Viertes Kapitel
Wie faszinierend es mitanzusehen ist, wenn so viele Schönheiten um Lord Havilands Aufmerksamkeit buhlen, Maman. Ich würde mich niemals derart schamlos betragen, und dennoch kann ich nicht anders, als mir zu wünschen, er würde mich so anschauen wie er die liebreizende Duchess of Arden ansieht.
Der Ballsaal von Danvers Hall erstrahlte im Licht unzähliger Kronleuchter, das von den eleganten Kleidern der über hundert Gäste reflektiert wurde.
Für Madeline jedoch war der Ball genauso unangenehm wie befürchtet. Nicht bloß fühlte sie sich in dieser illustren Gästeschar schrecklich fehl am Platze, sondern überdies schmerzte es sie geradezu, Lord Haviland mit einer Schönheit nach der anderen tanzen zu sehen.
Die letzte halbe Stunde lang hatte sie ihn beobachtet, ohne dass er ihre Anwesenheit bemerkte. Sie versteckte sich nicht, sagte Madeline sich, auch wenn die großen Topfpflanzen sie größtenteils von seinem Blick abschirmten. Nein, sie wollte lediglich vermeiden, dass Haviland sah, wie schäbig sich ihre Erscheinung im Vergleich zu der aller anderer Damen ausnahm. Ihr unterm Busen gerafftes Kleid aus lavendelfarbenem Crepe mit den kurzen Puffärmeln mochte für einen Landball ausreichen, nicht aber für eine solch illustre Gesellschaft wie die heute Abend.
Alles, was Rang und Namen hatte, schien hier zu sein, denn Danvers Hall war nur ein halbes Dutzend Meilen von Londons vornehmem Stadtteil Mayfair entfernt, wo die Spitzen der Gesellschaft residierten, wenn sie nicht auf ihren Landsitzen weilten. Haviland in seiner schwarzen Jacke, der elegant gewundenen weißen Krawatte, der silbernen, bestickten Weste und den weißen Satin-Kniebundhosen sah sündhaft gut aus.
Alle Damen blickten sich nach dem verwegen schönen Mann um. Selbst vom anderen Ende des Ballsaals aus war sein Charisma unübersehbar. Und anscheinend erlag jede seiner Tanzpartnerinnen seinem Charme.
Ein Wolf im Schafspelz, Maman, dachte sie, als er ein weiteres junges Fräulein zur Anstandsdame zurückgeleitete. Haviland war stark, verschlagen und unter gewissen Umständen sogar tödlich, nahm Madeline an; in seinem vorherigen Beruf musste er es gewesen sein.
Außerdem war er aufregend, betörend und faszinierend. Was offenbar auch fast jede andere Frau im Saal dachte.
Angesichts der Schamlosigkeit, mit der mehrere Schönheiten sich ihm förmlich aufdrängten, knirschte Madeline mit den Zähnen. Schlimmer noch, sie selbst war keineswegs immun gegen die Reize seiner Lordschaft.
All diese ledigen Damen, die sich überschlugen, seine Countess zu werden, sollten ein Grund mehr sein, Madelines alberne Schwärmerei für Haviland auf der Stelle zu überwinden. Zumal sie sich bei Gott nicht wie diese kichernden Debütantinnen aufführen wollte, die ihn belagerten.
In dem Moment begann Haviland, eine Quadrille mit Arabellas Schwester Roslyn zu tanzen, die seit kurzem die Duchess of Arden war. Die Duchess war von außergewöhnlicher Schönheit: groß, schmal, überlegen elegant mit zarten Zügen und blassgoldenem Haar. Der Haushälterin Mrs Simpkin zufolge war sie überdies sehr klug und gebildet.
Als die wunderschöne Duchess mit dem Earl of Haviland tanzte, konnte Madeline nichts gegen die Eifersucht tun, die sich in ihr regte. Sie lachten zusammen wie alte Freunde … oder Intimeres. Doch soweit Madeline von Mrs Simpkin erfahren hatte, war Roslyn überglücklich in ihrer Ehe mit dem Duke.
Zweifellos würde die Duchess die ideale Partie für Haviland finden. Und du, ermahnte Madeline sich, wirst nicht auf ihrer Liste stehen.
Bei dem Gedanken wurde ihr das Herz schwer, auch wenn ihr Gewissen sie schalt. Sie würde nicht in Selbstmitleid versinken!
