Zwanzigstes Kapitel
Ist es möglich, dass er mich wahrlich liebt, Maman? Wage ich, es zu glauben?
Ein Warnschrei hallte vom Parlamentsgebäude herüber. Rayne warf Englands fülligen Prinzregenten aufs Pflaster und legte sich – sehr zum Verdruss seiner königlichen Majestät – schützend über ihn. Der Pistolenschuss, der gleich darauf krachte, pfiff harmlos über sie hinweg.
Momente später blickte Rayne über die Straße, wo ein Trupp von Agenten unter Führung von Will Stokes drei bewaffnete Attentäter umkreiste. Die Schurken schienen schockiert, dass ihr Anschlag vereitelt wurde.
Derweil lag Prinny japsend und fluchend unter Rayne. Als er jedoch gewahr wurde, dass einzig seine Würde kurzzeitig leiden musste, grinste der Prinz verlegen.
»Bei Gott, Haviland, Sie hatten Recht. Die wollten mich fürwahr umbringen!«
»Glücklicherweise verfehlten sie, Eure Hoheit«, sagte Rayne und half dem korpulenten Prinzen so schwungvoll auf, dass dessen Korsett knarzte.
»Mein Dank, Haviland. Wie kann ich das jemals wiedergutmachen?«
»Das ist nicht nötig, Hoheit. Aber Ihr dürftet die Bemühungen des Bow Street Runner Will Stokes würdigen. Stokes hat während der letzten Woche sehr viel Zeit auf Euren Schutz verwandt.«
»Werde ich, mein Guter, werde ich«, bestätigte der Regent. »Und ich werde außerdem Ihrer Großmutter gegenüber erwähnen, welche Dienste Sie leisteten. Mary hat einen formidablen Enkelsohn großgezogen, wenn Sie mich fragen.«
»Ich danke Euch, Hoheit«, sagte Rayne trocken. Er trat zurück, als sich die übliche Entourage des Regenten aufgeregt um ihn scharte. Prinny selbst schien nicht so entsetzt wie es ein Mann sein sollte, der eben dem Tod entkommen war. Er wirkte sogar recht aufgekratzt angesichts des misslungenen Angriffs. Vielleicht hoffte er bereits, dass ihm der Anschlag auf sein Leben zu größerer Beliebtheit verhelfen und die kritischen Stimmen gegen seine maßlose Verschwendung vorerst verstummen lassen würde. Seine Untertanen mochten nichts von seiner Politik oder seinem persönlichen Betragen halten, aber die Mehrheit von ihnen wünschte ihm gewiss nicht den Tod.
Rayne verneigte sich und ging durch die Masse der Schaulustigen hinüber zu Will, der die Verhaftung der drei Haupttäter überwachte. Keiner von ihnen bemühte sich, seine Unschuld zu beteuern, waren sie doch auf frischer Tat ertappt worden, nachdem man sie tagelang observiert hatte.
Zum Glück zahlte sich die mehrere Mann starke Überwachung aus, die Rayne veranlasst hatte. Diese drei Verschwörer würden vor Gericht gestellt und ihre Komplizen gleichfalls dingfest gemacht. Rayne war sicher, dass die Beweise ausreichten, um sie alle schuldig zu sprechen.
Während die drei Männer in einen Wagen gesperrt wurden, der sie ins Old Bailey brachte, dachte Rayne über die Ironie nach, zwei Mal innerhalb von zwei Tagen mit Verhaftungen zu tun zu haben.
»Glänzende Arbeit, mein Freund«, sagte er zu Will. »Seine Hoheit lässt dir übrigens Dank ausrichten.«
Will grinste noch breiter als Prinny zuvor. »Wir beide sind ein gutes Team, alter Knabe.«
»Ja, sind wir.«
»Bist du sicher, dass ich dich nicht überreden kann, zur Bow Street zu kommen?«
»Gegenwärtig nicht, obwohl ich verspreche, dass ich darüber nachdenken werde. Aber nun entschuldige mich bitte. Ich muss mich um dringende private Angelegenheiten kümmern.«
»Deine junge Braut«, riet Will amüsiert.
»Ebendie«, sagte Rayne.
Er wollte schnellstens nach Riverwood. Es hatte ihm nicht gefallen, Madeline nach Hause zu schicken, gab es doch so vieles zu besprechen. Madeline hatte eine ausführlichere Entschuldigung verdient als die, die er ihr gestern gab.
