Neunzehntes Kapitel

Die Leere ist unerträglich, Maman.

Bei Gott, ihr war elend, dachte Madeline am nächsten Nachmittag, als sie von der Akademie nach Hause fuhr. Nicht einmal die lebhafte Begeisterung ihrer Schülerinnen vermochte die Finsternis zu vertreiben, welche sie wie ein Schleier umgab.

Und die bleierne Schwere in ihrer Brust wurde noch gemehrt, als sie die Kalesche erkannte, die hinter ihrem Einspänner auf Riverwood zufuhr.

Anscheinend stattete die verwitwete Countess Haviland ihr einen zweiten Besuch ab.

»Wunderbar«, murmelte Madeline. »Sie hat mir noch gefehlt, mein Elend vollkommen zu machen. «

Sie lenkte ihren Wagen um das Herrenhaus herum zu den Stallungen und übergab den Einspänner einem Stallburschen. Dann ging sie hinein, wo Bramsley soeben Raynes Großmutter einließ.

Die ältere Adlige kniff bei Madelines Anblick die Lippen zusammen.

Dennoch machte Madeline einen artigen Knicks. »Mylady, willkommen in Riverwood.«

Lady Haviland blickte noch finsterer drein. »Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen, Miss Ellis.«

Die falsche Anrede verhieß nichts Gutes. »Darf Bramsley Ihnen den Hut abnehmen? Oder Ihnen eine Erfrischung bringen?«

»Nein, darf er nicht. Ich bleibe nicht. Bitte führen Sie mich sofort in den Salon!«

Nachdem Madeline ihren eigenen Hut und die Pelisse Bramsley gereicht hatte, ging sie voraus zum Salon.

Wie erwartet, wollte ihre Ladyschaft nicht Platz nehmen.

»Ich mache keine Umschweife, Miss Ellis«, sagte sie, sobald Madeline die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Welche Summe könnte Sie bewegen, England für immer zu verlassen?«

Madeline sah sie verständnislos an. Sie war auf Anfeindungen vorbereitet gewesen, aber nicht auf diese Frage.

Lady Haviland fuhr brüsk fort. »Ich bin bereit, Ihnen ein kleines Vermögen zu zahlen, wenn Sie sich auf den Kontinent oder in irgendein Land außerhalb Englands begeben.«

»Warum machen Sie mir solch ein Angebot?«

»Weil ich möchte, dass die inakzeptable Heirat meines Enkels annulliert wird und er sich eine angemessenere Braut suchen kann.«

Madeline war sprachlos.

»Haviland bereut, Sie geheiratet zu haben, und möchte die Verbindung lösen, ist jedoch zu ehrenhaft, Sie um Annullierung zu ersuchen.«

»Sie hingegen plagen derlei Hemmnisse nicht?«, erwiderte Madeline gleichsam im Reflex.

Die Countess funkelte sie wütend an. »Ich will das Beste für meinen Enkel. Er hat begriffen, dass es ein Fehler war, Sie zu heiraten, und ich besitze die Mittel, sein Problem zu lösen. Ich gebe Ihnen fünfzigtausend Pfund, wenn Sie sich bereiterklären, aus seinem Leben zu verschwinden, Miss Ellis. Nachdem eine gewisse Zeit verstrichen ist, kann Haviland die Ehe annullieren lassen und sich eine Countess suchen, die seinem gesellschaftlichen Rang entspricht.«

Er hat begriffen, dass es ein Fehler war, Sie zu heiraten. Die Worte zerrissen Madeline.

Zitternd ging sie zu einem Sofa und setzte sich. Raynes Großmutter bestach sie, damit sie für immer aus seinem Leben verschwand?

Ihre Hand wanderte zu ihrem Herzen, während sie blind auf den Aubusson-Teppich starrte.