Und sie betrachtete sich nicht als minderwertig, obgleich sich derlei Empfindungen in solch illustrer Gesellschaft allzu leicht einstellten, wie Madeline gestehen musste.
Sie war eine Außenseiterin in dieser Welt, und das nicht bloß in punkto Vermögen oder Herkunft. Madeline hatte sich stets über die Anmaßungen und Diktate der feinen Gesellschaft lustig gemacht. Und bei den raren Gelegenheiten, bei denen sie sich unter die feinen Kreise mischte, hatte sie sich häufig auf die Zunge beißen müssen. Vor allem aber hielt sie Bälle für eine frivole Zeitverschwendung, und sie fühlte sich nutzlos, wenn sie nichts zu tun hatte.
In Wahrheit gab es keinen Grund für sie, hier zu sein. Haviland brauchte ihren Schutz offensichtlich nicht wie behauptet. Er wurde recht gut allein mit seinen zahlreichen Eroberungen fertig. Und Arabella war viel zu beschäftigt, um Madeline mit den anderen Lehrerinnen bekanntzumachen.
Madeline hatte sich eben zur Balltür gewandt, um sich zurückzuziehen, als eine freundliche Männerstimme ihren Namen rief.
Beim Anblick von Mr Freddie Lunsford besserte sich Madelines Stimmung merklich, auch wenn er wieder einmal aussprach, was ihm als Erstes in den Sinn kam. »Teufel auch, Miss Ellis, warum verstecken Sie sich hinter den Palmen? Rayne und ich haben Sie überall gesucht!«
»Ich fühle mich auf Bällen nicht sonderlich wohl«, antwortete sie ehrlich, während ihr Herz einen Schlag ausließ, weil der Earl angeblich nach ihr gesucht hatte. Was sie natürlich nicht glaubte, denn seine Lordschaft hätte sie leicht finden können.
»Ich halte auch nicht viel von ihnen«, pflichtete Freddie ihr bei und zupfte an seiner Krawatte, während er näher kam und sich zu ihr stellte. »Zu heiß und zu anstrengend. Auf Bällen muss man sich von seiner besten Seite zeigen, und ich bin so plattfüßig, dass ich die Zehen jeder Dame größter Gefahr aussetze, die ich zum Tanz bitte. Folglich ist es für alle das Beste, wenn ich nicht tanze, und wo bleibt der Spaß, wenn man nicht einmal tanzen kann?«
»Wie Recht Sie haben«, murmelte Madeline. »Haviland hingegen scheint sich zu amüsieren.« Sie konnte nicht umhin, abermals zu ihm zu sehen, wie er mit der Duchess tanzte.
»Oh nein, das ist bloß gespielt«, erklärte Freddie. »Er würde am liebsten alle Bälle meiden, wo doch die ganzen jungen Hühner sich um seine Gunst streiten. Aber noch dringender möchte er, dass seine Großmutter aufhört, ihn zur Heirat zu drängen.«
»Er versteht sich offenbar sehr gut mit der Duchess of Arden«, sagte Madeline.
»Ja, natürlich. Im letzten Jahr waren sie Nachbarn, und er hat ihr den Hof gemacht, bevor sie entschied, Arden zu heiraten. Die beiden hätten sich um ein Haar ihretwegen duelliert.«
Madelines Brustkorb wurde schmerzlich eng. Haviland hatte Roslyn Loring an den Duke of Arden verloren? »Wann war das?«, fragte sie beschämend matt.
»Ähm, letzten Sommer … vor ein paar Monaten erst. Ich glaube, Rayne hatte ihr einen Antrag gemacht, erzählt man sich zumindest. Aber erfolglos, wie man sieht.«
Madeline fragte sich, ob Haviland immer noch in die wunderschöne Duchess verliebt war. Wahrscheinlich, wenn er noch vor Monaten genug für sie empfunden hatte, um sie heiraten zu wollen.