Um wenigstens einen Teil seiner Vergehen gutzumachen, hatte er vor, bei seinem Londoner Stadthaus vorbeizufahren und die schönsten Stücke des Haviland-Schmucks zu holen. Außerdem wollte er Walters anweisen, bis auf weiteres seine Geschäfte zu übernehmen, da er eine längere Abwesenheit von London plante. Anschließend würde er eiligst nach Riverwood fahren, wo er hoffentlich ein paar Tage ungestört mit Madeline verbringen und den Schaden wieder richten konnte, den er ihrer Ehe zugefügt hatte.
Bei seiner Ankunft in der Bedford Avenue jedoch öffnete ihm seine jüngere Schwester anstelle von Walters, und sie war unübersehbar verzweifelt.
»Dem Himmel sei Dank, du bist hier, Rayne!«, rief Daphne und zog ihn eiligst nach drinnen. »Ich muss dich sofort sprechen.«
»Was ist denn, meine Liebe?«, fragte Rayne, der bemerkte, dass Walters ganz in der Nähe wartete.
Daphne bat den Diener, auf Abstand zu gehen, ehe sie erklärte: »Ich bin direkt hergekommen, um dich zu warnen. Ich dachte, du solltest wissen, dass Großmama Schritte gegen deine Gemahlin unternehmen will.«
»Was für Schritte?«
»Großmama fuhr heute Nachmittag nach Riverwood, wo sie Madeline eine beträchtliche Summe anbieten will, damit eure Ehe gelöst werden kann.«
»Gelöst?«
»Annulliert!«, korrigierte Daphne ungeduldig.
Ein Dutzend Fragen kamen Rayne in den Sinn, von denen er sich die einfachste griff. »Woher weißt du davon, Daphne?«
»Sie erwähnte es Penelope gegenüber, und Pen verplapperte sich bei mir. Grandmama sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, eure Ehe wäre so gut wie beendet.«
Raynes sämtliche Muskeln verkrampften sich. Nach den grundlosen Anschuldigungen, mit denen er Madeline attackiert hatte, wäre sie nun vielleicht sogar froh, diese Verbindung aufzugeben und nähme das großzügige Angebot an, um ihre Unabhängigkeit zurückzubekommen.
»Walters!«, rief Rayne seinen Diener herbei.
»Ja, Mylord?«
»Lassen Sie mir umgehend ein Pferd satteln.« Reiten wäre sehr viel schneller als eine Fahrt mit der Kutsche oder auch einem offenen Einspänner. Vor allem war ein Pferd schneller gesattelt als ein Wagen angespannt, und Rayne fürchtete, dass jede Minute zählte.
»Sehr wohl, Mylord«, antwortete Walters und ging.
»Wo willst du hin?«, fragte Daphne, als Rayne in sein Studierzimmer eilte.
»Was glaubst du? Ich muss zu meiner Gemahlin, bevor es zu spät ist.«
Als Daphne ihm folgen wollte, hielt Rayne sie zurück und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin dir überaus dankbar, meine Liebe, aber fahr du jetzt heim.« Mit diesen Worten dirigierte er seine Schwester behutsam Richtung Tür.
Er war schon wieder auf dem Weg ins Studierzimmer, da rief Daphne ihm zu: »Ich mag Madeline sehr, Rayne. Ich möchte nicht, dass Großmama euch um euer Glück bringt.«
»Vertrau mir, das lasse ich nicht geschehen«, erwiderte er entschieden. »Und nun fahr nach Hause. Ich kümmere mich um unsere Großmutter.«
Er wartete nicht ab, ob Daphne ihm gehorchte. Nachdem er den Schlüssel aus seinem Schreibtisch geholt hatte, öffnete er den Safe und nahm einen großen, samtbespannten Kasten heraus. Zehn Minuten später ritt er im Galopp gen Chiswick, den Schmuckkasten hinten an seinen Sattel gegurtet.
Sein frischer Hengst war schnell, dennoch blieb Rayne zu viel Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen.
Er durfte Madeline nicht verlieren, nicht nachdem er gerade erst begriffen hatte, wie viel sie ihm bedeutete. Und doch könnte er sie schon davongetrieben haben, und womöglich war das Angebot seiner Großmutter der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Zwar war er unsagbar wütend auf seine Großmutter, und er würde ihren Einmischungen ein für alle Male einen Riegel vorschieben, doch zuerst musste er Madeline sehen, ehe sie ihn verließ.
Er liebte Madeline, liebte sie von Herzen.
Auf ihre einzigartige Weise hatte Madeline den Panzer durchdrungen, mit dem er sich umgab.
Und nun?
Ursprünglich hatte er Madeline geheiratet, weil er eine Gemahlin brauchte, die ihm Erben gebar. Doch inzwischen wollte er weit mehr. Er wünschte sich Madeline als Freundin, als Geliebte, als Gefährtin, nicht bloß als die Mutter seiner Kinder.
Und er wollte von ihr geliebt werden.