»Ich warne Sie, Miss Ellis«, sagte ihre Ladyschaft. »Sollten Sie sich weigern, wird Haviland keinen Penny meines Vermögens bekommen, wie Sie auch nicht.« Als Madeline schwieg, sprach sie nach einem abfälligen Tss weiter. »Ich kann Ihnen wohl kaum verübeln, dass Sie Ihre Lebensumstände verbessern wollten, indem Sie meinen Enkel bezirzten, aber dies ist Ihre Chance, noch besser davonzukommen. Ihnen dürfte es wenig Mühsal bereiten, sich leichterer Beute zuzuwenden, nachdem Sie Haviland ausschließlich ehelichten, um an mein Vermögen zu gelangen.«

Nun sah Madeline auf. »Ich habe ihn nicht geheiratet, um Ihr Vermögen zu erben.«

Lady Haviland beäugte sie hochmütig. »Ich muss doch bitten. Mir sind Damen Ihrer Sorte bekannt. Sie sind nichts weiter als gierige Emporkömmlinge.«

Madeline schüttelte den Kopf. »Sie wissen nichts über mich, Mylady. Ich heiratete Rayne, weil ich ihn liebe.«

Die Witwe stieß einen verächtlichen Laut aus. »Das ist die unverfrorenste Lüge, die mir je untergekommen ist. Sie können sich unmöglich binnen solch kurzer Zeit verliebt haben.«

Habe ich. Und ich bedaure es sehr.

Sie wollte Raynes Großmutter die Befriedigung nicht gönnen, ihren Schmerz zu sehen, also sagte sie: »Ich werde über Ihr Angebot nachdenken, Lady Haviland. Wenn Sie nun bitte gehen wollen.«

»Ich wünsche sofort eine Antwort!«

»Die wünschen Sie gewiss, aber ich bin nicht bereit, sie Ihnen zu geben.«

»Fünfzigtausend sind eine enorme Summe, Miss Ellis.«

»Nicht einmal das Hundertfache könnte mich zu einer früheren Entscheidung bewegen.«

Madeline war froh, dass Lady Haviland ausnahmsweise klein beigab. »Alsdann. Aber ich erwarte, in Kürze von Ihnen zu hören.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und rauschte aus dem Salon.

Madeline bekam kaum noch Luft. Ihre Welt brach aus den Fugen. Rayne wollte die Ehe annullieren und war bereit, sie zu bezahlen, damit sie verschwand?

Der Gedanke, ihre Ehe zu beenden, alles aufzugeben, was von ihren Träumen noch übrig war, für immer in den Wind zu schreiben, auf dass Rayne sich eine gesellschaftlich akzeptablere Braut suchen könnte … Gütiger Gott!

Warum hatte sie jemals Raynes verführerischem Antrag zugestimmt? Eine Existenz als einsame alte Jungfer wäre besser gewesen als dieses Leid.

Wie konnte sie ihn verlassen, wo sie ihn doch so sehr liebte? Aber vielleicht wäre es besser für Rayne, wenn sie das Angebot seiner Großmutter annahm.

Sie blickte auf, als Bramsley an die Salontür klopfte. »Ist Ihnen nicht wohl, Mylady?«

Madeline schluckte. »Nein, ist es nicht. Was gibt es, Bramsley?«

»Mr Lunsford ist hier und wünscht zu wissen, ob Sie ihn empfangen.«

»Sagen Sie ihm bitte, dass Lord Haviland in London ist.«

»Mr Lunsford fragte ausdrücklich nach Ihnen, Mylady. «

Ehe Madeline antworten konnte, kam Freddie in den Salon geschlendert. Sie schloss für einen Moment die Augen und wünschte, nicht gerade jetzt mit ihm reden zu müssen.

»Das wäre alles im Moment, Bramsley, danke«, sagte sie, während ihr Besucher sich schon in einen Sessel fallen ließ.

»Irre ich«, begrüßte Freddie sie, »oder war das eben Lady Havilands Kutsche, an der ich vorbeifuhr?«

»Nein, Sie irren nicht«, antwortete Madeline, die sich hoffnungslos elend fühlte.