»Wenigstens tut er endlich etwas, das seine Großmutter befürwortet«, fuhr Freddie fort. »Seine Spionagekarriere war ein dunkler Fleck auf dem Familienwappen, müssen Sie wissen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Madeline zögerte. »Haviland sagte, dass seine Großmutter von ihm erwartet, bald zu heiraten und für einen Erben zu sorgen.«
»Oh ja! Die Countess of Haviland will unbedingt, dass er den Titel weitergibt. Und für gewöhnlich setzt sie ihren Willen durch. Sie behauptet, bald ihren letzten Atemzug zu tun. Wenn Sie mich fragen, ist das schlichte Erpressung.«
»Will Lord Haviland denn nicht heiraten?«
»Das kann man so nicht sagen. Es sind weniger die Ketten des Ehelebens, die er scheut, als die der feinen Gesellschaft. Aber seine Großmutter ist ausgesprochen standesbewusst – wie mein Papa, nur eine Generation älter – und glaubt fest, dass Rayne zu einem anständigen Adligen wird, sobald er erst gut verheiratet ist. Lady Haviland irrt, wenn Sie mich fragen. Rayne würde niemals seinen Charakter ändern, nur um seiner Großmutter zu gefallen, selbst wenn er sich ihren Wünschen beugt, was eine Heirat betrifft.«
Freddie ließ Madeline keine Zeit, etwas zu sagen. Stattdessen grinste er und redete weiter. »Ich möchte wahrlich nicht in seiner Haut stecken. Wäre ich an seiner Stelle, würde ich mir so viel Zeit lassen wie möglich und meine letzten Momente in Freiheit genießen. Aber Rayne ist anders. Zum Beispiel hätte er heute Abend gar nicht herkommen müssen. Er hat ein paar Tage Ruhe vor seiner Großmutter, denn die ist noch bei einer Hausgesellschaft, die Lady Beldon in Brighton gibt. Lady Haviland ist eine Busenfreundin von Lady Beldon, die wiederum die Tante mütterlicherseits von Lord Danvers ist.«
Madeline kräuselte die Stirn, während sie versuchte, den Verwandtschaftsverhältnissen zu folgen. Freddie schüttelte sich übertrieben. »Es ist erschreckend, wie auf einmal das Heiraten in der Luft zu liegen scheint.«
»Was meinen Sie?«
»Na ja, die drei Loring-Schwestern haben alle kürzlich geheiratet, und Danvers‘ kleine Schwester, Lady Eleanor, verlobte sich letzte Woche mit dem Viscount Wrexham. Jetzt wird Rayne wohl der Nächste sein.«
Madeline wurde aufs Neue das Herz schwer. »Hat er schon eine engere Auswahl getroffen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort eigentlich nicht wissen wollte.
Entsprechend war sie erleichtert, als Freddie verneinte. »Bisher hat er sich nur unter den jungen Damen umgesehen, die seiner Großmutter gefallen würden. Aber ich glaube, dass er sich anderweitig umschauen muss, wie ich ihm erst heute sagte.«
Auf einmal sah er Madeline prüfend an, was sie gar nicht bemerkte, weil sie über die deprimierende Möglichkeit nachdachte, dass Haviland bald heiratete, und sich fragte, welche Damen die Zustimmung seiner Großmutter fänden.
Sie auf keinen Fall, denn ihr mangelte es sowohl an Schönheit als auch an Vermögen. Noch dazu war sie nicht besonders elegant oder damenhaft, auch wenn sie die Tochter eines Gentlemans war.
Madeline verstand nicht, weshalb sie auf einmal so niedergeschlagen war. Bis vor drei Tagen war sie mit ihrem Los zufrieden gewesen. All das Gerede über Havilands Heiratsaussichten musste verborgene Sehnsüchte in ihr geweckt haben.
Um sich von selbigen abzulenken, wechselte Madeline das Thema. »Mir scheint, mit Erpressung haben Sie selbst unangenehme Erfahrungen gemacht, Mr Lunsford.«
Er seufzte. »Ja, Solange Sauville. Sie ist eine französische Witwe, die ein gewisses Prestige in literarischen Kreisen genießt. Ich ließ mich von ihrer Schönheit blenden. Mein Vater wäre entsetzt, sollte ihm zu Ohren kommen, wie tief ich sank, und das nicht bloß, weil er Zügellosigkeit in jeder Form ablehnt, sondern besonders, weil ihm die Franzosen zuwider sind.«
Derlei Empfindungen waren Madeline nicht neu. In der englischen Aristokratie verachteten viele das Volk, das seinen König, seine Königin und unzählige andere Adlige köpfte, weil sie blaublütig waren. »Ich bin übrigens zur Hälfte Französin.«
»Wenigstens sieht man es Ihnen nicht an«, sagte Freddie in seiner unverblümten Art. »Madame Sauville sieht französisch aus und klingt auch französisch. Ich hätte mich nie mit ihr einlassen dürfen, das weiß ich heute. Aber mein Vater würde mir niemals glauben, dass ich meine Lektion gelernt habe.«
»Wissen Sie schon, wie Sie sich aus Ihrer misslichen Lage befreien?«
»Am Dienstagabend will Rayne zur Soiree bei La Sauville in London gehen und meine Briefe zurückholen. «
Madeline blickte ihn erstaunt an. »Wie ich zufällig hörte, sagten Sie, dass die Briefe in ihrem Schlafgemach wären.«
»Das behauptet sie. Rayne hofft, sie dort zu finden. «
»Ich frage mich, ob ich nicht doch helfen kann«, murmelte sie nachdenklich.
