungsschiff ins All zu starten und sich in den Schutz der angeblich neutralen Rechtsprechung Thomas Mariks abzusetzen. Doch sie hatte zu lange überlegt. Als die angeschlagenen Bataillone der Davion Heavy Guards den Platz angriffen, hatte das jeden Fluchtversuch zu einem riskanten Unternehmen gemacht. Selbst als die 19. Arkturusgarde nach und nach eingetroffen war, um ihre loyalen Verteidiger zu verstärken, hatte sie gezögert. Die Heavy Guards waren nicht zu unterschätzen, und sie hätten sich möglicherweise willentlich in den Tod gestürzt, um ihr zum Abflug ansetzendes Schiff aufzuhalten.
Jetzt war es für irgendwelche Fluchtgedanken natürlich viel zu spät. Tancred Sandovals 2. Robinson Rangers hatten ein paar versprengte Elemente der 299. ComGuards auf die Hochebene gescheucht. Dann war Victors 10. Lyranische Garde eingetroffen und hatte ihr Gewicht nachdrücklich auf der Seite der Angreifer deutlich gemacht. Während sie das Geschehen beobachtete, erreichten Nachzügler anderer ihrer zerschlagenen Einheiten das Plateau: weitere ComGuardisten, eine Kompanie der Remagen-MCM, zwei Lanzen der 5. Donegal, aber immer wurden sie von einer gemischten Kompanie der 2. Davion oder Ceti-Husaren verfolgt. Jetzt hatten sich Victors Truppen zu einem stetig enger werdenden Kessel formiert, der den Militärraumhafen in einen Schießstand verwandelte - und ihre Loyalisten in Zielscheiben.
Zehn Minuten später fand die Leibgarde sie. Katrina hatte gerade Victors Daishi auf dem Schlachtfeld ausgemacht und beobachtete, wie er einen Ausfall nach dem anderen anführte. Sie wartete darauf, dass ein paar ihrer Loyalisten seinen Angriff abwehrten und den OmniMech in einen Schrotthaufen verwandelten, aber immer wieder gelang es ihm, sich unverletzt zurückzuziehen.
Nur eine Falle schien Erfolg versprechend, als eine komplette Kompanie der 22. Avalon sich in einem Selbstmordangriff auf ihn stürzte. Doch im letzten Moment drängte sich ein Templer in den Kampf und opferte sich an Victors Stelle. Katrina hoffte, dass es Tancred Sandoval gewesen war. Sie beobachtete, wie Victors OmniMech zurück in die sicheren Reihen seiner Untoten wankte.
»Prometheus«, stellte sie dem wartenden Corporal gegenüber fest. »Victor hat seinen BattleMech Prometheus getauft. Der Lichtbringer. Welch ein edler Name für eine Maschine, die Tod, Vernichtung und Elend bringt.« Sie drehte sich mit anklagendem Blick zu dem uniformierten Soldaten um. »Du. Du hast vermutlich deinem Gewehr einen Namen gegeben, oder?«
»Alexis«, gestand der Mann mit verlegenem Nicken. Katrina belohnte ihn mit einem sardonischen Grinsen. »Süß.« Erst dann schaute sie an dem Soldaten vorbei und stellte fest, dass die Garde mit leeren Händen zurückgekommen war. »Wo ist Gallagher?«
Der Corporal kaute auf der Unterlippe und wich ihrem Blick aus. »Wir haben ihn im Fuchsbau gefunden, Hoheit. Er hatte alle anderen aus dem Raum geschickt und sich eingeschlossen, bevor er ... er ...«
»Sich erschossen hat«, beendete Katrina den Satz mit einer Gewissheit für ihn, die etwas Hellseherisches hatte. »Simon war im Grunde seines Herzens schon immer ein Feigling. Und unfähig bis zum Schluss. Nicht einmal fähig, einen Krieg mit der angemessenen Würde zu verlieren.« Sie zog den warmen Pelz enger um den Körper, schaute wieder hinab auf die Schlacht und wartete einen sich unangenehm dehnenden Moment lang. Auf dem Feld kämpften und fielen weitere Loyalisten, während Katrina zögerte.
»Holt Jackson Davion«, erklärte sie schließlich. »Er steht in seiner Palastwohnung unter Hausarrest. Er soll meine Befehle an die Armee überbringen und dieser Sache ein Ende machen.«
»W-wie?«, fragte der Corporal. »Habt Ihr
Befehle für ihn?«
»Er wird wissen, was ich meine«, antwortete Katrina, ohne den Blick
vom Schlachtfeld zu heben. Andererseits brauchte sie Jackson nicht,
damit er die Verantwortung für eine >Fehlinterpretation<
ihrer Befehle übernahm. Wenn dieser Kampf endete, dann sollte das
auf ihren direkten Befehl hin geschehen. Sie suchte Victors Mech
und ließ ihr Gesicht zu einer Maske erstarren, um zu verhindern,
dass Wut und Enttäuschung die ruhige Fassade zerstörten. Nicht,
dass es irgendetwas geholfen hätte. Als sie weitersprach, war ihre
Stimme erfüllt von eisigem Zorn.
»Sagt ihm«, befahl sie. »Sagt ihm ... wir ergeben uns.«
Milton hat einmal geschrieben, es sei »besser in der Hölle zu herrschen, als im Himmel zu dienen«. Was für eine unglaubliche Hybris, doch ich frage mich noch immer, ob er damit nicht den meisten Tyrannen, die Paradise Lost je gelesen haben, aus der Seele sprach. Eine Schande, dass Luzifer der Schande entgangen ist, schlichtweg vergessen zu werden.
- Aus Ursache und Wirkung, Avalon Press. New Avalon, 3067