Aber was wollte sie?
Natürlich konnte er verhindern, dass sie ihn verließ, aber nach der unverzeihlichen Art, wie er sie behandelt hatte, würde Madeline ihn eventuell niemals lieben können.
Rayne war keine Meile mehr von Chiswick entfernt, als er die Barouche erkannte, die ihm entgegenkam. Er schwenkte nach rechts aus, so dass die Kutsche seiner Großmutter geradewegs auf ihn zufuhr, und brachte sein Pferd schnaubend und stampfend zum Stehen.
Zuerst trieb Lady Havilands Kutscher sein Gespann an, als wollte er über Rayne hinwegdonnern, doch als er näherkam, riss er die Zügel nach hinten.
»Mylord!«, rief der Kutscher aus, denn Rayne hatte seinen Hengst in letzter Sekunde beiseitegerissen. »Ich hielt Sie irrtümlich für einen Wegelagerer.«
»Nur die Ruhe, Muller. Ich möchte mit meiner Großmutter sprechen.«
»Haviland!«, ertönte eine herrische Stimme aus dem Wagen. »Was in aller Welt hat das zu bedeuten? « Sie hatte ihr Seitenfenster geöffnet.
»Dieselbe Frage sollte ich dir stellen, Großmutter«, antwortete er sehr ruhig.
Rayne stieg ab und befahl Muller, die Kutsche zu wenden und zurück nach Riverwood zu fahren. Dann band er sein Pferd hinten an die Barouche und stieg ein.
»Was sind das für flegelhafte Manieren?«, empörte Lady Haviland sich.
Rayne blickte sie streng an. »Wir haben ein ernstes Wort miteinander zu reden.«
Raynes größte Sorge war, dass Madeline fort wäre, bis sie Riverwood erreichten. Seiner Großmutter zufolge hatte Madeline deren Angebot von fünfzigtausend Pfund nicht direkt abgelehnt, ja, sogar versprochen, darüber nachzudenken.
Deshalb sprang Rayne aus der Kutsche, sowie sie vor dem Herrenhaus hielten, und stürmte die Stufen hinauf zum Eingang.
Als er die Tür aufriss und in die Eingangshalle rannte, sah er als Erstes seinen Majordomus.
»Bramsley, wo ist Lady Haviland?«
»Im grünen Salon, Mylord.«
Sein rasendes Herz schlug ein klein wenig langsamer. Wenigstens war sie noch hier.
»Lassen Sie mein Pferd in den Stall führen«, befahl er Bramsley im Vorübergehen, »und sorgen Sie dafür, dass der Kasten an meinem Sattel in mein Studierzimmer gebracht wird.«
»Sehr wohl, Mylord.«
Als er in den Salon kam, saß Madeline auf dem Sofa.
»Gott sei Dank«, murmelte Rayne, doch dann sah er, dass sie ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte.
Im nächsten Moment blickte Madeline auf und bemerkte ihn. Rayne wollte sich ohrfeigen für den Schmerz, den er in ihren Augen erkannte.
Nur vage nahm er wahr, dass Freddie ebenfalls hier war, den er jedoch keines Blickes würdigte. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich seiner Gemahlin.
»Rayne«, hauchte sie. »Stimmt etwas nicht?«
»Oh ja, einiges stimmt nicht, Madeline«, antwortete er ruhig. »Wie ich hörte, machte meine Großmutter dir ein empörendes Angebot.«
»Ja«, flüsterte sie.
»Ich hoffe, du erwägst nicht, es anzunehmen.«
Ehe sie etwas entgegnen konnte, verkündete Freddie: »Es kommt mir vielleicht nicht zu, das zu sagen, Rayne, aber deine Großmutter ist eine wahre Hexe.«
»Dem stimme ich voll und ganz zu.«
»Und was gedenkst du zu unternehmen?«
Rayne ignorierte seinen Cousin und streckte Madeline seine Hand hin. Sollte er ihr jetzt seine Liebe bekunden, würde sie ihm wohl eher nicht glauben, also musste er ihr einen Beweis liefern. »Kommst du bitte mit mir, Liebes?«
Ihre fragenden Augen waren beinahe zu groß für ihr Gesicht, als sie zögernd aufstand.
Wortlos führte Rayne sie hinaus zur Barouche seiner Großmutter. Er hatte Muller angewiesen, dort in der Einfahrt zu warten, und war unendlich froh, dass der Kutscher ihm gehorcht hatte, obgleich die Witwe zweifellos gedroht haben dürfte, den langjährigen Bediensteten zu feuern.
Rayne öffnete die Kutschentür weit und trat auf die unterste Stufe. Lady Haviland saß stocksteif auf der anderen Seite und weigerte sich, auch nur in seine Richtung zu schauen.