Freddie zog beide Brauen hoch. »Wie das, Miss Ellis? «
»Nun, ich könnte Lord Haviland zur Soiree begleiten, als sein Gast oder eine Freundin der Familie. Dort könnte er Mrs Sauville beschäftigen, während ich ihre Gemächer durchsuche. Ich dürfte weniger auffallen, weil ich eine Frau bin.«
Freddie starrte sie an und strahlte. »Das ist eine verteufelt clevere Idee, Miss Ellis! Rayne kann gewiss die Hilfe einer Dame gebrauchen. Er mag ja ein Meister der Verkleidung sein, aber nicht einmal er kann so aussehen, als gehörte er in das Boudoir einer Fremden. Und wenn Sie zur Hälfte Französin sind, passen Sie bestens in Madame Sauvilles elitäre Gästeschar, denn viele ihrer üblichen Gäste sind Emigranten. « Freddie überlegte kurz. »Hmm, ich fürchte allerdings, Rayne wird Sie nicht mitnehmen wollen. Er regelt Dinge gern auf seine Weise.«
»Dann sollten Sie ihn darum bitten«, schlug Madeline vor. »Ich würde Ihnen sehr gern auf jede mir mögliche Weise helfen.«
»Teufel auch, Sie sind großartig!«, verkündete Freddie grinsend.
Madeline erwiderte Freddies Lächeln, bis seine nächste Bemerkung ihr Lächeln ersterben ließ.
»Wenn Sie Rayne helfen, müssen Sie aber für Ihre Mühe entlohnt werden.«
»Entlohnt?«, wiederholte sie misstrauisch.
»Sie wissen schon … eine finanzielle Vergütung.«
Bei Gott, ihre finanzielle Situation war jammernswert, seit sie all ihre Ersparnisse ihrem Bruder gab, aber auf keinen Fall würde sie Geld von Mr Lunsford nehmen.
»Ich möchte keine Entlohnung«, erwiderte sie. »Ich biete Ihnen lediglich an, Ihnen zu helfen, und das ist wohl das Mindeste, was ich tun kann, bedenkt man, was Haviland für mich tat.«
Freddie beäugte sie verwundert, dann zuckte er mit den Schultern. »Wie Sie wünschen, Miss Ellis. Ich will einfach nur meine Briefe von dieser Teufelin zurück. «
Dann verbeugte er sich und schritt munter von dannen. Leider fühlte Madeline sich schlagartig recht einsam.
Lord Haviland beendete die Quadrille mit der Duchess of Arden, und bei dem Anblick spürte Madeline einen unerklärlichen Schmerz in ihrer Brust.
Es hat keinen Sinn, länger hierzubleiben, Maman, nur damit ich mich elend fühle, dachte Madeline und wandte sich abermals zur Ballsaaltür.
Vielleicht sollte sie sich in ihr Schlafgemach zurückziehen – oder, besser noch, sich einen hübschen Winkel in dem riesigen Herrenhaus suchen, wo sie ihrer Melancholie ungestört nachgeben konnte.
»Ich weiß, dass keine der Damen, die ich im letzten Monat vorschlug, Ihr Interesse zu wecken vermochte«, sagte die reizende Roslyn, Duchess of Arden, zu Rayne, als ihre Quadrille endete. »Für heute Abend hege ich jedoch große Hoffnungen, denn es sind mindestens sieben junge Damen hier, die Sie kennenlernen sollten.«
»Ich habe mit dreien von ihnen getanzt«, bemerkte Rayne.