»Was wollte sie?«

Die ungehörige Frage passte zu Freddie, aber Madeline ging nicht darauf ein. »Das ist nicht von Bedeutung. Warum sind Sie hier, Freddie?«

»Ich bin gekommen, weil ich Sie um einen Gefallen bitten wollte.«

Sie runzelte die Stirn. »Sind Sie wieder in einer Notlage? Falls ja, sollten Sie sich an Rayne wenden, aber er ist gegenwärtig nicht hier. Er ist in London.«

»Weiß ich doch«, sagte Freddie grinsend. »Irgendein besonders geheimnisvolles Spionagegeschäft, wie ich hörte. Aber, nein, ich bin ausnahmsweise in keiner Notlage, denn ich lernte meine Lektion aus dem letzten Debakel. Seither halte ich mich von verschlagenen Witwen fern.«

»Was wollen Sie dann?«

»Ich hatte gehofft, Sie könnten ein gutes Wort für mich bei einer Dame einlegen, auf deren Tochter ich ein Auge geworfen habe.«

Madeline riss die Augen auf. »Sie interessieren sich für eine junge Dame?«

»Ja, aber es ist alles ganz anständig. Miss Merrywether ist die Art Dame, die selbst mein Vater gutheißen würde. Und sie hat das lieblichste Lächeln – bei dem jedem Mann schwindlig wird. Aber sie sagt, ihre Mama würde unsere Verbindung nie gutheißen, weil ich in dem Ruf stehe, ein Wüstling zu sein. Ich, ein Wüstling! Es ist ziemlich unfair, denn ich kann den wahren Wüstlingen der Beau Monde nicht einmal das Wasser reichen. Außerdem wurde ich rehabilitiert. Ich habe jeden Gedanken an Ausschweifungen und Spaß aufgeben, weil ich nicht enterbt werden will.«

Madeline wurde schwindlig von Freddies wirren Äußerungen. »Und wie kann ich Ihnen helfen?«

»Sie könnten mein Werben fördern, indem Sie ein Loblied auf mich vor Miss Merrywether und ihrer Mama singen. Sie werden Ihrer Meinung großes Gewicht beimessen, wo Sie doch eine Countess sind und alles.«

»Aber ich bin vielleicht nicht mehr lange eine Countess«, sagte Madeline finster.

Freddie setzte sich erschrocken auf. »Was zum Teufel meinen Sie?«

Madeline erschauderte. »Nichts, nichts. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Warum nicht?«

»Freddie, ich bitte Sie, lassen Sie mich allein.«

»Meine Güte, sind Sie giftig heute!«

Madeline hob eine Hand an ihre Schläfe. Sie hatte kein Recht, ihre Verzweiflung an Freddie auszulassen.

»Was ist, Madeline?«, fragte er. »Haben Sie Migräne? «

Sie seufzte. »Nein, das ist es nicht. Verzeihen Sie, Freddie. Ich bin heute eine jammernswerte Gastgeberin. «

Er wurde ungewöhnlich ernst. »Warum erzählen Sie mir nicht, was Sie so niedergeschlagen macht?«

»Es würde nichts ändern.«

»Woher wissen Sie das, wenn Sie es nicht versuchen? Ich kann ziemlich gut zuhören, wenn ich mir Mühe gebe. Und Sie sehen aus, als könnten Sie einen Freund brauchen.«

Madeline rang eine Weile mit sich, ehe sie entschied, dass Freddie Recht hatte. Sie brauchte dringend einen Freund.

»Also schön, ich erzähle es Ihnen«, sagte sie schließlich. »Lady Haviland bot mir fünfzigtausend Pfund, wenn ich England verlasse und aus Raynes Leben verschwinde, damit er die Ehe annullieren lassen kann und eine Frau heiraten, die besser zu ihm past. Und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Freddie machte große Augen. »Fünfzigtausend Pfund? Na, das ist eine Riesensumme.«

»Ich weiß.«

»Aber natürlich nehmen Sie nicht an.«

»Nein? Warum sollte ich nicht? Lady Haviland sagte, Rayne hätte erkannt, dass er einen Fehler beging, mich zu heiraten. Ich möchte nicht seine Frau bleiben, wenn er mich nicht will.«

Freddie zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Und Sie glauben der alten Schachtel? Vielleicht will Rayne Sie wirklich nicht, aber ich glaube kaum, dass er seine Großmutter schicken würde, um sich von Ihnen freizukaufen. Wahrscheinlich war es allein Lady Havilands Idee.«