»Es ist an der Zeit, dass du meine Gemahlin in aller Form um Verzeihung für deine schamlose Einmischung bittest, Großmutter«, sagte Rayne.
Selbige holte sichtlich entsetzt Luft. »Ich werde diese Unterhaltung nicht vor dem Personal führen, Sir!«
Ihr Publikum bestand allerdings nicht nur aus den Bediensteten ihrer Ladyschaft, wie Rayne bemerkte, sondern auch Freddie war ihnen hinausgefolgt, zusammen mit zweien seiner Diener. »Denkst du, mich kümmert, wer uns hört?«, konterte Rayne streng.
Hierauf änderte sich die Miene seiner Großmutter, und ihr Tonfall wurde eine Nuance weicher, fast flehend. »Rayne, begreifst du nicht? Ich will doch nur dein Bestes. Du hast einen fürchterlichen Fehler gemacht, so zu heiraten. Ich will Erben für den Haviland-Titel, keine Frage, aber nicht zu diesem Preis.«
»Großmutter!«, warnte Rayne.
Mit einem kleinen Aufschrei fasste Lady Haviland sich an die Brust und sank an die Rückenlehne. Rayne biss die Zähne zusammen. Dieses dramatische Schauspiel hatte er schon häufiger gesehen: Sie gab wieder einmal vor, einen Herzanfall zu haben.
»Muller, bitte bringen Sie Lady Haviland auf schnellstem Weg zu ihren Ärzten nach London. Sie fühlt sich zu schwach, um dieses Gespräch fortzusetzen, und muss umgehend Bettruhe halten.«
Seine List zeigte die gewünschte Wirkung. Während er tat, als wollte er die Kutschentür zuschlagen, setzte sich Lady Haviland kerzengerade auf. »Nein, warte!«
Rayne zog Madeline dichter zu sich und legte einen Arm um ihre Schultern. Sowie seine Großmutter mit verächtlichem Blick zu seiner Gemahlin sah, warf er den Fehdehandschuh. »Falls ich zwischen euch wählen muss, Großmutter, entscheide ich mich für Madeline. Ich liebe sie, und ich beabsichtige, sie als meine Gemahlin zu behalten. Eine Annullierung kommt nicht in Betracht!«
Er fühlte, wie sich Madeline neben ihm versteifte. Erschrocken blickte sie zu ihm auf.
Ihre leuchtenden Augen wirkten verwirrt und ungläubig. »Du liebst mich?«, flüsterte sie.
Rayne lächelte ihr zu. »Mehr als ich sagen kann, meine Süße.«
Dann wandte er sich wieder zu seiner Großmutter und sagte schneidend: »Du wirst sie in unsere Familie aufnehmen, oder ich will nichts mehr mit dir zu schaffen haben. Bis dahin bist du hier und in meinen anderen Häusern nicht mehr willkommen.«
Lady Haviland nahm seine Drohung offenbar ernst, denn sie murmelte, »Nun denn, wenn du darauf bestehst … ich entschuldige mich.«
»Das reicht mir nicht«, entgegnete Rayne. »Du solltest dich bei meiner Gemahlin entschuldigen.«
Die Witwe presste die Lippen fest zusammen und schwieg eisern, ehe sie einen leidvollen Seufzer von sich gab. »Ich bitte Sie um Verzeihung, Miss Ellis … ähm, Lady Haviland. Ich hätte mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen dürfen.«
Rayne wollte sie für den abfälligen Ton rügen, doch Madeline legte eine Hand auf seinen Arm.-
»Ich danke Ihnen, Mylady«, sagte sie sanft. »Wenn es Ihnen recht ist, betrachten wir diesen unglücklichen Vorfall als Missverständnis und vergessen ihn.«
Lady Haviland schien zu hadern, ob sie das Friedensangebot ablehnen sollte, nickte dann jedoch knapp.
»Das genügt fürs Erste«, sagte Rayne, der die Sache gegenwärtig nicht weiter forcieren wollte. Auch wenn er nicht das Zugeständnis hatte, das er wollte, machte seine Großmutter immerhin einen bedeutenden Schritt, indem sie sich überhaupt entschuldigte. Und Madeline war anscheinend gewillt, die Angelegenheiten auf sich beruhen zu lassen. Rayne bewunderte ihre Souveränität.
Er trat zurück und bedeutete dem Kutscher loszufahren. Seite an Seite mit Madeline beobachtete er, wie Muller die Peitsche schnalzen ließ und die Barouche losfuhr.
Dann sahen sie einander an. In Madelines Augen erkannte er Sehnsucht, Hoffnung – dieselben Empfindungen, die auch ihn erfüllten.