»Und keine fand Ihre Zustimmung?«
Rayne lächelte reumütig. »Ich fürchte, nein, Durchlaucht. Was keineswegs bedeutet, dass ich Ihre Bemühungen nicht zu schätzen weiß.«
Die Duchess lächelte. »Bei näherer Bekanntschaft mag manche der Damen gewinnen, aber falls nicht, dürfen Sie nicht verzagen. Ich bin entschlossen, die ideale Braut für Sie zu finden.«
Roslyn selbst wäre die ideale Frau für ihn gewesen, dachte Rayne, als er sie von der Tanzfläche führte. Sie war wohlerzogen, elegant und wusste sich tadellos zu benehmen. Sie wäre eine bewundernswerte Gastgeberin bei Bällen wie diesem gewesen, und sie hätte darüber hinaus seiner Großmutter gefallen. Nur hatte Roslyn im letzten Sommer seinen Antrag abgelehnt und den Duke geheiratet.
Wie sie sagte, wollte sie Liebe in ihrer Ehe, und die hätte Rayne ihr nie geben können. Fraglos hatte er sich körperlich zu ihr hingezogen gefühlt – welcher Mann täte das nicht –, aber er hatte keine tieferen Gefühle für sie gehegt.
Betrüblicherweise war sie allen Damen, die Rayne über den Sommer kennenlernte, weit überlegen. Er konnte sich nicht vorstellen, den Rest seines Lebens mit einer der anständigen, geistlosen jungen Damen zu verbringen, mit denen er sich bislang unterhalten hatte. Ihre eifrigen Versuche, ihn zu beeindrucken, weckten in ihm eher den Wunsch, sie umgehend in ihre Klassenzimmer zurückzuscheuchen, wo sie die nächsten paar Jahre erst einmal zu Frauen heranreifen könnten.
Rayne geleitete Roslyn zu ihrem Ehemann zurück und plauderte einen Moment mit seinem früheren Rivalen. So erstaunlich es anmuten mochte, war keinerlei Feindseligkeit mehr zwischen ihnen. Vielmehr achtete Rayne Drew Moncrief, Duke of Arden, der mit einer wachen Intelligenz und überdies mit einem sehr ironischen Sinn für Humor gesegnet war.
Apropos wache Intelligenz … Rayne blickte sich im belebten Ballsaal nach Madeline Ellis um. Er fragte sich, ob er womöglich zu ihrem Schlafgemach gehen und sie zwingen müsste, hinunter zum Ball zu kommen. Ihm waren solche Feste nicht minder zuwider als ihr, doch er würde ihr gern den Weg in die hiesige Gesellschaft ebnen und sie mit ihren künftigen Nachbarn bekanntmachen.
Nicht zu vergessen, dass er sich einfach freute, Madeline wiederzusehen. Ihre Gesellschaft hatte etwas Belebendes, und allein bei dem Gedanken an sie empfand er ein angenehmes Kribbeln.
In dem Moment kam Freddie Lunsford hochzufrieden auf ihn zu.
»Was macht dich grinsen?«, fragte Rayne, sobald Freddie bei ihm war.
»Miss Ellis. Sie ist wahrlich eine Wucht und weiß, wie man einen Mann froh macht.«
Rayne neigte den Kopf und fragte sich, wie sie seinen Cousin für sich einnehmen konnte. »Erst heute Morgen nanntest du sie eine allzu unabhängige Frau.«
»Ah, die ist sie – aber auf eine angenehme Weise. Ich erzählte ihr von Madame Sauvilles Erpressungsversuch. «
Rayne glaubte zu verstehen. »Sie hat dir Einzelheiten entlockt, stimmt’s?«
»Tja, ja. Miss Ellis ist recht schlau.«
»Ist sie«, stimmte Rayne ihm zu.
»Und sie will helfen, meine Briefe wiederzubeschaffen. «
»Ach, will sie das?«
»Wie sie sagt, brauchst du eine Frau, um dich in der Höhle der Witwe zurechtzufinden, und dem stimme ich zu.«
Rayne schüttelte den Kopf. »Du entsinnst dich gewiss, dass sie ihre Hilfe bereits heute Morgen anbot und ich ablehnte.«
»Ja, aber das war, bevor sie darauf hinwies, welche Vorzüge es hat, eine Frau zu sein. Sie wird eher unbemerkt in Madame Sauvilles Schlafgemach gelangen als du. Du solltest ihre Hilfe annehmen, Rayne. Außerdem kann sie das Geld gebrauchen.«
»Geld?«
»Ich bot ihr eine Belohnung an, wenn sie mitmacht. Und als Gentleman muss ich Wort halten.«
Rayne war verärgert. »Ich sagte dir doch, du sollst Mrs Sauville mir überlassen, Freddie.«
»Ich weiß, aber ich halte Miss Ellis‘ Idee für gut«, sagte sein Cousin trotzig.