»Dennoch wäre es womöglich besser, ihr Angebot anzunehmen.«

Kopfschüttelnd stand Freddie auf und begann hin und her zu gehen. »Sie sollten nichts überstürzen, Madeline. Sie sind nicht annähernd so unpassend für ihn wie Lady Haviland glaubt.«

So sehr Madeline auch seine Empörung um ihretwillen zu schätzen wusste, war Freddie wohl kaum derjenige, die Ansprüche der feinen Kreise zu beurteilen.

»Ich denke, dass Sie eine anbetungswürdige Countess für Rayne sind«, sagte er, ehe sie etwas einwenden konnte. »Das dachte ich von Anfang an. Genau genommen war ich es, der ihn ermunterte, Ihnen einen Antrag zu machen.«

»Ach ja?«

»Ja, war ich. Ich wusste, dass er eine Gemahlin brauchte, die ihm einen Erben schenkt. Selbst wenn Sie keine Schönheit sind, kann sich ein Mann mit Ihnen wohlfühlen.« Freddie blieb stehen und sah sie an. »Allerdings sehen Sie in jüngster Zeit besser aus.«

Madeline wusste nicht, ob sie sich über dieses Kompliment freuen sollte. »Ich hatte gehofft, Rayne könnte mich eines Tages lieben«, gestand sie.

»Ich weiß nicht, ob das möglich ist, nachdem ihm schon einmal so übel das Herz gebrochen wurde.«

Sie merkte auf. »Was meinen Sie?«

»Tja, Einzelheiten kenne ich nicht. Ich hörte nur, dass Rayne vor vielen Jahren eine tragische Liebesaffäre mit einer Französin hatte. Sehr viel tragischer als alles, was ich jemals erlitt. Glaubt man den Gerüchten, können Sie nicht erwarten, dass er sich davon so schnell erholt.«

»Sagten Sie nicht, es wäre vor Jahren gewesen?«

»Ja, soweit ich hörte, aber ich kann mich auch irren. Außerdem ist Liebe nicht so wahnsinnig schön wie alle immer sagen, Madeline. Ich weiß es, denn ich war unzählige Male verliebt – und ich bin drauf und dran, es für immer aufzugeben.«

Nun musste sie lachen. »Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass Sie die Liebe aufgeben, Freddie.«

Er grinste. »Nein, vermutlich nicht. Aber Sie sollten auf keinen Fall vorschnell entscheiden«, wiederholte er ernster. »Vor allem nicht, solange Sie so niedergeschlagen sind. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie Rayne eine Chance geben, sich in Sie zu verlieben.«

»Das habe ich versucht. Aber meine Bemühungen zeigten keinerlei Wirkung. Im Gegenteil, sie schienen alles nur schlimmer zu machen.«

»Vielleicht sollten Sie ihm einfach mehr Zeit geben. «

»Wie viel mehr Zeit?«

»Woher soll ich das wissen? Ich bin offenbar kein Experte, was die Liebe betrifft. Aber ich kann nicht glauben, dass Sie sich so leicht geschlagen geben. Wollen Sie Lady Haviland kampflos siegen lassen? Ehrlich, ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Madeline. «

Freddie hatte Recht, dachte Madeline. Sie musste zumindest den Mut aufbringen, Rayne direkt zu fragen, ob er die Ehe annullieren wollte. Falls ja, könnte sie ihn so oder so nicht umstimmen.

Madeline machte die Schultern gerade und stand auf.

»Was haben Sie vor?«, fragte Freddie.

»Ich fahre nach London und spreche mit Rayne.«

»Das können Sie nicht! Er steckt bis zum Hals in seinem Spionagekram, wissen Sie nicht mehr?«

Madeline sank auf das Sofa zurück. Ja, im Moment versuchte Rayne wahrscheinlich, ein Attentat auf Englands Prinzregenten zu verhindern. Die Zukunft ihrer Ehe musste warten. Immerhin war die keine Staatsangelegenheit.