»Sei es drum, ich riskiere nicht, dass sie bloßgestellt wird, falls etwas schiefgeht.«
Immerhin zögerte Freddie. »Nun, vielleicht hast du Recht.«
Rayne verzichtete auf die Bemerkung, dass er selbstverständlich Recht hatte. Freddie war nicht gänzlich dumm, nur gedankenlos. Oft überlegte er nicht richtig, im Gegensatz zu Rayne.
Freddie lachte leise. »Ich schätze, ich ließ mich zu rasch von Miss Ellis umstimmen, aber du musst zugeben, dass sie so eine Art hat … Wenn sie mit einem redet, hört sich alles so folgerichtig an, als würde man mit einem Mann sprechen.«
»Ja, sie hat diese Art«, pflichtete Rayne ihm bei.
»Ein Jammer, dass du sie nicht wählen kannst«, fügte Freddie murmelnd hinzu.
»Als was wählen?«
Sein Cousin betrachtete ihn nachdenklich. »Na, als Braut. Wo du schon heiraten musst, wäre Miss Ellis vielleicht eine gute Wahl für dich.«
»Wie bitte?« Rayne sah seinen Cousin streng an. »Bist du betrunken, Freddie?«
»Kein bisschen. Ich meine nur, Miss Ellis ist von sehr angenehmem Wesen und noch dazu couragiert …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Ach, nein, ausgeschlossen. Es war ein idiotischer Gedanke. «
Rayne war sehr still geworden, denn er musste mit den unterschiedlichsten Gefühlen kämpfen, die Freddies beiläufige Bemerkung in ihm wachrief. Das vorherrschende war Verwunderung, gefolgt von Faszination. »Nein, ich möchte erfahren, was du denkst.«
Freddie schien verdutzt. »Du lachst ja doch bloß.«
»Ich versichere dir, dass ich es nicht tue.«
»Na schön, also seien wir ehrlich, Miss Ellis ist viel zu unscheinbar, um deine Countess zu sein. Andererseits könnte ihr schlichtes Äußeres ein Vorzug sein. Sie wäre zweifelsohne beglückt, dich zu ehelichen und ihrer finanziellen Schwierigkeit ledig zu werden. Es ist ja nicht an dem, dass sie in ihrem Alter viel zu bieten hat. Und mittellose alternde Jungfern dürfen nicht wählerisch sein.«
Rayne hatte keine Chance, etwas zu erwidern, denn Freddie kam gerade erst richtig in Schwung. »Sie wird sich gewiss nicht beklagen, falls du dein Vergnügen außerhalb des Ehebettes suchst, und ihre weiblichen Hüften sprechen dafür, dass sie dir den Erben schenkt, den du brauchst, um deine Großmutter zufriedenzustellen. «
So sehr es Rayne missfiel, dass sein Cousin solch intime Dinge über Miss Ellis sagte, merkte er doch bei dem Gedanken auf, sie zu heiraten.
»Nicht zu vergessen«, fuhr Freddie munter fort, »dass sie nicht die romantische Sorte Frau zu sein scheint. Also brauchst du nicht zu befürchten, dass sie sich unsterblich in dich verliebt.«
Das sprach unbedingt für sie, stimmte Rayne im Geiste zu, denn in seiner Ehe sollte Liebe keine Rolle spielen. Er würde nicht zulassen, dass zwischen ihm und einer Ehefrau emotionale Bande wären.
»Wo ist Miss Ellis?«
Freddie blickte ihn überrascht an. »Du meinst, du willst ernsthaft über meine Idee nachdenken?«
»Möglicherweise. Wo finde ich sie?«
Freddie zeigte zum anderen Ende des Ballsaals. »Vor kurzem war sie noch dort drüben bei den Palmentöpfen, aber jetzt sehe ich sie nicht.«
War sie aus dem Ballsaal geflohen? Falls ja, würde er sie suchen gehen. »Ein Antrag wäre durchaus überlegenswert, aber zuerst möchte ich mit ihr sprechen. «
Sein Cousin hatte die Vorzüge, die eine Heirat mit Madeline Ellis hätte, recht akkurat aufgezählt, entschied Rayne, während er den Ballsaal nach ihr absuchte. Eine Ehe mit ihr würde gleich mehreren Zwecken dienen. Er erfüllte die Pflicht gegenüber seinem Titel, das Versprechen, das er seiner Großmutter gab, und er würde zusätzlich die Schuld gegenüber Madelines Vater begleichen, der ihm das Leben rettete. Als seine Countess bräuchte sie nicht für ihren Unterhalt zu arbeiten und wäre kein wehrloses Opfer mehr für Lüstlinge wie Baron Ackerby. Und natürlich würde er ihren jüngeren Bruder finanziell unterstützen.
Madeline entspräche indes nicht den Ansprüchen, die Raynes Großmutter an die ideale Gemahlin für ihn stellte. Folglich würde sie sich nie in den elitären Kreisen bewegen wie beispielsweise Roslyn Loring. Doch die Eigenschaften, die Rayne sich bei einer Ehefrau wünschte, unterschieden sich nun einmal von denen, die seine Großmutter schätzte.
Er stimmte zu, dass Madelines schlichtes Äußeres nicht zwingend ein Nachteil sein musste, ging Schönheit doch allzu oft mit Grausamkeit oder Fadheit einher. Er wertete Intelligenz und Esprit weit höher als Aussehen, und beides bot Madeline im Überfluss. Zudem war sie lebhaft genug, um ihm stets neue Herausforderungen zu stellen.
Das war vielleicht der Hauptgrund, weshalb ihm die Idee so reizvoll erschien.
Ein weiterer Punkt, der für sie sprach, war, dass er bei ihr ziemlich offen sein konnte, wusste sie doch von seiner früheren Beschäftigung. In ihrer Gegenwart musste er nicht beschönigen, was und wer er war.
Auch ihre Warmherzigkeit zog ihn an, ebenso wie ihm ihre sture Unabhängigkeit beinahe gefiel. Kurz: Madeline Ellis war interessanter und reizvoller als alle Heiratskandidatinnen, denen er bislang ausgesetzt wurde, und er genoss ihre Gesellschaft erheblich mehr.
Bei dem Gedanken an Madeline in seinem Bett spannten sich seine Lenden sogleich voller Vorfreude. Er wollte ihre schönen Augen sehen, die so sanft und glühend vor Leidenschaft waren. Und er zweifelte nicht, dass sie eine vorzügliche Geliebte abgäbe.
Es bestand auch kaum Gefahr, dass er sich in Madeline verliebte, da sie Welten von der Femme fatale trennten, die ihm einst das Herz brach.
Sollte er ehrlich sein, müsste er gestehen, wie froh er war, dass Madeline keine Schönheit wie Camille Juzet war, denn umso geringer war die Gefahr, dass sie einen anderen Liebhaber neben ihm hatte.
Vor zehn Jahren, zu Beginn seiner Laufbahn beim britischen Geheimdienst, hatte Rayne sich in eine französische Adlige verliebt, die sein Vermögen und seine Beziehungen brauchte, um ihre Familie zu retten und sicher nach England zu bringen. Camille hatte ihn zu ihren eigenen Zwecken verführt und hinterher reumütig gestanden, dass sie einen anderen liebte und keine andere Wahl gehabt hatte, als Rayne zu benutzen, um ihre Familie zu schützen.
Inzwischen empfand er nicht mehr viel Wut oder Verbitterung, weil man ihn wie einen dummen Jungen hereingelegt hatte. Nur hatte er eben auch keinerlei Verlangen, sein Herz abermals aufs Spiel zu setzen. Er war durchaus gewillt, eine Vernunftehe mit einer standesgemäßen Braut einzugehen, solange er die Dame aussuchte, an die er sich ein Leben lang ketten sollte.
Aber willst du an Madeline Ellis gekettet sein?
Rayne versuchte, es sich vorzustellen. Sie war gewiss die bisher beste Wahl. Und wenn er sich auf sie festlegte, durfte er sofort aufhören, nach einer Braut zu suchen.